Kameraden, wir haben die Welt gesehen... Der Kanal Chapter 36

Das Schulschiff Deutschland ist von imposanter Größe. 138 Meter lang, 4880 Tonnen schwer und mit 456 Mann Besatzung belegt. Dabei ist der Kahn lahm, gerade einmal 8000 PS bekommt er an die Antriebswelle und die bescheren ihm 16 und unter Einsatz der Gasturbine 21 Knoten. Er ist von seinen Abmessungen her ein kleiner Kreuzer, aber keiner darf das sagen, denn Deutschland darf keine Kreuzer besitzen und deshalb handelt es sich um einen „dicken Zerstörer.“

Musste man sich auf Z1 wie ein Maulwurf einbuddeln und sich im engen Inneren des Schiffes ein Zuhause schaffen, das nur aus wenigen Quadratmetern bestand und jeder auf die Zuvorkommenheit seines Nachbarn hoffen musste, um nicht im „Wuhling“ unterzugehen, hatte man hier auf Schulschiff Deutschland palastähnliche Zustände.
Aber das war ja auch klar, denn die Stammbesatzung, also die Offiziersanwärter sind noch lange nicht da. Unsere Aufgabe bestand darin, den „Kasten“ nach Kiel zu bringen, um ihn dort zu klarieren. Die Kadetten sollen ein wohl eingerichtetes Heim vorfinden, um dann ordentlich Karriere machen zu können.

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So schippern wir eines Tages durch den Nord-Ostsee-Kanal, vorbei an Rendsburg und der eine oder andere der Seelords zieht im Andenken an Liliencron, der hier seinen Tod fand, die Mütze und gedenkt seiner in einem kurzen Augenblick. Meine Zeit als Brückengast, in der Funktion eines Rudergängers, hat hier auf Deutschland keine Bedeutung mehr. Ich reihe mich ein in dem bunten Reigen der Seeziegen und arbeite an Oberdeck. Die Jungs, meine Fahrenskameraden, sind bei mir und wir alle zählen ganz offen unsere noch verbleibenden Tage anhand eines Zenti- metermaßes.

Wir nähern uns der Schleuse von Kiel-Holtenau, 100 km Kanalfahrt ersparen uns 900 km Umfahrung von Dänemark. Die Geschwindigkeiten auf einem Kanal sind natürlich limitiert. Maximal 15 km/h, also 8,1 Knoten dürfen gefahren werden. Es ist ein bekanntes physikalisches Gesetz, dass Masse, einmal in Bewegung gesetzt, eines besonders langen Bremsweges bedarf. Handelt es sich um ein Fahrzeug, das sich im Wasser bewegt, kommen natürlich weitere besondere Gesetzmäßigkeiten hinzu, die es zu beachten gilt. Ein fast 5000 Tonnen schweres Schiff, in einem engen Korsett, wie in diesem Nord-Ostsee-Kanal gezwängt, kann nicht unbeschränkt ausweichen und will vorausschauend bewegt werden.

So kommt also die Schleuse langsam näher und Jim und ich stehen schon seit geraumer Zeit auf der Back, also dem vorderen Schiffsbereich bereit und klarieren die Taue.
Mit unseren Arbeitshandschuhen, die uns vor den spitzen Drähten schützen, die ab und an aus den Herkulestauen herausschauen, legen wir die Taue in langen Duchten so, dass sie später ohne zu verknoten nach außen über Bord laufen können. Jetzt warten wir darauf, die Bola zu werfen, um das Schiff sacht, wie wir es gewohnt sind, anzulegen.

Wer längere Zeit auf einem Schiff gefahren ist und mehr als ein Jahr ist schon eine Zeit, die einem unter Seelords Respekt entgegenbringt, der bekommt ein Gespür von solider Seemannschaft oder nicht. So entgeht es uns nicht, dass die Geschwindigkeit der Deutschland seit geraumer Zeit, auf dem Weg in die Schleuse, uns doch recht hoch erscheint und wir schauen Hilfe suchend hinauf zur Brücke, als wir das Schleusenwerk schon deutlich erkennen können. Es ist schon ein imposantes Bauwerk und an seinen Ausmaßen wird deutlich, dass es sich um eine der am meisten befahrenden Schleusen der Welt handelt.

