Kämpferherz

RobMitDer13

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Kämpferherz

Sonntag Vormittag. Nach mehreren kläglichen Versuchen das Bett zu verlassen, beweist sich mein Kämpferherz als lohnenswerte Tugend. Denn ich sitze mittlerweile auf dem Sofa. Mit einer Schale voll überzuckerten Frühstücksflocken gucke ich in positiv nostalgischer Stimmung jene Animes, die schon in Kindheitstagen meinen Charakter formten. Sie vermitteln hochtrabende Phrasen wie "Gib niemals auf!" oder "Lebe deinen Traum!". Selbstzufrieden lächle ich in mich hinein und identifiziere mich mit jeder dieser Phrasen. Schließlich habe ich ein Kämpferherz und liege nicht mehr in meinem Bett.

Ich bin das, was man einen jungen erwachsenen Menschen nennt. Wenn ich Scheiße baue, würde das Jugendstrafgesetz wohl nicht mehr gelten. Jedoch besitze ich noch diesen jugendlichen Charme, der es mir erlaubt, durch meine Fehler sympathisch zu wirken. Ich lerne ja noch. Genauso wie die Helden aus den Animes. Bis heute will ich einer von ihnen sein. Keiner dieser Charaktere ist makellos und frei von Fehlern. Aber sie sind gutherzig. Wenn es darauf ankommt, stehen sie mit aller Konsequenz für großartige Werte ein. Die pure Inspiration! Mit dem Verlangen die Welt zu retten, entscheide ich mich dafür heute zur Kommunalwahl zu gehen. Denn meine nostalgisch bedingte Schwäche für Phrasen sagt mir, dass jede Stimme zählt.

In meinem Kopf schmiede ich einen Plan, um möglichst schnell wieder auf meinem Sofa sitzen zu können. Echte Sofatime bedarf keine weiteren Vorhaben am Tag und ich will nicht meinen heiligen Sonntag gefährden. Dieser verbietet es mir eigentlich das Haus zu verlassen.
Duschen? Nicht am Sonntag! Kleidung? Die vom Vortag, ansonsten müsstest du heute Wäsche waschen. Ich muss vorsichtig sein, nicht dass dieses Vorhaben einen unangenehmen Rattenschwanz nach sich zieht. Auf dem Rückweg etwas zu Essen mitnehmen? Nö! Kein Bock im Laden auf`s Essen zu warten! Ich bestelle später einfach etwas und meine Sofatime verlängert sich um rund 20 Minuten. Ich bin ein Fuchs! Ein selbstkritischer Gedanke bemängelt, dass mich die eigentlich unnötige Lieferung meiner Pizza auch zur Umweltsau macht. Ein unsympathischer Fehler. Ich werde also einfach niemandem davon erzählen.

Der Plan steht und es könnte eigentlich losgehen. Wäre da nicht dieses eine fiese Hindernis. Wen wähle ich überhaupt? Genervt lass ich mich wieder aufs Sofa fallen und durchforste das Internet. Ich gebe den Mainstream-Medien die Schuld dafür, dass ich keine Ahnung von der Kommunalwahl habe. Wieso berichten diese nicht detailliert und ausführlich über das Wahlprogramm der Kandidaten aus meinem Stadtteil!? Ich finde im Internet einen mir seriös erscheinenden Wahl-O-Mat. Ich werde gefragt, wie hoch man meiner Meinung nach neue Gebäude bauen darf. Ich bin überfordert. Ich werde aber auch gefragt, ob ich dafür wäre zu Testzwecken in meiner Stadt legale Cannabis-Shops zu eröffnen. Ich markiere diese Frage als für mich besonders wichtig.

