Interview mit der Verfasserin von “Anhalter Bahnhof-Alles”

Hallo Friedrichshainerin. Nett, dass du uns Rede und Antwort stehen willst. Frage am Anfang: Kann man denn noch mit einem weitereren Teil vom “Anhalter” rechnen?

Friedrichshainerin: Ich möchte da nichts ausschließen. Ich schreibe eigentlich ganz gern an “Anhalter Bahnhof-Alles”. Das schöne daran ist, dass ich dabei nichts über mich selber preis geben muss. Bei meinen anderen Beiträgen habe ich sonst immer gleich, nachdem ich sie reingesetzt habe, das Bedürfnis, alles sofort wieder zu löschen. Diesen Wunsch habe ich beim Teilen meiner Lesefrüchte, die ich beim Durchblättern der alten Berlin-Romane aufgestöbert habe, noch nie verspürt. Im Gegenteil, ich war stolz auf meine Fleißarbeit.

Meine nächste Frage: Welches von den alten Büchern aus B hat dir denn am besten gefallen?

Friedrichshainerin: An erster Stelle muss ich “Herz über Bord” von Lili Grün nennen. Es wurde von der Verlegerin zufällig auf dem Flohmarkt entdeckt und unter dem Titel “Alles ist Jazz” neu herausgegeben.

Das Buch, der mir am zweitbesten gefallen hat, ist Irmgard Keuns “Das kunstseidene Mädchen”. In beiden geht es um junge Frauen, die vor zirka 100 Jahren allein nach B gekommen sind, und versucht haben, sich hier über Wasser zu halten, was nicht immer so einfach war.

Mir ging auch die Erzählung “Martha” von Wilhelm Hensel nahe. Sie erzählt von einer jungen Arbeiterin, die in die Spree geht, weil ihr Geliebter, ein Student, sie fallenlässt. Die Handlung wirkt so authentisch, dass die Vermutung nahe liegt, dass sie wirklich so stattgefunden hat, im Bekanntenkreis des Autors.

Verschlungen habe ich von Clara Viebig “Das tägliche Brot” und “Eine Handvoll Erde”. Das übliche. Ein junges Bauernmädchen kommt nach Berlin, wird schwanger und kämpft sich hier recht und schlecht gegen haushohe Widerstände durch. Ähnliches passiert in “Großstadt” von Dora Duncker.

Immer ist Berlin das Ziel für einen Neuanfang, der sich als ziemlich hart erweist. Es kristallisierte sich langsam raus, dass mich die Romane, in denen es um Frauen allein in Berlin geht, am meisten interessiert haben. Der Grund liegt auf der Hand.

Das Buch von Leonhard Frank “Links, wo das Herz ist” habe ich mindestens zehn Mal gelesen. Ich habe es schon vor langer Zeit im Bücherschrank meiner Mutter entdeckt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie das mal gelesen hat. Das muss in einem anderen Leben gewesen sein.

Ich habe durch dieses Buch ein Faible für die Liebe auf den ersten Blick entwickelt, denn als der Hauptakteur in das Café des Westens eintritt, nach einer feuchten Nacht im Tiergarten, sieht er seine zukünftige Frau, eine Schauspielerin, an einem der Tische sitzen. Sie hat ein weiches Herz und nimmt ihn aus Mitleid mit ihre Wohnung, wo er auf der Couch schlafen kann. So stelle ich mir seitdem die Liebe vor.

Völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten, ist auch “Madonna im Pelzmantel” von Sabahattin Ali. Mich wundert, dass diese geniale Liebesgeschichte, die wirklich stattgefunden hat, und bei der es um einen jungen Osmanen, der während der Weimarer Republik einige Zeit in Berlin gelebt hat, und der eine junge Jüdin trifft, nicht bekannter ist.

Ein anderer Autor aus seinem Heimatland, Dogan Akhanli, hat darüber einen teilweise fiktiven Roman verfasst. Er heißt “Madonnas letzter Traum” und beschäftigt sich mit dem realen Schicksal der Akteure. Ich habe ihn natürlich auch gelesen. Dogan Akhanli vermutet darin, dass die junge Malerin und ihr Kind, um die es in dem Buch geht, der Judenvernichtung zum Opfer gefallen sind.

Die Frauenrechtlerin Lily Braun beschrieb in ihren Memoiren die miserable Lage der Dienstmädchen. Kaum Geld, schlafen auf dem Hängeboden, aufdringliche Dienstherren, nur jeden zweiten Sonntag frei. Wie sollte ein junges Mädchen so einen Mann kennenlernen, mit dem sie später eine Familie gründen konnte, was sie musste, um sich über Wasser zu halten. Wenn sie schwanger waren, wurden sie gefeuert.

Und nach Hause in ihr Dorf trauten sie sich nicht zurück wegen der Schande. Der Staat kümmerte sich nicht um dieses Problem, dass in Berlin viele junge Dienstmädchen aus der Provinz betraf. Daran versuchten die Frauenrechtlerinnen etwas zu ändern. Das Problem war, dass die Dienstmädchen völlig unpolitisch waren und wenig Solidarität miteinander fühlten.

Die Situation des Hauspersonals interessierte mich deshalb besonders, da sowohl meine mir unbekannte Großmutter und ebenfalls die zweite Frau des Vaters meiner Mutter und dann auch noch eine mit uns befreundete ältere Dame aus meiner Heimat in ihrer Jugendzeit aus ihrem Dorf nach Berlin als Dienstmädchen gingen. “Schufterei rund um die Uhr”. Meine Oma hatte daran keine guten Erinnerungen.

