Helene Persak
Mitglied
Mit einem kratzenden Geräusch schlittert der Stuhl zurück und Gabriallas Kopf fährt herum. Weg von der Glaswand und in den Raum hinein, während sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannt.
Zwei Herzschläge lang steckt sie hier fest. Von ihrem Körper, der in Zyklen des Trainings geprägt wurde, zur Flucht gedrängt. Von ihrem Instinkt, einem Teil von ihr, gegen den sie schon immer kämpft, zum Bleiben gezwungen. Gefangen zwischen der Glaswand, dem Tor nach draußen und in die Freiheit, und der Tür in den Flur, versucht jede der Seiten zu gewinnen. Erst beim dritten Herzschlag erkennt sie, wer vor ihr steht und der Kampf ist beendet.
„Gabrialla?“ Michelles besänftigende Stimme dringt durch ihre rasenden Gedanken.
Michelle. Es ist nur Michelle, also beruhige dich wieder.
„Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Gabrialla?“, seufzt Michelle und schüttelt tadelnd ihren Kopf, „Ich hab dich gefragt, ob du mit uns gehen willst!“ Entferntes Kichern lenkt ihre Aufmerksamkeit zu den anderen drei, die hinter Michelle an der Tür warten.
Gabriallas Mund verzieht sich verärgert.
Immer lachen sie. Sie selber hätten genau so gehandelt. Nun gut, sie wären gleich geflohen und hätte nicht gegen die Versuchung ankämpfen müssen, das weis sie. Jeder Körper wird täglich für die Flucht trainiert, denn es ist die Einzige Möglichkeit zu überleben. Sie amüsieren sich nur, weil ich mit meinen Gedanken wieder einmal nicht bei der Aufgabe war. Dennoch fragt sie sich: Wann werde ich es begreifen? Wann werde ich es schaffen die Versuchung abzulegen?
Gabrialla runzelt ihre Stirn, als sie die anderen ausblendet und versucht sich an Michelles Frage zu erinnern.
Seit wann steht sie schon hier? Hat sie schon viel gesagt? Was könnte sie wollen? Es ist so schwierig. Konzentrier dich Gabrialla, das ist deine Freundin. Du willst sie nicht verlieren.
Warum kann ich nicht schon fertig sein und in den Gärten? Schon beginnen ihre Gedanken wieder abzuschweifen. Wie kann ich in Gedanken dort sein, wenn ich meine Aufgabe hier nicht fertig bekomme? Schimpft sie sich. Ich muss mich besser konzentrieren!
Frustriert, aber entschlossen befreit sie sich von der Ablenkung, richtet ihre Aufmerksamkeit auf ihrer Freundin und blickt sie fragend an.
Was könnte sie mich gefragt haben?
Diese seufzt merklich übertrieben, mustert sie tadelnd und wirft einen schnellen Blick, über ihre Schulter, zu der Gruppe.
„Oh, Gabrialla“, ein belustigter Unterton besänftigt ihren vormals tadelnden Tonfall, als sie sich noch einmal ganz zu ihr herumdreht, „wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?“ Das unterdrückte Grinsen in ihrem Gesicht verdrängt nun jeden Tadel und lässt sie wieder zu ihrer besten Freundin werden.
„Sag nichts“, sie deutet ihr zu schweigen, als Gabrialla antworten will, „ich weiß es schon.“ Wie auf ein stummes Kommando erklingt ihre und die Stimmen der anderen: „Bei den Gärten.“ Während ihre Freunde lachen, sieht Michelle sie mit diesem offenen und freundlichen Lächeln an, der es Gabrialla unmöglich macht böse, auf nur einen von ihnen zu sein.
„Ich habe dich gefragt, ob du mit uns spielen und später noch schwimmen kommst?“, hilft ihr Michelle weiter.
Dem ersten Impuls nach will Gabrialla zusagen, doch dann wirft sie einen Blick auf das leere Papier, das vor ihr liegt und sie höhnisch anzugrinsen scheint. Ihr Gesicht verfinstert sich, als ihr die Aufgabe wieder einfällt: wichtige Dinge der Kindererziehung.
