Kapitel 1: Albträume

Amaretria

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„Jeder Mensch hat Ängste. Und Ängste haben so an sich, dass man sie nicht greifen kann. Sie sind unsichtbar, solange wir ihnen keine Gestalt geben. Bis dahin werden sie immer das namenlose Grauen bleiben, das uns durch unsere Albträume verfolgt. Doch wenn deine Angst erst mal die Gestalt eines Dämons oder eines Ungeheuers angenommen hat, dann kann man dagegen kämpfen. Also vergiss es nie, mein Schatz, dass es nichts gibt, wogegen man nicht kämpfen kann. Es muss nur einen Namen haben.“

Dies waren die letzten Worte ihrer Mutter gewesen, bevor sie abgeholt worden war. Es war theatralisch und bühnenreif, denn sie war Schriftstellerin gewesen. Und zwar eine recht gute. Sie konnte verborgene Türen in die Wände meines Kinderzimmers zaubern und wenn wir zu zweit durch sie hindurchgingen dann entdeckten sie die Weiten der Urwälder von Ulumpur, die abgeschiedenen Weiten von Fentesien und die Berge von Katasan.

Es waren Stunden voller Abenteuer gewesen, die sie in ihrem Kinderzimmer verbracht hatten und nun wären sie für immer verloren. Sie würden niemals wiederkehren.

In ihrem Geiste sah sie die verborgene Tür in der Wand neben meinem hölzernen Kleiderschrank sich für immer schließen, als der Sarg ihrer Mutter in die Tiefen des Erdreiches verschwand.

Kämpfen? Wofür? Nun gab es nichts mehr für das es sich zu kämpfen lohnte, denn ihre Mutter war tot.

Über ihr Gesicht lief eine einzige Träne, sonst war sie wie versteinert. Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und ihr war, als ob die Wärme der Hand ihr erst die Kälte meines übrigen Körpers bewusst machte.

Elí sah hoch und blickte in die dunkelblauen Augen ihres Onkels. Johannes war der Bruder ihrer Mutter gewesen. Meiner Einschätzung nach war er ein netter, freundlicher Mitte Vierziger, aus dem ich nie schlau geworden war. Vielleicht lag es daran, dass er nicht gern sprach und somit den Eindruck einer verschlossenen Muschel machte. Sie war sich fast sicher, dass er eine Perle in sich trug, die er mit dieser Verschlossenheit bewachen wollte.

Er nahm sie mit nach Hause, denn nun war sie das, was man eine Waise nennt. Außer ihrem Onkel war ihr niemand geblieben, da sie ihren Vater nie kennengelernt hatte und in dem Haus ihrer Mutter keiner von Beiden ein Wort über ihn verloren hatte. Elí hatte es aus Respekt vor dem offensichtlichen tiefsitzenden Schmerz der mit diesem Mann zu tun hatte nicht gewagt.

In der ersten Nacht im Haus schlief sie sehr schnell ein, denn die Aufregungen dieses Tages hatten sie ermüdet.

Sie war in ihrem Kinderzimmer und nun öffnete sich wirklich eine Tür neben ihren Kleiderschrank. Etwas in ihrem Innern riet ihr davon ab hineinzugehen, aber ihre Füße schienen ihr nicht richtig zu gehorchen. Stattdessen setzte sie einen Fuß vor den Anderen und ging durch die Tür, doch keine Berge, Urwälder oder Wüsten erwarteten sie, von überall hingen Stofffetzten herunter, man konnte noch erkennen, dass auf ihnen Landschaften aufgemalt waren.

Elí ging durch sie hindurch und bald war sie in einem dunklen Korridor mit Stein angelangt. Der Korridor war eng und glitschig und voller Windungen. Das waren Korridore von solcher Art wie sie in den finstersten Szenen von Abenteuerbüchern vorkamen. Bei denen wusste man nie, was nach der nächsten Ecke kam. Und als sie die nächste Ecke umrundete, fiel Finsternis um sie her. Eine tiefe Stimme sprach zu ihr, als würde sie um sie herum sein, sie schien von überall her zu kommen.

„Jetzt behütet dich niemand mehr. Nun bist du ganz auf dich allein gestellt und nun wirst du uns gehören, denn du allein kannst uns nicht besiegen.“

Schweißgebadet wachte Elí auf und sah verstört um sich. Ihr Schlaftshirt klebte an ihrem Rücken und ihre Hände waren eiskalt.

