Kann ich ein Mörder sein?

J. H. Berg

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Es war der schlimmste Tag meines jungen Lebens. Ich wollte gerade die Treppe hinauf in mein Zimmer gehen, als meine Mutter in Tränen ausbrach und mit dem Telefon in der Hand auf die Knie sackte. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Vater war noch bis zum nächsten Tag auf einer Geschäftsreise, somit war ich allein mit meiner Mutter, die mich ansah, aufstand und mich umarmte. Lange, sehr sehr lange. Die Zeit fühlte sich schwer und kühl an. Mein Herz schlug so schnell. Dann schluchzte sie mir ins Ohr: „Tobi ist tot.“ Tobi mein älterer Bruder. Nein!! Wie? Wodurch? WARUM?

Später bei der Polizei sagten sie uns was passierte. Er und drei Freud haben in ihrem Waldversteck zum ersten Mal einen Speedball ausprobiert – die Mischung aus Koks und Heroin. Zuerst nahmen sie das Koks. Tobi hat angefangen sich den Schuss in die Vene zu geben. Als der nächste an der Reihe war, hörten sie den Jäger der durch den Wald marschierte. Sie bekamen Angst und sind abgehauen ohne an Tobi zu denken. Alle kamen vor Gericht und wurden Frei gesprochen. Dies war keine Befriedigung für mich. Ich beobachtete sie im Gerichtssaal. Auf der Beerdigung. Ein Jahr später, wie sie ihren Schulabschluss feierten. Wie sie ihre Wege in ihre Zukunft gingen.

Ich hoffte damit abschließen zu können. Ich versuchte mein eigenes Leben zu leben. Auch ich beendete zwei Jahre später die Schule. Ich studierte, fand Arbeit in einer neuen Stadt und lernte eine Frau kennen: Emma. Die schönste, schlauste und einfühlsamste Person auf Erden. Ich liebte es immer in die Ferne zu sehen, um mir vorzustellen was Wunderbares vor mir lag. Aber nicht, wenn sie neben mir stand dann sah ich mir sie an und wusste was ich bereits wunderbares hatte. Durch sie konnte ich eine Zeit lang ohne Hass durch die Welt gehen. Doch in Nächten nachdem wir meine Eltern besuchten kam der Schmerz, die Traurigkeit und schließlich auch der Hass zurück. Ich wollte nur eins und das war Rache.

Ich machte mich an die Arbeit. Natürlich ohne das Mitwissen meiner Geliebten. Sie sollte nicht miterleben, wie grausam ich im Innersten sein konnte. Ich recherchierte und suchte und recherchierte und suchte bis ich sie fand. Alle Drei waren sie im ganzen Land verstreut. Ich ging nicht systematisch vor, der Zufall sollte entscheiden, wer zuerst dran sein sollte. Zu Emma sagte ich, dass ich alte Schulfreunde besuchen würde und nach einer Woche zurück sein werde. Lügen war es nicht, da sie zu einem Zeitpunkt meines Lebens Freunde meines Bruders waren… nur halt nicht meine. Ich berechnete immer ein zwei Tage mehr ein, da ich meine Opfer zuerst beschatten wollte, um herauszufinden wie ich es machen würde. Bei dem Gedanken kam mir zum einem Genugtuung aber auch blanke Angst. Wie ist es jemanden das Leben zu nehmen? Ich stellte mir vor es würde mein Leben endlich vervollständigen und so viel Last von meinem Herzen nehmen.

