Insulaner

Val Sidal

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König Pietro XIV. blies sich die Lunge aus dem Leib. Er stocherte mit einem Olivenbaumzweig in der Schüssel, bückte sich seitlich und pustete unablässig. Giacomo Calvari stand etwas abseits. Er fürchtete das Feuer.

„Sie hätten natürlich auch Grillanzünder nehmen können, Hoheit. Die Fortschritte der letzten Jahre in der Grilltechnologie sind atemberaubend. Obwohl, wenn ich Sie mir jetzt anschaue – ihre Technik raubt ihnen auch den Atem.“
Pietro XIV., König von Tavolara, lachte laut, sein runder Bauch schüttelte sich nur so; seine Augen tränten – auch vom Rauch.
Er hatte die gleiche Statur, wie sein Freund Calvari. Überhaupt – wenn man es genau nimmt, war die Ähnlichkeit zwischen dem ehemaligen Professor der Virologie und Immunologie aus Rom und dem Insel-König verblüffend. Die buschigen Augenbrauen, die sich sehr weit nach hinten gewagter Stirn, der kleine Höcker auf der spitzen Nase... Im Gegensatz zum Professor, der eine lange, grau melierte Künstlermähne hinter der genetisch programmierten Mönchtonsur trug, begnügte sich der König mit einer ehrlichen Glatze.

Ein herrlicher Tag – der Nationalfeiertag des Königreichs Tavolara – neigte sich einem stimmungsvollen Abend zu. Königin Laura, Pietros Frau aus zweiter Ehe, nahm den frischen Fisch aus und plauderte dabei mit ihrer Schwägerin Mioara über Dinge, die Frauen richtig gewichten und Männer nur öde finden.
Seti, die königliche Katze, konnte es kaum noch erwarten, endlich an dem Fang des Tages Teil zu haben: sie schawänzelte unentwegt zwischen Lauras Füßen.

„Um ehrlich zu sein, hat es mich nicht gewundert, dass sie mich abgeholt haben...“, verkündete Professor Calvari.
„Wieso? Was hast du mit Denen am Hut?“, wollte der König wissen.
„Na ja, ich habe es endlich geschafft! Jahrelang haben mich meine Kollegen ausgelacht, mich geschnitten. Sie haben versucht mich fertig zu machen. Um ehrlich zu sein – sie hatten mich tatsächlich fertig gemacht.“
„Wovon sprichst du eigentlich?“, der König klang nicht ungeduldig, er stellte nur fest, dass ihm offensichtlich Manches aus dem Leben seines Freundes unbekannt war.

Aber Calvari sprang auf den Zug nicht auf. Einen wunderbaren Abend, wie heute, wollte er nicht durch alte Geschichten trüben. Schon gar nicht, nachdem es in seinem privaten Labor ihm endlich der Durchbruch gelungen war.

„Stell dir vor, ich saß bei einem schönen Espresso auf der Terrasse meiner Granatapfelplantage. Da kamen sie, packten alles zusammen, brachten mich zu einem Boot und – hier bin ich!“
„Aber was wollen Die von dir?“
„Keine Ahnung! Aber glaub mir, ich bin glücklich. Die Tatsache, dass sie mich aufgegriffen haben, ist der beste Beweis, dass ich es geschafft habe. Ich ahnte schon immer, dass Sie mich beobachten. Aber dass Sie so schnell kommen würden, das hat mich dann doch überrascht.“

Die exotischen Themen und fundamentalen Fragen der Immunabwehr, mit denen sich Professor Giacomo Calvari zu seiner Zeit an der Universität beschäftigte, hatte kaum einen Biologiestudenten interessiert. Hinter vorgehaltener Hand flüstrete man Despektierliches über ihn. Sein Lehrstuhl an der Universität zu Rom war personell sehr schwach besetzt, also ließ man ihn trotzdem gewähren, obwohl er jahrelang nichts mehr veröffentlicht hatte, keine Vorträge hielt und die wenigen Doktoranden, die er noch betreut hatte, sich auch nicht mit Ruhm bekleckert hatten. Calvaris Erklärungsmodell wurde zwar nicht widerlegt, aber wie es in der akademischen Gemeinde bewährte Praxis ist: man hatte einfach aufgehört, darüber zu diskutieren – ihn zu zitieren.

Als er mit fünfzig in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, wäre eigentlich seine Forscherlaufbahn zu Ende gewesen, wenn sein Großvater, ein Landwirt auf Sardinien, nicht gestorben wäre. Als einzigem Erben, hinterließ er Calvari eine ansehnliche Granatapfelplantage und einen gut gelegenen Bauernhof im Hinterland von Olbia. Nach dem er die Hälfte der Plantage an ein Immobilienkonsortium verkauft hatte, das einen riesigen Supermarkt und Freizeitcenter darauf errichtete, war er über Nacht ein vermögender Mann. Calvari konnte auf Sardinien ohne finanzielle Sorgen leben und in der zum Laboratorium umgebauten Scheune seine Forschungsarbeit fortsetzen. Er war stolz darauf, Experimente gdurchzuführen, die nur Institutionen schafften, die mit Millionen aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.