Ich hab noch kein Wort geschrieben. Bestätigt es nur, was sie schon weis. Wie soll ich jemals fertig werden, wenn ich nicht einmal anfange? Ich würde viel lieber mit ihnen gehen, als auch nur ein weiteres Wort zu diesem Thema zu schreiben. Doch, ich kann nicht weg, bevor ich das nicht erledigt habe. Ist sie sich bewusst. Jede weitere Strafe ist ein weiterer Grund für sie gegen meine Freiheit zu stimmen.
Schuldbewusst nach Worten ringend, versucht sie, Michelle ein freundliches Lächeln zu schenken. Doch bevor sie anfängt zu sprechen, erkennt sie, dass ihre Freundin die Antwort schon weis.
„Es tut mir leid Michelle,“ seufzt sie entschuldigend, „ich kann nicht. Ich hab einfach so viel zu tun.“ Michelles Lächeln verblasst nicht wie befürchtet, sondern wird nur belustigter, als sie weiter spricht. „Ich muss das hier fertig schreiben und dann noch in den Garten. Ich habe ihn über den Freientag zu sehr vernachlässigt. Wenn ich ihn heute nicht herrichte, bekomme ich ärger.“
„Wer das glaubt.“ Michelle zwinkert ihr verschwörerisch zu „Du bist fast öfter in den Gärten als die Ländler,“ neckt sie. „Man könnte meinen, du seist erwachsen und kein Lehrling mehr“. Ihr Lächeln wird schwächer, als sie sich zu ihr hinab beugt und mit leiser Stimme warnt: „Alla es bleiben uns nur noch wenige Nächte. Bald sind wir erwachsen und wer weiß, ob wir uns dann alle zusammentreffen können. Wenn du weiter träumst, wirst du die wenige Zeit verträumen.“ Sie spricht es nicht aus, doch jeder weiß es: Wer weiß, wer von ihnen nach dem Abschluss, noch hier sein wird? Jeder von ihnen könnte geholt, geerntet werden, doch keiner denkt daran, denn jeder kennt und fürchtet diese Möglichkeit.
Ein Schauer der Angst lässt Gabriallas Muskeln erzittern. Angst, aufgrund der Erinnerung an die Geschichten, die ihnen seit Beginn erzählt werden. Doch geht die Angst nicht tiefgenug, um ständig bei ihr zu sein und ihr Handeln zu bestimmen, wie bei den anderen.
Instinktiv spannen sich ihre Muskeln an, um den Schauer zu stoppen.
„Ich weiß“, seufzt sie zustimmend, „ich bin ja auch gleich fertig.“ Michelle hat Recht, überlegt sie. Ich bin mit meinen Gedanken meistens bei den Gärten. Warum nur? Ich mag meine Freunde. Versichert sie sich selber. Ich bin gerne mit ihnen zusammen. Warum schweifen meine Gedanken dann immer ab?, will sie von sich wissen. Doch weis sie auch dieses Mal keine Antwort. Sicher, wenn ich eine so langweilige Hausarbeit wie gerade machen muss, wer würde da nicht abschweifen? Versucht sie, ihre Gedankengänge zu rechtfertigen. Doch weiß sie selber, dass dies alleine nicht der Grund ist. Meine Freunde sind nicht langweilig. Sie sind immer für mich da. Sie verstehen mich und wenn nicht, dann lassen sie mich nicht fallen, wie andere. Sie haben es verdient, dass ich ihnen meine volle Aufmerksamkeit gebe und nicht von der Freiheit träume.
Entschlossen setzt sie sich aufrecht hin und straft ihre Schultern „Morgen, ich verspreche es. Morgen werde ich meine Aufgaben rechtzeitig erledigt haben.“ Verspricht sie.
„Gut,“ lenkt Michelle ein. „Dann sehen wir uns heute Abend im Schlafraum. Denk an die Sperrstunde" ermahnt sie, "du hast nicht mehr viel Zeit.“
„Und", mahnend lehnt sich Michelle zu ihr hinunter, „pass auf dich auf, Alla. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, die Jäger sind nie weit.“ Zitiert sie einen der Sprüche, die die Lehrer und Erzieher so gerne sagen, um die Lehrlinge zum gehorsam zu bringen.