Zu Beginn reiste ich nach München zu Alexander. Ihn fand ich auf eine Weise immer faszinierend. Er war einer der coolen Kids der nicht viel auf andere gab. Groß, sportlich und draufgängerisch. Ich mietete mich in das günstigste Hotel der Stadt ein, stellte dort mein Auto ab und ging zu einer Carsharing Station, um mir ein Auto auszuleihen. Alles natürlich so anonym wie möglich. Ich bewegte mich in der Grauzone zwischen ´mir ist egal ob ich erwischt werde´ und ´besser ein bisschen vorsichtig sein man weiß ja nie´. Das Gefühl war besser, wenn ich zumindest so tun würde ein unsichtbarer Killer zu sein. Ich fuhr zu der Adresse. Es war ein schönes großes Haus in einer wohlhabenden Gegend. Aber irgendwas kam mir komisch vor. Das Haus hatte einen sehr breiten Eingang und davor war eine Rampe. Skatet er noch? Stand da etwa eine Halfpipe hinterm Haus? Ich checkte, nichts Derartiges war zu sehen. Vielleicht leben seine Schwiegereltern mit im Haus und deshalb muss es Barrierefrei sein. Ich beschloss das Haus zu beobachten. Nach zwei Stunden kam endlich ein Fahrzeug in die Einfahrt geschlichen. Es bog sehr langsam ein. Auf der Heckscheibe des roten Caddys war ein blauer Aufkleber. Die Tür ging auf. Hände hoben Beine wie die einer Puppe aus dem Auto. Dieselben Hände stellten auch einen Rollstuhl auf den Boden und klappten ihn auf. Mit einem Ruck saß plötzlich ein Mann darin. Und ich sah es war Alex. Es war einer dieser Momente die mich schockte und die Welt kurz zum Stillstand brachte. Er war ja nicht gestorben dafür aber ein Teil seines Körpers und somit ein Teil seines Glücks. Obwohl seine Handgriffe alle auf Anhieb saßen und es keine Hindernisse für ihn gab, sah man ihm an, dass etwas fehlte. Ich musste die Erkenntnisse sacken lassen und fuhr zurück ins Hotel. Der Wille so jemanden umzubringen war auf der Spitze eines Berges und ich stand im Tal ohne Wanderschuhe. Ich sagte zu mir: „Beim nächsten wird es leichter. Er wird keine Behinderung haben. Ich schaffe das. Ich schaffe das. Für Tobi. Für meine Eltern. Für mich…“ Ich schlief weinend ein.

Somit reiste ich früher wie gedacht nach Freiburg zu Christian. In der Schulzeit war er eher der Mitläufer Typ. Ein Mann der ruhigeren Art. Er schien für Unbekannte immer ein bisschen gefühlslos, weil er immer den gleichen Gesichtsausdruck hatte. Es war wie eine Mischung aus Leere und Langeweile.

Ich machte es wie das letzte Mal und beschattete das Gebäude in dem er lebte. Er wohnte in einem Reihenhaus. Es sah ähnlich aus wie die anderen, war aber trotzdem individuell. Es hob sich mit einer Vielfalt von Blumen ab, welche aber nicht sehr gut gepflegt waren. Das Unkraut schlich sich leise an. Und die welken Blätter färbten sich von grün über gelb zu graubraun. Dennoch war der Wille zu sehen. Ich kam mit dem Gedanken an, mehrere Stunden nur zu beobachten. So kam es auch. Totenstille in der ganzen Straße. Doch nachdem der Mittag zunehmend voranschritt, kamen immer mehr Leute. Nicht etwa verteilt auf die Gebäude, sondern genau zu Christians Haus. Da die meisten mit dem Auto kamen sah die einst so ordentliche Straße wie der Parkplatz eines Wirtshauses aus. Ein paar Leute gingen nach einiger Zeit wieder, aber die meisten blieben. Ich dachte es könnte gut und gerne eine Familienfeier sein. Ergab Sinn für mich. Ich beschloss heimzufahren und morgen wieder zu kommen.

Ich machte mich früh morgens auf dem Weg, als ich in die Zielstraße einbog, war ich teilweise gefrustet wie auch verblüfft. Vier der sechs Autos standen immer noch dort wo sie gestern abgestellt worden waren. Diesmal parkte ich noch weiter weg, um nicht aufzufallen. Dort stand ich nun einige Zeit. Es bewegte sich nicht viel bis gar nichts. Auf einmal wie aus dem nichts fuhr ein Leichenwagen vor. Warum zur Hölle kam jetzt ein verdammter Leichenwagen? Männer in schwarzen Anzügen stiegen aus dem langen schwarzen Auto aus. Sie klingelten eben an jener Tür und ich sah zum ersten Mal Christian. Und ja ich glaube ich sah in diesem Moment zum ersten Mal den echten innersten Christian. Er hatte einen Gesichtsausdruck, den man normalerweise nur bei Kindern nach einem Heulkrampf sah. Er wollte sich anständig kleiden doch es blieb beim Versuch. Auch sein Haar saß nicht. Man konnte hier einen Mann sehen der miterlebt hat, was man keiner Person auf Erden wünscht. Ich musste zugeben er tat mir leid. Ich musste an meinen Bruder denken. Ich sollte Hass und Lust auf Rache versprühen. Aber ich konnte es nicht, nicht bei Christian. Er hatte genug erlebt. Nach einer Weile fuhr ich zurück zu meiner Unterkunft. Ich schaute noch einmal in meinen Rückspiegel, dort sah ich wie die Anzugmänner einen Sarg heraustrugen. Der Sarg war klein.

Im Hotel bereitete ich alles auf Stefan vor. Bei ihm wollte ich nicht klein werden, wie bei den anderen Arschlöchern. Zumal er auch derjenige war, der sie damals alle an das Thema Drogen herangeführt, und diese auch besorgt hatte. Er war damals der Typ, der aus dem sozialen Brennpunkt kam und sich mit solchen Mitteln Freunde erkaufte.

