Jackpot

Val Sidal

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Niemand sollte denken, dass ich mich mit solchen Leuten umgebe. Oder dass ich deren Gesellschaft genießen, oder sogar suchen würde. Nur weil ich tolerant und belastbare bin. Kommt ja auch nicht wirklich oft vor. Aber in einer Kleinstadt läuft man sich halt über den Weg. Und weil ich zum Beispiel die Paprikasorte, die für Gefüllte Paprika benötigt wird, nur beim Türken bekomme, muss ich halt inkaufnehmen, Mehmet zu treffen.

Wir quatschen meistens über Fußball -- auch über Tipp-Wetten -- und über Lotto. Etwas besorgt hörte ich neulich, dass er seit einiger Zeit seinen wöchentlichen Einsatz sehr gesteigert hat. Trudi meinte, es wären schon hundert Euro in der Woche, seitdem es Dienstag, Mittwoch, Freitag und Samstag Zeitungen wären. Vielleicht auch, weil die Jackpots so hoch wären, warf Heinz ein, und Trudi stellte klar, dass sie diese Entwicklung ablehnen und die Gelder ganz anders aufteilen würde.

Ich glaubte das Gerede nicht -- verunsichert war ich dennoch. Welche Halva-Sorte würde er mir empfehlen, fragte ich Mehmet, nachdem er sich endlich die "richtige" Sorte gesalzene und geröstete Kürbiskerne in den Einkaufskorb gelegt hatte -- für das Genclerbirglici-Spiel, sagte er. Als ich ihn frontal mit dem Gerede der Leute konfrontierte, er würde sein sauer verdientes Geld zum Fenster rauswerfen, verfinsterte sich seine Mine.
Die Leute haben keine Ahnung, flüsterte er mir geheimnisvoll zu -- und "Du kennst Angelo, meinen Neffen -- kennst ihn?" Ich nickte, während er schon von Angelo erzählte, dass der Sprachwissenschaften studierte. Angelo ist sehr klug, aber etwas verstockt, stellte Mehmet fest. "Als ich ihm klar machen wollte, dass die Wahrscheinlichkeit, den Jackpot zu gewinnen, nicht -- wie behauptet -- bei 1 zu hundertvierzig Millionen liegt, sondern fifty-fifty ist -- Angelo, hör zu, sagte ich ihm, entweder ich knacke den Jackpot oder nicht -- kapiert? So einfach ist das, fifty-fifty, da lachte Angelo nur. Pass auf, sagte Mehmet, Angelo hat mich inspiriert, ich habe es endlich verstanden.

Ich wollte schon längst gegangen sein, als er ganz nah zu mir gebeugt seine Erleuchtung ins Ohr hauchte. Dass er jahrelang falsch gespielt hätte, von falschen Annahmen ausgehend, die falschen Zahlen getippt hätte -- verstehst du, fragte er mit leuchtenden Augen, ein falsches System. Er wollte mich unbedingt überzeugen, dass er im Gespräch mit Angelo das "richtige" System erkannt hatte: die gezogenen Zahlen seien Botschaften. Bei jeder Ziehung würden sie verschlüsselt mitteilen, welche Zahlen bei der nächsten Ziehung folgen würden. Eine Prophezeiungen. Pro heisst ja sowas wie vorne, oder so.

Mehmet packte meinen linken Oberarm und hielt inne, warf ein "Hallo Herr Professor" dem greisen Klavierlehrer zu, der sich nicht zwischen Akazienhonig und Rosenblütenmarmelade entscheiden konnte.
Wieder bei mir, deutete Mehmet nun an, dass er den Schlüssel gefunden habe und ich erleben werde, wie er den Jackpot abräumte. Ich beteuerte, das es Quatsch sei, weil jedes Kind wüsste, dass es beim Lotto kein System geben kann. Das ist Mathematik.

Zwei Wochen später knackte Mehmet den Jackpot und räumte einen Gewinn von mehr als zehn Millionen Euro ab. Als ich ihn im Eiskaffee traf, kam er mir strahlend entgegen und mit breiter Brust knallte er es mir gegen den Kopf: "Quatsch -- ne? Zehn Millionen Quatsche!" Wir lachten und er lud mich zu einem Früchtebecher ein. Ich versuchte ihn zu überzeugen, dass es Zufall war -- dass jeder vernünftige Mensch bestätigen würde: es kann nur Zufall gewesen sein. Mehmet blieb dabei -- der Jackpot war der Beweis.

Mir schien, dass ihm tausendmal wichtiger war, dass er endlich recht hatte als das Geld. Auch deswegen stimmte ich ihm schließlich zu. Und auch, weil ich einem wie Mehmet niemals mein Geheimnis preisgeben würde. Eigentlich niemandem.
Man male sich die Konsequenzen aus -- was passieren würde, wenn ich Mehmet verraten hätte, dass ich die Fähigkeit -- die Kraft besitze, mit meinem Geist Gegenstände in großer Entfernung zu bewegen. Unvorstellbar! Dass ich seine Zahlen telepathisch abgefragt und dann die Ziehung geistig manipuliert hatte. Nein! Er wird sein Leben lang den Quatsch vom "System" glauben. Besser so, als würde er die Wahrheit an die Weltregierung verraten.
 
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