Jim hat schon seit geraumer Zeit Unmutsfalten im Gesicht. Er schaut mich mit gerunzelter Stirn an, ich weiche ihm aus und ich sehe, um einen Vergleich zu haben, zu den auf der Mole bereits anlaufenden Hafenarbeitern hinüber und wundere mich über die Geschwindigkeit, die nicht nachlässt.
Gleichzeitig warten die Burschen auf dem Pier auf die Bola, sie, die über viel mehr Erfahrung verfügen als wir, wissen, dass wir bereits den roten Punkt erreicht haben, „The Point of no Return“, wie der Lateiner sagt.

Jim und ich warten auf das Kommando von der Brücke, wir sehen die Jungs in den Brückennocks, aber der WO, der verantwortlich ist, sagt nichts. Wir sind ratlos und fahren unvermindert auf das Schleusentor zu.
Dann, plötzlich, kommt das Kommando: „Beide Maschinen Stopp!“, und es kommt nicht wie gewohnt, nein, es wird geschrien und es ist nicht der WO, es ist er 1. Offizier der halb aus der Brückennock hängt und zur Verstärkung seines Befehles auch noch heftig mit den Armen wedelt: „Fest machen, festmachen!“

Der Mann hat Not, er sieht das Unglück auf sich zukommen, er hat begriffen, wir sind zu schnell, viel zu schnell. Fast 10 Meter Wasserstandunterschied trennen uns von der tiefer liegenden Ostsee. Eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes kommt auf uns zu. Wenn wir die Schleuse rammen, dann will ich mir nicht vorstellen, was dann passiert. Die Bola fliegt und Jim und ich stehen auf unserer eigenen Bühne. Zwei einfache Seeziegen auf der Back des Schiffes, begleitet vom Geschrei des 1. Offiziers sollen jetzt versuchen, die Fahrt aus dem Schiff zu holen.

Ich erinnere mich an die Worte von einem der Zeitsoldaten, ich meine, es war Wölfi gewesen, mit dem ich meine ersten „Gehversuche“ am Ruder unternommen hatte. Wie auch immer, er sagte mir damals, das Schlimmste was dir passieren kann, ist ein reißendes Seil. Reißt es ungünstig, dann zertrennt es dich in der Mitte, zerreißt es gnädig, verlierst du ein Bein.

Jim und ich belegen das Tau dreimal um den Poller. Wir können jetzt nach eigenem Gusto den Druck erhöhen. Halten wir fest und dazu gehört nur wenig Kraft, dann setzt sich das Tau am Poller fest und bewegt sich keinen Millimeter weiter. Lassen wir etwas Lose, dann rutscht es um seine drei Windungen herum und der „Pott“ fährt dementsprechend weiter. Was tun? Ich habe Schweißperlen auf der Stirn. Wir haben beide eine Höllenangst! Der 1-O schreit: „Fest! Fest! Festhalten!“

Wir haben keine Wahl. Also halten Jim und ich fest. Das Tau dehnt sich, die Helfer auf der Pier schauen uns zu, der 1-O auf der Brücke schaut uns zu. Wir sind die einsamsten Menschen auf der Welt. Verdammt! Eben war doch noch alles in Ordnung, wieso gehören wir plötzlich zu den Hauptdarstellern?
Die Kamera nimmt von der Pier aus das vorbeilaufende Schiff auf. Zwei Leute stehen dort, man sieht ihnen an, dass sie unter Druck stehen. Sieh halten ein Tau in Händen und versuchen ein Schiff, das sich auf eine Schleuse zu bewegt, anzuhalten. Von den Brückenaufbauten her hört man Geschrei, fast hysterisch werden immer gleiche Befehle gerufen.

