Kameraden, wir haben die Welt gesehen... Der Unfall Chapter 23

Am nächste Wochenende sind wir auf dem Weg nach Düsseldorf, mittlerweile gibt es kaum noch Probleme mit Vorgesetzten wegen der Heimfahrten, der Urlaubsschein wird ausgefüllt und fertig.

Allerdings hören wir immer wieder von schweren Unfällen auf Heimreisen und manchen der Soldaten sieht man erst nach Wochen wieder. Oft erst unter der Dusche, nach den Sportveranstaltungen, bemerkt man anhand der Narben, die schweren Verletzungen, die sie sich zugezogen haben, es scheint, als habe sich seit Robbi nichts verändert. Wir haben Glück, wir bleiben davon verschont.

Das Problem nur in Dortmund streikt der Motor des Ford 15 m. Es ist Abend und es ist kalt. Jim ruft seinen Bruder an, er wird uns abholen, die Zeit bis dahin, es ist bereits dunkel, müssen wir irgendwie überstehen. In der abgeschiedenen Gegend dieser Industriestadt, gibt es außer Werkshallen und endlosen Zäunen, die irgendeine Fabrik umschließen, absolut nichts.

Wer über das Meer gefahren ist und glaubt dort die endlose Leere kennengelernt zu haben, kann sich hier nur wundern. Das hier scheint der Vorhof der Hölle zu sein, in der Rangliste der unspektakulären Orte rangiert dieser Platz weit oben.

Wir kauern uns auf den Sitzen zusammen, wir haben lange miteinander gequatscht, jetzt sind alle Dinge gesagt, die Müdigkeit überkommt uns, aber noch hält uns die Kälte wach. Wir stehen mit den Füßen auf den Sitzen und haben uns so klein wie möglich gemacht. Kugelförmig hocken wir da und umklammern unsere angezogenen Beine.

Endlich bin ich eingeschlafen, als ein Klopfgeräusch an mein Ohr dringt, ich schaue auf und sehe zwei Polizisten mit Schäferhund an der Fahrertüre stehen. Jim kurbelt das Fenster runter und sein Atem weht den Polizisten als Dampfwolke entgegen. „Was machen sie hier“, fragt der eine, „haben sie ein Problem?“ Jim erläutert ihnen die Situation, die beiden scheinen mit der Erklärung zufrieden zu sein. Jedenfalls verabschieden sie sich, nicht ohne uns zu sagen, dass es in dieser Nacht noch recht kalt werden wird.

Wie schön, dass er uns in Kenntnis setzt. Ich kann mich kaum aufrichten, mein Rücken ist steif. „Wo bleibt eigentlich dein Bruder?“, will ich wissen. „Keine Ahnung, er müsste schon längst hier sein.“

Wir öffnen die Türe des Ford und klettern hinaus. „Was für eine erbärmliche Kälte“, sage ich zu Jim, der sich eine Zigarette angezündet hat. Eine halbe Stunde später kommt sein Bruder mit seinem Volvo 1800. Er hat länger arbeiten müssen, er kam nicht weg. Egal, im Wagen ist es herrlich warm, hier möchte ich nie wieder weg.

Jim muss zurück in die kalte Karre, weil uns sein Bruder abschleppt bis zur nächsten Ford-Werkstatt. Wir werfen den Schlüssel mit Adressenanhänger in den Briefschlitz. Dann geht es zurück nach Düsseldorf, wo sich meine Eltern, die ich in den frühen Morgenstunden aus dem Bett schellen muss, wundern, wieso ich wieder da bin.

Am nächsten Tag, nachdem Jim mit dem Fordhändler telefonisch alles geregelt hat, müssen wir zur Reitzensteinkaserne oben in Grafenberg. Wir merken bei unserer Ankunft sofort, dass hier ein anderer Wind weht, sie wollen uns einschüchtern und klarmachen, wir wären an unserer Misere selber schuld.
Der Wachhabende verlangt allen Ernstes, und meint dabei einen barschen und überzeugenden Ton angeschlagen zu haben, dass wir einen Geldbetrag als Entschädigung in die Kasse der „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ zu werfen hätten.

