Kapitel 1 - Freiheit

Kapitel 1 - Freiheit

Rafael stand vor dem Spiegel im Waschraum seines Herrn. Er streckte den Hals, und legte den Kopf schief, betrachtete seine Haut dort wo Kopf und Rumpf verbunden wurden. Die Farbe war normal, wie bei jedem Menschen, der nach einem Sommer eben etwas dunkler erschien als im Winter noch.
Als Nächstes legte er seine Hände über die Ohren, zog sie nach hinten, so dass sie an seinem Kopf anlagen, fast von seinem Haar verdeckt wurden, und nicht abstanden wie sonst. Er drehte den Kopf hin, dann her, und betrachtete das Ergebnis mit einiger Unzufriedenheit. Immer noch konnte er genau sehen, dass sie spitzer zuliefen als die Ohren eines normalen Menschen.
Jetzt trat er noch etwas näher an den Spiegel, fuhr mit dem Finger an der Innenseite seiner Unterlippe entlang, zog das Stück Fleisch, welches bei anderen die Zähne vollständig verbarg, herunter um sich seine Zähne genauer zu betrachten.
Seine Schneidezähne, die vier ganz vorne, unterschieden sich nicht im Geringsten von denen eines Menschen seiner Größe. Das Paar links und rechts daneben war schon etwas zu groß. Nicht zu groß für seinen Kiefer, denn der war nun wirklich breit genug. Zu groß für einen Menschen, aber nur ein wenig. Doch die Eckzähne stießen hervor, Reißzähnen denen eines Wolfes gleich, ragten aus dem Kiefer empor wie Berge zwischen Hügeln. Selbst wenn er den Mund schloss, krochen sie über seine Oberlippe, unmöglich sie zu verbergen. Mit einem traurigen Seufzer ließ er von der Unterlippe ab, und begann seine obere Zahnreihe mit dem Finger abzutasten. Hier war der Unterschied zu einem echten Menschen noch weit geringer. Die Eckzähne waren etwas zu breit, und nur ein wenig zu lang. Das konnte man noch Kaschieren, als Mensch durchgehen.
Vom Oberkiefer zu seiner Nase war es nur ein kleiner Weg für seinen Finger. Er versuchte die Haut herunter zu ziehen, damit sie ihm zumindest ein wenig menschlicher erschien. Doch vergebens, Knorpel und Haut hörten mit dem Nasenbein auf, offenbarten übergroße Nasenlöcher, alles andere als Menschengleich. Es sah fast aus wie die Nase eines Schweins, daran mussten sie ihn nicht auch noch ständig erinnern, ihn „Ebergesicht“ nennen, das konnte er ganz gut selber sehen. Eine einzelne Träne entkam seinen großen, gutmütigen, graugrünen Augen, rollte über seine hohen Wangenknochen, streifte seinen Mundwinkel und verschwand unter seinem Kiefer.
„Rafael!“, die Stimme seines Herrn klang an sein Ohr, „Wo steckst du nutzloser Ork?“
Halbork, dachte Rafael. Ich bin nur ein Halbork, Herr, mein Vater war ein Mensch, wie ihr. Sagen konnte er so etwas nicht, der Herr hätte ihn gescholten. Zum Glück bekam er nur selten Schläge, wenn er etwas fallen ließ, oder eine Arbeit nicht richtig verrichtet hatte. Nie grundlos, nie schlimm und darüber musste er wohl froh sein.
Langsam, noch halb in Gedanken, und einen traurigen Ausdruck auf dem Gesicht, schlich er aus dem Waschraum, die Treppe herab, wo sein Herr bereits auf ihn wartete.
Kurz standen sich der hoch gewachsene Mensch, dessen braunes Haar hier und dort bereits grau wurde, und das kräftige Halborkkind mit den kurzen dicken schwarzen Haaren wortlos gegenüber.
„Da bist du ja!“, neben ihm Stand sein Sohn Benedikt, dessen rechtes Auge blaugrün umrandet war. „Was fällt dir ein Benedikt zusammenzuschlagen?“
Ebergesicht.
„Er hat…“, bamm, schon traf des Herrn Faust Rafael ins Gesicht, ließ ihn zwei Schritt zurücktaumeln. Erschrocken sah der Halbork zu seinem Herrn auf, der ihn um fast zwei Köpfe überragte.
„Keine Entschuldigungen! Was fällt dir ein! Sieh dir meinen Sohn an, Ork!“
Benedikts Kleider waren dreckig, zerrissen, sein rechtes Auge blau, unter dem anderen hatte er eine große Schürfwunde. Eine Hand war rot, verklebt von Blut und Dreck, und an seiner Schulter konnte man unter dem zerfetzten Hemd eine blutig rote Stelle ausmachen. Dort hatte Rafael eigentlich nur einmal kurz zugebissen, aber offensichtlich er große Wirkung erzielt.
„Was fällt dir dazu ein? Nun?“, Boshaftigkeit und Wut, in einem Maße das Rafael noch nicht kannte, lagen in der Stimme des Herrn.
„Ich… ich wollte nicht…“, bamm, der nächste Schlag traf auf die Nase, Schmerz durchfuhr ihn, und wieder taumelte er nach hinten.
„Schweig, Ork! Waren wir nicht immer gut zu dir! Und nun verprügelst du Grundlos meinen einzigen Sohn? Ist das der Dank?“
Grundlos, pah! Seit fünf Jahren, seit Rafael von dem Herrn gekauft worden war, wurde er von Benedikt gepeinigt, verspottet, verprügelt. Zwei Jahre war der Menschenjunge älter, war stets größer und kräftiger gewesen. Bis jetzt.
„Es tut mir Leid…“, bamm, wieder ein Schlag ins Gesicht, der Schmerz durchfuhr jetzt den ganzen Körper, Tränen quollen aus den traurigen Augen.
„Es tut dir Leid? Es tut dir Leid?! Es wird dir noch Leid tun, dass schwöre ich dir! Mein armer Sohn, mein guter Benedikt, verprügelt von einem nichtswürdigen Sklaven!“
„Er hat angefangen!“, schrie Rafael aus Leibeskräften, „Hat mich beleidigt und mit Dreck beworfen, so wie er es immer tut!“, sein Geschrei ging in ein Geheul über, „Hat mich zuerst geschlagen, und ich habe mich nur meiner Haut erwehrt!“
Auf dem Gesicht des Händlers waren Schock und Empörung zu erkennen, während sein Sohn plötzlich ängstlich drein blickte. Damit, dass der Diener ihn verraten könnte, hatte er nicht gerechnet, immerhin hatte er das noch nie getan. Der Ausdruck auf des Händlers Gesicht wandelte sich schnell in blinde Wut um.
„Lügen also auch noch? Mich, deinen Herrn, deinen Ziehvater, anzulügen! Wie kannst du nur, Rafael! Ich werde dir zeigen, was ich von solchem Benehmen halte!“, und mit diesen Worten packte er das weinende Halborkkind schroff am Arm, zog ihn raus auf den Hinterhof und begann ihn zu verprügeln. Benedikt sah noch einen Moment erschrocken, dann erleichtert, und schließlich belustigt und voller Schadenfreude hinter seinem Vater her. Er lauschte den süßen Klängen eines vor Schmerzen schreienden Halborks, und beschloss ihn jetzt öfter zu verärgern, damit er dieser angenehmen Musik häufiger zuhören konnte. Dafür würde er ein paar Schläge Rafaels schon aushalten, immerhin war er ja nur ein Halbork.

Rafael stand wieder einmal vor dem Spiegel im Waschraum seines Herrn. Er streckte den Hals, und legte den Kopf schief, betrachtete sein seine Haut dort wo Kopf und Rumpf verbunden wurden. Die Farbe war normal, wie bei jedem Menschen, der nach einem Sommer eben etwas dunkler erschien als im Winter noch.
Als Nächstes legte er seine Hände über die Ohren, zog sie nach hinten, so dass sie an seinem Kopf anlagen, fast von seinem Haar verdeckt wurden, und nicht abstanden wie sonst. Er drehte den Kopf hin, dann her, und betrachtete das Ergebnis mit einiger Unzufriedenheit. Immer noch konnte er genau sehen, dass sein rechtes Ohr spitzer zulief als bei einem normalen Menschen. Sein linkes Ohr war jedoch so verstümmelt, dass es weder einem Menschenohr, noch dem Ohr eines Orks ähnelte.
Jetzt trat er noch etwas näher an den Spiegel, fuhr mit dem Finger an der Innenseite seiner Unterlippe entlang, zog das Stück Fleisch, welches bei anderen die Zähne vollständig verbarg, herunter um sich seine Zähne im Spiegel zu betrachten.
Inzwischen waren auch die Schneidezähne zu groß für einen Menschen, von den Eckzähnen ganz zu schweigen. Sie hätten wohl einem ausgewachsenen Eber gefallen, waren so dick und lang, dass sie fast bis zur Nase reichten.
