Et contra nubes
Mitglied
Lissabon I
Seit einem Monat sind wir auf See, aus der Bordzeitung haben wir erfahren, dass sich der Verband in verschiedene Häfen zurück zieht um, wie in unserem Fall, Wasser bunkern zu müssen. Normalerweise werden wir über Versorger auf hoher See mit Diesel und allen notdürftigen Sachen ausgerüstet, aber es scheint eine Art Pause eingetreten zu sein. Uns ist es nur recht, wir freuen uns wie die Schneekönige.
Unsere Taschen sind angefüllt mit dem notwendigen Geld, denn die Soldaten bekommen Sonderzulagen. Zum einen geht es um den beengten Raum an Bord, das wird extra honoriert und wird Bordzulage genannt, zum anderen geht es um die Auslandszulage. Als die ersten Vögel über unser Schiff fliegen und sich bemerkbar machen, schauen wir ihnen mit einem seligen Lächeln nach und als sich ein kleiner Vogel auf dem Bootsdeck niederlässt um sich auszuruhen, werden wir langsam unruhig.
Immer wieder schauen wir nach vorn über die Back des Schiffes, wer wird das Land als erster sehen? Es sind natürlich die Brückengasten, hoch oben in der Nock, mit erstklassigen Ferngläsern ausgerüstet. Sie sind es, die melden dürfen: „Land in Sicht!“ Die Stimmung an Bord ist großartig, es wird gesungen, viele lassen sich die Haare schneiden und fragt man jemanden von den Seelords wohin es gehen würde wenn wir erst einmal an Land sind, dann ist die Antwort: „Du musst dich immer nach Backbord wenden, da ist der Pastor und der Puff.“
Über Bordübermittlung wird mitgeteilt, wir laufen Lissabon an. Jubel überall, Beifall bei der Mannschaft. Dreißig Tage auf See und jetzt geht es nach Lissabon. Ich werde auf die Brücke beordert, ich soll das Einlaufmanöver fahren, was für eine Ehre. Als sich das Blau des Meeres in einen bräunlichen Farbton verwandelt, wird uns mitgeteilt, dass der Tajo Hochwasser führt, es ist besondere Aufmerksamkeit erforderlich. Der Leuchtturm Bugio, der aussieht wie eine Marzipantorte mit einer Kerze in der Mitte, wird sichtbar.
Er liegt wie eine dicke Qualle, auf einem winzigen Eiland, inmitten der Fahrrinne. Wir passieren ihn an Backbordseite. Hier ist der Tajo noch recht breit, ca. 3-4 Seemeilen schätze ich, und die Einfahrt mit dem Zerstörer macht, auch wenn einige Entgegenkommer zu sehen sind, keine Probleme. Außerdem ist der Himmel, bis auf wenige Wolkenschleier, himmelblau. Nach wieder fast 3 Seemeilen verjüngt sich der Trichter und als Torre de Belém, ein Barockturm mit kleiner Vorburg, querab liegt, hat sich die Einfahrt des Tajo auf weniger als eine Seemeile reduziert.Vor uns, in ihrer ganzen Pracht, auf nur zwei Pylonen ruhend, liegt die Salazarbrücke lang gestreckt. Sie wirkt auf uns filigran und irgendwie zerbrechlich, auf ihr herrscht reger Verkehr.
Als wir unter ihr hindurch fahren, übernimmt der 2-WO das Kommando. Ich bin etwas überrascht, nicht der 1-O, der als der beste Steuermann des Schiffes gilt und eigentlich bei diesen Wasserverhältnissen das Kommando führen sollte, übernimmt die Verantwortung, sondern der noch unerfahrene 2. Wachoffizier.
Der 2-WO ist ein junger Mann, nur wenig älter als ich, er ist ganz ruhig, zumindest scheint es so. Sehr bestimmt kommen seine Kommandos. „Backbord-Ruder 10, damit sind natürlich 10 Grad gemeint. Ich folge seinem Befehl, das Schiff nähert sich in einem flachen Winkel dem Ufer.