Hast du auch bekanntere Autoren mit einbezogen?

Friedrichshainerin: Natürlich habe ich das. Ich muss sogar ehrlicherweise eingestehen, dass mir die üblichen Verdächtigen unter den Berlinautoren am besten gefallen haben. Die da sind: Alfred Döblin, Joseph Roth, Hans Fallada, Erich Kästner, Klaus Mann, Kurt Tucholsky, Carl Zuckmayer, Robert Walser, Wladimir Nabokov, Christopher Isherwood, alles Autoren, die alles andere als vergessen sind, zu Recht.

Obwohl ich es erst wollte, weil er zu bekannt ist, konnte ich hier doch nicht Alfred Döblin auslassen. Ich habe mir immer eingebildet, dass die Eingangsszene vor Moabit oder vor der Plötze spielt. Jetzt habe ich nochmal nachgelesen und festgestellt, dass es Tegel ist. Diese Szene erinnert mich an einen neuen Arbeitskollegen, der 1984 in einem hellem Sommermantel im tiefsten Winter im Backwarenkombinat Marzahn auftauchte. Er war gerade aus der Haft entlassen worden. Er war im Frühling eingefahren und jetzt, wo Schnee lag, im gleichen Mantel wieder entlassen worden. Es ist schon merkwürdig, wenn man mitkriegt, wie sich die Literatur von der Zeit abnabelt und ein Eigenleben zu führen beginnt.

Wenn ich früher, auf dem Weg zu meinem Freund nach Charlottenburg, an dem über hundertvierzig Jahre alten Knastgebäude in Moabit vorbeiradelte, das architektonisch sehr eindrucksvoll ist, wofür aber die Insassen bestimmt keinen Blick hatten, habe ich mir immer ausgemalt, dass die Tür aufgeht, und Franz Bieberkopf tritt ungläubig und blinzelnd, wegen dem hellen Licht, im Sommermantel auf die Straße.

Übrigens ist dort wirklich ab und zu mal einer mit `ner Reisetasche rausgekommen.

Mir ist aufgefallen, dass du viele Beiträge aufgeführt hast, die im alten Scheunenviertel spielen.

Friedrichshainerin: Du hast Recht. Dort, wo vor dreiunddreißig die chassidischen Juden lebten, die auf der Durchreise nach Amerika dort strandeten, gehe ich oft spazieren. Die Textauszüge über das versunkene ostjüdische Leben im Scheunenviertel in Mitte sind sehr ausführlich gehalten.

Mir tut es leid, dass ich dieses exotische Treiben nicht mehr miterleben konnte, da es von den Nazis ausgelöscht wurde. Wenn man durch dieses Viertel, rund um das Kino Babylon, schlendert, spürt man aber irgendwie noch ein gewisses Flair und kann sich vorstellen, wie vor 90 Jahren dort bärtige Männer mit Hüten und flatternden Kaftanen durch die Gegend geeilt sind.
Besonders viel von diesem speziellen Feeling fand ich in den Kriminalromanen von Adolf Sommerfeld.

Aber auch in Martin Beradts “Beide Seiten einer Straße” und im Roman von Sammy Gronemann “Tohuwabohu”.

Warum ich einen Auszug über die Kokser aus einem Krimi von 1923 des jüdischen Autors Adolf Sommerfeld hier so ausführlich wiedergegeben habe, ist jedem klar, der Kreuzberg kennt. Diese Szenerie fand vor 100 Jahren statt, und wenn man heute durch Kreuzberg geht, fallen einem viele Übereinstimmungen mit damals auf.

Es ist mir aufgefallen, dass du oft Arthur Zapp erwähnst.

Friedrichshainerin: Da muss ich dir zustimmen. Dieser Berliner Autor ist mir ganz besonders aufgefallen, weil er so viel geschrieben hat. Ich weiß auch nicht, wie er es schaffte solche Berge an Romanen zu verfassen und zu jedem Thema: egal ob Frauenrechte, Kriminalromane, Religion. Er muss ja die Hände gar nicht mehr von den Tasten der Schreibmaschine gelassen haben.

Welches Werk von ihm hat dir am besten gefallen?

Friedrichshainerin: Der Roman “Junggesellinnen”, den man sich sich so vorstellen muss: Junge Frau, die nach Berlin gezogen ist, lässt sich von ihrem Freund dazu beschwatzen, mit ihm zu schlafen. Nach einer Weile verliert er das Interesse und lässt sie hängen. Der Gashahn wird aufgedreht. Sie überlebt, findet neuen Freund, das selbe Spiel. Der Gashahn kommt wieder zum Einsatz, diesmal mit allen Konsequenzen. Wenn es ein drittes Mal gegeben hätte, wäre es dasselbe gewesen. Leider nicht so unrealistisch wie es auf den ersten Blick erscheint.

Ich bin mir nicht klar, ob ich den Verfasser für einen frühen Frauenrechtler oder das Gegenteil davon halten soll

Originalauszug: Am anderen Morgen fühlte sich die gerettete Selbstmordkandidatin bis auf ein bißchen Schwäche und Benommenheit des Kopfes leidlich wohl. Die Kusine redete ihr zu, ...