Er machte sich nicht die Mühe seine oberen Zähne zu begutachten, auch sie waren mit den Jahren gewachsen und deutlich größer als die eines echten Menschen. Stattdessen strich er sich über seinen Kinnbart, fuhr mit dem Finger die Narben entlang die von den Haaren verborgen wurden. Sie waren alle verheilt, und wurden von den zotteligen Barthaaren gut verdeckt. Nur seine Oberlippe hatte er rasiert, irgendwie störten ihn die harten Haare dort. Seine Nase hatte sich über die Jahre nicht verändert, immer noch glich sie einer Schweinsnase, war unansehnlich, schlicht heraus hässlich.
Jetzt war er erwachsen, zumindest wenn man mit erwachsen meint, dass er nicht mehr wachsen würde. Im vergangenen Jahr hatte der Herr aufgehört ihn zu verprügeln. Vermutlich war ihm klar geworden, dass sein Sklave stärker war als er, und ihn womöglich erwürgen könnte, würde er ihn weiter misshandeln.
„Rafael!“, die Stimme seines Herrn klang an sein Ohr, „Wo steckst du nutzloser Ork?“
Halbork, dachte Rafael. Ich bin nur ein Halbork, Herr, mein Vater war ein Mensch, wie ihr. Sagen konnte er so etwas immer noch nicht, zuviel Angst hatte er trotz allem vor dem Mann, dem er gehörte. Die Tatsache, dass er seinen Herrn um mehr als eine Handbreit überragte gab ihm zwar einige Sicherheit, aber nicht genug um sich ihm in dieser Weise entgegen zu stellen.
Langsam, noch halb in Gedanken, und einen traurigen Ausdruck auf dem Gesicht, schlich er aus dem Waschraum, die Treppe herab, wo sein Herr bereits auf ihn wartete.
Einen kurzen Moment standen sich der Händler, dessen graues Haar langsam dünner wurde, und der Halborkjüngling mit den kurzen dicken schwarzen Haaren wortlos gegenüber.
„Da bist du ja!“, neben ihm stand sein Sohn Benedikt, seine Beinkleider waren teilweise dreckig und zerrissen.
„Was gibt es, Herr? Wie kann ich dienen?“, Rafael blieb vor seinem Herrn stehen, und neigte den Kopf nach vorn, soweit, dass er ein wenig niedriger war als sein Herr. Benedikt, der ein Stück kleiner war als sein Vater, wurde immer noch von ihm überragt. Beide Männer waren von durchschnittlicher Statur, und so wirkte ihnen gegenüber der große bullige Halbork riesig, wie ein Wolf, der vor zwei Hunden steht. Ein hässlicher Wolf.
„Benedikt hat einen Wolf in unserem Wald gesehen. Als hätte ich nicht genug Ärger. Erst bleibt die Lieferung aus Übersee aus, und jetzt muss ich noch neue Kleider für meinen Sohn besorgen. Kümmere dich darum, verjag das Tier.“
Rafael hob den Kopf, zögerte kurz, meinte dann aber: „Wie ihr befiehlt, Herr.“, und ging durch die Hintertür in Richtung Stall.

Er war jetzt fünfzehn, seit zehn Jahren im Dienste des Herrn, seit er damals von seiner Heimat verschleppt wurde um als Sklave verkauft zu werden. Mit Mühe konnte er sich noch daran erinnern, an die Seeluft die er geatmet hatte, an seinen kleinen Bruder den man mit ihm verschleppt hatte, an die Versteigerung, als er für acht Silbermünzen an den Händler Großenfels verkauft wurde. Aber die Erinnerung war blass, und tief vergraben.
Hier war er inzwischen der Stärkste in der Dienerschaft des Händlers Großenfels, hatte dies beim Armdrücken gegen Jakob eindrucksvoll unter Beweis stellen können. Aber seine Kraft war nicht das, worauf er am meisten stolz war.
Im Stall angekommen ging er zielstrebig auf die Ecke zu, die er erst vor zwei Tagen wieder einmal sauber gemacht hatte. Immer wieder roch es dort nach Urin, was Mark, den Kutscher des Herrn, störte. Unter etwas Heu holte Rafael einen Stofffetzen und ein altes, schimmliges Stück Wurst hervor.
Der Herr hätte die Wurst einfach weggeworfen. Wollte Rafael sie essen, so würde er das schimmlige Stück abschneiden, und nur den Rest essen. Aber dem Wolf war nicht so wählerisch, und für ihn war die Wurst bestimmt.
Der Tarnung halber rüstete sich Rafael mit einer Heugabel aus, damit jeder der ihn aus dem Stall kommen sah auch glaubte, er würde nun einen Wolf vertreiben.
Mit gemächlichen Schritten, und undurchdringlichem Gesichtsausdruck, ging er vom Stall in Richtung Wäldchen. Der Wald des Händlers war eigentlich kein Wald. Eine größere Ansammlung von Bäumen traf es eher. Verlaufen war unmöglich, da man stets in mindestens einer Richtung aus dem Wald heraus sehen konnte.
Nachdem er ein wenig Abstand zum Herrenhaus hatte, legte er die Mistgabel bei Seite. Schließlich wollte er den Wolf nicht verärgern. Den mit Wolfsurin getränkten Stofffetzen wickelte er sich um den Unterarm und ging jetzt noch etwas langsamer, vorsichtiger, bis er den Wolf schließlich sah, schon fast wieder aus dem Wald heraus. Seine Schnauze war blutig, vermutlich hatte er einen der Hasen gerissen, die hier ihren Bau hatten und dem dümmlichen Händlersohn so noch mehr Angst gemacht.
Darauf war Rafael stolz.
Schritt für Schritt kam Rafael näher. Der Wolf musterte ihn, jedoch knurrte er nicht, zeigte nicht einmal Zähne. Schließlich stand Rafael fast vor ihm, kniete sich auf den feuchten Waldboden, und hielt dem Wolf das Stück alte Wurst hin.
Da begann der Wolf zu hecheln, und kam mit dem Schwanz wedelnd auf ihn zu. Gierig schlang das Tier den Brocken herunter, und ließ sich bereitwillig von Rafael streicheln.
„Feines Wölfchen, gut hast du das gemacht. Feiner Wolf, den bösen, bösen Benedikt verjagt.“, während er ihn tätschelte und kraulte stand Rafael wieder auf. Seine Stoffhose war an den Knien vollkommen durchgeweicht, aber das störte ihn nur wenig. Nun begann er damit den Wolf aus dem Wald heraus zu führen. Einige Meter, schon standen sie auf freiem Feld. Rafael hielt kurz inne, und betrachtete die Landschaft. Er schaute jetzt Richtung Westen, zum Meer und zur Stadt Silfing herunter. Irgendwo dahinter, weit hinter den Wassern des Meeres der Neun Tiefen, lag seine Heimat, aus der er vor über zehn Jahren verschleppt worden war.
Als er seinen Blick schweifen ließ konnte er die starken Wälder im Nordwesten erkennen. Dort wo das Königreich Balsam schon fast aufhörte. Im Westen konnte er die große Stadt sehen, die er, obwohl sie nur drei Stunden entfernt lag, zuletzt gesehen hatte als er auf dem Marktplatz stand um verkauft zu werden. Das Meer dahinter war von hier aus nicht zu erblicken, aber er wusste dass es dort war, konnte die angenehme Brise spüren und die salzige Luft riechen. Im Südwesten erstreckten sich riesige Felder, durchbrochen von kleineren Dörfern die Maulwurfshügeln gleich aus dem Boden hervorlugten.
Er seufzte schwer, bückte sich dann zu dem Wolf herunter, der die ganze Zeit brav neben ihm gestanden hatte, schaute dem Tier tief in die Augen und sagte: „Lauf!“
Der Wolf zögerte einen Moment, wand sich dann um und flüchtete in Richtung des nächsten Waldes.
Wie kaum ein Zweiter konnte er mit Tieren umgehen, sie beeinflussen und zu Taten bewegen, die sie alleine niemals vollbringen würden. Leider nützte ihm dies, ebenso wie sein Wissen über das Umland, über Drachen oder Kriege, dass er sich über die Jahre im Hause seines Herrn angeeignet hatte, rein gar nichts in dem Sklavenverhältnis, das ihn an das Herrenhaus band wie eine unsichtbare Kette.
Wenn sie wüssten, dass er jahrelang Nacht für Nacht hinauf geschlichen war in die Bibliothek seines Herrn, dort Bücher gewälzt hatte, sich Wissen angeeignet hatte. Sie hielten ihn für einen dummen Ork, wahrscheinlich dachten sie sogar, dass er nicht Lesen und Schreiben konnte. Wahrscheinlich würde nie jemand von seinem Wissen erfahren.
Er wand sich um, sah in den Wald hinein, der ihn von seinem Heim trennte. Dahinter lag das große Haus des Händlers, danach folgten die Felder, die ebenso Herrn Großenfels gehörten und vom Bauern Jung und seiner Familie bestellt wurden. Dahinter begannen die nächsten Felder und einige Viehweiden die dem Großbauern Walther gehörten. Über die Hügel die seinem Besitz folgten wusste Rafael nur wenig, einige Dörfer wohl, aber nichts Spannendes bis man sich nach Südosten dem Elfenwald näherte, oder nach Nordosten bis zur Königsstadt Balsephon reiste.