Der Maschinengast hat seine Geschwindigkeit auf Kommando zurückgenommen, die Kulisse der Stadt Lissabon, die wie Rom auf sieben Hügel erbaut ist, erobert langsam die gesamte Breite des riesigen Brückenfensters. Dicke Pötte liegen in Reihe an der Mole auf Backbord. Unser Zerstörer wirkt dagegen wie ein Fliegenschiss. Die haben es gut, geht es mir durch den Kopf, die liegen schon fest. Je näher ich dem Ufer auf Backbord näherkomme, wird der Ruderdruck nach Steuerbord umso stärker. Die Kesselförmige Ausbuchtung des Tajo mit über 4 Seemeilen, die hier beginnt, drückt das Wasser gegen den schmalen Ausgang in dem wir uns befinden.
Mir wird plötzlich klar, dass wir einen Fehler machen, wenn wir in diesem Winkel versuchen das Ufer zu erreichen. Der 2-WO müsste entweder die Geschwindigkeit erhöhen oder das Ruder mit 20° Backbord einschlagen. Die starke Strömung lässt es so nicht zu, dass wir an unseren Anlegepunkt gelangen. Wir würden im Zweifelsfall daran vorbei „segeln.“ Wenn das passiert, dann ist hier aber der Teufel los und dem 2-WO wird der Hintern aufgerissen, soviel ist klar.
Endlich kommt das Kommando: „Backbord-Ruder 15!“ Ah, er hat was gemerkt, aber warum ist er so zaghaft? Das reicht nicht, das reicht niemals, wir fahren vorbei, da wette ich drauf. Der 1-O steht im hinteren Brückenabschnitt, an der Wand gelehnt, er wirkt gelangweilt, doch er beobachtet das Treiben auf der Brücke genau. Ich entscheide mich anders. Ich wiederhole zwar das Kommando: „Backbord-Ruder 15“, doch ich lege 20 Grad. Ich weiß, dass der 2-WO das sehen kann, ich warte auf eine Rüge, bange Sekunden vergehen, aber es kommt nichts. Ich atme auf, unten haben sich die Bola-Werfer in Position gebracht.
Aber noch sind wir nicht nah genug dran. „Ruder Backbord 20.“ Ich lege Backbord 25. Jetzt versetzt das Schiff endlich in Richtung Ufer. Gekonnt fliegt die erste Bola über das Wasser, guter Wurf denke ich, jetzt bloß keinen Fehler machen. Die Jungs auf dem Kai haben die Sache im Griff, sie wissen um den Umstand mit der schweren Strömung und als ginge es um den Sieg bei einer olympischen Veranstaltung holen sie Hand über Hand die dünne Leine und endlich das Herkulestau ein.
Willi, der heute den Maschinentelegraph bedient, hat beide Maschinen auf Stopp gelegt, ich weiß, wir nutzen noch ein wenig unseren Schwung aus. Jetzt kommt es drauf an, wie schnell die Jungs auf dem Kai das schwere Herkulestau über den Poller geschmissen haben, denn gleich beginnen wir abzutreiben. Sie rennen jetzt wie die Hasen, mit ihrer schweren Last, zum nächsten Stahlpoller. Geschafft! Die „Seeziegen“ belegen in drei Lagen den Poller an Bord des Schiffes mit dem Tau.
Der Maschinentelegraph bekommt den Befehl: “Kleine Voraus!“ Ein Ruck geht durch das Schiff, ich weiß was jetzt kommen muss, wir dampfen in die Vorspring, das ist das Seil, das wir gerade vorne festgemacht haben und jetzt muss „Hart Steuerbord!“ folgen, damit der hintere Teil des Schiffes, sich gegen das Ufer drückt, denn vorne ist es ja fest und kann nicht weg.Aber es kommt: „Steuerbord-Ruder 15.“ Wieder zu zaghaft, ich lege hart Steuerbord und wieder kommt vom 2-WO nichts. Das Schiff drückt sich sanft gegen die, mit dicken Fendern abgesicherte, Kaimauer. Die achterlichen Festmacher sichern das Schiff vor dem Zurückfedern, wir sind in Lissabon angekommen.
