Jugendleichtsinn

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alexknappe

Mitglied
„Schreib doch ein Buch“ hatte mir meine Schwester mal auf die Frage, was ich Sinnvolles tun könnte, geantwortet. Wohlwissend dass ihr großer Bruder kaum genügend Eigenverantwortung besitzt, um die täglichen Herausforderungen eines 23-Jährigen zu meistern. Wie soll jemand derart unreifes das Kunststück vollbringen, seine noch viel zu junge Lebensgeschichte in einen Roman zu verwandeln? Ich weiß es nicht.

Um aus freier Hand eine Lektüre zu schaffen, die nicht nur mit fachlich klingenden Begriffen umherwirft, sondern einen des Lesens würdigen Standard erfüllt und im besten Fall sogar ein paar Menschen unterhalten kann, braucht es neben einer kreativen Ader und einem enormen Maß an Geduld auch eine ganze Menge Leichtsinn. Mit diesen sehr unterschiedlich gemengten Attributen nahm ich die Herausforderung an.



Wir stoppen die Zeit im Sommer 2019. Es ist der bis dato schönste Sommer einer unbeschwerten Jugend. Ich blickte zwar schon auf einige Rückschläge zurück, hatte aber noch keine wirklich ernstzunehmende Last zu tragen. Ich war 19 Jahre alt und besuchte die Oberstufe eines Gymnasiums. Ich ging zu dieser Zeit sehr gerne zur Schule. Ich war beliebt, hatte in beinahe jedem Klassenkameraden einen Freund und strotzte vor Selbstbewusstsein. Das war aber eher eine Entscheidung als ein glücklicher Zufall. Die ersten zwei Jahre der weiterführenden Schule sind kein Leichtes gewesen. Ich war ein klassischer Außenseiter, meine besten Freunde waren Figuren aus Videospielen und meine größte Errungenschaft eine Drei in einer Deutsch Klausur. Die einzige Motivation morgens aufzustehen und das Haus zu verlassen, war ein junges Mädchen aus meiner Klasse. Es war das, was es ist, wenn sich ein Zehnjähriger das erste Mal in ein Mädchen verliebt, das natürlich unerreichbar ist. Aber es hat gereicht, um eine schöne Zeit zu haben. Nach unzähligen Lehrerkonferenzen, Elterngesprächen und Unterstützungsversuchen wurde ich gegen meinen Willen erlöst, und musste die sechste Klasse wiederholen. Für mein damaliges Ich brach eine Welt zusammen. Nachdem ich so viel Leid ertragen hatte, und noch nicht gelernt hatte, dass mein Leid nichts, wirklich Garnichts mit echtem Leid zu tun hatte, sah ich meine Zukunft und all meine Träume vor meinem geistigen Auge schwinden. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass mich dieses Gefühl erreichte.



Ich hatte früher schon die Eigenschaft, schlechte Dinge erst an mich heranzulassen, wenn es wirklich so weit war. Demnach kann ich mich noch gut daran erinnern die Sommerferien in vollen Zügen genossen zu haben. Ich kann voller Stolz und Dankbarkeit sagen, als Dorfkind aufgewachsen zu sein, und jeden Tag auf dem Land geliebt zu haben. Als ich Freizeit hatte, waren alle Sorgen vergessen. Ich spielte im Garten Verstecken und Fangen mit meinen Geschwistern, Fußball mit den Jungs, die mich im Unterricht mobbten und Super Mario auf dem Nintendo DS, der als eines der besten Unterhaltungsmodule unserer Zeit in die Geschichte eingehen sollte. Meine Eltern hatten einen großen Apfelbaum vorne, und einen großen Pflaumenbaum hinten im Garten, und dazwischen jede Menge Platz, um mit meinem Vater Fußball zu spielen. „Komm, ich schieß dir ein paar drauf“ sagte er immer, bevor ich mit einem Funkeln in den Augen in den Keller flitzte, um ihm seine Gartenschuhe zu bringen. Er schoss, bis er zehn Mal getroffen hatte, dann wechselten wir. Hin und wieder gelang es mir, meine weniger Fußball begeisterten Geschwister auf den Rasen zu holen. Wenn ich es schaffte, rannten wir uns die Seele aus dem Leib. Bis einer umknickte und nach damaligem Ermessen schwer verletzt das Feld verlassen musste. Wir waren immer im Garten, und spielten immer irgendwas. Die grün verschmutzten Jeans, die aufgeschürften Knie und blaue Flecken mit dem Durchmesser eines Flaschenbodens waren allgegenwertig. Es härtet ab, wie es heißt.



Nachdem im Sommer 2014 klar war, ich würde die sechste Klasse noch einmal durchstehen müssen, freute ich mich umso mehr, das von außen leicht mit einem Gefängnis zu verwechselnde Schulgebäude die kommenden eineinhalb Monate nicht betreten zu müssen. Die Sommerferien begannen für mich immer mit meinem Geburtstag. Für mich war es ein schönes Privileg während meiner gesamten Schulzeit in den ersten beiden Wochen der längsten Ferien des Jahres meinen Geburtstag feiern zu können. Meine Eltern mieteten einen der Fußballplätze in der „Soccer Halle“ unserer Kleinstadt, ich lud alle Kinder ein die ich kannte und bolzte als ginge es um mein Leben. Ein kleiner Partyraum, der sich auf selbigem Gelände befand und ebenfalls der „Soccer Halle“ gehörte, sollte später zum Symbol einer Entwicklung werden, mit der damals noch niemand gerechnet hatte.