Den Blick gen Himmel richtend fielen ihm die Wolken auf, die sich dort oben sammelten. Es war zwar noch recht warm, aber bald schon würde der Herbst den Spätsommer ablösen, und diese Wolken waren wohl seine ersten Boten, die schon den ein oder anderen Regenguss herab senden sollten. Dieser Sommer war kurz, aber heftig gewesen. Kleinere Bauern würden Probleme bekommen – zuviel Saat vertrocknet, zuviel nicht richtig ausgereift. Keine Gute Ernte. Zum Glück tangierte das den Händler, und damit Rafael selbst, nur wenig. Er handelte mit Metallen, Schmuck und Edelsteinen, nichts was vom Wetter abhängen würde.
Langsam schlich er durch das Wäldchen zurück zur Villa, ließ am Waldrand den Stofffetzen zurück und nahm kurz bevor er aus dem Wald trat die Heugabel wieder auf. Immer noch diesen undurchdringlichen Gesichtsausdruck tragend kam er so aus dem Wald getrottet, wo er von Maria, der jungen Tochter des Händlers, erwartet wurde.
„Da bist du ja wieder Raf! Ich hab mir Sorgen gemacht!“, vorwurfsvoll und mit leichtem Schmollmund sah ihn die Kleine an. Als er damals in die Dienerschaft des Herrn trat, war die kleine Maria noch ein Baby gewesen, hatte gerade erst Krabbeln gelernt. Ihr elfter Geburtstag stand bald ins Haus.
„Ach, mir passiert doch nichts!“, er lächelte sie an und zwinkerte. Sie war die einzige im Haus, die nett zu ihm war. Rafael hatte nie herausgefunden warum sie das eigentlich war.
„Das sagst du so, aber ein wildes Tier könnte dich angreifen, oder ein Räuber dich überfallen! Du weißt doch, dass ich mir immer Sorgen mache, wenn du weiter weg gehst.“
„Für dich heißt weiter weg ja schon bis zum Waldrand.“, er lachte, „Aber Maria, Maria, mir ist noch nie was passiert, und ich achte auch drauf das es so bleibt. Versprochen.“, wieder zwinkerte er ihr zu, und auch sie begann jetzt zu lächeln.
„Spielst du was mit mir, Raf?“, mit einem Hundeblick, und hinter dem Rücken versteckten Armen bedachte sie Rafael, der natürlich nicht einmal hätte Nein sagen können, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Ihre braunen Locken schimmerten im Sonnenlicht.
„Ich weiß nicht, ob dein Vater noch Arbeit für mich…“
„Ich hab schon gefragt!“, unterbrach sie ihn, „Du darfst mit mir spielen, wenn der Wolf weg ist. Also, was ist?“
Rafaels lächeln wurde breiter. „Gern. Was willst du denn spielen, meine Kleine?“

Abends saß Rafael in seiner kleinen Kammer im Keller des Herrenhauses. Vor dem Abendessen hatte der Herr noch lange gestänkert, war sowohl wegen des wilden Wolfes, als auch wegen des geplatzten Geschäftes mit dem Händler aus dem fernen Land. Es gab offenbar einen Überfall auf seinen Edelsteinlieferanten aus den Bergen. Die von weit her ins balsamische Reich gebrachten Steine waren seit Jahren Haupteinnahmequelle des Händlers Großenfels.
Und der Reichtum seines Herrn, bescherte dem Halbork etwas Glück. Er hatte den zweifelhaften Segen, ein eigenes Zimmer zu haben, sofern man einen Raum in dem ein Bett, in welches er seit Jahren nicht mehr passte, den halben Platz einnahm, noch Zimmer nennen konnte. Die Türe ging nur ein Stück weit auf, dann war das Bett im Weg. Ein schmales Regal, in dem zwei braune Stoffhosen, zwei Leinenhemden und eine Leinenunterhose lagen, stand hinter der Türe und vervollständigte die zellenartige Einrichtung des Gefängnisses. Kaum mehr als zwei Quadratmeter war die Kammer, die er bekommen hatte weil niemand der anderen Beschäftigten im Hause seinen Gestank ertragen wollte. Sie schliefen in zwei großen Schlafräumen, ebenfalls im Keller, aber mit wesentlich mehr Platz und richtigen Schlafstellen, nicht dreißig Jahre alten Kinderbettchen.
Ganz traurig war Rafael doch nicht um seine Einsamkeit. Sie beschied ihm zweifache Gunst.
Zum Ersten war er sich so sicher, dass niemand wusste, dass sich unter seinem Kissen Kupfermünzen verbargen. Über die Jahre hatte er, wann immer dem Herrn oder einem Besucher unbemerkt Geld herab gefallen war, zugeschnappt und so seinen Reichtum gemehrt, bis er auf die sagenhafte Summe von Sieben Kupfer angewachsen war. Nicht, dass Rafael gewusst hatte was er mit dem Geld anfangen sollte. Es genügte ihm zu wissen, dass er etwas Geld hatte, wofür auch immer er es eines Tages ausgeben würde.
Und zum zweiten war da das Lesen.
In einem Buch über Traditionen der alten Könige hatte er gelesen, dass man den Toten eine Münze in den Mund legt, damit sie den Fährmann über den Fluss in die Unterwelt bezahlen können. Vielleicht würde er seine Münzen ja dereinst selbst schlucken, um sein eigenes Seelenheil zu sichern. Die Möglichkeit, dass er die Münzen jemand Anderen in den Mund legen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Wem auch?
Rafael lauschte noch einmal an seiner Tür. Man konnte das Schnarchen des dicken Kochs Olrik hören, und den sonstigen Geräuschen nach schliefen auch alle Anderen bereits. Lautlos und vorsichtig schlich Rafael zur Türe heraus, bis zur Treppe, und zunächst langsam bis in den ersten Stock. Dort horchte er noch einmal umsichtig, denn des Herrn Schlafgemach war auf dieser Etage.
Doch nichts war zu hören, also setzte Rafael seine Reise fort, bis er im zweiten Stock angelangt war. Dort glitt er Leise wie eine Katze in die Bibliothek, entzündete die Lampe am Lesepult, und begann seine Lektüre vom vergangenen Abend fortzusetzen.
Eine Stunde las er, dann machte er sich wieder auf den Rückweg, immer noch vorsichtig, ohne ein Geräusch, und stets lauschend.
Zurück in seinem Zimmer kauerte er sich auf das Bett, in dem er nur seitlich mit angezogenen Beinen Platz fand. Er hatte jetzt knapp zwei Stunden weniger Schlaf als alle anderen, aber das machte ihm schon lange nichts mehr aus. Mit nur vier oder fünf Stunden Schlaf selbst über längere Zeit auszukommen, daran hatte er sich gewöhnt. Zufrieden schlief er fast sofort ein, träumte von den Wesen, über die er gerade noch gelesen hatte. Wie gern er sie doch treffen würde, Drachen, Riesen oder Golems. Irgendetwas anderes als Menschen eben. Gut, er hatte Elfen gesehen, Kunden des Händlers die ihn hier besucht hatten. Ebenso waren schon Zwerge, Halblinge und Halbelfen am Hause des Herrn vorbei gekommen, aber etwas richtig Fantastisches hatte Rafael eben noch nie gesehen. Und so wie die Dinge standen würde er es auch niemals.

Der Herbst kam, die Bäume begannen schrittweise ihr grünes Kleid gegen ein prächtigeres rotes, gelbes, braunes einzutauschen, und die Temperaturen sanken langsam, ebenso wie die Nächte wieder gemächlich länger wurden. Rafael verrichtete weiter seine Arbeiten, ebenso wie alle anderen im Haus des Händlers Großenfels. Den Tagestrott unterbrachen seltene Gelegenheiten den einstigen Peiniger Benedikt zu ärgern oder kleinere Spielereien mit Maria. Benedikt war nie Spielkamerad für seine kleine Schwester gewesen, musste immer dem Weg seines Vaters folgen. Er gab sich Mühe sich für Rafaels Schabernack zu rächen. Doch seine plumpen Versuche den gewieften Halbork ins Hintertreffen zu bringen blieben schon lange erfolglos. Zuletzt war er bei dem Versuch gescheitert, Rafael die Schuld an verschmutzter Wäsche zuzuschieben. Kläglich wurde sein Komplott aufgedeckt, als man den Dreck unter seinen Fingern fand, während Rafael die ganze Zeit in Begleitung von Herrn Jung gewesen war. Überdies wurde der Sohn des Händlers schließlich mehr und mehr in die Geschäfte eingeführt, und seine Kindheit war wohl endgültig vorbei. Doch sein Hass stieg mit jedem Streich des Halborks, bis zu einem entscheidenden Tag im zehnten Monat des Jahres 1406 balsamischer Zeitrechnung.

Kaum drei Stunden nach Mittag nahm das Unheil seinen Lauf, als er vor Müdigkeit und Nachlässigkeit seine Hose zerriss.