Auch der zweite Tag nach der Beerdigung versank in einem tiefen Nebel von Gedanken. Die meiste Zeit lag sie in ihrem Bett und wollte sich weder von dem Zimmermädchen ihres Onkels etwas bringen lassen noch etwas anderes tun als dazuliegen. Der Schmerz war noch zu groß als dass sie es zulassen könnte, dass er sie überwältigte. Eine große Leere erfüllte sie. Es fühlte sich an, als hätte man ihr alle Träume, Hoffnungen und Wünsche entrissen. Zurück blieb die Unfähigkeit überhaupt etwas zu fühlen. Der Vergleich des zerstörten Phantasieland ihres Traumes mit ihrem Innersten drängte sich auf.

Selbst als das Zimmermädchen – hieß sie Doris? – ins Zimmer kam und sagte, dass ihr bester Freund Thomas angerufen hatte, wollte sie nicht zurückrufen.

Zuhören und Antworten zu geben, mit jemandem zu reden, schien ihr undenkbar. Wie eine übermenschliche Anstrengung, der sie nicht gewachsen war. Zumindest ihr Onkel ließ sie zufrieden.
Während sie auf ihrem Himmelbett lag, verschwammen immer wieder Realität und Wirklichkeit, mal dachte sie, sie träumte, mal spürte sie den Schmerz, der sie brutal aus ihren Träumen riss, die sie zumindest in dumpfes Vergessen einlullten.

Sie krallte sich an der Wand fest, doch komischerweise war sie ganz weich und ließ sich zwischen ihren Fingern zusammenknüllen. Aber das konnte doch nicht sein, das widersprach jeder Erfahrung die sie bisher mit Wänden gemacht hatte. Während sie krampfhaft versuchte sich daran zu erinnern, was hier falsch war, kam das rote Licht immer näher. Dieses fremdartige rote Licht erweckte selbst die Steine des steinernen Ganges zum Leben.

Es war, als ob in ihrem Inneren glühend rote herzen waren, die alle in demselben Takt schlugen. Doch wenn die Wand aus steinernen im selben Takt schlagenden Herzen bestand, musste sie dann nicht die Hitze des Glühens, die Oberfläche der Steine oder wenigstens den Rhythmus der Herzen spüren?

Stattdessen war irgendwie etwas Weiches zwischen ihren Fingern. Während sie sich mit der eigenartigen Sache zwischen ihren Fingern beschäftigte, kam das rote Licht immer näher, bis es nur noch wenige Meter von ihr entfernt, sich in einen roten Feuerball verwandelte in dessen Mitte ein riesiges Herz in genau demselben Takt pochte wie die in den Steinen eingeschlossenen Herzen und Elí das Gefühl hatte, dass die Hitze, die von dem glühend roten Herz vor ihr ausging immer intensiver wurde. Sie hatte das Gefühl von Verbrennungen auf der Haut und wollte weglaufen. Doch ihre Muskeln machten keine Anstalten aus ihrer Erstarrung zu erwachen und als auch kein Ritter auf einem schneeweißen Pferd angepirscht kam, die in guten Geschichten regelmäßig an dieser Stelle aufgetaucht wären um die schöne Prinzessin um Haaresbreite dem Tod zu entreißen, fiel es ihre ein: die Bettdecke.

Es war die Bettdecke, die sie zwischen ihren Fingern hielt und mit größtmöglicher Anstrengung schlug sie die Augen auf und nahm noch das Bild aus dem Traum mit wie alle Herzen mit einem Knall zersprangen und Stein- und Glassplitter nach allen Seiten flogen, da die Begrenzung durch die Wände nun nicht mehr vorhanden war. Elisa starrte die Decke ihres neuen Zimmers an und versuchte sich bewusst zu machen, dass alles gut war und sie sich in der Sicherheit ihrer Daunenfedern befand.

Doch so sehr sie auch den Satz „Alles ist gut!“ innerlich wiederholte, bewahrheitete er sich nicht, denn die Bedeutung des Satzes drang auch nicht in ihr Herz vor.

Vielleicht tat er das nicht, weil alles im Traum so real gewirkt hatte und vielleicht weil ihr Gesicht noch weh tat, als ob sie sich zu nach an ein Feuer gewagt hatte, das mit großer Hitze gestrahlt hatte. Sie führte ihre Hand langsam an die schmerzhafteste Stelle ihrer Wange und fühlte etwas Klebriges, Nasses. Als sie ihre Finger vor das Gesicht hielt sah sie, dass es Blut war und wenig später zog sie einen Glassplitter aus ihrer Wange. Und die einzige Erklärung wie sie in einem Meer von Decken und Federn einen Glassplitter in die Wange bekommen konnte war ebenso unglaublich wie einleuchtend: er musste aus dem Traum gekommen sein.