Das Jahr 2014 hat nicht nur meine Schullaufbahn um eine Runde ergänzt, sondern auch im Hinblick auf unsere jährlichen Familienurlaube einiges verändert. Hart arbeitenden Eltern dankend hatten wir das Glück in jedem Sommer zwei Wochen an der traumhaften Nordsee zu verbringen. Wir buchten ein Ferienhaus in Dunen, einem kleinen Urlaubsort neben Cuxhaven, aßen Fisch, spielten Strandfußball und liefen barfuß durchs Wattenmeer, ein später als Weltnaturerbe erklärtes Naturwunder, bei dem die Gezeiten entschieden, ob das Meer gerade Wasser hatte oder nicht. Alle sechs Stunden liegt die Nordsee hier etwas mehr als zwei Kilometer weit trocken, und lädt zu einem ungewöhnlichen Spaziergang ein. Für einen erfahrenen kleinen Wattwanderer wie mich das Normalste der Welt.

In diesem Jahr blieb der Nordseeurlaub aus. Meine Eltern hatten gespart und etwas Großes geplant. Mitten in der Nacht sind wir mit vollem Gepäck, Kopfkissen und Decke ins Auto gestiegen und zum Bremer Flughafen gefahren. Die Reise ging nach Fuerteventura. Es war das bis dato aufregendste war wir Kinder jemals erleben durften. Wir liebten die Nordsee, doch mit weißem Strand und karibisch blauem Wasser einen Schein zum Windsurfen zu machen, und im Hotel das leckerste Essen der Welt kosten zu dürfen hat alles übertroffen. Noch nie hatte ich so viel Frühstück an einem Buffet, so hohe Wellen an einem Strand oder so niedliche Katzen in einer Hotelanlage gesehen. Es glich einem Paradies. Ich entdeckte meine Begeisterung für den Wassersport, schwamm gefühlte 20 Kilometer raus aufs Meer, rückblickend werden es kaum 500 Meter gewesen sein, und verbrachte die Abende mit Meeresrauschen auf dem Balkon. Wie in so einem Familienurlaub üblich passierte auch auf der kanarischen Insel etwas, was uns und besonders mich für immer an diesen Urlaub erinnern würde.

Ein paar Tage nach dem Erhalt der Lizenz zum Windsurfen wollten meine beiden Geschwister und ich aufs Wasser, und ein paar flache Wellen reiten. Die erste Warnung war die Farbe der Flagge, die mit einem kräftigen Gelb auf eine Gefahr hinweisen sollte, zumindest auf erhöhte Vorsicht beim Windsurfen. Nach einem kurzen Dialog mit einem Rettungsschwimmer entschied ich mich mit meinem Bruder auf eigene Gefahr rauszufahren. Unserer jüngeren Schwester wurde die Erlaubnis verweigert. Wir verbrachten eine schöne Dreiviertelstunde auf dem Wasser. Wir stellten unser Segel in den Wind, fuhren um die Wette und fühlten uns wie echte Profis. Zugegeben, wir waren nicht schlecht. Wir hatten die Surfbretter für zwei Stunden geliehen, jedoch hat mein Bruder nach ca. 45 Minuten die Lust verloren, und lenkte wieder in Richtung Strand. Ich rief ihm zu, ich würde noch ein bisschen bleiben. Ich hätte meinen Bruder aus dem Wasser hoch in das Hotel und schließlich zum Pool begleiten können, doch das wäre nicht meine Art. Ich versuche von Natur aus schöne Momente bis zum Limit auszukosten und jede Sekunde zu genießen. So habe ich auf dem Wasser noch ein paar Runden gedreht, bis ich in Richtung Strand sah, und sehen musste, wie die Flagge von Gelb auf Orange geändert wurde. Mir war schlagartig klar, der Spaß war hiermit vorbei. Ich versuchte mein Segel zu drehen und die Rückfahrt einzuleiten, doch zu meinem Pech hatte ich mit Abwind zu kämpfen. Unter Abwind versteht man „vom Land abgehender Wind“, also die Windrichtung vom Festland auf das offene Meer hinaus.

