Kameraden wir haben die Welt gesehen..., Handgranaten Chapter 11

Als wir in spanische Hoheitsgewässer eintauchen und der Tag sich von seiner freundlichsten Seite zeigt, wird uns über BÜ (Bordübermittlung, Lautsprecherdurchsage) mitgeteilt, dass wir uns an Steuerbordseite einzufinden hätten. Weit voraus in voller Pracht, ihre weißen Segel hoch in den blauen Himmel reckend, kommt uns Schulschiff Gorch Fock entgegen. Es wird Seite gepfiffen und der Zerstörer gibt zur Begrüßung sein lautes Signal ab.

In wenigen hundert Metern Abstand passieren wir das weiße Schiff und die Seelords schwenken zum Gruß ihre Mützen und schreien ihr lautes Hallo. Aber schnell ist der Zauber der Begegnung vorbei, der weiße Segler zeigt uns sein Heck und wird kleiner und kleiner. Tage später nähern wir uns Casablanca, aber zu Gesicht bekommen wir die Stadt nicht. Ein U-Alarm, dann wieder ein Manöver, dann Fliegerangriff, es will nicht enden, sie lassen sich immer etwas Neues einfallen und nie ist Land in Sicht. Die ersten „Seelords“ leiden an Halluzinationen und glauben, einen Tannenwald gesichtet zu haben.
Man muss achtsam mit ihnen umgehen und um Gottes willen nicht gleich alles in Bausch und Bogen verneinen, und ist es noch so hirnrissig. Hier ist psychologisches Denken angebracht, denn die Jungs sind gereizt und manch einer ist auf Krawall aus.

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Wenn tatsächlich zwischen den laufenden Einsätzen etwas Zeit ist, kommt gleich einer mit einer internen Übung daher. Dieses Mal sollen Handgranaten geworfen werden. Es ist nicht so, als hätten wir das in Nordoe nicht schon alles eingeübt, aber dort waren die Dinger nicht scharf, sie hatten wohl eine Zündkapsel, aber keinen Sprengstoff. Hier auf dem Meer werden wir mit echten Handgranaten arbeiten. Jeder kommt dran und es bildet sich eine lange Schlange. Jeder hatte natürlich seinen Stahlhelm auf, das ist Pflicht. Obermaat Marin erklärt die Wirkung einer Handgranate und demonstriert erst einmal „trocken“, was er von jedem erwartet. Er wird die Granate übergeben. Der Proband soll dann, nach Kommando, den unteren Ring mit dem Stift abziehen, danach 21-22-23 aufsagen. „Und das bitte im Sekundentakt, meine Herren!“

Danach, und er demonstriert das jetzt anhand einer scharfen Granate, sie dann im flachen, weiten Bogen über Bord werfen. Alle schauen aufmerksam zu wie die Granate über Bord fliegt, dann vergeht immer noch viel Zeit bevor es ordentlich rumst. Das Wasser spritzt gebündelt einige Meter hoch, aber das Schiff, das jetzt gemächlich durch die ruhige See schippert, hat sich natürlich schon um einige Meter entfernt. Trotzdem spüren wir die Detonation, als feines Beben, unter unseren Füßen.
Der Ablauf ist so simpel, dass ich mich frage, was das Getue mit der Vorführung eigentlich soll? Wir alle haben die Dinger schon in der Hand gehabt und damit in ein, von Autoreifen markiertes Feld geschmissen. Es war immer lustig zu sehen, wie sie dann beim „Detonieren“ um ein bis zwei Meter durch die Luft sprangen.

Wenn ich mich allerdings recht erinnere, dann gab es damals schon Aspiranten, die es schafften, beim Zählen zu langsam zu sein oder einer ließ sogar das Ding zwischen sich und dem Maaten auf den Boden fallen. Er war dann außer Stande, die Granate aufzuheben und von sich zu werfen. Jedes Mal griff der Maat beherzt zu und warf die Granate im letzten Moment einige Meter zur Seite, wo sie dann wieder durch die Gegend hüpfte. Obwohl sie nicht scharf waren, konnte einem eine solche Granate den Arm brechen, wenn man sie etwa festhalten würde, so wurde uns gesagt.