Er wohnte nun in Frankfurt am Main. Wohnte war aber das falsche Wort. Für ihn hatte ich extra mehr Zeit eingeplant, da es schwierig war seinen Aufenthaltsort alias Wohnsitz ausfindig zu machen. Ich musste auf analogen Weise direkt vor Ort suchen.

Am nächsten Morgen machte ich mich früh auf den Weg. Es waren ja schließlich einige Stunden auf den Asphaltwegen zurück zu legen. Kurz vor Frankfurt klingelte mein Handy. „Emma“ stand auf dem Display. Ich wollte mich eigentlich nicht von meinem Vorhaben auf irgendeines Weise ablenken lassen, doch das Verlangen ihre Stimme zu hören war seit Beginn omnipräsent. Im gefühlt letzten Moment hob ich ab.

„Alles gut bei dir?“

„Ja klar! Doch, passt alles.“ sagte ich. „Wieso?“

„Du hast dich noch gar nicht gemeldet!“

„Oh ja sorry. Tut mir leid. Aber mach dir keine Sorgen.“

„Gut. Ich wollte nur sicher gehen. Wo fährst du jetzt hin?“

Ich war verblüfft. „Was meinst du?“

„Bist du nicht im Auto?“

„Ja doch stimmt. Nach F...F...Frankfurt.“

Dies war einer der Momente in denen einem Tausende Städte die mit F beginnen plötzlich entfallen.

Ich hätte Freiburg sagen können.


„Am Main?“

„Ja“

Oder einfach das andere Frankfurt.

„Ist wirklich alles ok bei dir? Du klingst gestresst.“

„Dein verpeilter Mann ist doch immer so. Es ist wirklich alles gut.“

„Ja ich weiß. Ich will ihn doch nur zurück bei mir.“

„Ich komme in ein paar Tagen wieder. Ich muss auflegen. Bis bald hab dich lieb“

„Ich dich auch! Bis dann.“

Ich konnte im Unterton hören, dass sie nicht ganz zufrieden mit meinen Antworten war. Sie wusste, dass ich nicht ganz ehrlich war, aber sie wusste auch, dass sie nichts machen konnte.

Meinte Routine blieb vorerst gleich. Ich buchte mir ein günstiges Hotel. Dort machte ich mir einen Plan. Ich legte mich am Tag meiner Ankunft früh schlafen, um mich zeitig auf die Suche zu begeben. Ich wusste nur, dass er zu seinem Vater – von dem er bis zum Schulabschluss getrennt war – gezogen ist. An der Adresse angekommen klingelte ich alle Wohnungen des kleinen Wohnkomplexes durch, obwohl die Nachnahmen nicht passten. Eine ältere Dame sagte mir, dass der Vater schon seit drei Jahren verstorben war und Stefan die Miete nicht mehr zahlen konnte. Daraus schlussfolgerte , dass er wahrscheinlich auf der Straße leben würde. Und wenn er immer noch den Drogen nahestand, dann wusste ich, wo ich zuerst suchen sollte. Ich klapperte alle Obdachlosenhilfen ab. Kam aber zu keinem Ergebnis.

Somit verzögerte sich alles um Tage, doch aufgeben war keine Option.

Meine Chancen ihn zu finden schwanden, doch ich hatte noch eine Idee. Der Hauptbahnhof. Dort gab es Straßen, an den am helllichten Tagen Junkies sitzen uns sich den Druck geben. Ich versuchte mit dutzenden Leuten zu sprechen, aber entweder wusste niemand irgendetwas oder sie waren nicht ansprechbar. Es war für mich kein schöner Ort. Diese sabbernden Menschen, die augenscheinlich nur noch halb lebten widerten mich ein wenig an. Ich war kurz vorm verzweifeln, bis ich mit einem Jungen sprach, der Stefan tatsächlich kannte. Er war vielleicht erst 15 Jahre, aber schon vom Leben gezeichnet. Er verriet mir, dass Stefan ihn, schon oft mit Stoff versorgt hatte. Seit einer Überdosis vor drei Tagen sei aber im Krankenhaus.

Mit dieser Information ging ich zurück ins Hotel. Ich war erledigt aber auch froh. Leichter kann es ja nicht werden dachte ich mir. Meiner Vermutung nach war das Interesse an einem toten Junkie der auf der Straße lebte generell nicht sehr hoch. Niemand wird vermuten, dass es Mord hätte sein können.