Seitdem Traum fürchtete sie sich die Augen zu schließen, denn sie hatte Angst vor dem Grauen, was hinter den Windungen des kalten Korridors noch liegen mochte, denn ihre Intuition sagte ihr, dass sie dort weitaus schrecklichere Sachen sehen würde als zersplitternde Herzen.

Obwohl sie sagen musste, dass dieser Albtraum in seiner Bedeutung schon ausreichend gruslig war. Zumal sie schon oft prophetische Träume gehabt hatte. Für Elí war es eine Warnung, dass mit dem Tod ihrer Mutter nicht nur ihre Mutter nicht mehr am Leben war, sondern ihr Herz vor Schmerz verbrechen würde, wenn ja, wenn was? Bedingungen wurden nicht genannt, wie sie hätte verhindern können, dass jemand ihrem Herz etwas zuleide tat. Aber sie war sich sicher, wenn jemand ihr eine solche Drohung zukommen ließ, würde er oder sie doch auch dafür sorgen, dass sie von den Bedingungen wusste.

Ihre Mitschüler hielten sich zurück, was Mitleid betraf. Aber das hatten sie schon immer getan und deswegen erwartete ich auch keines, denn ich hatte nur wenige Freunde und die meisten waren auch nur „hallo-wie geht’s“ Freundschaften - nichts ernsthaftes – dieses Gefühl hatte sie zumindest. Außer einigen wenigen zumindest. Jedoch war sie sogar von ihm überrascht, dass er sie auf den Tod ihrer Mutter ansprach.

„Hi Elí! Hast du den Samstag gut überstanden?“, fragte Thomas mit einem ehrlichen, besorgten Gesichtsausdruck, den ich noch nie auf seinem Gesicht gesehen hatte. Thomas war einer der Wenigen, der ernsthafte Gespräche suchte und mit dem sie sich nicht vorkam wie eine Aussätzige. Mit keinem Wort erwähnte er, dass sie nicht zurückgerufen hatte. Das war eben Thomas.

Thomas und Elí hatten schon ziemlich am Anfang ihrer Freundschaft angefangen die Sprachbarriere zu überwinden. Sie verstanden einander oft ohne Worte.

„Überlebt wäre der richtige Ausdruck.“ sagte Elí. In ihrem Gesicht spiegelte sich die Trauer wieder.

Thomas kannte sie genug um zu wissen, dass dieser Ausdruck sich dann auf ihr Gesicht legte, wenn sie nahe am Weinen war. Sie würde es nie zugeben, das wusste er. Sie hatte immer versucht stark zu sein. Aber diesmal sollte sie nicht stark sein. Sanft zog er sie an sich und streichelte ihre Haare und überwand so die unsichtbare Mauer, die sie dann und wann schuf um ihre Gefühle vor sich und anderen zu verstecken. Zuerst wollte sie sich aus seiner Umarmung lösen, aber dann entspannte sie sich und begann leise zu schluchzen.

„Ist schon gut. Lass es einfach raus.“ flüsterte er leise.
So standen sie und ließen die Menge von Schülern an sich vorbeifließen. Manche schauten die beiden Statuen, die inmitten des Ganges standen, verwundert an, aber die meisten gingen an ihnen vorbei. Es geschah immer wieder einmal das einer der Schüler zusammenbrach. Sowas gehörte fast schon zum alltäglichen Bild der Schule. Dann läutete die Glocke zum Stundenanfang und der Gang leerte sich. Nur Thomas und Elí waren noch da.

„Lass uns heute nicht zu den Stunden gehen.“ sagte Thomas. Elí blickte auf und nahm wieder ihre Umgebung wahr. Suchend schaute sie sich nach den Anderen Schülern um und begriff dann, dass die Stunde angefangen hatte.

„Nein, das geht nicht. Wir müssen zum Unterricht. Das geht nicht!“ Ihre Stimme war auf einmal aufgebracht und schon wollte sie zur Treppe gehen, aber Thomas hielt sie zurück.
„Sag mir, was wichtiger ist: Der Unterricht, der auch morgen stattfinden wird oder das du endlich mal darüber redest was am Freitag passiert ist, als sie deine Mutter beerdigt haben?“ fragte Thomas mit ruhiger und fester Stimme.

Elí versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber Thomas schien Recht zu haben. Sie musste sich der Situation stellen und endlich jemandem erzählen, was passiert war. Doch etwas hielt sie zurück. Wenn sie es aussprach, dass ihre Mutter tot war, gab es kein zurück mehr. Sie würde zugeben, dass es passiert war. Darüber zu schweigen barg immer noch die Möglichkeit, dass alles anders sein könnte, dass alles nur ein böser Traum war aus dem sie aufwachen würde. Es auszusprechen hieß endgültig zu akzeptieren.