Der Wind war mittlerweile schon so stark, dass ich trotz aller Anstrengungen keine Möglichkeit hatte, das Segel in die gewünschte Richtung zu drehen. Es schlug jedes Mal zurück und ließ mich von dem Wind in Richtung Meer drücken. Ich wusste, ich war selbst für diese Situation verantwortlich und so versuchte ich es auf eigene Faust. Immer und immer wieder. Neben dem Segeln gab es noch die Möglichkeit sich auf den Bauch zu legen, das Segel ins Wasser fallen zu lassen und zum Ufer zu paddeln. Kräftemäßig wäre das schon möglich gewesen, jedoch hatte ich ein ganz anderes Problem. Mit dem Wind kam die Strömung, und mit ihr eine Horde leuchtend roter Feuerquallen, die es mir unmöglich machten, die Arme in das Wasser zu halten. Einen Stich einer Feuerqualle konnte ich soweit Weg vom Land wirklich nicht gebrauchen. Ich probierte noch ein paar Mal das Segel zu drehen und auf herkömmlichem Wege den Strand zu erreichen, gab jedoch auf als ich merkte, wie weit ich vom Strand entfernt war. Aus Angst bald einem Kreuzfahrtschiff die Vorfahrt zu nehmen, ging ich auf Nummer Sicher und ließ mein Segel ins Wasser fallen. Ich setzte mich auf mein Brett und begann mit meinen Armen das gelernte Notsignal zu machen, von dem ich nicht gedacht hätte, es jemals zu brauchen. Zu meiner Erleichterung trieb ich mehr oder weniger auf einer Stelle, und entfernte mich nicht signifikant weiter auf das offene Meer. Nachdem ich nach eigener Einschätzung 20 Minuten auf meinem Surfboard ausharren, und um Hilfe winken durfte wurde ich schließlich gesehen und von einem kleinen Rettungsboot abgeholt. Ich hatte mich davor und danach nie wieder so gefreut ein Boot zu betreten. Mit meinen 14 Jahren hatte ich mir in meiner Zeit auf dem Wasser die verrücktesten Szenarien ausgemalt und war mehr als glücklich, dass keines davon wahr geworden ist. Auf der Rückfahrt erzählte ich meiner Heldin von meiner Angst, den unzähligen Feuerquallen und einem gesichteten Mantarochen, weit unter meinen Füßen. Auch Haie sollte es in tieferen Gewässern vor Fuerteventura geben, jedoch bin ich vor einer Bekanntschaft verschont worden. Angekommen im Hotel, und im Kreis meiner Familie musste ich erst einmal erklären, wieso ich so lange alleine draußen war. Ich hatte viel zu erzählen. Von diesem Erlebnis beeindruckt, ließ ich das Surfen für diesen Urlaub sein, und ließ mich die verbleibenden Tage auf kein Abenteuer mehr ein. Trotz, oder vielleicht auch deswegen gehörte dieser Urlaub zu den schönsten die wir jemals hatten, also taten wir alles daran jeden Moment aufzusaugen und tief in uns zu tragen.

Als wir nach zwei traumhaften Wochen wieder im Bus Richtung Flughafen saßen, konnte ich meinen Tränen nicht standhalten. Dieser Urlaub war nicht unser Leben, sondern bestenfalls ein kurzer Ausriss in eine andere Realität. Der erste Schultag kam, und ich wurde mit zitternden Knien in meine neue Klasse begleitet. Selbstbewusst war ich noch immer nicht, und aufgeschlossen schon gar nicht. Doch ich saß neben einem Jungen der gerade hergezogen und somit ebenfalls neu war, noch sehr viel neuerer als ich. Wir sprachen, lernten uns kennen und verstanden uns sofort. Wir merkten damals nicht, dass unsere Eltern uns auch halfen in Kontakt zu bleiben und Freunde zu werden. Wir fuhren zusammen zur Schule, hatten die gleichen Freunde und den gleichen Sinn für alle möglichen Albernheiten die uns über die Jahre einfallen sollten. Wir waren nicht beliebt, aber hatten auch keine Feinde. Wir waren unsichtbar, aber wir hatten uns, und waren alles, was wir brauchten.

Mein damaliger bester Freund war das größte Mathetalent, das ich kannte, schrieb die besten Noten der wahrscheinlich ganzen Schule und war sich trotzdem, oder vielleicht ja genau deswegen für keinen Unfug zu schade. Im Laufe der Zeit sperrten wir uns in Klassenräumen ein und ließen abschließen, sperrten unsere Lehrer aus und verursachten knapp Zehn Minuten nach Ankunft an einer Jugendherberge einen Feueralarm, der wirklich nicht nötig gewesen wäre. Jedes Mal, wenn wir nebeneinander saßen und einer laut vorlesen sollte brauchte es nur einen winzigen Auslöser um ein nicht enden wollendes Gelächter herbeizuführen. Ihr müsst mir glauben, wenn ich euch sage, diesen Auslöser hat es immer gegeben. Ich kann gar nicht zählen, wie oft wir des Raumes verwiesen wurden, oder zumindest einen enttäuschenden Blick der Lehrkraft bekommen hatten. Er konnte es sich erlauben, meine Situation sah anders aus. Ich habe schon eine Klasse wiederholen müssen, und meine Noten waren spätestens in der achten Klasse wieder im Keller. Ich tat Jahr für Jahr nur das nötigste, um den Klassenerhalt zu schaffen, und kostete meine Eltern viel Geduld und sehr viele Nerven.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Herzlich willkommen. Dein Rückblick hat mir gut gefallen. Erinnert mich ein wenig an Stand by me.

LG Otto
 



 
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