„Da kam ich zur Erkenntnis, daß alle die verratenen Mädchen und Frauen, die an getäuschter Liebe zugrunde gehen, sich einem Phantom opfern, einem Phantom, das die lügenhafte, heuchlerische, konventionelle, sogenannte Moral der Gesellschaft ihnen aufgezwungen hat. Siehst du, meine liebe Lisbeth, das ist die große Versündigung an uns, daß wir nicht beizeiten aufgeklärt, daß uns Illusionen vorgegaukelt, daß uns Märchen erzählt werden von der schönen, zuckersüßen, himmelhohen Liebe, die natürlich immer zum Glück der Ehe führt, daß wir immer wieder, jede einzelne für sich, die Erfahrung machen müssen, wie schändlich wir an der Nase herumgeführt worden sind. Das ist das große Unrecht, das Verbrechen, das an uns begangen worden ist und immer noch begangen wird, daß schon unsere Erziehung uns widerstandslos macht, uns die Überlegenheit des Mannes und unsere Schwäche ihm gegenüber suggeriert und uns so spottleicht zur Beute eroberungslüsterner Don Juans werden läßt …“


Ist das nicht stark. Und das vor hundert Jahren.

Viele der Autoren, die du erwähnst sind Juden.

Friedrichshainerin: Arthur Zapp war übrigens auch ein Jude. Mir ist klargeworden, dass vor der Diktatur gefühlt neunzig Prozent aller Journalisten und Buchautoren in Berlin dieselben Wurzeln hatten wie er. Man kann sich ihr Schicksal ausmalen.

Viele, die fliehen konnten, haben das Exil nicht verkraftet. Auch die Journalistin Maria Leitner nicht. In Marseille ist sie tot zusammengebrochen. Vor fast 100 Jahren, genauer gesagt zwischen 1925 und 1928, gehörte sie zu den "verrückten" Frauen, die alleine und fast ohne Geld auf Weltreise gingen. Damals hat sie alles gut gemeistert, aber die Nazis hat sie nicht überstanden.

Der Dichter John Höxter war Jude, Morphinist und schwul. Eine Mischung, die den Nazis gar nicht gefiel. 1938 ging er in einen Wald bei Berlin und schnitt sich die Pulsadern auf.

Von denen, die die Zeit überlebt haben, konnten die meisten nach dem Krieg nicht wieder an ihre abgebrochene Karriere anknüpfen. Einem, der kein Jude war, sondern Kommunist, gelang die Flucht in die Sowjetunion, wo er im Gulag erschossen wurde. Er heißt Ernst Ottwald.

Was war deine besondere Entdeckung?

Friedrichshainerin: Der absolute Knaller war die Entdeckung von Julius Stindes “Emma, das geheimnisvolle Dienstmädchen”, eine Verulkung von Kolportageromanen und superlustig.

Es war auch erwähnenswert, dass ich die Identität des geheimnisumwitterten Schriftstellers in “Transit” von Anna Seghers herausbekam, das ein Lieblingsbuch von mir ist. Der Autor Ernst Weiß war wohl das Vorbild für diese Figur. Ich wusste vorher nicht, dass es ihn wirklich gab. Wahrscheinlich hat Anna Seghers ihn mal geliebt, dass vermutet jedenfalls Reich-Ranicki.

Hast du jetzt deine Tage in Bibliotheken verbracht, eventuell gar mit dem neuen Lesesaal der Staatsbibliothek Bekanntschaft gemacht?

Friedrichshainerin: Mitnichten. Nicht mal bis zur Neruda-Bibliothek in der Frankfurter Allee habe ich es geschafft. Vielleicht auch besser so. Denn, seit ich mal ein erkleckliches Sümmchen für Überziehungsgebühren bezahlt habe, kaufe ich mir die Bücher lieber selber.

Ich bin für “Anhalter Bahnhof-Alles... kaum von meinem Futon aufgestanden, wo zwischen meinen Knien auf einer Frischhaltedose mein Notebook steht. Ich habe viel bei Projekt Gutenberg entdeckt. Außerdem kann man oft alte Bücher in Internetportalen, wo sie eingescannt wurden, lesen.

Hast du auch extra Bücher gekauft?

Friedrichshainerin: Viele Werke kann man auch bei amazon gratis oder für neunundneunzig Cent runterladen. Aber ich habe mir auch einiges secondhandmäßig bestellt, was nicht mehr neu zu erwerben war. Gerade habe ich “Spatz macht sich” von Meta Samson aus dem Briefkasten geholt. Eine jüdische Frau aus Berlin hat für ihre Tochter ein Kinderbuch geschrieben. Beide sind deportiert worden.

Neue Bücher habe ich auch erworben, aber wenige. Eines war “Welt überfüllt” von Anna Gmeyner, ein Theaterstück, das in Berlin spielt und dessen hoffungsvolle Autorin nach dem Krieg keinen Fuß mehr auf die Bühne bekam.

Eine ganze Menge alter Berlin Bücher habe ich zum Neupreis, da sie zwar mehr als siebzig Jahre alt sind, aber gerade erst wieder neu aufgelegt wurden, als e-book runtergeladen. Finanziell verausgabt habe ich mich aber nicht.

Im Moment gibt es einen Modetrend, Bücher über unsere Stadt dem Vergessen zu entreißen. Ich denke da an Maria Lazar - Leben verboten, Max Mohr - Frau ohne Reue, Edmund Edel - mit seiner Satire Berlin W, Günther Birkenfeld - Dritter Hof links, Julius Berstl - Berlin-Schlesischer Bahnhof, Wilhelm Speyer - Charlott etwas verrückt, Ernst Haffner, Ulrich Boschwitz - Menschen neben dem Leben.