Schweigend gingen sie zunächst nebeneinander. Sie waren in ihren Lieblingspark gegangen. Er lag in der Mitte der Stadt Serdica. Die Bäume waren alt und die Stämme waren so dick, dass man noch eine zweite Person brauchte, um den Baum zu umfassen. Thomas und Elí hatten das schon versucht. Das leise Rauschen des Windes in den Bäumen füllte die Leere ihres Herzens mit diesem tröstenden Geräusch. Ich schaute ihn von der Seite an. Er lächelte leicht, weil er ihren Blick spürte, aber er sah sie nicht an, um ihr Zeit zu geben selbst auf sich aufmerksam zu machen.

Wenn man die Beiden so sah, konnte man denken, dass sie ein Paar waren, aber das schien nur so. Sie kannten sich seit Ewigkeiten und waren Freunde. Und zwar alles das, was man unter richtiger Freundschaft verstand. Sie waren immer füreinander da gewesen und erzählten sich fast alles. Beide waren so etwas wie Außenseiter an ihrer Schule, weil sie anders über die Vorfälle dachten, die langsam überall im Land überhand nahmen.

„Der Tod meiner Mutter scheint nur ein weiteres Puzzelteil zu sein. Aber ich habe keine Ahnung, wie das ins Bild passen soll und ehrlich gesagt, ich habe auch keine Ahnung zu welchem Bild das passen soll.“ sagte sie mit Blick auf die weit entfernten Dächer der Stadt.

„Aber vielleicht hab ich…“ Sie sahen sich an und er lächelte. Dann erstarb sein Lächeln, sein Gesicht verkrampfte sich vor Schmerz.

„Thomas! Was ist? Sag doch etwas!“ Ihre Stimme klang hysterischer als beabsichtigt.

Die Augen von Thomas waren in die Weite gerichtet. Doch er schien weder den Himmel noch die Dächer von Serdica zu sehen.
„Es…ist… eine Vision.“ Er hatte Mühe zu sprechen. Anscheinend bereitete es ihm große Mühe.

Elí war außer sich, innerhalb von wenigen Wochen sah sie all ihre liebsten Menschen leiden: erst ihre Mutter und jetzt Thomas.

„Du bist in Gefahr… Es sind die Weißen.“ setzte er an, doch er konnte nicht mehr weitersprechen, etwas schien ihm die Kehle zuzudrücken. Er röchelte und spuckte Blut.

„Warte hier Thomas! Ich hole Hilfe!“ rief Elí.

Oh mein Gott! Das durfte einfach nicht wahr sein. Sie rannte, so schnell war sie in ihrem leben gerannt. Der Weg zum nächsten Haus, das gegenüber vom park war, kam ihr ewig vor. Sie klingelte Sturm.

Eine alte Frau erschien an der Tür.

„Sag mal Mädel, was ist in dich gefahren?“

„Mein Freund! Er liegt dort im Park… Er spuckt Blut. Er braucht Hilfe! Bitte helfen sie mir!“

Ihre Hände zitterten. Ihr Blick war flehentlich.
Die Frau sah sie prüfend an, entschied dann aber wahrscheinlich aufgrund dessen, was sie sah, dass Elí nicht lügen konnte.

„Na gut! Komm rein.“ Sagte die Frau.

Sie benutzte das Telefon und wählte die Nummer für den Notruf.

„Guten Tag! Ich habe hier einen Notfall. Ein Junge, der im Park liegt und Blut spuckt.“ Sie hielt die Hand an den Hörer gepresst, als ob das die Überlebenschancen um ein Vielfaches erhöhen würden. Die Stimme am Ende des Telefons riss sie aus ihren gut überlegten Sätzen.

„Wo liegt er?“ fragte eine männliche Stimme am Ende der Leitung. Elí nahm eine leichte Ungeduld in der Stimme wahr und versuchte sich indem sie sich an solche Einzelheiten klammerte gewaltsam auf die Gegenwart zu konzentrieren.

„Wo liegt er, sagst du?“ wiederholte die Stimme ihre Frage nun mit sorgenvollem Unterton nachdem die Antwort ausblieb.
„In der Mitte des Parkes nahe dem großen steinernen Brunnen.“ Zwang sie sich nun zur Antwort.

Sie hörte wie der Mann die Information weitergab.
Während der Mann sprach, saß sie einfach auf dem Küchenstuhl und es war so als ob die Welt um sie herum taub wurde. Sie war es gewohnt viele Einzelheiten aufzunehmen, aber nun schien es, als ob ihre Sinne genug von den vielen Eindrücken hatten und einfach abschalteten. Es war wie der Unterschied zwischen Stichpunkten und ausformulierten Sätzen. Elí nahm keine Einzelheiten mehr wahr, sondern nur noch das wichtigste. Sie sah ihre Umgebung ohne sie wahrzunehmen. Sie nahm nur einen pochenden Schmerz wahr.