Jetzt keine Hektik, Willi leiht mir seinen Kamm und von Tommi bekomme ich die zweite blaue Hose. Na, damit ist doch alles klar, denke ich und male mir aus, was heute nicht alles passieren könnte. Ich höre den hellen Ton der Bootsmannsmaatenpfeife, wir schauen nach vorn, die Seite wird gepfiffen, der Kapitän geht von Bord. „Jetzt geht es gleich los!“, meint Jim und frisiert sich sein dunkelblondes Haar gekonnt nach hinten.
Meine blonden Locken kann ich so nicht bändigen, das weiß ich, sie stehen mir zum Teil wirr vom Kopf ab, muss wohl mit dem Wetter zusammenhängen, aber was soll es, das wird ja wohl vom Wachhabenden nicht so hart bewertet werden, hoffe ich. Die Jungs beginnen sich in Reihe zu formieren, aufgeregtes Trippeln, unterdrücktes Husten, gleich kommt die Abnahme. Ich kenne den Maat nicht so genau, der an der Reling der Backbordseite mit dem Schmadding die Abnahme machen will. Alles läuft in einer nervtötenden Langsamkeit ab. Der gezielte Blick auf die Ausgehuniform bestehend aus weißem Hemd, meines ist erstklassig sauber, dem Halstuch mit der Fliege, na ja geht gerade so, Kamm vorzeigen, auch ok. Ein Schritt zurück und den Kniff der Hose betrachtet, Schuhe sauber, sieht ja super aus.
Der Schmadding schiebt sich am Wachhabenden Maaten vorbei und baut sich plötzlich vor mich auf. „Matrose, sie gehen nicht von Bord, sie werden heute die Wache übernehmen.“
Ich glaube für eine Millisekunde ich hätte mich verhört, dann aber wird mir sofort klar, dass alles vorbei ist, kein Ausgang. Kein verdammter Ausgang, nach über dreißig Tagen auf See. Ich muss Wache gehen.
Der Schmadding wiederholt seinen Befehl. „Matrose sie gehen nicht von Bord, sie werden heute die Wache übernehmen, haben sie mich verstanden?“ „Jawohl Herr Hauptbootsmann.“ Er sieht mich mit ausdruckslosen Augen an, dreht sich um und geht.
Die restliche Crew wird jetzt vom Wachhabenden im Schnelldurchgang „durchgeadelt.“ Jim, Willi, Liliencron, Wagenberg, Jörg, Tommi, alle meine Jungs, klopfen mir im Vorbeigehen auf die Schulter, alle haben den Kopf gesenkt, keiner sieht mich an. Ich lächle tapfer, könnte aber vor Wut heulen.
Zehn Minuten später stehe ich an der Reling und schaue mir die spielenden Kinder an, die mit ihrem Fußball kicken. Ein paar Verliebte, Hand in Hand, von der untergehenden Sonne beschienen, interessieren sich nicht wirklich für unser Schiff, sie scheinen in einer anderen Welt zu sein, einer Welt, die mir wohl vorerst verschlossen bleiben würde. Dabei war die Veranstaltung gestern Abend im Kasino auch umsonst, denn dort wurde in Etappen, der ganzen Besatzung ein Film über Geschlechtskrankheiten gezeigt. Das war starker Tobak, danach hatte keiner mehr den Wunsch, jemals wieder mit dem anderen Geschlecht in Berührung kommen zu wollen.
Aber der Mensch vergisst schnell und wenige Stunden später hörte man sie wieder tuscheln und feixen, sich die tollsten Abenteuer erzählen und Lissabon wurde zur erotischsten Stadt der Welt gewählt.