Die beiden letzten Werk bitte nicht mir leerem Magen lesen. Sonst fängt man sinnlos an zu Essen, weil nur vom Hunger die Rede ist. Da wird einem der Wert des Essens viel bewußter. Wenn beschrieben wird, wie sich die Protagonisten für ihr letztes Geld eine Linsensuppe leisten, das kann einem schon das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Ähnlich geht es mir mit den Büchern von Henry Miller, in denen er von seinen Hungerjahren in Paris und auch in New York erzählt. Dann eile ich erst mal in den Supermarkt und decke mich mit Essbarem ein, auch wenn ich eigentlich fasten müsste.

Wie kam es, dass so viele Schriftsteller sich in dieser Stadt versammelten?

Friedrichshainerin: Kein Autor aus Deutschland kam, und dass ist auch heute, hundert Jahre danach, noch genauso, um Berlin herum. Hier waren die Verlage, wohnten die Künstlerkollegen, waren die berühmten Cafés. Sogar Hedwig Courths Mahler hat hier gewohnt, nicht weit von mir in Karlshorst, wie ich erstaunt erfuhr.

Wie hast du die Sozialreportagen aufgestöbert?

Ich hatte gar nicht geahnt, dass vor über hundert Jahren schon so viel Bücher über soziale Fragen geschrieben wurden. Beispiele dafür sind das von Albert Südekum herausgegebene “Großstätisches Wohnungselend” oder “Kulturschande” von Victor Noack.

Der Maler Paul Grulich machte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts dasselbe Experiment, das Günther Walraff für das Fernsehen auch mal machte, und lebte mit den Ausgestoßenen zusammen auf der Straße und in Unterkünften.

Den Abschnitt, wo es um die “Wiesenburg” geht, die übrigens mit Spendengeldern finanziert wurde und von der heute noch eine Ruine steht, habe ich bewusst länger gehalten. Ich fand die Zustände, die geschildert wurden, menschlicher als die, die heute in solchen Einrichtungen herrschen. Ich habe mal eine Weile im Kiezcafé in der Wühlischstraße gearbeitet, wo auch viele der Gäste übernachteten. Dort waren die Verhältnisse weit primitiver als vor über hundert Jahren in der Wiesenburg.

Wie bist du auf die Albert Lamm, Verfasser von “Betrogene Jugend” und Justus Ehrhardt, Autor von “Straßen ohne Ende”, die über ihre Arbeit mit schwierigen Jugendlichen schrieben, gestoßen?

Friedrichshainerin: Von diesen zeitgenössischen Büchern, die von zwei Erziehern verfasst wurden, habe ich erst durch eine Reportagensammlung von Gabriele Tergit, die auch aus dieser Zeit stammt, erfahren und im Internet nach ihnen gesucht. Von Albert Lamm habe ich doch tatsächlich, das vollständige Buch gefunden.

Er berichtet extrem offen über die Arbeit mit den Berliner Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu und gesteht auch sein oftmaliges Scheitern ein. Schwieriger war es mit "Straßen ohne Ende" von Justus Ehrhardt.Aber ich fand ihn als Fortsetzungsroman in der "Sozialistischen Arbeiterzeitung" von 1932, die man auch im Internet lesen kann.Beim Überfliegen der SAZ von 1932 wurde mir schmerzlich bewusst, wie sehr sich die nahende Hitlerdiktatur damals, ein Jahr vor der Machtübernahme, schon angekündigt hat.

Täglich wurden bei politischen Kämpfen Menschen ermordet.Die SAZ wurde damals auch schon ständig tageweise verboten. Die Rechten waren eindeutig auf dem Vormarsch. Diese SAZ Jahrgänge im Internet sind ein bedrückendes Zeitzeugnis. Wir wissen ja, wie alles geendet hat.Mit den meisten Redakteuren ist es wohl nicht gut ausgegangen.Diese beiden Erzieher, die diese Bücher verfasst haben, scheinen ja total in Ordnung gewesen zu sein. Solche Idealisten, deren Herz für die Heranwachsenden schlägt, trifft man selten. Ich habe solche Leute auch noch nie getroffen.

Warum willst du noch weitere Schriftsteller in “Anhalter Bahnhof-Alles” aufnehmen.

Friedrichshainerin: Ich erfuhr von dem Schicksal vergessener Berliner Autoren wie Gertrud Epstein und Hilde Marx und beschloss sie zusammen mit den übrigen, die ich in den ersten drei Teilen von “Anhalter Bahnhof - Alles...” nicht erwähnt habe, auch noch mit aufzunehmen, weil ich es ungerecht ihnen gegenüber fand, sie wegzulassen.

Wer war das Vorbild für den Jungen, der B heißt.

Friedrichshainerin: Mein erster Freund hier in Berlin war übrigens wirklich neunzehn, so wie der in “Anhalter Bahnhof-Alles”, hatte ebenfalls einen roten Wuschelkopf, ist im Kinderheim aufgewachsen - natürlich nicht im Auerbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee, sondern im “Makarenko” in Johannisthal - und hat danach auch Erfahrungen mit Jugendwerkhof und Knast gemacht.

Warum hast du dem Berliner namens B eine jüdische Identität verliehen?

Friedrichshainerin: Das habe ich gemacht, weil fast alle Autoren, aus deren Werken ich hier zitiert habe, Juden waren. Da bot es sich ja geradezu an. War aber nur ein Zufall und nicht gewollt. Es ist schon genug über die Berliner Juden geschrieben worden. Da wollte ich nicht auch noch etwas hinzufügen.

Wie bist du auf die Idee gekommen, so etwas wie “Anhalter Bahnhof- Alles” zu verfassen?