„Mädchen?! Geht es dir gut?“

„Was…?“ sie blickte wirr um sich und fasste dann die Frau ins Auge. Erst wusste sie nicht mehr, warum sie dort stand, aber dann fiel es ihr ein. Thomas. Das Blut. Hilfe. „Sind sie unterwegs?“

„Ja, sie kommen bald.“ Sie blickte Elí mit sorgenvollem Blick an. Das war auch nicht verwunderlich. Elí zitterte immer noch am ganzen Körper, sie war blaß im Gesicht und Schweiß begann von ihrer Stirn zu perlen.

Dann schien Elí aus ihrer eigenartigen Trance aufzuwachen.
„Ich muss zu ihm. Vielen Dank, dass sie geholfen haben!“ rief sie, als sie nun auf die Beine gesprungen und schon auf dem Weg nach draußen war.

Sie rannte wieder auf den Park zu, hoffend, dass es ihm gut ging, soweit das möglich war, wenn man Blut spuckte und eigenartige Visionen hatte. Und dann fiel ihr noch etwas anderes ein. Etwas an das sie bei all der Aufregung gar nicht gedacht hatte. Du bist in Gefahr… Es sind die Weißen.
Warum sollte sie in Gefahr sein? Und wer waren die Weißen?
Als sie in die Nähe der großen Bäume kam, war der Krankenwagen schon da. Die Krankenpfleger kümmerten sich um Thomas. Allerdings war das nicht so einfach, weil Thomas schrie und sich gegen den Griff der Krankenpfleger wehrte. Drei Pfleger waren nötig um ihn festzuhalten. Ein vierter Pfleger beugte sich mit einer Spritze über den verängstigten Thomas. Als die Flüssigkeit in das Blut von Thomas geflossen war, dauerte es nicht mehr lange bis seine Bewegungen erschlafften.
Sie hoben ihn auf eine Bahre und schafften ihn in den Krankenwagen.

Der Pfleger, der Thomas die Spritze gegeben hatte, kam auf sie zu.

„Sind sie das Mädchen, dass uns über den Vorfall informiert hat?“ fragte er in sachlichem Tonfall.

„Ja.“ Brachte sie noch heraus, während ihre Augen immer noch auf Thomas gerichtet waren, der im Krankenwagen lag.

„Es wird ihm bald wieder besser gehen.“ Die Augen des Pflegers waren aufmerksam auf Elí gerichtet. Nun löste auch Elí ihre Augen von Thomas und blickte dem Pfleger in die Augen. Sie waren von einem beunruhigenden stahlblau. Zwar wusste sie nicht, was an stahlblau beunruhigend war, aber dieses Stahlblau war es.

„Natürlich wird er das. Was ist denn nur mit ihm los?“ fragte sie.

„Diese Vorfälle häufen sich in letzter Zeit. Von Zeit zu Zeit drehen die Menschen durch, aber wir wissen nicht woran es liegt. Sie sagen dann Dinge, die jeglicher Logik entbehren und können dann andere verletzen. Hat er irgendwas von Bedeutung zu dir gesagt, bevor er das Blut gespuckt hat?“ Seine Stimme nahm den Ton eines Polizeibeamten an, dem man lieber die Wahrheit sagen sollte. Jedoch nahm Elí auch noch eine Prise Bedrohlichkeit wahr, die in seiner Stimme lag, die anderen wahrscheinlich nicht aufgefallen wäre.

„Nein.“ Ihre Stimme klang fest, aber sie blickte nach unten. Aber mit dieser Haltung wird er mir nie abkaufen, dass das die Wahrheit ist, dachte sie. Also sammelte sie sich, verschloss ihr Herz und schaute ihm direkt in die kalten, stahlblauen Augen.

„Wir haben uns nur ganz normal unterhalten. Nein, wirklich nicht. Er hat nichts von Bedeutung gesagt.“

„Na gut. Er wird bestimmt für längere Zeit im Krankenhaus bleiben müssen.“ Er wandte sich schon um und sein weißer Kittel umwehte ihn, als Elí ihn zurückrief.

„Warten sie! Kann ich ihn besuchen?“ in ihrer Stimme lag ein Hauch von Verzweiflung.

Er drehte sich um und schaute sie an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Aber es hatte nichts von der Wärme, die ein Lächeln haben sollte.

„Ich glaube nicht, dass sie dorthin möchten, wohin er jetzt gehen wird. Verrückte gehören nicht in diese Welt.“

„Aber, aber er ist doch gar nicht verrückt… Er ist mein Freund.“

„Auch Freunde können verrückt werden. Sie wollen doch nicht das Urteil eines Arztes anzweifeln, oder?“ das Bedrohliche war in seine Stimme zurückgekehrt.