Ich dachte über den Grund nach, warum wohl der Bootsmann so kategorisch darauf bestand, dass ich nicht von Bord gehen durfte. Was hatte ich getan? In Gedanken ging ich meine Liste an Verfehlungen durch. Ich hatte beim morgendlichen Appell, in der hinteren Reihe gestanden und Pfeife geraucht, in der Abdeckung meines Vordermannes, aber das hatte keiner wirklich mitbekommen. Konnte es das gewesen sein? Nein, das konnte es nicht gewesen sein. Nein auf keinen Fall. Die dreißig Liter Erbsensuppe, die mir bei schwerer See am steilen Niedergang aus der Hand gerissen wurde, auch das konnte nicht wirklich der wahre Grund gewesen sein.
Sicherlich, es war eine riesige Sauerei, der ganze Raum stank nach Erbsen und Speckstücke schwammen wie Minen in der grünen See, und die Reinigung des Bodens war bei dem starken Seegang eine Slapstickeinlage. Nein, mir fiel es plötzlich ein, war schon eine Zeitlang her, aber er hatte es nicht vergessen.
„Schmadding, aus ihrem Spint tropft es“, hatte ich damals zu ihm gesagt. Ich sehe seine rundliche Gestalt, die verblüffende Ähnlichkeiten aufwies zu Long John Silver (wieso war mir das nicht früher aufgefallen?) aus dem Roman von Stevensons „Schatzinsel“, wie er auf seinen kurzen Beinen wie ein Wiesel über den Rasen lief, begleitet von unserem höhnischen Lachen. Das hatte der „Alte“ nicht vergessen können und er hatte sich den richtigen Zeitpunkt, für seine Rache, ausgesucht.
Seit einem Monat sind wir auf See, aus der Bordzeitung haben wir erfahren, dass sich der Verband in verschiedene Häfen zurück zieht um, wie in unserem Fall, Wasser bunkern zu müssen. Normalerweise werden wir über Versorger auf hoher See mit Diesel und allen notdürftigen Sachen ausgerüstet, aber es scheint eine Art Pause eingetreten zu sein. Uns ist es nur recht, wir freuen uns wie die Schneekönige.
Unsere Taschen sind angefüllt mit dem notwendigen Geld, denn die Soldaten bekommen Sonderzulagen. Zum einen geht es um den beengten Raum an Bord, das wird extra honoriert und wird Bordzulage genannt, zum anderen geht es um die Auslandszulage. Als die ersten Vögel über unser Schiff fliegen und sich bemerkbar machen, schauen wir ihnen mit einem seligen Lächeln nach und als sich ein kleiner Vogel auf dem Bootsdeck niederlässt um sich auszuruhen, werden wir langsam unruhig.
Immer wieder schauen wir nach vorn über die Back des Schiffes, wer wird das Land als erster sehen? Es sind natürlich die Brückengasten, hoch oben in der Nock, mit erstklassigen Ferngläsern ausgerüstet. Sie sind es, die melden dürfen: „Land in Sicht!“ Die Stimmung an Bord ist großartig, es wird gesungen, viele lassen sich die Haare schneiden und fragt man jemanden von den Seelords wohin es gehen würde wenn wir erst einmal an Land sind, dann ist die Antwort: „Du musst dich immer nach Backbord wenden, da ist der Pastor und der Puff.“
Über Bordübermittlung wird mitgeteilt, wir laufen Lissabon an. Jubel überall, Beifall bei der Mannschaft. Dreißig Tage auf See und jetzt geht es nach Lissabon. Ich werde auf die Brücke beordert, ich soll das Einlaufmanöver fahren, was für eine Ehre. Als sich das Blau des Meeres in einen bräunlichen Farbton verwandelt, wird uns mitgeteilt, dass der Tajo Hochwasser führt, es ist besondere Aufmerksamkeit erforderlich. Der Leuchtturm Bugio, der aussieht wie eine Marzipantorte mit einer Kerze in der Mitte, wird sichtbar.