Begonnen hatte der Tag wie viele Andere auch. Olrik, der Koch, und Jacob, sein Gehilfe, waren nach dem Frühstück mit Marbrun, dem Kutscher in der Stadt um einzukaufen, und sie würden wohl erst gegen Abend wieder daheim sein. Herr Großenfels war mit seinem Sekretär zu seinem Geschäft in der Stadt geritten, und war noch später zurück zu erwarten als die drei Diener. Es ging noch immer um die Angriffe auf seine Geschäftspartner, ein Ogerstamm war im Gespräch.
Seine Frau war zu einer Freundin geritten, nachdem die Lehrer für die Kinder eingetroffen waren. Das junge Zimmermädchen Miriam hatte morgens die Zimmer gemacht und war dann nach dem Frühstück zu Verwandten, die in einem kleinen Örtchen östlich der Villa lebten, gelaufen. Auch sie war vor der Abenddämmerung nicht zu erwarten. Edeltraut kümmerte sich um die Wäsche. Sie war schon sehr alt, schwerhörig und konnte nur langsam laufen, aber die Wäsche machte sie trotzdem immer noch tadellos. Maria und Benedict hatten Unterricht bei ihren Privatlehrern bis zum Nachmittag. Und Rafael schließlich sollte heute erst für neues Feuerholz sorgen, und danach beim Bauern Jung auf den Feldern helfen.
Noch vor Mittag war Rafael mit dem Holz fertig, und ging dann herüber zum Bauern. Der Tag war für einen Herbsttag angenehm. Die Sonne schien, und nur wenige Quellwolken liefen hintereinander her über das riesige Blau des Himmels, als verfolgten sie sich gegenseitig oder machten ein Rennen. Kräftig blies der Wind, aber nicht zu unangenehm, sondern eher erfrischend, denn die Arbeit im Wald beim Holzhacken, danach auf freiem Feld, war anstrengend und brachte Rafael ins Schwitzen. Das säen des Winterweizens war bereits abgeschlossen, nun kümmerte man sich um das Bestellen der Felder, den Gemüsegarten, und die Pflege der Obstbäume. Das gut acht Hektar große Land wurde allein vom Bauern Jung und seiner Frau bestellt, da die beiden Kinder noch zu jung zum Arbeiten waren. Sie lebten in einer kleinen Hütte in mitten der Felder und Beete. Dank der teilweisen Selbstversorgung durch die Landwirtschaft hier konnte der Händler viel Geld einsparen, was zu seinem beständig wachsenden Reichtum beitrug.
Rafael hatte über die Jahre so viel beim Bauern Jung gelernt, dass er schon fast selbst Landwirt war. Zumindest wusste er genug über Dreifelderwirtschaft, Gemüsepflege, Düngung der Erde und dergleichen um sich als Bauer selbstständig zu machen. Wenn er frei wäre und Geld dafür hätte Land zu erwerben.
Aber eigentlich gefiel ihm die Arbeit auf den Feldern auch nicht genug, als dass er solche Gedanken als ein Ziel oder einen Zukunftswunsch hätte benennen können. Es verlangte ihm nach Abwechslung, neuen Erlebnissen, nicht jedes Jahr das gleiche Getreide, die gleichen Früchte, die gleichen Bohnen.
An diesem Tag im Herbst war ihm von Anfang an etwas unwohl gewesen, doch er schob dieses unangenehme Gefühl im Bauch darauf, dass er zuwenig geschlafen hatte, oder der Mond vielleicht gerade ungünstig stand. Jedenfalls wollte ihm die Arbeit heute überhaupt nicht gefallen, und die Sonne schien nur so dahin zu schleichen auf ihrem Weg über das Himmelszelt.
Nachlässigkeit grub sich ihren Weg nach Oben, und kaum kam sie an der Oberfläche an, schon passierte es: Er wollte gerade wieder von der Leiter heruntersteigen, mit der er den Apfelbaum erklommen hatte um die letzten verbliebenen Äpfel einzusammeln, als er abrutschte und von dem hölzernen Hilfsmittel stürzte.
Die gesammelten Äpfel verteilten sich über den Boden, jedenfalls die, die er nicht unter sich begraben hatte. Beim Fall hatte sich seine Hose an einem Ast eingehakt, und ein nicht geringer Teil der Selben baumelte jetzt knapp zwei Meter über ihm. Sein gelangweilter, missmutiger Gesichtsausdruck änderte sich praktisch nicht.
Bauer Jung kam herbei.
„Jetzt sieh’ sich das einer an! Kannst’e nich’ aufpass’n.“, anstatt ihm aufzuhelfen riss der Bauer das Stück Stoff von dem Ast und wedelte damit vor Rafael, der sich schüttelte und dann mit wackligen Beinen aufzustehen wagte. „Der Herr Großenfels würd’s dir vom Lohn abzieh’n, wenn’e einen bekäm’s! So werd’ ich wohl dafür grad’ steh’n müss’n. Tolle Leistung, Ork, wirklich toll.“
Rafael murmelte ein kurzes „Verzeihung“ und machte sich dann daran die Äpfel einzusammeln und wieder in die Tragetasche zu füllen.
„Ne, ne, lass des ma’ schon so. Geh’ ers’mal rüber und hol dir ’ne neue Hos’. So kannst’e hier nich’ arbeiten, mit nix an, Untenrum.“, dann warf der Bauer ihm das Stück Stoff zu „Gib das der Edeltraut, vielleicht kann’se es noch retten. Muss ja nur für dich reich’n, Tollpatsch.“
Rafael zuckte nur kurz mit den Schultern, drehte sich dann um und ging gemächlich wie immer zurück in Richtung Herrenhaus um sich eine neue Hose anzuziehen.
Er hatte erwartet Maria draußen hinter dem Haus zu sehen, doch sie war nicht unter freiem Himmel. Die Lehrer waren fort, und diese Gelegenheit nutzte Maria sonst immer. Auch war keine Musik zu vernehmen, was darauf hingedeutet hätte, dass Maria im Musikzimmer saß und am Klavier übte. Nur Edeltraut war draußen, mit dem Aufhängen der Wäsche beschäftigt.
Rafael überlegte kurz ob er sich erst umziehen, oder sofort mit der zerrissenen Hose zur Waschfrau gehen sollte. Schnell kam er zu der Überzeugung, dass es besser war der alten Hexe nicht in diesem Zustand vor die Augen zu treten, sie würde nur wieder irgendwelche bissigen Bemerkungen reißen, ihn demütigen und beleidigen. Dann lieber warten, erstmal eine neue Hose anziehen, und die Alte in einem guten Moment mit der Hose belästigen.
Gerade als er auf den Hintereingang zum Keller zusteuerte, nur noch Meter vom Haus entfernt war, wurde die Sonne mit einem Male verdunkelt. Nicht wie von einer kleinen Quellwolke - diese weißen Schwämme zogen schon den ganzen Tag bald schnell bald langsam an der gelben Scheibe vorbei - sondern von etwas großem, tiefschwarzen.
Rafael hielt inne und sah zum Himmel herauf.
Dort oben türmten sich schwarze Gewitterwolken auf, zogen mit ungeheurer Geschwindigkeit heran, und verdunkelten die Sonne schnell vollständig. Ein dumpfes Grollen kam aus der Richtung des Unwetters, und die Unheil verheißenden Lichtzuckungen waren bald die einzigen Lichtspender. Auch der Regen ließ nicht lange auf sich warten.
Wie angewurzelt stand Rafael vor der Villa seines Herrn, starrte dem Regen entgegen. Blitze zuckten über ihm durch die Wolken, und das bedrohliche Knurren des Gewitters fuhr ihm in die Glieder. Edeltraut riss im Hintergrund die Wäsche von den Leinen um damit ins Haus zu stürzen.
Obwohl er schon viele Gewitter gesehen hatte, war etwas anders. Nicht nur das es erstaunlich schnell herauf gezogen war, es war auch irgendwie noch etwas dunkler, noch etwas beängstigender als die normalen Unwetter die von der See her kamen. Es schien ein Omen, eine Warnung, ja, eine böse Prophezeiung zu sein, und wenn es sein Ziel war Rafael zu ängstigen, so war ihm dies Zweifelsohne verdammt gut gelungen.
Rafael war bereits durchnässt, Edeltraut längst mit den Kleidern im Haus verschwunden - vermutlich auf den Speicher, um sie dort aufzuhängen – als er endlich seine Besinnung wieder fand, und mit für ihn untypisch schnellen Schritten zum Kellereingang eilte, die Türe aufriss und in der Villa verschwand.

Drinnen war es noch finsterer als erwartet. Rafaels gute Orkaugen waren zwar in der Lage selbst in stockdunkler Nacht vieles zu erkennen, doch trotzdem hatte Dunkelheit stets einen mürben Beigeschmack. Nachdem er die Türe verschlossen, und somit Blitz und Donner ausgesperrt hatte, warf nur noch eine kleine Kerze ihr kümmerliches Licht in den schmalen Gang der Zugang zum Rest des Kellers gewährte. Das tänzelnde Lichtlein projizierte geheimnisvolle Schatten an die Wände, die einen bedrohlichen, wenn auch irgendwie gefährlich sanften Reigen aufführten, und Rafael merklich beunruhigten. Langsam schritt er voran, nahm jeden seiner Schritte, und das quietschen der nassen Ledersandalen auf den Dielen, ganz bewusst war.