Es ging also los und die ersten in der Reihe machten ihre Sache wirklich gut. Übergabe der Granate, abziehen des Ringes, Zahlenreihe aufsagen, wobei ich den Eindruck habe, die Jungs liegen etwas unter einer Sekunde pro Zahl, dann im Bogen ins Meer geworfen. Ganz einfache Sache.
Mit der Zeit verliert der immer wiederkehrende Prozess seinen Reiz. Die Nachfolgenden lassen sich jetzt auch mit dem Zählen mehr Zeit, weil sie begriffen haben, dass sie viel Reserve haben, …und dann ist da der Bub. Ich erinnere mich, ich kenne ihn von einer Sportveranstaltung aus meiner Ausbildungszeit her, hier an Bord war er mir gar nicht aufgefallen, ich glaube, er ist Heizer.
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Jetzt fällt es mir wieder ein, es ging damals um den Weitsprung. Ich gehörte zu denen, die mit dem Maßband am Absprungbalken standen und neben dem Messen auch die Gültigkeit des Sprunges ansagen mussten. Jörg neben mir, bewaffnet mit einem Papptableau, nahm die Werte in einer Tabelle auf. Der junge Mann fiel uns sofort auf als er anlief. Er lief nicht wie ein normaler Mensch, ich meine damit, er setzte nicht ein Bein hinter das andere.

Er hatte wohl seinen eigenen Stil entwickelt, er lief seitlich versetzt, ganz merkwürdig. Manchmal sieht man das, wenn Speerwerfer kurz vor dem Abwurf einen seitlichen versetzten Schritt machen, weit ausholen und kraftvoll, den ganzen Körper verbiegend, den Speer weit in den Himmel werfen. Diesen seitlich versetzten Schritt machte er fortwährend, aber damit kam er nicht auf Geschwindigkeit. Der zuständige Hauptgefreite stoppte ihn sofort und ließ ihn erneut anlaufen. Es half nichts, der Junge schaute bekümmert aus, als der „Haupt“ ihn nochmals anhielt. „Hey! Du läufst ja, als wenn eine Ziege kackt!“ Der Bub wandte sich um und schaute hoch zum Hauptgefreiten, in den Augen sah man seine Niedergeschlagenheit.

Er versuchte es wiederum, aber wie sollte er auch auf Kommando seinen Laufstil verändern? Er brachte es einfach nicht hin, jedes Mal dieses seitliche Versetzen. Der Hauptgefreite, ein Hüne, stand jetzt auf und ging gemäßigten Schrittes zu ihm rüber, legte dabei väterlich den Arm um ihn und befahl ihm, die gleiche Schrittfolge zu vollführen, wie er es, mit ihm im Arm, vormachte.

Alles, so hatte ich den Eindruck, passierte im Zeitlupentempo. Als ich die beiden über den Rasen tänzeln sah, musste ich lachen, das ging aber nur, wenn ich in die Hocke ging und mir den Bauch dabei festhielt, mir lief das Wasser aus den Augen. Da trippelten zwei über den Rasen, ein Hundert-Kilo-Mann und der schmale Bub, mit einem Kreuz wie ein Mondaminpäckchen, dabei erinnerten sie mich stark an zwei Verliebte aus Shakespeares Sommernachtstraum.

Jetzt war er wieder da, er stand jetzt vorne und bekam vom Maat die Handgranate gereicht. Er ist ganz ruhig, hatte er doch zigmal gesehen wie es gemacht wird. Er zieht den Ring ab, lässt sich erstaunlich viel Zeit beim Zählen, 21-22-23 und wirft dann die Granate, nicht etwa in einem flachen Bogen über Bord, nein, unfassbar, er wirft sie fast wie eine Kerze steil nach oben.
Uns stockt der Atem, alle sehen der Granate nach, wie sie höher und höher steigt, und die Uhr tickt. Die Frage die alle beschäftigt, wird dieses Ding über Bord gehen oder auf Deck aufschlagen oder vorzeitig explodieren?

„Volle Deckung!“ Der Maat schreit und wir fallen wie Mikadostäbchen in alle Himmelsrichtungen. Ich liege so, dass ich aufs Meer schauen kann, und so nehme ich wahr, wie die Granate nur wenige Meter neben der Bordwand ins Wasser klatscht und sofort explodiert. Es gibt einen gewaltigen Knall und dieses Mal gibt es keine Wassersäule, wie wir es von den anderen Versuchen kannten, dieses Mal spritzen Wasserkaskaden in alle Richtungen. Der Maat ist außer sich und schreit den Burschen an: „Sind sie wahnsinnig geworden, Mann, sind sie noch bei Trost?“
Der Bursche, nach seinem unverständlichen Stammeln zu urteilen, kam er wohl aus dem tiefsten Bayern, er schaut mit der gleichen Niedergeschlagenheit drein, wie damals bei der Sportveranstaltung. Ich hätte ihn jetzt so gerne weglaufen sehen.
 



 
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