Dieser Spruch macht mir schon lange keine Angst mehr. Denkt sich Gabrialla, wohl wissend, dass dies die Erzieher nicht gerne hören. Sie würden nur noch mehr versuchen mich an die anderen anzupassen. Sie verstehen nicht, dass ich anders bin. Und die, die es offensichtlich tun, scheinen es nicht wissen zu wollen. Außerdem würde es Michelle nur noch mehr verängstigen. Sie macht sich so schon, zu viel sorgen, wenn ich draußen, in den Gärten bin. Ich weiß gar nicht, ob sie je außerhalb der inneren Gebäude war. Sie ist so verängstigt, von dem, was die Lehrer und Erzieher uns beibringen. Sie kann einfach nicht verstehen, dass ich noch nie einen Wächter oder Jäger gesehen habe. Wird sie sich jemals trauen rauszugehen? Wird einer meiner Freunde es je wagen? Doch schnell, um nicht weiter in ihren Gedanken zu versinken, schiebt sie diese von sich und richtet ihre Konzentration wieder auf ihre Freunde.
Um Michelle zu beruhigen, versucht sie, deren furchtsamen Gesichtsausdruck widerzuspiegeln. Diese mustert sie prüfend, als würde sie ihre Gedanken hören. Ihr Blick wird beschwörend, als wolle sie noch etwas sagen, doch dann stößt sie sich von Gabriallas Tisch ab. In einer fließenden, bezaubernd weiblichen Bewegung, genau wie sie ihnen gelehrt wird, dreht Michelle sich herum und lässt Gabrialla alleine.
An der Tür angekommen, winkt sie ihr noch einmal zu, bevor sie sich den, immer noch kichernden Freunden anschließt.
„Ja, bis zum Schlafraum“, ruft Gabrialla ihr hektisch nach. Verwirrt, ob das jetzt noch richtig war oder ob sie es hätte bleiben lassen sollen, beobachtet sie Michelle, Marie und Sven. Wie diese sich winkend von ihr abwenden und den Lehrraum verlassen. Traurig erwidert sie ihr winken. Warum bin ich nur so anders? Michelle weiß wie man sich benimmt, sie scheint immer zu wissen, wann man was sagen muss und wann nicht. Bevor mir eingefallen ist, dass ich was sagen sollte, ist es schon zu spät. Warum kommt mir das ganze nur so seltsam vor? So unnatürlich!
Als sie ihre Freunde nicht mehr sehen kann, lässt sie ihren Blick über die anderen Stühle und Tische wandern. Sie ist die Letzte. Wieder einmal.
„Warum? Warum kann ich mich einfach nicht konzentrieren?“ Schimpft sie den leeren Raum. Doch entschlossen ihr Versprechen einzuhalten schiebt sie störende Gedanken beiseite und wendet ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu.
Und sofort schwindet ihre Entschlossenheit. Wer braucht schon schreiben? Wir sind so kurz vor den Prüfungen, da ist es doch nicht mehr wichtig, ob ich schön schreibe oder nicht. Verärgert erinnert sie sich an den Vorfall, von vor wenigen Zehntstrichen, als ihr die Lehrerin gesagt hat, dass sie, noch hier bleiben muss, um eine Arbeit zu schreiben. „Damit du deine Schrift verbesserst.“ Was bringt das jetzt noch? Und warum muss ich etwas über Kindererziehung lernen? Ich will Ländlerin werden und nicht in einer Schreibkammer oder der Kinderstätte enden. Ich will draußen sein, in der Freiheit. Mir ist egal, wenn sie sagen, dass es zu gefährlich ist, ich will nicht in irgendwelchen Räumen eingeschlossen sein. Ich will die Sumza spüren, die Welt um mich herum sehen und fühlen. Nie werde ich wohl verstehen, warum die anderen lieber innerhalb der inneren Gebäude sind. Was bringt mir die versprochene Sicherheit, wenn ich mich eingesperrt fühle? Wie sicher bin ich innerhalb der Gebäude, wenn immer wieder Menschen verschwinden? Mit steigendem Widerwillen und mehrfacher Ermahnung, schafft sie es schließlich doch mit der Arbeit zu beginnen.
Als sie endlich von ihrem Platz aufstehen und den Raum verlassen kann, liegt der Flur verlassen vor ihr.
