Jahwes Geschenk

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Jahwes Geschenk
Meine Weihnachtsgeschichte

Vor gut 2000 Jahren unserer Zeitrechnung standen Saturn und Jupiter schon einmal in ähnlicher Konjunktion wie in diesen Tagen.
Damals…
Der sanfte Josef trat aus der Stalltür und blickte kurz zu diesem merkwürdig hellen Stern hinauf, der seit einigen Tagen am Abendhimmel leuchtete. Er ging eilig hinüber zum Terebinthenbaum, wo die Hirten lagerten. Sie hatten ihm und seiner schwangeren Frau Mirjam, die täglich niederkommen konnte, bei ihrer Ankunft gestern ihren Stall als Herberge überlassen. Die beiden waren waren auf dem Weg nach Nazaret, dem Geburtsort Josefs, um sich dort registrieren zu lassen. Es waren zwar nur noch zwei Tagesmärsche von Bethlehem dorthin, aber die mühsame Reise auf dem Eselsrücken hatte den Gang der Natur beschleunigt und Mirjams Schenkel waren am Abend feucht geworden.
Josef näherte sich langsam den Männern, die um ein Feuer lagerten, und begrüsste mit einer respektvollen Geste den Ältesten, der wortlos sein Schächtmesser aus dem Gürtel zog und in die leicht zitternde Hand des Zimmermanns aus Nazaret legte.
Der struppige Alte hatte ihn noch in der Nacht zuvor über die notwendigen Massnahmen bei einer Geburt unterrichtet, das Durchtrennen und anschliessende Verknoten der Nabelschnur, das Trockenreiben des Neugeborenen und andere wichtige Punkte. Und heute in der Frühe hatte Josef bei der Geburt eines Lammes unter seiner Aufsicht selbst die notwendigen Handgriffe ausgeführt.
Wenn es um Zeugung und Geburt ging hatte er seit jeher verschämt und schüchtern reagiert. Die Hirten dagegen benannten diese Vorgänge direkt und grob. Bei den Weibern war es ja nicht anders als beim Vieh!
Ungeschickte Hände hatte er als Bauhandwerker nicht - wenn es um das Einpassen von Dachbalken oder das Ausrichten eines Firstes ging. Aber die Aufgabe, die vor ihm lag, erforderte eine ganz andere Art von Geschicklichkeit, von der sogar das Leben seines Weibes und des Kindes abhing. Ihres Kindes…, ihres Kindes, seines Kindes.
Blut hatte er immer schon verabscheut. Das Ausbluten des Viehs nach dem Schnitt durch die Kehle machte ihn Würgen, wenn er es bei Familienfesten mit ansehen musste. Und das Blut der Weiber und der mannbaren Töchter kannte er nur vom Hörensagen; wenn er an die Vorgänge darum dachte schauderte ihn.
Heute morgen, als es darum ging, das Lamm zu ziehen und abzutrennen, hatte er sich gelinde gesagt ungeschickt angestellt. Die jungen Hirten feixten hinter seinem Rücken und als das Lamm schliesslich blökte machten sie laut ihre derben Witze seine Zaghaftigkeit bei dieser für sie alltäglichen Operation.
Josef betrachtete das Messer in seiner Hand und wandte sich zögernd zum Gehen. Einen Moment schien es, als wolle er den Ältesten bitten, mit ihm zu kommen. Aber bei den Hirten war nur die Geburt der Lämmer Sache der Männer, die Geburt der Kinder aber gehörte den kundigen Weibern. Die dafür einen immensen Preis verlangten! Auch wenn es das 6. oder 7. Kind war; auch wenn es tot zur Welt kam; auch wenn die Mutter dabei starb! Für Gottes Lohn kamen die nicht! Darauf hatte der Patron am gestrigen Abend ausdrücklich hingewiesen und ihn dabei vielsagend gemustert.
Seit der Hochzeit hatte er, ein kontemplativer Mann, über einige Dinge immer wieder nachdenken müssen.