Friedrichshainerin: Auf die Idee zu “Anhalter Bahnhof-Alles” kam ich, als ich bei einem Projekt namens “100 Jahre Groß-Berlin” dabei war. Ich dachte, es kommt ganz gut, ein Berlinquiz zu erstellen über Schriftsteller, die über diese Stadt geschrieben haben. Leider hatte unser Chef rechtliche Bedenken. So ging ich auf Nummer sicher, und zitierte nur Autoren, die seit mindestens 70 Jahren nicht mehr unter uns sind.

Dabei wurde mir schlagartig klar, dass fast alle diese Autoren kein natürliches Ende genommen haben, sondern meist in Lager wie Auschwitz oder Theresienstadt deportiert wurden. Einige von denen, die den Nazis entkommen konnten, verkrafteten das Exil nicht wie Ernst Toller und Joseph Roth.

Der Einstiegstext sollte ursprünglich folgendermaßen aussehen:

An Berlin

Wie ich dich hasse und alle, die in dir hausen, diese kompakte Masse

elender Banausen.

Berlin

Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht, wenn deine Linien ineinander schwimmen, -

zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen und Menschheit dein Gestein lebendig macht.

Zwei entgegengesetzte Meinungen über Berlin von nur einem Autor, nämlich von Christian Morgenstern (1871-1914) .

Dieses Literaturquiz dient natürlich weniger dazu Wissen nachzuweisen, da die meisten Autoren zu unbekannt sind. Aber wenn man die Textauszüge hintereinander liest wie einen Roman, ergibt sich ein lebendiger Zeitzeugenbericht von dem Berlin, wie es vor 100 Jahren, genauer in den Jahren 1920 bis 1933, war. Es fällt auf, dass sich vieles gar nicht so sehr von unserem heutigen Berlin unterscheidet. Leider sind die meisten der aufgeführten Schriftsteller und Journalisten den Nazis zum Opfer gefallen. Von denen, die Hitler überlebt haben und nach Deutschland zurückkehrten, konnten viele nicht mehr an ihre Vorkriegserfolge anknüpfen. Sie gerieten in Vergessenheit.

Wie lernen einen Politiker kennen, der nebenbei ein Schöngeist war, und der leichtsinnigerweise im offenen Cabriolet im Grunewald herumfuhr, obwohl er wusste, dass er auf der Mordliste der Organisation Consul stand, außerdem eine Kinderbuchautorin, die in ihren Werken eine heile, verlogene Welt malte, aber selber in Auschwitz ermordet wurde.

Uns begegnet ein Mitglied der Mann Sippe, der unsere Stadt abgöttisch geliebt hat aber von den Nazis ins Exil getrieben wurde. Ein Frauenmörder wird gesucht, der es auf Mädels, die allein nach Berlin kommen, abgesehen hat. Jemand ist so arm, dass er vom Tee des Untermieters noch einen zweiten Aufguß machen muss, Jemand anderes bemüht sich verzweifelt um Papiere, um nicht ständig aus dieser Stadt ausgewiesen zu werden.

Uns begegnen Obdachlose in der Fröbelstraße und in der "Wiesenburg" , Arbeiter beim täglichen Schlangestehen beim Stempeln im Arbeitsamt, eine fleißige Sekretärin, die sich aber nicht mal ein heißes Würstchen kaufen kann, ein Antifaschist, von dem man gar nicht wusste, dass er auch Kriminalromane geschrieben hat, ein Sintimädchen freundet sich mir einer Kinderbuchautorin an, ein Dichter schneidet sich in einem Wald bei Berlin die Pulsadern auf, ein Maler lebt vor fast 100 Jahren mal 4 Wochen auf der Straße, ein sitzengelassenes Mädchen dreht schon zum zweiten Mal den Gashahn auf. Ein Schriftsteller erlebt die Liebe auf den ersten Blick, Falschgeld wird in einem Berliner Hinterhaus gedruckt, und Jemand, der normalerweise das Berliner Proletariat gemalt hat, schreibt einen Roman über eine Kneipe im Wedding.

Hätte jemand gedacht, dass ein Verfasser von sozialkritischen Dramen auch solch phantasievolle Märchen schreiben konnte? Außerdem stellt sich heraus, dass es in der Weimarer Republik nachts im Tiergarten schon genauso zuging wie heute. Wie werfen einen Blick in das jüdische Leben und Treiben im Scheunenviertel. Zum Schluss entführt uns ein Kinderbuch, das wir DDR Kinder alle in der Schule gelesen haben, in den Urwald.

Fontane, der bekannteste Berliner Schriftsteller durfte natürlich nicht fehlen, obwohl sein Werk schon deutlich älter ist als die anderen.

Es gibt zwei Antwortversionen: Eine ist nur für den PC. Bitte mit der Maus nur den Link berühren, nicht draufklicken. Dann öffnet sich ein Aufklappmenü mit der richtigen Antwort.

Die andere Antwortversion ist für Smartphone und PC. Hier bitte draufklicken. Dann öffnet sich eine neue Seite. Bei Interesse könnt ihr, je nach Euren technischen Möglichkeiten, auch beide Versionen lesen, da sie meist unterschiedliche Texte beinhalten.



Es tat mir um die ganze Arbeit leid, und ich machte aus den Zitaten kurzerhand eine Geschichte, die vor 100 Jahren in B spielt.

Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber mich würde interessieren: Reichten deine technischen Fähigkeiten aus, um so ein digitales Quiz zu erstellen?

Friedrichshainerin: Da hast du einen wichtigen Punkt angesprochen. Ich musste mir eine Website für das Quiz zulegen. Etliches an Kopfzerbrechen kostete es mich, rauszubekommen, wie ich das mit den Antworten mache. Wie ich die auf dem Laptop öffnen konnte, hatte ich bald in Erfahrung gebracht.