Nach Jahren der Enttäuschungen und Irrtümern, war er nun sicher am Ziel zu sein. Jetzt war er sich sicher, mit seiner Arbeit etwas ganz Besonderes erreicht zu haben. Noch gelang es ihm allerdings nicht, schlüssig zu erklären, was genau dazu geführt hatte – und wie. Aber jetzt, wo Die auf ihn aufmerksam wurden, wird alles anders werden. Er träumte schon von den unbegrenzten Möglichkeiten, die Die ihm öffnen würden.

Die Sonne über Sardinien wäre um diese Zeit in jedem Fall untergegangen, aber der Abschied fiel ihr sicher jetzt leichter, schoss Calvari durch den Kopf, da Nicola, des Königs Enkel, die von ihm selbst komponierte Nationalhymne Tavolaras auf der Gitarre zu üben begann.

Zwar ist das Königreich von Tavolara lange Zeit ohne eine Nationalhymne ausgekommen, aber es zeugte von Oma Lauras pädagogischem Gespür, dass sie Nicola, bei seinen Bemühungen, Gitarre spielen zu lernen, immer unterstützt hatte. Nicht nur dass der Text der neuen Hymne von einer weißen Möwe handelte, die die schönste Insel der Welt verlassen musste. Auch die Melodie und der Rhythmus der Habanera erinnerten an ein weltbekanntes Lied: La Paloma.
Nicola war wirklich ein ausgesprochen kreativer Junge. Als ihm irgendwann vom Gitarreüben die Finger weh taten, beschloss er spontan, ein Wappen für das Königreich zu entwerfen.
Auch dabei fand er Oma Lauras vollste Unterstützung: sie schenkte ihm einen 24teiligen Satz von bunten Filzstiften, den sie für 70 Cent in einem Supermarkt in Olbia erstanden hatte. Die Königin hätte Nicola natürlich verraten können, dass das Königreich bereits ein Wappen besaß, das aber seit Jahren nicht mehr öffentlich gezeigt wurde: ein rotes Schild mit einem gelben Stern. Sie brachte es aber nicht übers Herz, ihren Enkel zu demotivieren.

Königin Laura war sehr stolz auf ihren traditionsbewussten Enkel. Sie hatte ihn gelehrt, dass die ersten nachgewiesen Bewohner von Tavolara um etwa 4.000 v. Chr. Fischer waren.
Anfang des 19. Jahrhunderts kam dann der Korse Giuseppe Bertoleoni mit seiner Familie nach Sardinien und ließ sich auf der unbewohnten Insel Tavolara nieder.
Als am 15. November 1836 der König Carlo Alberto von Sardinien auf Tavolara an Land ging, kam ihm Giuseppes Sohn Paolo entgegen und verkündete: „Der König von Tavolara begrüßt den König von Sardinien und wünscht ihm einen angenehmen Aufenthalt in seinem Reich.“

Carlo Alberto fand den Scherz amüsant und schenkte ihm die Insel.

Obwohl Analphabet, Bertoleoni ließ sich diese Schenkung schriftlich bestätigen, ein Akt, der damals der offiziellen Übertragung des Herrscheramtes entsprach.

So war das kleinste Königreich Europas geboren. Die Nachfahren nannten sich daraufhin Karl I., Paul II. usw.
Heute arbeiten die Nachfahren des „König Paolo“ als Gaststättenbesitzer und Schiffsführer.
Seit 1962 liegt ein die halbe Insel umfassendes militärisches Sperrgebiet der NATO, auf welchem ein Fernmelde- und Abhörzentrum mit Längstwellensender betrieben wird.

„Pietro! Der Fisch ist soweit!“ Königin Lauras helle Stimme hallte von den Felsen des sechs Kilometer langen Gebirgszuges zurück. Pietro XIV. legte gerade den ersten Fisch auf den Grill, und sein Enkel zündete die stimmungsvolle Licht verstrahlenden Fackeln eine nach der anderen an, als über den Klippen der Insel ein stürmisch herannahender Hubschrauber auf der Ostseite des Berges zur Landung ansetzte. König Pietro XIV. schenkte dem Fluggerät keine Aufmerksamkeit.

„Wen haben Die wohl außer mir noch aufgegabelt?“, fragte Professor Calvari nachdenklich.
"Ich habe Angst, Pietro! Ich weiß zu viel!"
"Komm, guter Freund, Die können uns nicht ewig hier einsperren ..."
"Doch, doch! Ich weiß es! Die wissen, sehen und hören alles!"
"Ja,. Die lauschen den Walen. "
"Ja. Und den Viren ..."
"Und den Antiviren!"

Prinz Nicola legte die Gitarre zur Seite.
La Paloma passte nicht zum Fisch.
 
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