Was mich in allen Lebenslagen zur Weißglut gebracht hat, bringt, und noch bringen wird, ist die Tatsache, dass jemand, sei es ein Schaffner der Deutschen Bundesbahn oder ein Oberlehrer an irgendeiner Schule, sei es ein Vorgesetzter bei der Bundeswehr oder im Berufsleben oder sei es der Kaiser von China, glaubt, seine Position ausnutzen und mich damit beeindrucken zu können, der wird sein blaues Wunder erleben, und zwar in einer Form, wie er es sich nicht vorstellen kann.

Auf den Mann prasselt ein Donnerwetter nieder, dass er nicht weiß, wie ihm geschieht. Ganz verdutzt schaut er uns an, da stehen zwei Buben im Matrosenanzug vor ihm, was ihn vielleicht an seine Kindheit erinnern mag, die kein Wässerchen zu trüben scheinen. Und jetzt dieser Schwall an Vorwürfen. Es ist immer wieder bemerkenswert wie Menschen funktionieren, da macht man sich ein Bild vom Gegenüber und glaubt den anderen in der Tasche zu haben, und dann geht die ganze Schose nach hinten los, nur weil man sich total vertan hat.

Recht so, geht es mir durch den Sinn, ich würde am liebsten über sein verdutztes Gesicht lachen, aber ich bleibe ernst. Er strafft sich, bringt seine ganze Größe in Positur, reicht uns ein Formular und erlaubt uns, mit unserer Einheit zu telefonieren.

*

Am Dienstag der folgenden Woche, wir haben damit einen Tag mehr in Düsseldorf herausschinden können, sind wir, nachdem der Wagen in Dortmund abgeholt ist, auf dem Weg zum Nord-Ostseekanal. Als wir in Rensburg ankommen, herrscht eine merkwürdige Stimmung. Der Unteroffizier der Wache nimmt das Formular entgegen und schickt uns in unsere Unterkünfte.

Nach dem Umziehen wollen wir uns beim Schmadding melden, der aber nicht da ist. Alle die uns begegnen machen ein bedrücktes Gesicht. Endlich treffen wir Jörg. „Was ist hier los?“, will Jim wissen. „Ach, es ist ein furchtbares Unglück passiert, ihr könnt es ja noch gar nicht wissen“. „Und?“, frage ich.

„Liliencron ist verunglückt, er ist zwanzig Meter tief ins Dock gestürzt, er ist tot.“ „Was?“, wir sind fassungslos. „Ja, beim Morgenappell auf der Schanz, da stand er, wie er es immer tat, in der letzten Reihe. Um sich auszuruhen, hat er sich auf die Kette der Reling gesetzt und die muss wohl unter all´ der Farbe durchgerostet sein, jedenfalls ist sie gerissen, er hat den Halt verloren und ist heruntergefallen.“

Wir sind erschüttert, mir gehen die Bilder des Jungen durch den Kopf, die Tage der Grundausbildung, die Wachablösungen, die Arbeit auf der Brücke, die Ausflüge in Portugal und Spanien, immer war er mit dabei. Ein unauffälliger junger Bursche, immer hilfsbereit, immer nett. „Mein Gott! Das darf nicht wahr sein“, sagt Jim und wendet sich ab. „Was passiert jetzt?“, frage ich. „Es fährt ein „Sechserzug“ nach Gelsenkirchen und nimmt bei der Beerdigung teil“, antwortet Jörg. Wie wir später erfahren, hatte die Polizei alles abgeriegelt, um den Hergang genau überprüfen zu können. Es ging um die Frage, ob es sich um einen Unfall gehandelt hat.

Wie wir zusätzlich erfahren, hatte Liliencron, nach dem Aufprall auf den Stahlboden noch einmal versucht sich seitlich aufzurichten, was ihm aber nicht mehr gelang. Aber was uns alle verblüfft, die DDR hatte eine Stunde nach dem Unfall bereits in der Presse über dieses Unglück geschrieben und der Bundeswehr schwere Vorwürfe gemacht.
Allein diese Tatsache schlägt auf unserem Zerstörer große Wellen, weil niemand weiß, wer die Mitteilung, bei aller der Geheimhaltung, nach draußen weitergegeben hatte.

Haben wir einen Spion an Bord? In den nächsten Tagen gibt es im Unterricht Schulungen über die Geheimhaltungspflichten eines Kampfgeschwaders, zu dem wir ja gehören. Es werden uns Filme gezeigt, aus deren Beispielen wir erkennen können, wie schnell jemand unter Einfluss geraten kann, besonders bei Alkoholgenuss oder wenn er, aus welchem Grund auch immer, erpressbar wird.
 



 
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