Er liegt wie eine dicke Qualle, auf einem winzigen Eiland, inmitten der Fahrrinne. Wir passieren ihn an Backbordseite. Hier ist der Tajo noch recht breit, ca. 3-4 Seemeilen schätze ich, und die Einfahrt mit dem Zerstörer macht, auch wenn einige Entgegenkommer zu sehen sind, keine Probleme. Außerdem ist der Himmel, bis auf wenige Wolkenschleier, himmelblau. Nach wieder fast 3 Seemeilen verjüngt sich der Trichter und als Torre de Belém, ein Barockturm mit kleiner Vorburg, querab liegt, hat sich die Einfahrt des Tajo auf weniger als eine Seemeile reduziert.Vor uns, in ihrer ganzen Pracht, auf nur zwei Pylonen ruhend, liegt die Salazarbrücke lang gestreckt. Sie wirkt auf uns filigran und irgendwie zerbrechlich, auf ihr herrscht reger Verkehr.
Als wir unter ihr hindurch fahren, übernimmt der 2-WO das Kommando. Ich bin etwas überrascht, nicht der 1-O, der als der beste Steuermann des Schiffes gilt und eigentlich bei diesen Wasserverhältnissen das Kommando führen sollte, übernimmt die Verantwortung, sondern der noch unerfahrene 2. Wachoffizier.
Der 2-WO ist ein junger Mann, nur wenig älter als ich, er ist ganz ruhig, zumindest scheint es so. Sehr bestimmt kommen seine Kommandos. „Backbord-Ruder 10, damit sind natürlich 10 Grad gemeint. Ich folge seinem Befehl, das Schiff nähert sich in einem flachen Winkel dem Ufer.
Der Maschinengast hat seine Geschwindigkeit auf Kommando zurückgenommen, die Kulisse der Stadt Lissabon, die wie Rom auf sieben Hügel erbaut ist, erobert langsam die gesamte Breite des riesigen Brückenfensters. Dicke Pötte liegen in Reihe an der Mole auf Backbord. Unser Zerstörer wirkt dagegen wie ein Fliegenschiss. Die haben es gut, geht es mir durch den Kopf, die liegen schon fest. Je näher ich dem Ufer auf Backbord näherkomme, wird der Ruderdruck nach Steuerbord umso stärker. Die Kesselförmige Ausbuchtung des Tajo mit über 4 Seemeilen, die hier beginnt, drückt das Wasser gegen den schmalen Ausgang in dem wir uns befinden.
Mir wird plötzlich klar, dass wir einen Fehler machen, wenn wir in diesem Winkel versuchen das Ufer zu erreichen. Der 2-WO müsste entweder die Geschwindigkeit erhöhen oder das Ruder mit 20° Backbord einschlagen. Die starke Strömung lässt es so nicht zu, dass wir an unseren Anlegepunkt gelangen. Wir würden im Zweifelsfall daran vorbei „segeln.“ Wenn das passiert, dann ist hier aber der Teufel los und dem 2-WO wird der Hintern aufgerissen, soviel ist klar.
Endlich kommt das Kommando: „Backbord-Ruder 15!“ Ah, er hat was gemerkt, aber warum ist er so zaghaft? Das reicht nicht, das reicht niemals, wir fahren vorbei, da wette ich drauf. Der 1-O steht im hinteren Brückenabschnitt, an der Wand gelehnt, er wirkt gelangweilt, doch er beobachtet das Treiben auf der Brücke genau. Ich entscheide mich anders. Ich wiederhole zwar das Kommando: „Backbord-Ruder 15“, doch ich lege 20 Grad. Ich weiß, dass der 2-WO das sehen kann, ich warte auf eine Rüge, bange Sekunden vergehen, aber es kommt nichts. Ich atme auf, unten haben sich die Bola-Werfer in Position gebracht.