Es ist wirklich ärgerlich. Ich wüste so viele Dinge mit meiner Zeit anzufangen und dennoch sitze ich den ganzen Tag nur im Lehrraum, um nutzlose Dinge zu lernen. Ein Blick in die anderen Räume zeigt ihr, dass sie Widereinmal die Letzte ist. Nur ganz leise hört sie in der Ferne die jungen Lehrlinge, wie sie in den unter ihr liegendem Wohnbereich Lärm verbreiten. Lauschend bleibt sie stehen.
Kommen die jetzt hoch? Ein Schauer des Unbehagens überzieht ihre Unterarme und sie entscheidet: Schnell, raus hier, bevor diese kleinen Bälger auftauchen. Als sie die Tür nach draußen erreicht und die warme Luft ihre Lungen erfüllt fällt die Anspannung des Tages von ihr ab und sie kann leichter atmen. Aufgeregt macht sie sich auf den Weg zu den Gärten.
Zumindest ist es nicht mehr lange hin bis zum Ende. Bald ist es vorbei mit dem Lernen und ich kann meine Zeit mit Sinnvollerem verbringen, ist sie sich sicher.
Als sie die Letzten, der inneren Häuser, und damit auch die Sicherheit der Farm, hinter sich lässt, werden ihre Schritte instinktiv schneller.
Bald schon ist sie in einem angenehmen Lauf verfallen und eilt leichtfüßig den breiten, von Erntewägen geformten Weg, entlang. Eilig führen sie ihre Schritte an großen Weiden vorbei, auf den die Tiere grasen, und scheinen immer schneller zu werden, je kleiner die Gebäude werden. Mit jedem Bach, den sie überquert, werden die Geräusche der Menschen, die lieber innerhalb der Grenzen bleiben, leiser und fremder. Jedes Wäldchen, das sie durchquert, verdeckt mehr und mehr den Blick auf diese Gebäude, die sie nur einsperren und in Regeln drängen, die sie nicht begreift. Noch bevor sie über die letzte Brücke geht und ihren Garten, den ersten auf ihrem Weg, erreicht hat, scheint sie in eine andere Welt eingetaucht zu sein.
Wie immer, ohne sich bei dem zuständigen Ländler anzumelden, greift sie sich das Werkzeug, das vor der Hütte steht. Irgendein Ländler oder Strafarbeiter wird es hingestellt haben, wie so oft, und erspart Gabrialla das Warten. Zielstrebig begibt sie sich in den geschützten Garten und zu ihrem Bereich.
Sobald sie auf dem Feld ist, umgibt sie die Sicherheit des Gartens. Es ist nur eine vage Sicherheit und doch mehr als das Fehlen jedes Sicherheitszuspruches, auf dem Weg hierher. Die Sicherheit steigt auch nicht dadurch, dass dieser im ersten Kreis liegt. Entgegen dazu steigt bei Gabrialla, alleine dadurch, dass die Tierweiden zwischen ihnen liegen, das Gefühl der Freiheit.
Sollen sie ruhig versuchen mich nahe bei sich zu haben. Wenn ich ausgelernt habe, ist es damit vorbei. Ist sie überzeugt. Die Gärten. Ruhe und Frieden. Genüsslich zieht sie die Luft, die hier so anders riecht, nach Freiheit, in sich. Keiner, der mich herumkommandiert. Beschwingt eilt sie an den ersten Reihen vorbei, um dann in ihre ab zu biegen. Keiner, der mich zu Regeln versucht. Beide Arme von sich gestreckt, streift sie über die Pflanzen, als sie den ausgetretenen Weg entlang eilt. Kein Zwang sich so zu benehmen, dass ich nicht auffalle. Ihr Blick schweift in die Ferne. Hier muss ich nicht aufpassen, dass ich jemanden missfalle. Gleitet, über die noch mehrere Reihen entfernten Büsche, die an der Grenze des Gartens stehen, hinweg zu den Hügeln und Bergen. Keiner wird mich strafen, weil ich mich nicht wie ein Mädchen benehme oder nicht nett genug bin. Hier kann ich so viel ich sein, wie sonst nirgends. Immer mehr entspannt sie sich, während die langsam kälter werdende Luft in sie strömt. Ich mag diese Zeit des Zyklus. Alles ist so grün und steht in voller Frucht. Man kann fast nicht glauben, das wir in nur zwei Monden eingesperrt werden. Betrübt erinnert sie sich an die dunklen Tage und ihr Herz zieht sich zusammen. Im tiefen Winter, wenn den Lehrlingen nicht erlaubt ist, die Lehranstalt zu verlassen und alle anderen sich in ihren Wohngebäuden verstecken, sobald die Sumza untergeht. Wie froh werde ich sein, dass diese Zeit vorbei ist und ich den inneren Gebäuden endgültig entfliehen kann. Ihr Blick sucht die Häuser, die so weit weg in den Bergen liegen. Seufzend widersteht sie dem Drang, sich sofort auf den Weg zu machen. Morgen werden wir noch einmal die wichtigsten Sachen durchgehen und Zeit bekommen unsere Schwächen zu verbessern. Das wird auch, für einige Tage, das letzte Mal sein, dass ich hierher kommen kann. Denn, am nächsten Tag beginnen die Prüfungen.