„Nein, nein ganz sicher nicht.“ Sie hielt seinem Blick nicht stand und schaute zu Boden. Arzt war er also! Na das erklärte auf alle Fälle seine ungeheure Arroganz. Nicht das sie es nicht gewöhnt war von anderen Leuten wie ein Niemand behandelt zu werden, aber das hier war sozusagen überdurchschnittlich arrogant.

„Das würde ich dir auch nicht raten. Und nun würdest du mich bitte entschuldigen. Ich habe viel zu tun. Schönen Tag noch.“
Diesmal wandte er sich endgültig um. Sein perfekt frisiertes blondes Haar klebte an seinem Kopf und nicht mal der Wind, der seinen weißen Kittel bewegte konnte seiner Frisur etwas anhaben. Die Pfleger warteten am Krankenwagen wie Hunde auf ihren Herrn und stiegen auf sein Zeichen in den Wagen. Noch ein letztes Aufbauschen seines weißen Kittels, der eher an einen Umhang erinnerte und schon war er im Fahrerhäuschen verschwunden.

Natürlich saß er auf dem Beifahrersitz, dachte sie säuerlich. Solche Leute fuhren nicht selbst, sie ließen sich chauffieren.
Es war kein gutes Gefühl ohne ihn zu sein. Sie hatten gerade erst angefangen wieder miteinander zu reden. Die Mauer, die der Tod ihrer Mutter aufgebaut hatte, hatte gerade angefangen einzureißen. Sie hatte noch so viel mit ihm besprechen wollen.
Da sie nicht mehr in die Schule und auch nicht zu ihrem Onkel nach Hause wollte, setzte sie sich unter einen Baum, der ihr mit seinem massiven Stamm und seinem großen Blätterdach besonders trostspendend vorkam. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Baum und legte ihren Kopf auf ihre angezogenen Knie.

Es wurde dunkel und mit der Dunkelheit kam der Regen. Es war ein sanfter Nieselregen. Elí legte ihren Kopf in den Nacken und lies die Tropfen auf ihr Gesicht fallen. Es tat gut, dass sie dieses Mal nicht selbst weinen musste, sondern der Himmel es für sie tat. Dass sie nass wurde, machte ihr nichts aus. Regen war schon immer ihr Lieblingswetter gewesen, denn er wusch alles rein und nach dem Regen waren nicht nur die Straßen sauber und rein, sondern auch ihre Gedanken klar. Aber man ihr die Menschen genommen hatte, die ihr am nächsten standen, hatte der Regen seine klärende Wirkung verloren. Der aufsteigende Nebel ließ sie eher daran denken, dass ihre Stimmung sich im Wetter widerspiegelte. Regentropfen für die Trauer und Nebel für die Melancholie. Ist es das, was mir geblieben ist?

Langsam lief sie nach Hause. Ihren Onkel bedachte sie nur mit einem „Guten Abend“ und ging auf ihr Zimmer. Fast hätte sie sich in dem großen Haus verlaufen, aber dann fanden ihre Füße wie automatisch den richtigen Weg.

Sie legte sich auf ihr Bett und dachte nach. Von draußen hörte sie sanft die Regentropfen wie ein rituelles, gleichmäßiges Trommeln auf das Dach fallen.

Doch es gab viele Gedanken, die sich in ihrem Kopf hin und herschoben. Die Weißen. Sie durchforstete ihr Gehirn nach etwas, was auf diese Gruppe von Menschen passen könnte. Aber waren sie überhaupt Menschen? Nein, so kam sie nicht weiter.
Vielleicht waren die Weißen Menschen die diesen Namen aufgrund von ihren Fähigkeiten bekommen hatten? Oder weil sie sich selbst so nannten? Oder vielleicht weil sie sich in dieser Farbe kleideten?

Ein Bild, das ihr photographisches Gedächtnis von diesem ereignisreichen Nachmittag gespeichert hatte kam ihr in den Sinn: Krankenwagen, ein blonder Arzt mit seinem weißen Kittel. Natürlich, es mussten die Ärzte und Pfleger sein, die er gemeint hatte.

Aber warum sollten die Weißen ihr irgendetwas tun? Sie gehörten doch zu den Guten. Sie halfen allen Menschen wieder gesund zu werden. Und sie würden auch Thomas wieder helfen gesund zu werden. Sie hatten doch auch versucht ihrer Mutter zu helfen… versucht… ein furchtbares Wort. Es stand für die Unvollkommenheit und verbarg in sich schon den Fehlschlag. Entweder tat man es oder nicht, versuchen sollte verboten werden. Was aber wenn es gar kein Fehlschlag gewesen war? Vielleicht war es sogar Absicht gewesen.