Nachdem ich alle Fragen im besten Gewissen beantwortet habe, zeigt sich mir ein Ergebnis. Gleich vier Parteien stimmen zu ca. 70% mit meinem Meinungsbild überein. Um es kurz und schmerzlos halten zu können, will ich meine Entscheidung von der mir als besonders wichtig markierten Frage abhängig machen. Leider sind alle dieser vier Parteien und Kandidaten ebenfalls für legale Cannabis-Shops zu Testzwecken. Mist. Weiterhin inspiriert durch die Animes, entscheide ich mich für die vermeidlich kleinste dieser vier Parteien. Ich wähle den Underdog! Den Rookie! Jemand, der alle überrascht und es besser macht! Mein Kämpferherz pocht vor Identifikation.

Enthusiastisch gehe ich zur Tür meines Mitbewohners. Ich klopfe an, um zu fragen, ob er mitkommen will, um ebenfalls zu wählen. Ich erhalte keine Antwort. Er scheint noch zu schlafen. Um meine unbeschwerte Sofatime nicht zu verkürzen, entscheide ich mich dafür nicht auf ihn zu warten. Ich schaff das auch allein! Nach mehreren Ablenkungen durchs Handy und durch Lieder, die ich unbedingt noch vorher hören muss um meine Stimmungslage zu untermalen, bin ich nun startklar. Ich gehe durch die Tür und verlasse meine Wohnung. Schnell bemerke ich, dass die gestrige Kleidung nicht zum heutigen Wetter passt. Niemand hat gesagt, dass es leicht wird!
Das Wahllokal liegt laut meinem Handy 750 Meter von meiner Wohnung entfernt. Stolz und voller Eifer bestreite ich diesen Weg zu Fuß. Dort angekommen folge ich der Beschilderung und finde schnell zum Ziel. Die Wahl findet in einer Turnhalle eines Gymnasiums statt. In dieser wurden mehrere Wahlecken aufgebaut für verschiedene Wohnbereiche. Es ist alles andere als überlaufen, nur vor einer Wahlecke bildet sich eine Schlange. Ich wette, da muss ich hin! Um nicht lange suchen zu müssen, zeige ich der freundlichen Wahlhelferin am Eingang meinen Wahlbrief. Sie weist mich der Wahlecke zu, vor der sich die Schlang gebildet hat. Das war wieder so klar! Ich stelle mich an.

Die Person, die den Laden aufhält, ist eine Frau mittleren Alters. Sie diskutiert mit einer Wahlhelferin, die ihr in übermenschlicher Geduld immer wieder versucht zu erklären, wie viele Stimmzettel sie erhält und wie viele Kreuze sie machen darf. Ein Kreuz pro Stimmzettel! Ich überlege, ob die Dame vielleicht eine esoterische Verschwörungstheoretikerin sein könnte, die das abstruse Vorhaben hat, durch ihr Verhalten die Wahl zu beeinflussen. Es klappt! Denn ich spiele mit dem Gedanken zu gehen. Am gegenüberliegenden Tisch sitzt ein weiterer, sich die grauen Haare raufender, Wahlhelfer. Sichtbar fassungslos über das vor uns liegende Schauspiel kommt ihm ein Geistesblitz und er bedient die in der Schlange wartenden Menschen weiter. Geschickt signalisiert er der immer noch geduldig erklärenden Wahlhelferin, dass sie mit der Ladenaufhalterin ein paar Meter nach links gehen soll. Dort können die beiden weiter machen, während die in der Schlange Stehenden erst mal vorgelassen werden. Damit wurde der teuflische Plan der esoterischen Verschwörungstheoretikerin durchkreuzt! Später werde ich zu der Einschätzung kommen, dass die Dame es wirklich nicht verstanden hat. Jedoch gefällt mir, so absurd es auch klingen mag, der Gedanke heute eine Verschwörungstheoretikerin gesehen zu haben.