Das Problem war android, denn die meisten gehen ja mit dem Handy ins Internet. Aber auch dieses Problem habe ich geknackt, wenn auch erst nach Wochen. Mit android war das aber enorm arbeitsaufwendig.

Meine letzte Version war eine Karte bei umap, wo die einzelnen Quizfragen auf dem Stadtplan dort verortet waren, wo die Handlung der Textauszüge stattfindet. Auch hier musste ich mich erst ganz schön einarbeiten, wurde nachher aber richtig ehrgeizig. Das kniffligste war auch hier wieder das Öffnen der Antworten, wobei ich aber ein paar “Genieblitze” hatte.

Trotzdem wurde das neue Literaturquiz auch nicht veröffentlicht. Dafür kenne ich mich jetzt mit Webseiten aus. Von dem Quiz habe ich schon vier Versionen gemacht. Die erste war noch in word. Dort fand ich heraus, wie man die Antworten mit Hilfe des Aufklappmenüs der rechten Maustaste sich-und unsichtbar macht.

Mit deinem technischen Know-How kannst du ja bei Microsoft anfangen zu arbeiten.

Friedrichshainerin: lacht

Aus dir wird keine Quizmasterin. Lass es sein Friedrichshainerin. Aber welche Schwierigkeiten hattest du dabei eine Berlin-Geschichte, die vor hundert Jahren spielt, zu erfinden?

Friedrichshainerin: Es war gar nicht mal so einfach, eine passende Rahmenhandlung zu entwerfen. Es musste natürlich eine kärgliche Story sein, um von den Zitaten aus den Werken der richtigen Schriftsteller nicht abzulenken. Zuerst war angedacht, dass der Berlinbesucher ein junger Mann ist, und er und der einheimische B sollten ein schwules Pärchen werden, ich dachte da an ein Coming Out im Tiergarten.

Warum hast du dein Vorhaben, ein schwules Pärchen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht in die Tat umgesetzt?

Friedrichshainerin: Ich überlegte es mir anders, da mein Nickname hier Schriftstellerin ist und es zu Irritationen führen könnte, wenn ich mit einem Mal auf dem Papier mein Geschlecht ändere und aus der Sicht eines Mannes schreiben. Außerdem kommt die Handlung besser rüber mit einer weiblichen Berlinbesucherin als Hauptakteurin.

Wodurch bist du auf diese alten Berliner Schriftsteller gestoßen?

Meist durch Zufall. Den Roman “liner Roma” von Joachim Ringelnatz hatte ich schon mal als Hörspiel gehört. Ebenfalls “Das Mädchen an der Orga Privat” von Rudolf Braune, das ich schon zu DDR-Zeiten in einer Radioversion hörte.

Walter Durians Buch “Kai in der Kiste” kannte ich, weil er mal in Fortsetzungen in der BZ veröffentlicht wurde.

In der BZ haben sie mal eine Aktion gemacht. Man konnte ein Abonnement abschließen, und dann schickten sie einem jeden Monat zwei Berlin-Bücher. Eines davon war der Roman von Hans Fallada “Ein Mann will nach oben”. Hier bemühen sich vier Kinder, drei Teenager und die kleine Schwester des Mädchens, sich im Berlin zwischen den Weltkriegen über Wasser zu halten, in einer Umgebung, die ihnen feindlich gesinnt ist. Und immer wenn sie denken, sie haben es geschafft, wirft ihnen jemand einen Knüppel zwischen die Füße. Dieses Buch ist eigentlich ein Hohelied über die Solidarität zwischen den Unterdrückten.

Das Else Lasker-Schüler eine Dichterin ist, die es in sich hat, wurde mir klar, als ich einmal im Radio eine Lesung mit verschiedenen erotischen Texten hörte. Ihr Beitrag war zwar nur ein kurzes Gedicht, aber um Klassen besser als die anderen Sachen. Leider erfuhr ich aus Biografien, dass sie andere Frauen gar nicht leiden konnte.

Auch auf einen Roman von Otto Nagel, der sonst immer nur traurige, abgemagerte Berliner gemalt hat, stieß ich. In Berlin schien es wohl in der Zeit, in der Otto Nagel als Maler tätig war, keine Leute mit Gewichtsproblemen gegeben zu haben, zumindest bei der Klientel, die er gemalt hat. Eigentlich hat er ja nur Angehörige der Arbeiterklasse gemalt.

Die Leute auf seinen Bildern wirken alle ja geradezu durchsichtig und sind sehr blass um die Nase herum und haben sehr desillusionierte Gesichter. Besonders die älteren Frauen, die er gemalt hat, sind krumm gebeugt unter der Last ihres Lebens. Die meisten wirken so, als wenn sie kurz davor sind, in den Landwehrkanal zu springen.

Sein einziges Buch "Die weiße Taube und Das nasse Dreieck", dass erst viele Jahrzehnte, nachdem er es geschrieben hat, erscheinen konnte, ist auch nicht fröhlicher als seine Bilder. In den Arbeitergegenden, in den Anfangsjahren von Groß Berlin, hat wohl ein ungeheures Elend geherrscht. Heut ist das Leben ja auch nicht immer einfach, aber damals... .

Otto Nagel hat aber auch extrem schöne, authentische Bilder von unserer Stadt, wie sie von 100 Jahren mal ausgesehen hat, gemalt. Man müsste direkt mal wieder ins Museum gehen und eine Zeitreise ins alte Berlin machen. Er hat unsere Stadt in seinen Bildern für die nachfolgenden Generationen konserviert, indem er Häuser, Straßen und Plätze, die schon längst im zweiten Weltkrieg zerstört wurden bzw. Neubauten Platz machen mussten, auf die Leinwand gebannt hat.