Er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte, obwohl es hier nichts Ungewöhnliches zu sehen gab. Schon hunderte Male war er des Nachts, in völliger Dunkelheit, durch diesen Korridor gelaufen. Nie war ihm dabei mulmig gewesen. Geschweige denn, dass es ihm Angst und Bange wurde, wie nun. Irgendetwas war anders, doch noch konnte er es nicht fassen. Alles was er hörte und sah waren seine eigenen Schritte, das Grollen des Gewitters, und das Flackern der kleinen Kerze.
Rafael bog um eine Ecke, nach links, und ging am Waschraum vorbei, in dem er Edeltraut arbeiten und leise fluchen hörte. Offenbar war sie doch nicht zum Speicher gegangen. Was immer sie tat, es war wirklich nicht der rechte Zeitpunkt sie mit der Hose zu belästigen, wahrscheinlich hätte sie ihn nur angeschrieen, und er wäre genauso weit gewesen wie jetzt auch. Weiter also, zu seiner Kammer. Immer noch donnerte es draußen beinahe unablässig, das Gewitter musste genau über ihnen sein, und immer noch quietschten seine Schuhe auf dem Holzboden.
Dieser Teil des Gangs war überhaupt nicht erhellt, und nur ganz schwach warf die hinter ihm zurückgelassene Kerze ihr oranges Licht an ihm vorbei. Da er sowieso nicht auf das Licht angewiesen war, war er froh nun von den Schatten befreit zu sein, und langsam in reine Dunkelheit abzutauchen zu können.
Gerade Schritt er an den Unterkünften der anderen Bediensteten vorbei, als er ein Geräusch aus Richtung seines eigenen Kämmerleins hörte.
Seine Ohren, obgleich wesentlich größer als die eines Menschen, waren nicht besser als die eines solchen. Sein Linkes versagte ihm gelegentlich den Dienst seit einer schweren Tracht Prügel vor zwei Jahren. Das Gewitter und sein nasses Schuhwerk taten ihr übriges um zu verhindert, dass er die Geräusche aus seiner Kammer früher hätte wahrnehmen können. Weiterhin in Erwartung eines Unheils, die Vorzeichen waren schließlich ausreichend deutlich, beschleunigte er seine Schritte zu einem soliden Tempo, um endlich zu seinem Raum zu gelangen. Noch trennten ihn drei, vier Meter von der Türe, als er aus den Geräuschen, welche bisher nur aus Knarren von Holz, und einer Art Reißen bestanden hatten, deutlich die Stimme Marias heraushörte. „Nicht!“
Sein Mund blieb offen stehen, während sich sein Schritt verlangsamte, unsicher was dies zu bedeuten hatte. Wie in Zeitlupe stolperte er vorwärts. Im Hintergrund grollte noch immer das Gewitter, und weiterhin drang das Knarren, vermischt mit einem leisen Stöhnen, aus seiner Kammer zu ihm herüber.
Schließlich löste er sich aus seiner Verwirrung und rannte zu seiner Tür. Gerade wollte er die Türe aufstoßen, als er eine Andere Stimme aus seiner Kammer hörte.
„Jetzt halt endlich still! Dann würde es auch nicht wehtun!“
Es war Benedicts Stimme. Sie klang angestrengt, genervt, und sehr wütend. Wieder überfiel Rafael ein Schock, wie paralysiert starrte er auf die Türe, unfähig zu verstehen was das sollte. Schweiß brach ihm aus den Poren, kalter Schweiß, und sein Herz begann zu rasen. In seinem Schädel pochte etwas. Sein Hirn versuchte krampfhaft einen Sinn zu entdecken, zu verstehen was vor sich ging. Doch erfolglos. Bis er wieder die Stimme des Sohnes seines Herrn vernahm.
„So, schon viel besser. Siehst du?“, seine Stimme klang plötzlich fröhlicher, wenngleich immer noch angestrengt. „Wir verlieren alle etwas bei dieser Sache. Du gerade eben dein Bewusstsein, der hässliche Dreckssack von Ork sein Leben, und ich…“
Wollte er sie etwa in diesem Zimmer verprügeln? Und es Rafael in die Schuhe schieben?
„…ich verliere meine Unschuld!“, Benedict gab ein lautes Lachen von sich, so diabolisch wie es einem sechzehn Jahre alten Händlersohn nur möglich war.
In Rafael kochte plötzlich Wut über. Vergewaltigung! Seine eigene kleine Schwester! Dieses Monster wollte sich tatsächlich an seiner eigenen Schwester vergehen. Adrenalin wurde durch Rafaels Adern gepumpt, sein Gesicht verhärtete sich zu einer grausigen Maske und ein gutturaler Schrei entfuhr seinen Lungen. Wahrscheinlich war er selbst auf ähnliche Weise, durch unfreiwilligen Verkehr, gezeugt worden, was seine Raserei noch weiter schürte.
Er riss die Türe entgegen den Angeln auf, das Holz zerbarst zwischen seinen Pranken und als es gegen die Wand geschleudert wurde. Die Reste der Türaufhängung baumelten nutzlos im Rahmen, und der verwirrte und erschrockene Benedict sah seinem Feind mit großen Augen entgegen.
Mit den heruntergelassenen Hosen hätte er in jeder anderen Situation wohl lächerlich ausgesehen, doch mit der halbnackten Schwester hinter ihm, deren gespreizte Beine von der Bettkante baumelten, war es eine Szene die Rafaels Adrenalinspiegel nur noch weiter steigen ließ.
„Du? Ich… ich dachte du wärst auf dem Feld.“
Der wuchtige Halbork grunzte nur verächtlich. Sein Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln, und der kalte Angstschweiß von vor wenigen Augenblicken war längst heißem Hassschweiß gewichen. Mit den hervorstechenden Hauern, der halb zerrissenen Hose und dem glühen in den Augen hätte er wohl einen ausgewachsenen Bären eingeschüchtert. Benedict stand nur verständnislos da und starrte wie ein Kaninchen vor der Schlange auf den Berg aus Muskeln vor ihm.
Rafael stieß einen markerschütternden Kampfschrei aus. Speichel flog Benedict entgegen, der sich die Ohren zuhalten musste. Rafael hatte nie „gelernt“ einen solchen Schrei auszustoßen, doch gelang es ihm auf Anhieb ganz vortrefflich. Wäre Benedict jetzt getürmt, wäre die Sache wahrscheinlich unblutig ausgegangen, immerhin sah Rafael ihn jetzt als eindeutigen Verlierer an. Doch stattdessen sah der junge Mensch den ausgewachsenen Halbork plötzlich mit leerem Blick an und schrie:
„Sterben sollst du! Und wenn ich dafür hundert Frauen misshandeln muss, du sollst sterben!“
Im ersten Moment konnte Rafael den Zorn und den Hass überhaupt nicht fassen. Mit offenem Mund stand er dort vor seinem eigenen Heim mit zerrissener Hose und verständnislosem Blick. Doch der Moment des erneuten Entsetzens währte nicht lange, und schon verzog der Halbork das Gesicht wieder zu einer grimmigen Fratze, ballte seine fleischige Hand zu einer steinharten Faust, und ließ diese Waffe dann auf Benedicts Gesicht niederfahren.
Die Wucht des Schlages ließ Benedict nach hinten taumeln. Er stolperte über die Bettkante, und stieß sich den Kopf an der Wand dahinter als er wie leblos zusammensank. Doch noch war Rafael nicht fertig mit ihm. Gerade öffnete der Jugendliche wieder seine Augen, als der wütende Halbork sich auf ihn warf, und begann ihn nun mit beiden Fäusten zu traktieren.
Fünf, Acht, Zehn mal schlug Rafael mit aller Wut und aller Kraft auf den inzwischen bewusstlosen Körper seines Widersachers ein. Mehrfach hörte man das Knarren des Holzes unter ihnen, und das Brechen der Knochen des schmalen Menschenkörpers. Eines dieser Geräusche musste wohl die kleine Maria aus ihrer Bewusstlosigkeit geweckt haben, denn sie gab einen spitzen, durchdringenden Schrei von sich.
Rafael hielt inne, und sah mit großen, blutunterlaufenen Augen das jungen Menschenmädchen an. Sie begann sofort zu weinen, richtete sich auf und versuchte Rafael von ihrem Bruder zu schubsen. Rafael war natürlich zu schwer für die Kleine, bewegte sich aber von selbst wie sie es wünschte, wenn auch perplex und energielos.
„Was hast du mit ihm gemacht! Bene, Bene! Wach auf Bene!“, sie griff Benedict bei den Schultern und schüttelte ihn so gut sie konnte. Keinen Ton gab ihr Bruder von sich, leblos lag er auf der schmalen Pritsche die Rafaels Bett darstellte.