Elí wagte es kaum den Gedanken zu Ende zu denken. Denn das würde alles verändern. Es würde die Schwarz und Weißzonen ihres Lebens verschieben. Schlimmer noch, sie wüsste nicht mehr, wer das Weiß ihres Lebens repräsentieren sollte.
Und wenn das wahr sein sollte, dann wäre auch Thomas in Gefahr. Thomas, der fast schon einen Teil ihrer Seele mit sich rumtrug. Das durfte nicht sein, dass er sich in so großer Gefahr aufhielt. Das würde sie nicht aushalten.

„Miss? Miss, möchten sie vielleicht noch etwas zu sich nehmen, bevor sie zu Bett gehen?“ rief eine Stimme, die etwas dumpf klang und so gar nicht in ihre Gedanken passte.

Elí schlug ihre Augen auf.

„Komm rein, Therissa!“ rief sie.

Therissa öffnete die schwere Eichentür und balancierte ein Tablett mit einer Schale mit Tomatensuppe und einem kleinen Korb mit Brot auf einer Hand. Elí sprang auf um ihr zu helfen und Therissa lief daraufhin rot an.

„Lassen sie das bloß nicht den Professor sehen. Der würde mich sofort wieder rausschmeißen, wenn er sehen würde, dass ich mir von ihnen helfen lasse.“ nuschelte Therissa verlegen.

„Ach was! Das erfährt er niemals.“ Blinzelte Elí verschwörerisch. „Und lass das Miss und das Sie weg, Therissa. Meine Hoffnung ist, dass wir diese Unterschiede zwischen solchen wie mir und dir irgendwann überwinden, aber dazu müssen wir beide hier anfangen. Verstehst du was ich meine?“
Therissa lächelte.

„Ja, Miss.“ Sagte sie.

Elí seufzte. Therissa mochte vielleicht eine gute Seele sein, aber sie war nun mal mit einem bestimmten Bild einer Gesellschaft aufgewachsen und das konnte nicht so leicht erschüttert werden.

Es war wie das Bild, das viele Menschen von ihrer Welt hatten. Sie würde die Farben nicht verwischen können und ihnen zeigen können, was hinter den Farben verborgen war, die sie selbst gemalt hatten um sich ein Bild von der Welt zu verschaffen. Denn sie würden es verteidigen, weil sie die Welt nicht so sehen konnten, wie sie es konnte oder tat, weil sie nicht mal solche Gedanken denken konnten, wie die von dem Schwarz und Weiß zu vertauschen.

Elí blickte Therissa in die Augen und sah das freundliche Gesicht einer Serdicanerin. Weiche Gesichtszüge, helle strahlende Augen und ein leichtgläubiges, gutherziges Wesen. So war es immer gewesen ein dunkler Schatten nicht nur die Stadt sondern auch das ganze Gebiet befallen hatte. Man konnte nicht ausmachen woher er gekommen war oder was genau er war. Das hätte alles leichter gemacht einen Sündenbock zu finden. Doch es war wie ein dunkles, großes Loch, das in jedem von ihnen zu wachsen und sich an ihren unschuldigen Wesen zu verköstigen schien. Und da jeder davon ausging der Nachbar könnte der Auslöser dafür sein, vertraute kaum einer mehr dem anderen. Die Leichtgläubigkeit und Gutgläubigkeit hatte sich gegen sie gewandt und arbeitete gegen die Serdicaner, da sie nun auf die Stimmen von Angst und Misstrauen hörten.

„Therissa, hast du in letzter Zeit oft gehört, dass die Ärzte gerufen werden mussten?“ fragte Elí einer Eingebung folgend.
„Oh ja! Die Ärzte haben in letzter Zeit sehr viele Einsätze gehabt. Man munkelt…“ sie stockte und senkte ihre Stimme so, das es zu einem Flüstern wurde. „Man munkelt, dass es mit dem Schatten zu tun hat der auf Thrakanien liegt.“

„Kennen wir jemanden der in letzter Zeit von den Ärzten abgeholt wurde?“ fragte Elí.

„Ja, vor zwei Tagen wurde Raphael geholt. Er hat mit den Sternen gesprochen.“ Sagte Therissa mit zitternder Stimme.