Sie hatten am ersten Jom Schlischi (Dienstag) des Monats Siwan (Mitte Mai) unter freiem Himmel geheiratet. Das Brautpaar war nicht ganz in weiss gekleidet, dazu fehlte es an Geld. Weiss war nur Mirjams Kopftuch, das als Schleier dienen musste. Gerade als sie unter dem Baldachin zur Besiegelung des Bundes vom gesegneten Wein trinken sollte hatte ein plötzlicher Luftzug ihr dieses Zeichen der Reinheit vom Kopf geweht. Erschreckt liess sie den Becher fallen, während sie danach griff. Josef hob das an einer Stelle beschmutzte Tuch - war das Taubendreck? - auf und legte es ihr wieder auf den Kopf. Dann trank auch sie. Der Rabbi hatte den Zwischenfall als ein gutes Zeichen gedeutet. Gemäss der Überlieferung stand am Ende des dritten Tages der Schöpfung, dem Jom Schlischi geschrieben: „Gott sah, dass es gut war“.
In der Nacht nach dem Fest war ihm seine angeborene Schwäche besonders schmerzhaft bewusst geworden. Warum hatte er nichts empfunden, als sie sich - nahezu ungebührlich heftig - an ihn schmiegte? Und auch später war es ihm nie gelungen, seine ehelichen Pflichten nach Recht und Ordnung zu erfüllen.
Mirjam gestand ihm nach wenigen Wochen, sie sei guter Hoffnung. Er unterdrückte seine Überraschung und glaubte zunächst an eine Einbildung; wie es bei jungen Frauen eben vorkommt, die sich heftig ein Kind wünschen.
Gewiss, es gab auch Erzählungen über Geister und Wiedergänger, die nachts die Weiber bestiegen, aber konnte man das wirklich glauben?
Ihm kam diese merkwürdige Erscheinung wieder in den Sinn. Es war im Nisan (Mitte März) gewesen, als er nach der Arbeit von seiner Werkstatt in Nazareth zum Zelt seiner Familie am Rande des Ortes zurückging. Er wollte in der auf dem Weg gelegenen Hütte seiner Verlobten wie jeden Tag einen kurzen Besuch machen, als aus der halb geöffneten Tür diese merkwürdige Taube herausgeflogen kam; mit diesem auffällig hellen, fast weissen Gefieder. Den Lufthauch, den sie bei ihrem raschen Flug - fast senkrecht in den Himmel! - hinterliess, spürte er noch, als sie schon nicht mehr zu sehen war. Er war schnell weiter gegangen ohne einzutreten. Es ist ja nicht selten, dachte er, dass sich einmal ein Vogel in ein Haus verirrt, aber eine solche Taube hatte er noch nie gesehen.
Diesen Vorfall vergass er damals über seinen täglichen Geschäften und der Vorbereitung der Hochzeit bald völlig.
Als Mirjams Leibesfrucht nicht mehr zu übersehen war, kam ihm das Bild dieser Taube aber wieder in den Sinn. Er spürte eine dunkle Eifersucht, die immer stärker wurde, so dass er auf dem Nachtlager laut aufseufzte. Mirjam bemerkte es nicht, sie atmete tief und ruhig neben ihm.
Schon bevor er zu Lager der Hirten hinüberging hatte Josef regelmässig eins von den bräunlichen Klümpchen gekaut, die aussahen wie getrockneter Schafdung. Der Alte hatte sie ihm gestern aus einem Ledersäckchen in die Hand geschüttet, als er nach der umständlichen und blumigen Unterweisung in den Ablauf der Geburt um Mitternacht dessen Zelt verliess. Er solle, wenn die Sonne den Horizont berühre, jede Stunde ein kleines Stückchen davon nehmen, und auch seinem Weib davon geben, sobald der Geburtsschmerz stärker werde. Auf seine Frage, was es sei, hatte der Alte ausweichend geantwortet. „Vielleicht ein Pilz, vielleicht ein Harz, wer weiss das schon… Es ist ein Geschenk Jahwes, da fragt man nicht.“
Mirjam hatte sich geweigert, davon zu nehmen, und auch sein Hinweis auf das, was der alte Hirte darüber gesagt hatte, stimmte sie nicht um. So legte er nur einige Bröckchen auf den kleinen Teppich neben ihrem Lager.
Ein bis zwei Stunden war er dann an ihrer Seite geblieben. Langsam war die den ganzen Tag auf ihm lastende Bedrückung gewichen, er fühlte sich jetzt leicht und fast beschwingt. Er nahm linkisch ihre Hand, wenn sich ihr Gesicht verkrampfte, was immer öfter eintrat, und trocknete ihre Stirn, wenn sie einen Augenblick Ruhe hatte. Aber er litt nicht mehr mit ihr wie noch am Morgen, wie in den letzten Tagen, nein, nach Leiden war ihm jetzt nicht zumute. Im Gegenteil: eine Heiterkeit hatte ihn ergriffen; machmal musste er sogar ein Drang zu lachen unterdrücken. Seine Versuche, ihr Mut zuzusprechen waren in der Wortwahl oft regelrecht unpassend.