Am Folgetag ließ ich mir über die Rezeption ein Taxi bestellen. Es fuhr mich zum Krankenhaus. Dieses war relativ klein und sah auch alt aus. Es löste bei mir wie vor jedem Arztbesuch eine innere Nervosität aus, obwohl ich nicht einmal Patient war. Ich war der Doktor. Nein auch nicht ich war das Gegenteil der Vollstrecker. Mittlerweile war in an der Information angekommen. Die nette Dame erklärte mir den Weg zum Zimmer. Auf dem Weg dorthin schaute ich mich nach geeigneten Medikamenten um. Wie ein kleiner Taschendieb schnappte ich mir mehrere Ampullen. Mein Plan war es in der Akte nachzusehen welche Mittelchen er bereits bekam, die ich ihm dann in sehr hoher Dosis spritzen konnte.

Meine Hand machte die Tür auf und mein Kopf ragte durch den Türspalt. Stefan schlief und war nun allein im Raum. Mein Zeichen war gekommen. Ich begab mich in das Zimmer. Es wirkte so als sei es Spätabends, da der Tag sehr bewölkt und die Deckenbeleuchtung aus war. Das Licht von draußen war zudem durch die Vorhänge gedimmt. Die Ruhe im Raum wurde nur durch den Lärm der Straße aus einem gekippten Fenster gestört. Ich sah ihn an. Er hatte die Haut eines pubertierenden Jugendlichen mit Akne, den Körper eines Verhungernden und die Hygiene eines streunenden Hundes. Hilflos lag er da, verkabelt wie ein Roboter. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Ich dachte an Tobi der wegen ihm sterben musste. Mein Bruder musste sterben. Mir wurde warm. Ich konnte spüren wie ein unerbittliches Gewitter in meinem Körper aufzog. Meine Muskeln spannten sich an. Ebenso mein Herz pumpte schneller denn je. Die Venen auf meinen Armen drückten sich aus der Haut heraus. Ich ging auf seine Liege zu und suchte nach einer Akte. Da hing sie. Ich blätterte und sah, dass eines meiner geklauten Mittelchen ihm tatsächlich zugeführt wurde. Ich suchte auf meinem Handy im Internet danach. Es war ein Schmerzmittel. Und ja, eine Ampulle würde als Überdosis ausreichen. Doch dann gerade als ich das Mittel in die Spritze saugen wollte, sprang die Tür auf. Ich drehte mich um und sie stand da: Emma Wie? Warum? Woher?

Sie kam erst zögerlich dann aber rasant auf mich zu und umarmte mich. Ich erwiderte und küsste sie.

„Ich musste dich sehen!“

„Aber wie?“ fragte ich.

„Ich habe dein IPhone mit der Suchen-Funktion geortet. Wer ist das? Einer deiner alten Schulfreunde?“

Ich ging ein Schritt zurück. Schaute auf dem Boden und sagte:

„Wegen dieses Mannes habe ich keinen Bruder mehr. Ich konnte nicht mehr mit dem Gedanken leben, dass er noch leben durfte Tobi aber nicht.“

Sie tippte mir gegen das Kinn damit ich ihr in die Augen blickte.

„Du willst ihn doch nicht etwa...?“

Ich zuckte und zeigte ihr meine Tötungsinstrumente.

Ihre Augen verloren den Glanz wurden matt und Tränen strömten hinaus.

„So einen Mann habe ich nicht geheiratet! Wenn du das machst, bist du doch kein bisschen besser als er!“

``Kein bisschen besser als er!“ ``Kein bisschen besser als er!“ Dieser Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Mental verschwand ich aus dem Raum ich hörte nichts mehr und sah nur noch schwarz. Sie hatte recht. Obwohl es Stefan war, war es trotzdem ein Mensch mit Verbindungen zu anderen Menschen. Wenn ich ihn tötete dann auch die Beziehungen, die er hatte… zu Leuten, die er liebte.

Nun weinte auch ich.

Wir gingen aus dem Krankenhaus. Da es ein weiter Heimweg war schliefen wir noch eine Nacht im Hotel. Sie schlief, ich nicht. Ich konnte nicht und hatte die Befürchtung es nie wieder zu tun. Ich schlich mich mitten in der Nacht aus dem Hotelzimmer und fuhr zum Krankenhaus. Dort vollbrachte ich es. Ja, ich tötete ihn. Im Nachhinein war dies nicht das Schwerste was ich in dieser Nacht tat. Ich schlich mich zurück und Emma fragte mich.: „Wo warst du?“

Und ich sagte: „Nur kurz spazieren. Mach dir keine Sorgen.“ Diese Lüge zu sagen und mit ihr zu leben war schwieriger viel schwieriger. Für die Nacht war ich befriedigt, aber nun trug ich einen Schatten in mir, der mich bis zum Tod verfolgen würde.
 



 
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