Josefs Traum vom Frieden

Olaf Euler

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Es begab sich aber zu der Zeit der Feindschaft, der Angst und der Verlassenheit…

Mein Volk und ich hatten die Unterdrückung des Imperium Romanum satt und wir sehnten uns nach friedlichen Zeiten, in denen wir unser Zusammenleben in Freiheit und Solidarität gestalten konnten. Die Verheißung gab es, aber unser Leben war eingeschränkt durch unsere Besatzer, die uns mit ihren Herrschaftsansprüchen demütigten. Im Alltag war es meist nur durch die Last der Steuern und der Schikane stationierter Soldaten und Beamten spürbar. Aber alle fünf Jahre ließen sie uns ihre Macht nochmals eindringlicher spüren, indem wir uns einer Volkszählung unterziehen mussten. Zu diesem Zensus mussten die Familienväter mit ihren Frauen den jeweiligen Herkunftsort aufsuchen, um sich bei den örtlichen Behörden registrieren zu lassen, damit diese die zukünftige Steuerlast ermitteln konnten. Die Finanzierung der Reise war ebenso wie der Verdienstausfall den jeweiligen Familien überlassen. Ein Raunen der Empörung machte sich zu diesen Zeiten in meinem Volk breit, wie lange sollten wir diese Ungerechtigkeit noch ertragen? Wann würde sich uns die Verheißung des Friedens ereignen?

Meine Familie versuchte durch das Alltagsgeschäft in der Werkstatt Rücklagen zu bilden, um dem Verdienstausfall meines Vaters entgegenzuwirken. Da ich noch zu seinem Haushalt gehörte, musste ich nicht am Zensus teilnehmen und konnte den Betrieb zumindest weiter aufrechterhalten. Dieser Vorteil reichte trotzdem kaum aus, ohne mit finanziellen Einbußen leben zu müssen. Zudem stand ja im kommenden Jahr auch meine Vermählung mit Maria an.

Maria verhielt sich in der letzten Zeit sehr sonderbar. Sie wirkte gelassener und zuversichtlicher als sonst, drängte aber gleichzeitig darauf, möglichst bald die Eheschließung zu vollziehen. Das würde im Hinblick auf die Volkszählung einen noch höheren Aufwand bedeuten, da ich dann als Gründer einer eigenen Familie ebenfalls zur Registrierung verpflichtet wäre und dann nicht das Tagesgeschäft fortführen könnte. Im Vertrauen wandte Maria sich dann aber an mich und teilte mir eine fantastisch klingende Begebenheit mit. Sie hätte auf geheimnisvolle Weise ein Kind empfangen, dass den lang ersehnten Frieden für uns und die Völker schaffen würde. Mir war klar, dass ihre Schwangerschaft das Resultat einer Vergewaltigung von einem stationierten Soldaten gewesen oder ihr auf ähnliche Weise Unrecht zugefügt worden war. Während ich noch darüber nachsann, wie ich die Vermählung zu ihrem Schutz möglichst stillschweigend umgehen könnte, inspirierte mich der Traum eines solchen Friedenskämpfers in unserer Zeit. Mir war so, als ob es in meiner Hand lag, diesem Traum einen Weg zu bereiten oder ihn zu verwerfen. Wie ein Narr rang ich tagelang mit der Frage der richtigen Entscheidung. Dann wurde mir klar, dass ich bei einer Auflösung der Verlobung das erlebte Unheil Marias noch weiter wüten lassen würde. Andererseits bestand so die Möglichkeit, ihm die Macht zu nehmen. Der Entschluss für eine Eheschließung bot zumindest Maria und dem unehelichen Kind die Möglichkeit, halbwegs friedlich aufzuwachsen. Soweit das in unseren Zeiten möglich war.

Mein Vater war irritiert über meinen plötzlichen Sinneswandel und die Forderung einer eiligen Eheschließung. Er gewährte mir aber nach ausufernden Diskussionen diesen Wunsch unter der Bedingung, dass ich der Verantwortung für unsere Werkstatt weiterhin nachkam. Nun stand ich mit einer schwangeren Frau vor der Herausforderung, diese unfreiwillige und höchst kostspielige Reise anzutreten und gleichzeitig den Verdienstausfall so gering wie möglich zu halten. Wie zynisch nahm mein Herz die überschwänglichen Glückwünsche der Familie und Nachbarschaft entgegen, als sie kurz nach dem Hochzeitsfest bemerkten, wie G#TT unsere Ehe mit einer Schwangerschaft gesegnet hatte, während ich mir über die Versorgung meiner Familie den Kopf zerbrach. Ich schimpfte mich einen Trottel aufgrund der einst gefällten Entscheidung und hoffte nur inständig, dass wir diese existentielle Krise überlebten.