„Du Monster!“, plötzlich starrte sie Rafael mit hasserfüllten Augen an. „Du Monster hast ihn umgebracht!“
Sie sprang auf und hieb mit ihren Fäusten auf Rafael ein, doch die schlanken Hände vermochten nicht ihm Weh zu tun. „Verrecken sollst du!“
„Aber, “, Rafael verstand nicht, denn der Gedanke, dass er Benedict umgebracht hatte, lag noch unter dem Schock begraben. „er wollte dich doch missbrauchen…“
„Du lügst! Er ist mein Bruder, er würde mir nie etwas tun! Du, du, du bist das Monster hier! Ich werde Papa sagen, dass er dich töten soll.“, immer noch schlug sie wie besessen auf den Brustkorb des Halborks ein, jedoch mit immer weniger Kraft.
Langsam dämmerte Rafael was passiert war, die Gedanken begannen sich zu ordnen, und Furcht kam auf, brach wie die tosende See auf ein Segelboot über ihn herein. Seine Muskeln, die vorher allesamt angespannt gewesen waren, versagten ihren Dienst und er fiel auf die Knie. Maria musste einen Schritt zurück machen, damit er sie nicht umwarf. Dabei setzte sie sich unwillkürlich wieder auf die Pritsche, neben ihren Bruder.
Rafaels Verstand kochte. Angst, Wut, Verwirrung, alles sammelte sich und machte das Denken schwer. Was würde er nun tun? Der Herr würde ihn umbringen, dass stand außer Frage. Selbst Maria würde das jetzt tun, wenn sie gekonnt hätte. Dabei wollte er ihr doch nur helfen. Sie vor dem durchgedrehten Bruder retten. Benedict war der Schuldige. Aber nun war der Mensch tot, und er war schuld daran. Er hatte es verdient - zumindest glaubte Rafael das - doch dies würde den Herrn niemals überzeugen. Eher noch würde es ihn dazu bringen, einen schlimmeren Tod für Rafael zu ersinnen, um sich an dem Halbork zu rächen. Was nun, das war die Frage, und er wusste keine Antwort. Also tat er das, wofür er gekommen war.
Als Rafael begann die Reste seiner Hose auszuziehen, war Maria plötzlich still. Kein Schluchzen und Heulen, kein Wehklagen mehr. Sie sah ihn einfach nur mit großen, furchtsamen Augen an.
Rafael legte die zerrissene Hose in das Regal neben seinem Bett, und holte eine Neue heraus. Als wäre es ein normaler Morgen zog er sich in aller Ruhe an, band die Hose mit dem dünnen Juteseil zu, und kontrollierte den Sitz seiner Wäsche gewissenhaft.
Die Angst in Marias Augen war wieder Zorn gewichen, doch noch immer gab sie kein Geräusch von sich. Kurz war ihm, als könnte er das Heben und Senken von Benedicts Brustkorb ausmachen. Doch Tote atmen nicht. Mit einem leicht blutigen Zeigefinger, Blut vermutlich aus dem Gesicht Benedicts, kratzte sich Rafael am Kopf und versuchte nun erneut einen klaren Gedanken zu fassen.
Ob es am kratzenden Finger oder am hasserfüllten Blick Marias lag wusste Rafael nicht, doch der einzige Gedanke der ihm kommen wollte war: Flucht!
Es war natürlich Wahnsinn, fliehen zu wollen. Er kannte sich in der Welt dort draußen einfach nicht aus. Nun gut, gelesen hatte er so einiges, aber praktische Erfahrung mit irgendjemandem außer den Bediensteten des Herrn hatte er einfach nicht.
Dazu kam, dass auf flüchtige Sklaven im Allgemeinen Kopfgelder ausgesetzt werden, und es genug arme Tölpel dort draußen gab, die gerne mal ein paar Silber einstreichen wollen.
Und natürlich, nicht zu vergessen, er hatte den Sohn seines Herrn umgebracht. Somit hätte dieser noch mehr Interesse daran, Rafael an einem Galgen zu sehen. Oder der Enthauptung beizuwohnen. Oder selbst einige Steine bei der Steinigung zu werfen. Warum nur entsannen die Menschen so viele Möglichkeiten einander umzubringen?
Jedenfalls war es schlicht Wahnsinn fliehen zu wollen. Er wusste nicht wohin, was er dort sollte, oder wem er vertrauen könnte. Dazu war er ein halber Ork, die Menschen würden ihm nicht vertrauen.
Trotz allem, trotz dass seine Chancen gerade heraus verschwindend waren, trotz alle dem war Flucht seine einzige Möglichkeit, wenn er überleben wollte.
Wollte er das denn?
Der Gedanke kam nur kurz, aber er war da: Wollte Rafael, Mörder Benedicts, überhaupt weiterleben? Schnell spürte er seinen eigenen Überlebensdrang, und auch ein merkwürdiges Gefühl, dass seine Tat nicht so schlimm war, wie sie schien. Er nahm an, dass dies von seiner orkischen Seite kam, und verwarf alle Gedanken in dieser Richtung um sich wieder auf sein Vorhaben zu konzentrieren.
Tatsächlich, inzwischen war es sein Vorhaben zu fliehen. Nicht mehr ein wilder, haltloser Gedanke tief im Inneren, sondern ein beschlossener Plan. Er würde fliehen.
Aber wohin? Das Einzige was ihm sinnvoll erschien war Silfing, dort dann auf einem Schiff anheuern, als Bootsjunge oder dergleichen, und herüber auf einen der anderen Kontinente. Wie hieß der Ort, aus dem Händler Großenfels seine Smaragde einfuhr? Soweit würden sie ihn nicht verfolgen, zumindest hoffte er das. Vielleicht konnte er auf diese Weise sogar zurück zu seinem Geburtsland, auch wenn es dort eigentlich nicht viel für ihn zu sehen oder erfahren gab. Trotzdem erfüllte ihn der Gedanke mit einem gewissen Grad an Wärme.
„Verschwinde.“, zischte Maria ihn an. „Verschwinde von hier du Monster! Mein Vater wird dich umbringen! Qualvoll! Ich will dich nicht mehr sehen, also verschwinde endlich von meinem Bruder! Oder willst du ihn Fressen, du Scheusal?“
Tiefer Hass lag in ihrer Stimme, fast noch mehr als in ihren Worten. Rafael sah sie unentschlossen an. Nicht etwa, dass sein Plan plötzlich verschwunden wäre. Er war unentschlossen ob er dem kleinen Mädchen, mit dem er so oft gespielt hatte, das für ihn die einzige freundliche Seele in all den Jahren gewesen war, etwas zum Abschied sagen sollte. Etwas Wichtiges vielleicht. Doch selbst wenn er etwas zu sagen gehabt hätte, sie hätte ihm wohl kaum zugehört.
„Du warst ein fürchterliches Haustier!“
Das war er also für sie. Mit flinken Händen langte er nach den Münzen unter seinem Kissen, stieß dabei den Leichnam zur Seite und hörte ein Stöhnen. Unsinn, er stöhnte selbst und stopfte die Kupferstücke in die frische Unterhose die in seinem Regal lag, und die er nun als Behelfsbeutel nahm, und fuhr herum um aus dem Zimmer zu stürmen. Einen Moment lang hielt er inne, drehte langsam den Kopf. Sein Blick schwenkte langsam von Benedicts leblosen Körper zu Maria. Er sah sie fest an, und sie erwiderte den Blick immer noch mit Jähzorn und Entschlossenheit gar untypisch für ein elfjähriges Kind.
„Es tut mir leid.“
Er lief, den Gang herunter, die Treppe rauf und hinaus ins Freie. Er hätte schwören können Maria noch einmal Schreien und Lachen hören zu können, gerade als er das Haus verließ, aber er konnte sich keinen Grund vorstellen, warum sie das tun sollte. Daher schob er das auf seinen verwirrten Verstand, der ihn Raus aus der Sklaverei und herein in den sicheren Untergang drängte.
Überraschender Weise war das Gewitter so schnell es gekommen war schon wieder abgeklungen. Blitz und Donner waren nur noch entfernt wahrzunehmen, und der Regen begrenzte sich auf ein leichtes, fast sanftes Nieseln.
„Wenn das ein Zeichen ist, “, sagte Rafael halblaut, „dann zumindest kein Schlechtes.“

Seine Füße schmerzten bald. Er war es nicht gewöhnt zu laufen, aber in dem Tempo würde er Silfing in weniger als zweieinhalb Stunden erreichen, also machte Rafael keine Anstalten seinen Schritt zu verlangsamen. Immerhin hatte er praktisch kein Gepäck, musste also nicht mehr als sein eigenes Körpergewicht tragen. Aber das war für den ungeübten Läufer schon zuviel, so dass er doch irgendwann, nach nicht einmal der Hälfte des Weges eine Rast einlegen musste.