Und sein Buch ist mir doch zu deprimierend.

Bei Gertrud Kolmar gefielen mir ihre Tagebuchaufzeichnungen besser als ihre Gedichte. Von Poesie habe ich keine Ahnung. Sie ist übrigens aus Finkenkrug bei Berlin, wo ein Kumpel von mir herkommt. Er hat aber noch nie was von ihr gehört, auch in der Schule wurde sie zu DDR-Zeiten nicht erwähnt. Die Deutschlehrerin muss gepennt haben. Wenn eine Dichterin, die dem Holocaust zum Opfer fiel, gleich um die Ecke gewohnt hat, und sie davon nicht mal was wussten, haben sie bestimmt ihren Unterricht bloß lustlos runtergespult.

Ich fand es interessant, wie sie, die als Jüdin in einer Kartonagenfabrik in der Herzbergstraße, gleich bei mir in der Nähe, zur Arbeit verpflichtet wurde - die Arbeit dort gefiel ihr wider erwarten sehr gut - die Liebesgeschichte beschreibt, die sich zwischen ihr, einer Frau in den fünfzigern und einem jungen Mann, der ihr Sohn sein könnte, entwickelt.

Ich kam ins Grübeln, als ich las, dass sie, in der Nacht, bevor sie sich zur Deportation melden musste, noch seitenweise Formulare auszufüllen hatte. Ich fragte mich, warum sie dieser Forderung nachgekommen war.

Von Nelly Sachs, ebenfalls eine jüdische Lyrikerin, der aber die Flucht gelang, konnte ich keine Gedichte finden, die sie in ihrer Berlin- Zeit verfasst hat. Bei beiden Frauen fiel auf, dass sie ihre Herkunftsfamilie, wo sie sehr beschützt aufwuchsen, nie verließen und keine eigene gründeten.

Auf Elisabeth Kolomak wurde ich durch ein Reportagensammlung von Inquit, alias Moritz Goldstein, aufmerksam gemacht. Ein Mutter schreibt über ihre Tochter, die nach Berlin ausgerissen war. Das Buch kann man bei Projekt Gutenberg lesen.

Den gesamten Text von Walther Mehrings “Der Kaufmann von Berlin” konnte ich leider nicht finden. So kopierte ich nur einige Zeilen aus einer Leseprobe raus. Druckexemplare waren viel zu teuer. Warum weiß ich auch nicht.

Ich entdeckte die Russen. Das waren Schriftsteller die vor der Oktoberrevolution nach Berlin geflohen waren wie Victor Schklowski “Zoo oder Briefe nicht über die Liebe”, Moyshe Kulbak “Child Herold aus Disna” Gedichte über Berlin, Wladimir Nabokow - “Berlin ein Stadtführer”.

Als ich den Berlin-Roman “Das Spinnennetz” von Joseph Roth las, wurde mir klar, dass ich schon die Verfilmung mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle kannte.

Wo hast du auf den Roman von Heinrich Zille gefunden?

Friedrichshainerin: Ich habe seine "Hurengespräche" mal als angeblich erotische Texte gekauft. Mir standen die Haare zu Berge. Es geht eigentlich fast nur um Missbrauch von Kindern, meist durch den eigenen Vater.

Das ist heute ja immer noch ein großes Problem, aber damals war es ja schon fast gang und gebe in den Berliner Mietskasernen. Viele Menschen waren in nur einem einzigen Zimmer zusammengepfercht. Damals war keiner einsam, man hatte kein Privatleben, Jeder wußte alles von Jedem, aber möchte man das? Die Männer hatten wenigstens noch die Freiheit, in die Kneipe auszuweichen.

Klaus Mann scheint dir besonders gut zu gefallen.

Friedrichshainerin: Warum denken die Leute eigentlich immer, dass sie total am Ende sind, während sie in Wirklichkeit auf dem Höhepunkt ihres Schaffens stehen?

So ging es jedenfalls Janis Joplin, Sylvia Plath und auch Klaus Mann. Alle haben den Erfolg ihres besten Buches bzw. ihrer besten Platte nicht mehr miterlebt, weil sie vorher ihrem Leben ein Ende gesetzt haben.
Klaus Mann hätte es wohl dringend nötig gehabt, endlich einen großen Erfolg zu haben, der ihn endgültig aus dem Schatten seines Vaters und seines Onkels Heinrich Mann reißt.

Anfang der 80ziger stellte sich eine Kommilitonin von mir mal den ganzen Tag vor einer Buchhandlung in der Friedrichstraße an, die grade neu eröffnet wurde.

Sie kam mit einem Arm voller Bücher wieder an, die in der DDR Bückware waren, unter anderem auch mit „Mephisto“. Ich blätterte mal kurz in dem Buch, konnte mich nicht mehr losreißen und las es dann die ganze Nacht auf Ex durch.

Seitdem habe ich es noch viele Male gelesen, und ich habe den Film wohl schon gefühlt 20 Mal gesehen. Leider ging es mir mit andern Werken von Klaus Mann ganz und gar nicht so. Obwohl gute Stellen zu finden waren, resignierte ich meist in der Mitte. Ein schwuler Bekannter von mir sieht das anders. Vielleicht aus Verbundenheit mit dem ebenfalls homosexuellen Klaus Mann?


Vielen Dank für Deine Auskünfte Friedrichshainerin, und dass du dir für uns Zeit genommen hast.
 