Einmal verließ er fast fröhlich den Stall, um das Wasser abzuschlagen.
Bei seiner Rückkehr lagen auf dem Teppich deutlich weniger dieser Kügelchen als er hingelegt hatte. Abgesehen davon, dass er es nicht bemerkte, wäre er nach ihrer vehementen Ablehnung, davon zu kosten, nicht einmal auf die Idee gekommen, sie könne etwas von diesem Manna der Hirten genommen haben. Das plötzliche Leuchten in ihren Augen erstaunte ihn nicht, und auch der vorher nicht vorhandene verklärte Ausdruck in ihrem Gesicht entging ihm. Auch, dass sie jetzt nicht mehr stöhnte und schrie, wenn ihr Leib sich zusammenzog, fand er nicht sonderbar. Nein, er war froh, dass sie offensichtlich kaum mehr litt, und küsste sie fast schelmisch auf die Stirn.
Josef musste wohl eingenickt sein, denn er schrak auf, als plötzlich ein lautes Krähen zu hören war. Gerade hatte er wieder von dieser Taube geträumt, und das Geschrei des Neugeborenen klang ihm beim Aufwachen fast wie ein Gurren. Oder war es doch nur ein Schaf gewesen, das hinten im Stall geblökt hatte?
Es dauerte eine Weile, bis er die Situation begriff: auf der groben Decke lag zwischen Mirjams geöffneten Schenkeln das Neugeborene - ein Junge, wie er flüchtig dachte.
Es brüllte.
Mehrere Dinge gingen ihm jetzt gleichzeitig durch den Kopf: wo ist das Messer? Wo muss der Schnitt gemacht werden? Nah am Kind, in der Mitte oder doch mehr zur der durch einen Mantel abgedeckten Öffnung hin, aus der dieser bläuliche Strang herauskam? Wie und in welcher Reihenfolge hatte der Mann nach dem Schnitt die Knoten geschlagen?
Ganz in Gedanken hatte er wieder einen Klumpen der Hirtenmedizin, dem „Geschenk Jahwes“, wie er sie jetzt bei sich nannte, aus seiner Manteltasche gezogen und ohne hinzuschauen in den Mund geschoben. Es war ein grosses Stück gewesen, fast so gross wie eine getrocknete Dattel.
Und dann ging plötzlich alles wie von selbst: er sah sich als leuchtenden Engel - oder war es wirklich ein Engel, was er sah? -, der mit der Berührung seines Schwertes das Kind von der Mutter trennte; der Stall strahlte in glänzendem Licht, himmlische Musik ertönte; sauber gewaschene und gekämmte Hirten knieten am Eingang des Stalles… -Warum eigentlich? -
Der Stern leuchtete hell im Fenster.
Weshalb nur hatte er sich so viele Sorgen gemacht? Er lachte. Die Frage, wie mit der Nachgeburt zu verfahren sei, beunruhigte ihn nicht mehr. Die Hirten warfen sie immer ihren Hunden zum Frass hin. Warum denn nicht!
Er lachte. - Auch Mirjam lachte.
Er blickte zu ihr, die das in eine Decke gewickelte Kind im linken Arm hielt und an ihre Brust drückte. Sie ergriff seine Hand und drückte sie sanft. Hinten im Stall hörte man ein Flattern. Wird wohl eins von den Hühnern sein, dachte er, und lachte wieder.
Sie waren eine glückliche Familie.
Dass sie auch eine heilige Familie sein würden konnten sie an diesem Wintertag, im Jahr 3761 nach der Erschaffung der Welt, noch nicht wissen.
Einige Wochen später lagen Josef und Mirjam in geschwisterlicher Umarmung auf ihrer Bettstatt und betrachteten das schlafende Kind. Plötzlich spürte Mirjam, dass sich in Josefs Leibesmitte etwas regte. Überrascht drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn fragend an. Er aber grinste nur und sagte: „Ein Geschenk Jahwes, da fragt man nicht.“
So wurden sie auch ein glückliches Paar.
Und Jahwe - gelobt sei sein Name - schenkte ihnen nach der seltsamen Fleischwerdung ihres auffällig flatterhaften Erstgeborenen noch viele weiter Kinder.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Eine sehr schöne Weihnachtsgeschichte, die ich beinahe übersehen hätte!

Beinahe.

Gruß an den sympathischen Josef

DS
 



 
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