Die beiden auf dem Vorschiff haben die Situation begriffen und müssen jetzt für sich entscheiden, was sie tun wollen. Sie halten das Seil fest und es ist deutlich zu hören, wie das Seil zu singen beginnt, zuvor hat es sich gelängt und dann irgendwann seine Grenzen erreicht. Jetzt wird es über seine Maße gestreckt. Die beiden stehen vor dem Wellenbrecher und scheinen zu überlegen, ob es nicht besser wäre das Seil laufen zu lassen, um sich hinter dem Wellenbrecher in Sicherheit zu bringen. Aber der Offizier schreit von der Brücke seine. unmissverständlichen Befehle, die es einzuhalten gilt Die beiden Jungs ahnen das Risiko, aber sie halten das Tau fest. Jetzt ist der singende Ton schon sehr hoch, die beiden auf der Back stehen in halb gebückter Stellung.

Dann ein Knall, das Seil bricht und peitscht zu Seite weg in Richtung Vorschiff, die Aufbauten fangen den harten Schlag des Herkulestaues auf. Aus der Deckung fliegt schon die nächste Bola auf den Pier und die Helfer auf der Mole werfen, ohne Zeitverlust, das zweite Tau über den Poller.
Die Kamera nimmt für einen Moment die Beiden auf der Back frontal auf, der Rest des um den Poller gewickelten Tauendes wird zur Seite geworfen und das neue Seil belegt. Wieder wird gezogen. Die Kamera fährt zurück und zeigt wie zuvor das Vorschiff und die näher kommende Schleusenmauer.

Die Bedrohung ist jetzt hautnah zu spüren. Es gibt keine Entscheidungsfreiheit mehr, jeder begreift, will man jetzt das Schlimmste verhindern, dann geht nur noch halten. Die beiden stehen da und biegen ihre Oberkörper zurück, sie halten das Seil.
Es beginnt das gleiche Spiel. Die Kamera in Totalaufnahme zeigt die engen Windungen des Taues am Poller und die einzelnen Kardeelen werden in Großaufnahme bis in ihren extremen Dehnbereich hin verfolgt und es zeigt, wie es unter Knarren um wenige Zentimeter rutscht und sich dabei stark um seine Stahlseele presst.

Jetzt wieder die Totale, das leichte Zittern des Seiles, dann das unmissverständliche Singen als letzte Warnung, dann der laute Knall, wieder peitschenartig fegt das Seilende über das Vorschiff, erreicht die beiden aber nicht ganz, eine der Winschen fängt das Ende auf. Die Schleusenmauer ist erreicht. Der Blick fällt über die Schleuse hinunter auf einen russischen Frachter. Dort tritt einer mit freiem Oberkörper aus der Türe, ein junger Mann mit Kippe im Mund, er trocknet einen Teller ab, den er dann in ruhiger Bewegung auf einen Tisch auf dem hinteren Teil des Schiffes stellt.

Laute Musik aus einem Kassettenrecorder. Aus einem Suppentopf steigt der Dampf auf. Er ahnt nicht, dass sich unweit von ihm ein Desaster ankündigt und er, wenn er Pech hat, nie in den Genuss seines Essens kommen wird. Das dritte Seil muss es jetzt bringen, es sind nur noch wenige Meter bis zur Schleuse, aber die Masse des Schiffes, das schon längst seine Maschinen auf zurückgestellt hat, bewegt sich immer noch vorwärts. Jim und ich wissen, dass es jetzt darauf ankommt.

Wir haben Angst und uns steht der Schweiß in Perlen auf der Stirn. Das Seil halten wir fest und es beginnt sich zu straffen. In Jim`s Augen spiegelt sich meine eigene Furcht. Wieder beginnt das Seil zu singen. Wir schätzen die Entfernung bis zum Wehr ab, da ist noch etwas Luft, nur ein paar Meter, aber das Seil jetzt reißen zu lassen würde bedeuten, dass alles umsonst ist, ohne Abstimmung lassen wir es etwas rutschen, um es dann erneut festzusetzen, noch einmal das gleiche Prozedere, dann, ganz langsam, ganz langsam, um Zentimeter, ist die Fahrt aus dem Schiff.

Ich setze mich hin, ich atme tief durch, ich kann jetzt nicht mehr, ich muss verschnaufen. Jim steht da und schaut gedankenverloren hinunter auf den Frachter. Es hat geklappt, der Russe, der zur Musik mit den Fingern schnippt, wird seine Suppe essen und nie erfahren, was sich über ihm abgespielt hat.
 



 
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