Vor mir in der Reihe befindet sich ein Mann mittleren Alters, welcher routiniert zur Wahlkabine schreitet nachdem dieser Stimmzettel und eine kurze Erläuterung erhalten hat. Im Anschluss erhalte ich ebenfalls meine Stimmzettel und eine kurze Erläuterung. Ja, ich hab`s verstanden! Der Mann benötigt aus meiner Sicht wirklich lange in der Wahlkabine, weshalb ich noch ein wenig warten muss. Ist es denn wirklich so schwer ein paar Kreuze zu machen? Ich will doch nur eben mit meiner Stimme die Welt zu einem besseren Ort machen! Genervt und ungeduldig beobachte ich ein älteres Pärchen, welches nach mir an der Reihe sein wird. Das Paar hat einen vermutlich afrikanischen Migrationshintergrund, beide sprechen gebrochen Deutsch, scheinen aber die Anweisungen des Wahlhelfers zu verstehen und wiederholen diese. Richtig, ein Kreuz pro Stimmzettel! Der Wahlhelfer grinst dem älteren Paar anerkennend zu, diese grinsen freundlich zurück und zeigen einen Daumen nach oben.

Endlich kann ich in die Wahlkabine. Schnell mache ich meine Kreuze für meine Underdogpartei, jedoch erwartet mich auf einem der Wahlzettel eine böse Überraschung. Dort ist diese Partei nämlich nicht aufgelistet, aus welchen Gründen auch immer. Mist! Ich überlege ein Weilchen, welche der anderen in Frage kommenden Parteien nun meine Stimme bekommt. Nicht aufgeben! Zeig dein Kämpferherz! Dranbleiben! Am Ende entscheide ich durch einen Abzählreim. Davon werde ich ebenfalls niemanden erzählen. Als ich die Wahlkabine verlasse, beobachte ich, wie das freundliche ältere Paar nun einen Schritt zur Wahlkabine macht. Die Dame möchte wohl zuerst wählen. Ihr Schritt stoppt jedoch und ihre Mimik wirkt nicht mehr so freundlich. Sie wendet sich nochmals an die Wahlhelferin, deutet auf die Wahlzettel und fragt, wo sie denn ihr Kreuz machen soll. Verdutzt und irritiert von der Frage antwortet die Wahlhelferin nur, dass sie das dort machen darf, wo sie möchte. Was zur Hölle habe ich da gerade beobachtet?

Ich gehe zu den Wahlurnen. Die dort sitzenden zwei Wahlhelfer erläutern mir, dass die Farben der Stimmzettel denen der verschiedenen Wahlurnen entsprechen. Der grüne Stimmzettel kommt in die grüne Wahlurne, der rote Stimmzettel in die rote Wahlurne und so weiter. Ja, ich hab`s verstanden!
Bevor ich meine Stimmzettel in die Urnen werfe, frage ich die beiden Wahlhelfer: „War doch richtig die Stimmzettel zu unterschreiben, oder? Damit die gültig sind und so...“ Fassungslos schauen die beiden mich an, bis ich erkläre, dass dies nur ein Joke war. Fanden die beiden wohl nicht so lustig, da ich nicht den Hauch eines Grinsens erkennen konnte. Wie humorlos! Ich hätte aber damit rechnen müssen, dass Menschen die ehrenamtlich ihren Sonntag als WahlhelferInnen verbringen nichts zu lachen haben.

Nachdem ich das Wahllokal verlassen habe, beschreite ich trotz des unvorteilhaften Wetters stolz und energisch die 750 Meter Fußweg zurück. Ich habe das Gefühl, etwas Wichtiges getan zu haben und fühle mich heldenhaft. Zu Hause angekommen falle ich selbstzufrieden auf mein Sofa. Jetzt wird gechillt! Ich bestelle mir meine wohlverdiente Pizza und verliere mich in unterschiedlichen Medien. Unbeschwerte Sofatime! Irgendwann höre ich, wie mein Mitbewohner endlich aufsteht. Voller Stolz erzähle ich ihm von meinem Gang zur Wahl frage, ob er auch noch gleich wählen geht. Er hat sich dagegen entschieden. Irgendwie enttäuscht mich das. Er hat wohl einfach kein Kämpferherz.
 
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