Aber noch sind wir nicht nah genug dran. „Ruder Backbord 20.“ Ich lege Backbord 25. Jetzt versetzt das Schiff endlich in Richtung Ufer. Gekonnt fliegt die erste Bola über das Wasser, guter Wurf denke ich, jetzt bloß keinen Fehler machen. Die Jungs auf dem Kai haben die Sache im Griff, sie wissen um den Umstand mit der schweren Strömung und als ginge es um den Sieg bei einer olympischen Veranstaltung holen sie Hand über Hand die dünne Leine und endlich das Herkulestau ein.
Willi, der heute den Maschinentelegraph bedient, hat beide Maschinen auf Stopp gelegt, ich weiß, wir nutzen noch ein wenig unseren Schwung aus. Jetzt kommt es drauf an, wie schnell die Jungs auf dem Kai das schwere Herkulestau über den Poller geschmissen haben, denn gleich beginnen wir abzutreiben. Sie rennen jetzt wie die Hasen, mit ihrer schweren Last, zum nächsten Stahlpoller. Geschafft! Die „Seeziegen“ belegen in drei Lagen den Poller an Bord des Schiffes mit dem Tau.
Der Maschinentelegraph bekommt den Befehl: “Kleine Voraus!“ Ein Ruck geht durch das Schiff, ich weiß was jetzt kommen muss, wir dampfen in die Vorspring, das ist das Seil, das wir gerade vorne festgemacht haben und jetzt muss „Hart Steuerbord!“ folgen, damit der hintere Teil des Schiffes, sich gegen das Ufer drückt, denn vorne ist es ja fest und kann nicht weg.Aber es kommt: „Steuerbord-Ruder 15.“ Wieder zu zaghaft, ich lege hart Steuerbord und wieder kommt vom 2-WO nichts. Das Schiff drückt sich sanft gegen die, mit dicken Fendern abgesicherte, Kaimauer. Die achterlichen Festmacher sichern das Schiff vor dem Zurückfedern, wir sind in Lissabon angekommen.
*
Sofort macht sich Hektik an Bord breit, alle sind aufgeregt, heute gehen wir von Bord, soviel ist klar. Willi putzt seine Ausgehschuhe, Jim ist stolz auf seine blaue, ungebrauchte Ausgehhose mit der makellosen Falte. Ich suche, wie so oft, meinen Kram mühsam aus der niedrigen Kleiderkammer. Alte Seestiefel liegen auf der einzigen blauen Hose die den Boden bedeckt, bei näherer Betrachtung ist es meine, „Schit!“ Irgendwie muss ich das noch hinbiegen, denn die Falte sieht aus, als wenn ein Bulle pisst. Die weiße Fliege an meinem Halstuch, scheint in schweres Flakfeuer geraten zu sein, aber da gibt es Mittel, wie z. B. Zahnpasta.Jetzt keine Hektik, Willi leiht mir seinen Kamm und von Tommi bekomme ich die zweite blaue Hose. Na, damit ist doch alles klar, denke ich und male mir aus, was heute nicht alles passieren könnte. Ich höre den hellen Ton der Bootsmannsmaatenpfeife, wir schauen nach vorn, die Seite wird gepfiffen, der Kapitän geht von Bord. „Jetzt geht es gleich los!“, meint Jim und frisiert sich sein dunkelblondes Haar gekonnt nach hinten.
Meine blonden Locken kann ich so nicht bändigen, das weiß ich, sie stehen mir zum Teil wirr vom Kopf ab, muss wohl mit dem Wetter zusammenhängen, aber was soll es, das wird ja wohl vom Wachhabenden nicht so hart bewertet werden, hoffe ich. Die Jungs beginnen sich in Reihe zu formieren, aufgeregtes Trippeln, unterdrücktes Husten, gleich kommt die Abnahme. Ich kenne den Maat nicht so genau, der an der Reling der Backbordseite mit dem Schmadding die Abnahme machen will. Alles läuft in einer nervtötenden Langsamkeit ab. Der gezielte Blick auf die Ausgehuniform bestehend aus weißem Hemd, meines ist erstklassig sauber, dem Halstuch mit der Fliege, na ja geht gerade so, Kamm vorzeigen, auch ok. Ein Schritt zurück und den Kniff der Hose betrachtet, Schuhe sauber, sieht ja super aus.
