Istanbul erobern

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kuonisiebach

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Die Osmanen brauchten etwa zwei Monate für ihre Eroberung. Ich hatte eine Nacht. Bisher war ich in Istanbul stets umgestiegen, ohne den Flughafen zu verlassen. Jetzt trat ich in die Stadt hinaus. Sie kam mir fremd und ungeheuer vor, und ich mir klein und verloren. Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, gebe ich allerdings nicht viel auf Anteile, die lieber zuhause auf dem Sofa säßen. Ich machte ihnen eine klare Ansage (Ich geh‘ jetzt, kommt ihr mit oder bleibt ihr da?) und nahm mir ein Taxi zum Hotel. Sie stiegen mit ein, hielten sich am Gepäck fest und wir bestaunten die vorbeiziehenden Kuppeln, die enger werdenden Gassen, den Ruf des Muezzin.

Bis ich eingecheckt und mich vorbereitet hatte, war es fast elf Uhr. Nachts. Ich verließ das Hotel. Die ganze breite Straße war gestopft voll mit Menschen, bunt, laut, vibrierend. Wir haben es nicht so mit Menschenmengen, und Taxis fuhren hier nicht. Also setzte ich die Tarnkappe auf und schlängelte mich durchs Gewühl. Mein Ziel lag in einer Seitenstraße und ich hörte es, bevor ich es sah: Milonga. Ich trat ein. Im Vorraum legte ich meine unscheinbare Jacke ab. Darunter trug ich ein kleines Schwarzes im Lingerie-Stil mit je einem handbreiten Streifen durchsichtiger Spitze von den Knien über die Vorderseite der Schenkel bis hoch unter die Brust. Ich zog die Tanzschuhe an: schwarzes Wildleder mit zart-silbernen Glitzerpunkten wie ein mitternächtlicher Sternenhimmel, edel geschwungene Riemen, das Ganze im schwindelnd hohen Absatz tanztauglich armiert durch einen Stift aus Stahl.

So gerüstet betrat ich den dezent beleuchteten Tanzsaal, ließ meine Beine einen freien Stuhl ansteuern und setzte mich. Ich kramte ein wenig in meiner Tasche. Dann hob ich den Blick. Mir fiel sofort auf, wie jung sie hier waren. Zuhause hatte ich das Tangotanzen als eine Beschäftigung von Menschen in der zweiten Lebenshälfte kennengelernt. Wir betrieben das Tanzen nicht als Sport, und schon gar nicht als Show. Beim Tango geht es um Begegnung. Ob diese Jünglinge das wussten?

Schon stellte sich einer vor mich hin und verbeugte sich. Wir tanzten. Er führte so artig wie er mich aufgefordert hatte. Ich schloss die Augen und spürte hin. Was mir begegnete, war eine redliche Entschlossenheit, wie wenn er sich verantwortlich fühlte, die Rolle als Führender auszufüllen, als Mann, der eine Frau, gleich welchen Alters, im Arm und dafür zu sorgen hat, dass es ihr gut geht, dass sie genießen kann und es nicht zu Kollisionen kommt. Das rührte mich. Allerdings war er damit so beschäftigt, dass er bei aller Nähe doch unerreichbar wirkte. Als die Pausenmusik das Ende der Runde anzeigte, bedankte ich mich und kehrte auf meinen Platz zurück.

Wieder ließ ich meinen Blick schweifen, wollte ihn schweifen lassen, wurde aber aufgehalten, vom Blick eines Mannes an der Wand zur Linken. Er war in den Dreißigern. Ein unmerkliches Nicken und wir erhoben uns und gingen aufeinander zu. Die Pausenmusik spielte noch. Er sprach mich an. Ich kann kein Türkisch. Er konnte kein Englisch. Dann setzte der Tango ein, und wir fanden unsere Sprache. Ja, er war jung, kein Routinier, da war Kraft und Zartheit, er fasste mich nicht mit Samthandschuhen an und führte, ohne dominieren zu wollen. Er forderte die Frau ein und ich antwortete, ja, das war ein Gegenüber. Bald war klar, dass wir bis zur letzten Note miteinander tanzen würden. Und das taten wir. Schon waren wir von Kopf bis Fuß verschwitzt. Trinkpausen gab es nicht, keine Müdigkeit, nur die Musik, die Rhythmen, ihn und mich. Wieder und wieder standen wir in den Pausen schweigend voreinander und gierten nach dem nächsten Tanz. Die Musik schwieg jetzt auch. Schon eine Weile. Wir warteten. Wo war die Pausenmusik, wo der nächste Tanz?

Wir blickten auf. Der Raum war leer. Der DJ war noch da, lachte, das sei jetzt aber der letzte Tanz gewesen, er wolle nun das Licht ausmachen. Wir lachten auch, etwas verlegen. Ich schaute meinen Tänzer an, unsere Augen bedankten sich. Dann trank ich meine Wasserflasche aus, zog Jacke und Straßenschuhe an und ging. Auf der Straße war es ruhig geworden. Die Stadt war immer noch groß, aber ich nicht mehr klein. Ich lächelte. Und noch als ich im Bett lag und in den Schlaf hinüber glitt, konnte ich nicht aufhören zu lächeln.
 



 
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