Mein Vater brach bereits zwei Tage vor mir zu unserem Herkunftsort Betlehem auf, um möglichst schnell die Registrierung abzuschließen, nach Nazareth heimzukehren und den Betrieb wieder aufzunehmen. Maria war mittlerweile hoch schwanger. Wir blieben so lange wie möglich zuhause und ich versuchte, offene Arbeiten abzuschließen und neue Aufträge anzunehmen. Als sich die gesetzte Frist näherte, brachen Maria und ich nach Betlehem auf und hofften, möglichst vor ihrer Niederkunft wieder in Nazareth zu sein. Aufgrund von behördlichen Verzögerungen war die Ausgangssituation in Betlehem aber ganz anders als von uns vorgesehen. Die Beamten des Zensors kamen mit den Registrierungen nicht hinterher und trafen erst später ein, so dass die Reisenden erfolglos vor der Zulassungsstelle warteten und nun die Herbergen blockierten. Wir fanden daher keinen Schlafplatz und ich sah es als gerechte Strafe meines Leichtsinns an, dieser altruistischen Gefühlsduselei, Maria und ihr Kind retten zu wollen.

Ich konnte bei einem Bauern unter Drängen erreichen, dass wir in seinem Stall unterkamen. Aufgrund der mühseligen Reise und unserer strapaziösen Suche nach einer Herberge, setzten ausgerechnet in dieser Nacht noch Marias Wehen ein und sie gebar im Mist und Stroh des Stalles ihr Kind. Da niemand sonst ihr bei der Entbindung helfen konnte, musste ich ihr unter der Geburt zur Seite stehen und mich dann um das Neugeborene kümmern. Als ich es in meinen Händen hielt, überkam mich für eine kurze Zeit ein grausamer Gedanke. Was wäre, wenn ich seinem Leben sofort ein Ende setzen würde, wie es bei den Völkern nicht selten geschah? Ich weiß, allein so etwas zu denken, zeugt von der Boshaftigkeit meines Herzens. Es war aber meine Verzweiflung, die mich dazu trieb, was meine Scham nicht minderte. Wie sollen wir mit dem Kleinen die nächsten Tage überstehen, in einem unterkühlten, stinkenden Stall des Nachts und tagsüber vor der Zulassungsstelle? Ich schob den Gedanken sofort bei Seite, küsste und segnete den Kleinen und übergab ihn Maria, während ich ihnen ein möglichst warmes Nachtlager herrichtete.

Nach einer unruhigen Nacht und einem langwierigen Tag vor der Zulassungsstelle konnten wir unsere Registrierung hinter uns bringen und am nächsten Morgen zurück nach Nazareth aufbrechen. Maria war von der Geburt und der ewigen Warterei auf dem Marktplatz völlig erschöpft. Da unser Proviant vollständig aufgebraucht war, versuchte ich abends die letzten Habseligkeiten für etwas zu Essen einzutauschen. Als ich mit einigen Fladen und Feigen zurück zum Stall eilte, waren davor Kamele angeleint. In dem Stall hatten sich wohlhabende Ausländer eingefunden. Ich erschrak und nahm an, dass Maria überfallen wurde und die Männer ohne brauchbare Beute das Kind an sich reißen und als Sklaven verkaufen würden. Ich hatte ihnen weder etwas anzubieten, noch konnte ich ihnen etwas entgegensetzen. Daher überlegte ich erst, ob mein Auftreten das Unglück noch verschärfen würde oder meine Flucht die Situation zumindest nicht verschlimmerte. Ich besann mich aber darauf, in Erscheinung zu treten und mit den Räubern einen Kompromiss auszuhandeln, ohne das Kind an sie zu verlieren. Als ich eintrat, offenbarte sich mir eine ganz andere Situation. Die Ausländer bezeichneten sich als Sternenforscher, die am Himmel Anzeichen für die Geburt eines Königs gefunden hatten, der den Frieden in dieser chaotischen Welt herstellen würde. Ihre Sternenkunde hätte sie über Umwege zu dem Stall und diesem Kind geführt. Diese okkulten Spinner gingen achtungsvoll mit Maria und ihrem Kind um und wiesen mich nach ihrer Audienz vor dem Stall eindringlich darauf hin, dieses Kind zu schützen. Der amtierende König Herodes hätte über sie von ihm erfahren und sie waren nun um seine Sicherheit besorgt.

In was für ein Desaster bin ich da geraten? Dieses Kind bringt mein Leben in völliges Chaos und schafft alles andere als Frieden in dieser Welt. In einer schlaflosen Nacht wälzte ich mich auf dem Lager hin und her und versuchte einen Ausweg aus dieser Misere zu finden. Ohnmächtig und beängstigt, was uns als nächstes ereignen wird, fiel ich in einen unruhigen Schlaf. In einem Traum erschien mir eine leuchtende Gestalt und sprach: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, flieh in die Fremde, nach Ägypten und bleibe dort. Mit jeder gütigen Geste und jedem mutlosen Aufbegehren gegen die Angst, wirst Du dem Friedefürsten den Weg bereiten.“

Am nächsten Tag dann der Aufbruch in die Fremde, um dem Morden des Herrschers zu entgehen. Die Geschenke der Magier werden uns die Reise in die Ungewissheit ermöglichen. Ich werde dem Frieden einen Weg und dem heranwachsenden Kind einen sicheren Ort bereiten. Soweit das in unseren Zeiten möglich ist…



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Quellenhinweis: Als Grundlage dieser Interpretation der Weihnachtserzählung habe ich den Text aus dem Matthäusevangelium gewählt und sie um einzelne Aspekte, wie z. B. die Volkszählung, aus dem Lukasevangelium ergänzt.
 
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