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Diese witzige Form der Selbstinterpretation hat mich auf doppelte Weise überrascht, Friedrichshainerin. Einmal schon durch den schwer vorstellbaren Umfang des Quellenmaterials, das durchzuackern gewiss viel Zeit und konsequentes Engagement erforderte, und dann dadurch, dass es mir zum allergrößten Teil unbekannt war. Es scheint, dass unsere Interessengebiete in Bezug auf Berlin sich nur wenig überlappen. Sie berühren sich fast nur bei jenen Autoren mit Berlinbezug, die die Aufnahme in den Kanon der National- oder internationalen Literatur geschafft haben. Ich kann eigentlich nur bei ihnen ein wenig mitreden, und bei ihnen ist mir der Ortsbezug nur Nebensache.

Nach meinem subjektiven Eindruck hat Berlin zwar viel Literatur entstehen lassen, aber für eine Metropole relativ wenig ganz Großes, etwa im Vergleich mit Paris, Wien, Rom, New York. Warum das so ist, das müsste jetzt lang und breit untersucht werden. Es würde mich zumindest heute Abend überfordern. ich will nur noch eine zweite Beobachtung erwähnen. Wenn ich mich nicht täusche, ist noch etwas typisch: Gerade die von außen zugezogenen Autoren, deren Namen weithin bekannt wurden, haben während ihrer produktiven Zeit in der Stadt meistens Stoffe behandelt, die mit Berlin wenig oder gar nichts zu tun hatten. Beispiel 1: Robert Walser hat seine auf Dauer erfolgreichen Romane in seinen Berliner Jahren geschrieben, doch die Stadt kommt nur als blasser Schemen in "Jakob von Gunten" vor. Beispiel 2: Robert Musil hat einige der besten Teile von "Der Mann ohne Eigenschaften" in seiner Berliner Bleibe am Kudamm geschrieben, sie sind in Wien angesiedelt. Er lernte Walther Rathenau in Berlin kennen - du spielst ja auf ihn an - und machte aus ihm Arnheim, der sich in Wien herumtreibt. Fontane? Auch da ist Berlin eher eine Randerscheinung.

Wenn Berliner Autoren (oder solche zeitweilig hier ansässig gewesene), die ich kenne und schätze, so wenig aus der Stadt gemacht haben, warum soll ich mich dann speziell für den Aspekt Literatur aus Berlin interessieren? Der Stadt scheint etwas Literaturfeindliches anzuhaften. Sie hat keinen Flaubert, Proust, Kafka, Joyce. Tomasi di Lampedusa oder Jahnn hervorgebracht oder auch nur länger beherbergt. Zum Format Döblin hat es gereicht. Oder Erich Kästner.

Es wird wohl so sein, dass dein Antrieb in erster Linie nicht literarisch, sondern lokalhistorisch und soziologisch war. Das ist nicht zu kritisieren, es zeigt nur die unterschiedlichen Interessenschwerpunkte an.

Schöne Abendgrüße
Arno
 
Hallo Arno Abendschön,

Das, was Dir aufgefallen ist, habe ich auch schon bemerkt. Viele, oder besser gesagt die meisten deutschen Schriftsteller haben längere oder kürzere Zeit in Berlin gelebt aber wenig über ihre Zeit hier geschrieben. Brecht hat auch kein Berlin-Stück verfasst, außer vielleicht dem “Lesebuch für Städtebewohner”. Sogar Ehm Welk hat hier gelebt. Hätte ich auch nicht gedacht.

Die großen Werke der deutschen Literatur, ich denke da an Kafka, Hesse, Thomas Mann, Feuchtwanger wurden auch nicht hier verfasst. Die Romane von Nabokow spielen zwar hier, aber meist nur innerhalb der russischen Community. Robert Walser hat hat einen Erzählband über Berlin verfasst. Er heißt “Die kleine Berlinerin”. Stefan Zweig hat hier kurze Zeit studiert, aber wenig über Berlin geschrieben. Frechheit. Ich habe extra “Die Welt von Gestern” runtergeladen auf kindl. Sehr scheint ihn die Stadt nicht geprägt zu haben.

Ich finde eigentlich, dass viele Autoren, die zu ihrer Zeit sehr bekannt waren, nicht zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. Ihr Werk, oder viele von ihren Sachen haben die Zeiten nicht überdauert, da sie alles andere als unvergängliche Kunst sind. Ein Zola, ein Dickens, Balzac, Proust usw ist nicht dabei. Aber darauf ist es mir nicht angekommen. Ich wollte nur authentische Berichte von Leuten, die vor hundert Jahren hier gelebt haben, wiedergeben. Viele Romane, die ich erwähnte habe, sind auf ihre Art ganz schön trashig. Über allem schwebt aber Alfred Döblin und sein bekanntestes Werk.

Gruß Friedrichshainerin
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Friedrichshainerin, lieber Arno,

ich denke, man sollte es nicht Berlin 'anlasten', wenn sie nicht als Literatenwiege anzusehen ist. Gerade die genannten Städte, bei denen das der Fall ist, sind in ihrer nationalen Bedeutung einzigartig und außer Konkurrenz. Selbst New York, dem viele Großstädte zur Seite stehen, hat dieses Alleinstellungsmerkmal des Tors von der Welt über so lange Zeit, dass sich ein einzigartiges Völkergemisch und eine Identifikation ergab, die nur durch den Ort entstand.
Nach Berlin kommt man, um zu sein, wer man ist - nachdem man es unter Schmerzen herausgefunden hat; alle anderen sind auf der Durchreise.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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