Therissa war nahe dran wieder in einen Weinkrampf auszubrechen
„Therissa? Was machst du da? Belästigst du meine Nichte wieder mit deinem wertlosen Geschwätz?“ rief der Onkel in lauter Stimme durch die Gänge. „Geh und leg dich schlafen, es ist schon spät und ich will morgen nicht auf mein Frühstück warten müssen.“

Therissa schnellte vom Bett hoch als ob sie auf hundert Nadeln gesessen hätte, nickte Elí schnell zu und verschwand mit dem Tablett aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später schaute der große Kopf ihres Onkels durch die Tür. Seine großen braunen Augen waren direkt auf Elí gerichtet. Man sah, dass sie zuvor strenge Blicke ausgesendet hatten, denn ein Hauch von Strenge war noch zu sehen, aber ansonsten waren sie voller Liebe auf Elí gerichtet.

„Schlaf gut, mein Kind! Und hör nicht immer auf das, was die Leute sagen und vertrau auf deinen eigenen Verstand.“ Mit diesen Worten schloss er leise die Tür hinter sich.

Elí starrte ihm nach.

Er war schon ein komischer Kauz, dieser Onkel. Er hatte nie geheiratet und lebte ganz allein in diesem riesigen Haus. In der Stadt Serdicia hatten die Menschen die Angewohnheit viel zu reden. Sie liebten Geschichten und ganz besonders solche die eine Mischung aus Halbwahrheiten, Lügen und Skandale waren, denn das machte es zu einem besonderen Vergnügen herauszufinden, was die Wahrheit in der Geschichte darstellt. Natürlich wurde in derselben Weise auch über ihren Onkel geredet, denn er war einer der reichsten Männer in ganz Serdica und keiner wusste warum.

Zu der geheimnisvollen Aura, die ihren Onkel umgab, gehörte nicht nur das große Haus und das viele Geld, sondern auch die eigenartige Spannung zwischen ihrer Mutter und ihrem Onkel, wenn beide zufälligerweise im selben Raum gewesen waren. Beide waren meist voreinander geflüchtet und eigentlich hatte sie angenommen, dass sie sich beide nicht besonders mochten, obwohl ihr Onkel zu ihr selbst immer sehr freundlich gewesen war. Doch Stück für Stück wurde ihr intuitiv klar, das irgendetwas mit ihrer Theorie nicht stimmte.

Irgendwas stimmte mit dieser ganzen Familie nicht.

Mit diesem Gedanken schlief sie ein und vielleicht war es deswegen auch kein Wunder, dass auch diese Nacht nicht ohne Albträume vorüberging. Wieder ging sie die dunklen Korridore entlang. Dunkle Steinwände, die kalt und hart waren drängten sich an sie und nahmen ihr die Luft. Das Bild veränderte sich. Die Steine wurden angenehm warm und Elí drängte sich an die Steine um die Kälte, die die Steine noch vor kurzem in ihren Körper gebracht hatten zu vertreiben. Aber das Angenehme währte nicht lang, bald überschritt die Wärme das maß des Angenehmen und wurde zur Hitze. Die Steine wurden immer heißer und brannten auf ihrer Haut wie heißes Wasser. Dann schienen die Steine wieder lebendig zu werden. Nun spürte sie das pochen des Innenlebens der Steine auf ihrer Haut und sie sah wieder die kleinen Herzen in den Steinen auftauchen.

Blutrot und lebensdurstig schmiegten sie sich an sie. Dann weitete sich der Gang und von ganz hinten traten mehrere Männer in weißen Kutten aus den Seitengängen. Sie trugen Schwerter in der Hand, die aus einem material bestanden, dass Elí noch nie gesehen hatte. Sie waren weiß wie der Schnee und funkelten als ob sie von der Schwertspitze bis zum Knauf mit Diamanten besetzt waren. So etwas Schönes und reines konnte doch nur dazu gemacht sein die Unschuldigen zu verteidigen und die Schuldigen zu bestrafen. Ein Gefühl der Sicherheit überkam Elí. Nun würde alles gut werden. Die weißen Ritter waren doch da.

Doch dann taten die weißen Ritter etwas völlig unerwartetes. Sie schlugen auf die hämmernden herzen ein und obwohl sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als die Herzen zerspringen zu sehen, als sie sich an sie drückten, fühlte sie jetzt einen unerwartet tiefen Schmerz als sie von den weißen Rittern mit ihren weißen Kutten zerschlagen wurden. In diesem Moment erkannte sie, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint und Gefühle trügerisch sein können.

Als die erste weiße Schwertspitze direkt vor ihrer Nase war, schrie sie und wachte auf, auch diesmal schweißdurchtränkt.
 

jon

Mitglied
Scheint ja ganz spannend zu sein, aber wie wäre es mit einer Überarbeitung? Da geistert noch ein Ich durch den Anfang, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass alle noch enthaltenen Fehler wirklich auf Unwissenheit beruhen …
 



 
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