Der Schmadding schiebt sich am Wachhabenden Maaten vorbei und baut sich plötzlich vor mich auf. „Matrose, sie gehen nicht von Bord, sie werden heute die Wache übernehmen.“
Ich glaube für eine Millisekunde ich hätte mich verhört, dann aber wird mir sofort klar, dass alles vorbei ist, kein Ausgang. Kein verdammter Ausgang, nach über dreißig Tagen auf See. Ich muss Wache gehen.
Der Schmadding wiederholt seinen Befehl. „Matrose sie gehen nicht von Bord, sie werden heute die Wache übernehmen, haben sie mich verstanden?“ „Jawohl Herr Hauptbootsmann.“ Er sieht mich mit ausdruckslosen Augen an, dreht sich um und geht.
Die restliche Crew wird jetzt vom Wachhabenden im Schnelldurchgang „durchgeadelt.“ Jim, Willi, Liliencron, Wagenberg, Jörg, Tommi, alle meine Jungs, klopfen mir im Vorbeigehen auf die Schulter, alle haben den Kopf gesenkt, keiner sieht mich an. Ich lächle tapfer, könnte aber vor Wut heulen.
Zehn Minuten später stehe ich an der Reling und schaue mir die spielenden Kinder an, die mit ihrem Fußball kicken. Ein paar Verliebte, Hand in Hand, von der untergehenden Sonne beschienen, interessieren sich nicht wirklich für unser Schiff, sie scheinen in einer anderen Welt zu sein, einer Welt, die mir wohl vorerst verschlossen bleiben würde. Dabei war die Veranstaltung gestern Abend im Kasino auch umsonst, denn dort wurde in Etappen, der ganzen Besatzung ein Film über Geschlechtskrankheiten gezeigt. Das war starker Tobak, danach hatte keiner mehr den Wunsch, jemals wieder mit dem anderen Geschlecht in Berührung kommen zu wollen.
Aber der Mensch vergisst schnell und wenige Stunden später hörte man sie wieder tuscheln und feixen, sich die tollsten Abenteuer erzählen und Lissabon wurde zur erotischsten Stadt der Welt gewählt.
Ich dachte über den Grund nach, warum wohl der Bootsmann so kategorisch darauf bestand, dass ich nicht von Bord gehen durfte. Was hatte ich getan? In Gedanken ging ich meine Liste an Verfehlungen durch. Ich hatte beim morgendlichen Appell, in der hinteren Reihe gestanden und Pfeife geraucht, in der Abdeckung meines Vordermannes, aber das hatte keiner wirklich mitbekommen. Konnte es das gewesen sein? Nein, das konnte es nicht gewesen sein. Nein auf keinen Fall. Die dreißig Liter Erbsensuppe, die mir bei schwerer See am steilen Niedergang aus der Hand gerissen wurde, auch das konnte nicht wirklich der wahre Grund gewesen sein.
Sicherlich, es war eine riesige Sauerei, der ganze Raum stank nach Erbsen und Speckstücke schwammen wie Minen in der grünen See, und die Reinigung des Bodens war bei dem starken Seegang eine Slapstickeinlage. Nein, mir fiel es plötzlich ein, war schon eine Zeitlang her, aber er hatte es nicht vergessen.
„Schmadding, aus ihrem Spint tropft es“, hatte ich damals zu ihm gesagt. Ich sehe seine rundliche Gestalt, die verblüffende Ähnlichkeiten aufwies zu Long John Silver (wieso war mir das nicht früher aufgefallen?) aus dem Roman von Stevensons „Schatzinsel“, wie er auf seinen kurzen Beinen wie ein Wiesel über den Rasen lief, begleitet von unserem höhnischen Lachen. Das hatte der „Alte“ nicht vergessen können und er hatte sich den richtigen Zeitpunkt, für seine Rache, ausgesucht.