Die Straße nach Silfing hatte er gemieden, zu viel Verkehr, zu viele Menschen. Stattdessen lief er durch die Wäldchen, in einem sicheren Bogen um alle Gebäude und großen Wege herum. Wann immer er auf freies Feld kam oder jemand in Sicht war hatte er seinen Schritt beschleunigt.
Jetzt saß er wieder in einem Wäldchen, irgendwo im nirgendwo zwischen der Villa des Großenfels und seinem Ziel, der Stadt Silfing. Er sah sich immer wieder um, ob ihn schon jemand verfolgen würde, doch seiner Sorgen zum Trotz hielt er das nicht für sehr wahrscheinlich. Silfing zu erreichen, bevor der Händler Gelegenheit haben würde die Jagd auf ihn zu organisieren, das schien kein großes Problem, immerhin war er ja nicht daheim. Und trotzdem war die Angst da, und auch nicht wegzubekommen, egal wie schön er sich die Freiheit ausmalen wollte.
Einige Minuten verschnaufte er bereits, als er einen neugierigen Marder neben einem Baum vielleicht fünf Meter entfernt ausmachte.
Mit einem Male waren Zweifel und Furcht wie verflogen, und Rafael konzentrierte sich nur noch auf das Tier. Es war ein Nerz, wie der Halbork erfolgreich seinem Gedächtnis entnahm. Nerze wurden wegen ihres Felles gejagt, reiche Menschen trugen Mäntel und Mützen aus Nerzhaar - und zwar sehr reiche, denn die Tiere waren verteufelt selten. Aber Rafael war es absolut nicht danach dem kleinen Tierchen das Fell über die Ohren zu ziehen. Er wollte nur ein wenig Unterhaltung, einen Freund.
„K’k’k’, na komm her kleiner Kerl, ich tu dir nichts.“
Der Marder bewegte sich keinen Millimeter, sondern starrte erwartungsvoll in Richtung des riesigen Halborks.
Rafael ließ sich nach vorn auf seine Knie fallen, und hockte sich nah an den Boden. „K’k’k’, wirklich, ich bin harmlos.“
Langsam, und bereit jederzeit umzukehren, kam der Nerz näher. Doch zwei Meter vor Rafael blieb er erneut stehen, und diesmal sah er Rafael noch erwartungsvoller an. Er gab einen kleinen Quick Ton von sich, und wartete.
Rafael richtete sich auf. „Tja, ich kann ja verstehen dass du mir nicht vertraust. Seh’ ja doch eher gefährlich aus.“, verloren glitt sein Blick vom Nerz ab in das Dickicht des Wäldchens.
Der Nerz beobachtete ihn noch einen Augenblick, und kam dann näher bis er Rafaels Hand berührte. Der sah halb überrascht, halb erfreut herunter zu dem kleinen Tier, und begann immer breiter zu lächeln. Nachdem er sich in den Schneidersitz gesetzt hatte nahm er den kleinen Marder auf den Arm, begann ihn zu streicheln, und erzählte ihm die Geschichte seines Lebens, und vor allem dieses verhängnisvollen Tages.
Das kleine Tier schien aufmerksam zuzuhören, gab hin und wieder schnurrende Geräusche von sich und schaute an den richtigen Stellen erstaunt auf, ganz so als verstünde er den Sinn der Worte des Halborks.
Die Zeit verging schneller als Rafael es merkte, und als er schließlich mit seinen Erzählungen geendet hatte, waren fast zwei Stunden ins Land gegangen. Als der Jüngling den Stand der Sonne wahrnahm sprang er erschrocken auf. Ebenso erschrocken klammerte sich der Marder an seiner Kleidung und darunter schmerzhaft an seiner Haut fest. Rafael nahm das Tier behutsam von seiner Brust und wollte ihn auf den Boden setzen.
„Es tut mir leid, aber ich muss jetzt weiter. Du weißt ja jetzt, warum ich es eilig habe.“
Doch anstatt fortzulaufen, wie er es von dem kleinen Tier erwartet hatte, kletterte er behände seinen Arm herauf und setzte sich auf seine Schulter.
„Nanu? Willst du etwa mitkommen? Du hast wohl nicht verstanden wo ich hin gehe.“
Ganz als wollte er sagen: ‚hältst du mich für dumm?’ biss der Marder Rafael ins Ohr. Dieser gab einen unterdrückten Schmerzlaut von sich, und schnappte sich dann mit seinen großen Händen das wilde Tier in seinem Nacken. Er hielt den Marder kurz vor sein Gesicht, und betrachtete ihn genau.
Viel wusste er nicht über diese Tiere. Dieses Exemplar war von Kopf bis Schwanz etwa fünfundvierzig Zentimeter lang, wog vielleicht vier Kilogramm. Daraus schloss Rafael dass es sich um ein erwachsenes Tier handelte. Sein Schritt zeugte davon, dass es sich um ein Männchen handelte. Wahrscheinlich, so dachte der Halbork, ist er ein junger Erwachsener, der keine Familie und kein Revier hat, und er möchte mit mir mitkommen, um neuen Lebensraum zu erschließen. Der Marder sah ihn mit Kulleraugen an, einem Welpen gleich, als wenn dass Rafaels Meinung verbessern könnte.
„Ach fein, dann bin ich wenigstens nicht allein.“, und wie auf Kommando verzog das Tier sein Maul so, dass es ein wenig an ein Grinsen erinnerte. „Aber wir müssen aufpassen, dich will man fast genauso gerne zu fassen kriegen, wie mich. Also hob, auf meine Schulter mit dir.“
Zufrieden schnurrend kletterte der kleine Nerz auf die breiten Schultern des massiven Halborks. Dieser setzte sich nun wieder in Bewegung, und schickte sich an noch vor Einbruch der Dunkelheit die Stadt zu erreichen. Inzwischen, so vermutete er, war die Jagd auf ihn längst ausgerufen, doch wenn er ein Gasthaus im Süden der Stadt als Übernachtungsmöglichkeit wahrnahm, so hätte er gute Chancen unerkannt zu bleiben. Am nächsten Morgen würde er noch vor Sonnenaufgang zum Hafen, und erstmal auf dem nächst besten Schiff anheuern. Hauptsache weg von hier. Wenn er dann seinen neuen Begleiter wieder in die Wildnis entlassen hätte, könnte er gezielter nach einem Weg suchen, auf die anderen Kontinente über zu setzen.
„Achso, da fällt mir ein, du brauchst ja einen Namen, wenn du schon mit mir reisen willst.“, er sah den Nerz auf seiner Schulter an, als könne der ihm seinen Namen verraten. „Wie wäre es mit ‚Kalamnar’? Ich finde, dass klingt gut. Kalamnar war der Name eines berühmten Drachentöters, der vor über einhundertzwanzig Jahren gelebt hat, und mehr als ein Duzend Drachen erschlagen haben soll. Gefällt er dir?“
Eine Antwort schuldig bleibend sah der Nerz ihn einen Moment an, und legte dann seinen Kopf nieder.
„Ich werte das Mal als ein ‚Ja’, immerhin hast du mir nicht ins Ohr gebissen.“
Lachend lief Rafael weiter, seine Stimmung war aufgehellt, dennoch hielt er sich abseits aller Wege, in einem sanften Bogen um Silfing herum, bis er auf die südliche Handelsstraße traf, die er dann Richtung Norden nutzte um nach Silfing herein zu kommen.

Die Stadtwachen würdigten ihn keines Blickes, und auch sonst schien der halbe Ork nicht aufzufallen. Die Menschen, Elfen und Zwerge gingen ihren Geschäften nach, hielten ihn vielleicht für einen Boten oder einen Diener, und scherten sich schlicht nicht um ihn. Kalamnar war ihm unter das Hemd gekrochen, wohl aus Angst vor den Bürgermassen der Stadt.
Vor einem Gebäude, aus dem Lärm von Menschenmengen zu hören war, und an dessen Front ein Schild mit der Aufschrift „Zur Teufelskeule“ stand, blieb Rafael schließlich stehen. Es sah recht heruntergekommen aus, die Fenster waren alle bis auf eines mit Brettern vernagelt, und vor dem Eingang lag eine in sich zusammengesunkene Gestalt, die einen unangenehmen Geruch nach Erbrochenem verbreitete. Kalamnar wurde ein wenig unruhig als Rafael sagte: „Das dürfte ich mir leisten können.“

Als er die Kaschemme betrat waren alle Augen für einen Moment auf ihn gerichtet. Unsicher sah sich Rafael um. Noch nie hatte er so viele Menschen, Zwerge und Halblinge auf einem Haufen gesehen. Nach kaum mehr als zwei Wimperschlägen wendeten sich die Gesichter der Anwesenden wieder ihren Beschäftigungen zu. Zielstrebig ging Rafael auf den Barmann zu, der gerade hinter dem Tresen mit einer Bediensteten sprach. So selbstsicher wie er konnte räusperte sich Rafael, woraufhin ihm der Wirt einen flüchtigen Blick zuwarf, und den Finger hob um anzudeuten, dass er gleich für ihn Zeit hätte. Geduldig wartete der Jüngling, bis sich ihm der Wirt zuwendete.
„Watt wollnse, Herr Halborsch?“, sagte der Barmann. Sein Ton war rau, und passte zu seinem Erscheinungsbild. Er war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut, mit einem leichten Bauchansatz. Das wettergegerbte Gesicht war recht ansehnlich, nach menschlichen Maßstäben, und Rafael schätzte ihn auf Ende Dreißig. Die braunen Augen schienen ihn zu durchbohren, dass Misstrauen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Trotzdem hatte er Rafael als Halbork erkannt, was ihn sympathischer machte.
„Ich brauche ein Bett. Wie viel kostet eine Übernachtung?“, Rafael versuchte weiterhin möglichst selbstsicher zu klingen. Im Inneren schlotterte er vor Angst irgendwer könnte ihn als den Sklaven erkennen, der er war. Zu seinem Glück hatte der Herr Großenfels darauf verzichtet ihm ein weithin sichtbares Sklavenmal aufzubrennen. Trotzdem befürchtete er, ein Kunde des Händlers könne ihn erkennen.
Der Wirt machte einen überraschten Eindruck, als er Rafaels Worte vernahm. Der junge Halbork konnte sich keinen Reim darauf machen, und beließ es dabei.
„Ei, sicher, ain Bett. Inne Schlafsaal küt et via Kupfar.“, brachte der Wirt schließlich hervor, und fügte dann weniger überrascht, eher misstrauisch hinzu, „Zahlung im Voraus, bittschoin.“
Rafael nahm seinen Behelfsbeutel heraus, zählte vier Kupfermünzen ab, und gab sie dem Wirt, der immer noch ein wenig überrascht drein schaute.
„Und was zahl ich für einen Krug Bier?“
„Bia? Oi, jep, det wäan nomma ain Kupfar.“, und auch dieses legte Rafael hinzu. „Brings eusch gleich, Herr Halborsch.“, fügte der Wirt hinzu.
Rafael durchquerte den Raum und setzte sich an einen freien Tisch mit dem Rücken zur Wand. Er begann die Gäste der „Teufelskeule“ zu begutachten.
An einem Tisch, direkt in seiner Nähe, saßen drei Zwerge. Ihre Kleidung war fürchterlich verdreckt, und nur ihre wallenden Bärte zeugten davon, dass sie irgendeine Form der Körperpflege durchführten. Sie spielten Karten, und sprachen auf Zwergisch miteinander. Ein steter Strom Bier floss vom Tresen zu ihnen in Form einer Schankmaid die scheinbar nur sie versorgte.
Einen Tisch weiter saßen zwei Händler, die offensichtlich ein gutes Geschäft feierten. Die Überreste eines üppigen Mahls standen noch auf ihrem Tisch, und die dritte Flasche Wein hatten sie auch schon angefangen. Beide waren Menschen, höchstens dreißig Jahre alt, und sehr mit sich selbst zufrieden. Sie lachten ausgiebig, tätschelten den Schankmaiden auf den Po und ergingen sich an ihrem neuerlichen Reichtum.
An der Bar saßen zwei Paare, Menschen, die auch irgendetwas feierten. Jedenfalls hatten sie Met, und tranken ausgiebig. Die Frauen waren sehr aufreizend angezogen, und konnten ihre Finger nicht von den Männern lassen. Rafael fiel auf, dass sie stark geschminkt waren, was sie älter wirken ließ. Wahrscheinlich war keiner der vier über zwanzig Jahre alt.
An einem großen Tisch nahe des Tresens saßen ein Duzend Halblinge. Sie aßen und tranken ausgiebig, redeten in ihrer Sprache mit den kleinen piepsigen Stimmchen, und lachten viel dabei. Zwischendurch kletterte einer von ihnen auf den Tisch, machte einen Salto rückwärts und landete wieder auf seinem Stuhl, was die anderen Halblinge mit Beifallsgeklatsche und fröhlichen Zurufen quittierten.
Ein wenig weiter vom Tresen entfernt, nahe dem Eingang, saßen zwei Zwerge und zwei Menschen gemeinsam am Tisch. Rafael war sich nicht sicher, doch er glaubte unter dem Barte des einen Zwergen weibliche Züge erkennen zu können. Alle Vier waren bewaffnet, die Zwerge trugen sogar Rüstungen. Einer der Menschen hatte einen mächtigen Bogen neben sich an die Wand gelehnt, der fast so lang war, wie er selbst. Sie schienen in ein ernstes Gespräch verwickelt zu sein, doch waren zu weit entfernt, als dass Rafael etwas hätte verstehen können.
Kalamnar lugte während dessen aus seinem Hemd hervor, und musterte ebenfalls die Anwesenden, verschwand jedoch ganz hurtig, als der Wirt mit dem Bier kam.
Rafael nahm einen großen Schluck von dem Malztrunk, und war überrascht, dass er ihm so gut mundete. Noch einen Zweiten nahm er, und überlegte ob er seine letzten zwei Kupfer vielleicht auch noch in Bier investieren sollte. Immerhin hatte er noch nie das Vergnügen gehabt dieser Leibesfreude zu frönen. Sein dritter Schluck leerte den Krug, und er ließ ihn lautstark auf den Tisch knallen. Sein mäßiger Körper half zwar, den Alkohol zu verarbeiten, doch da er noch nie getrunken hatte, und jetzt noch dazu sehr schnell und auf nüchternen Magen, machte sich das Gift sofort bemerkbar. Seine Konzentration ließ merklich nach, was ihn aber nicht weiter störte, da sie bisher nur der Angst zugearbeitet hatte, und seine Augen wurden träge. Die Welt schien sich schneller zu bewegen, als er sie wahrnahm. Kräftig schüttelte er seinen Kopf, und vertrieb das Gefühl damit fürs Erste. Er wollte sich gerade weiter umsehen, als ein junger Mensch in die Kneipe kam. Er war gut aussehend, hoch gewachsen und kräftig, und zog sofort Rafaels Aufmerksamkeit auf sich.
Seine Kleidung zeichnete ihn als Bürgerlichen mit ausreichend Geld aus. Er trug einen Jägerbart, rund um den Mund, der wie sein kurzes Haupthaar Kastanienbraun war. Seine Augen konnte Rafael nur schlecht erkennen, mutmaßte hier aber ebenfalls braun. Sie waren wachsam, und begannen sofort den Raum in Augenschein zu nehmen.
Die Statur ließ einen Handwerker erahnen, Schmied oder Tischler vielleicht, doch sein Säbel, der in einer aufwendig verzierten Scheide an seiner linken Seite hing, gab ihm den Anschein eines Seeoffiziers. Die Züge schienen noch Jung und Unerfahren, nicht so Wettergegerbt wie man es von alten Seebären erwartete.
Rafael überlegte, was dieser junge Mann, der die Zwanzig bestenfalls knapp überschritten hatte, wohl tatsächlich trieb, als dieser ihn mit den Augen fixierte. Unwillkürlich zuckte Rafael zusammen.
Die Sorgen, die der flüchtige Sklave sich zu machen begann wurden größer, als der Schönling mit großen Schritten den Raum durchquerte, und dabei direkt auf ihn zukam. Fest hielt er seine Augen auf Rafael gerichtet.
Kurz davor in Panik zu verfallen, versuchte Rafael dem Blick stand zu halten, und sich nichts anmerken zu lassen. Kalamnar bemerkte offensichtlich die Anspannung, und wurde selbst unruhig. Inzwischen war sich der junge Halbork sicher, dass er es mit einem Kopfgeldjäger zu tun hatte, der hinter ihm her war. Fest hielt er den leeren Bierkrug umklammert, auf den Angriff des Mannes wartend, und dabei insgeheim hoffend das seine Kraft ausreichen würde um diesem Schlammassel lebend zu entkommen.
Endlich, nach endlosen Sekunden, stand der junge Kerl vor ihm. Seine Augen waren tatsächlich braun, und besonders warm und freundlich. Vollkommen unpassend, wie Rafael fand. Der kräftige Körperbau wirkte aus dieser Nähe durchaus beeindruckend, auch wenn er immer noch ein Stück schmaler war als der flüchtige Halbork selbst. Der Säbel zu seiner Linken war reich verziert, mit kleinen Perlen hauptsächlich, und Rafael erwartete nun jeden Augenblick eine Hand die sich auf den Griff zu bewegen würde, um ihm mit der Schneide den Kopf abzutrennen. Doch der junge Mann lächelte nur.
„Guten Abend. Jemanden wie Euch habe ich gesucht. Darf ich mich setzen?“, die Stimme war tief, aber so warm und freundlich, wie Rafael es nur von Maria kannte.
Rafael war überrascht, aber nicht so naiv dies nicht als geschickte Finte auszulegen. Er sagte gar nichts, was der Mensch offensichtlich als ein „Ja“ interpretierte, denn er zog einen Stuhl zu sich, und ließ sich darauf nieder. Anschließend wendete er sich in Richtung Tresen und rief mit kräftiger Stimme:
„Hey da, bring zwei Bier her, für mich und meinen neuen Freund!“
 



 
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