Angekommen in ihrem Bereich des Gartens, abgegrenzt durch zwei rosa farbene Bänder, beginnt sie mit ihrer Arbeit. Rosa. Natürlich ist es Rosa, dass sie mir gegeben haben. War ihr Gedanke, als sie es zum ersten Mal gesehen hat. Und auch jetzt nagt das Zeichen, dass sie das einzige Mädchen hier ist, an ihr. Damit ich auch ja nie vergesse, was ich bin und wohin ich gehöre. Zu den Mädchen. Zu den Arbeiten einer Frau und nicht in die Gärten.
Was kann ich dafür, dass ich diese Sehnsucht nicht habe? Mich sehnt es nach der Freiheit. Ich muss draußen sein.
Selten ist um diese Zeit noch jemand hier, weswegen sie es nicht für nötig hält, sich zu vergewissern, alleine zu sein. Es ist der Bereich der Strafarbeiter, dem jeder gerne Entfliehen will. Jeder außer sie. Aber so ist es auch gewollt. Es soll den Strafarbeitern zeigen was sie verlieren, wenn sie gegen Regeln verstoßen. Hier werden nur robuste Pflanzen angebaut, die den meisten Widrigkeiten widerstehen.
Mit mehr Kraft als benötigt, reist sie an den ungewollten Pflanzen, die dieser zu wenig entgegensetzten können.
Nach den Freientagen werden wir die Zeit vor Mittentag damit verbringen Prüfungen zu schreiben. Michelle hat mich auch schon davor gewarnt, danach in die Gärten abzuhauen. Ein Lächeln erhält ihr betrübtes Gesicht, als ihr wieder einfällt, wie innig diese ihr gesagt hat, dass sie Gabrialla danach unbedingt braucht. Das kann ich ihr nicht verweigern. Michelle ist meine engste Freundin, muss sie wehmütig einsehen.
Auch eine Nacht nach den Prüfungen werde ich hier nicht viel machen können. Zwar haben wir einen Tag frei vom Unterricht, aber ich werde nur kurz herkommen können. Aufsteigender Frust mehrt die Kraft, mit der sie an den unerwünschten Pflanzen reist und Gabrialla fällt fast rücklings zu Boden. Gerade, bevor ihre, Hand die Erde hinter ihr berührt, schafft sie es, ihre Balance erneut zu erreichen. Wir brauchen diese Zeit, den nach der darauffolgenden Nacht ist die Auswahl.
Erst die nächsten drei Tage, den Freientag und die zwei Tage davor, werde ich wieder ausreichend Zeit haben herzukommen. Diese Tage sind frei, den ihn ihnen wird unser Platz in der Gesellschaft beschlossen. Es steht uns frei, diese nach unseren Wünschen zu gestalten. Michelle hat mir nicht gesagt, dass sie schon etwas vorhat. Vor Freude, ob der Tage, die dann kommen, greift sie nach der Hacke und beginnt die Erde zu lockern. Vielleicht schaffe ich es, und ihr Herz hüpft bei diesem Gedanken voller Vorfreude, mehrere Striche hier draußen bleiben zu dürfen.
Dann müssen noch 10 Nächte vergehen, an deren Tagen wir auf unsere Arbeit vorbereitet werden. Erst dann, also nach jetzt 20 Nächten, am Freientag, werden wir zu den Erwachsenen gehören.
Der Schweiß beginnt ihr über die Stirn, den Hals und ihren Rücken zu laufen, so intensiv ist sie in ihre Arbeit versunken. Doch das macht ihr nichts. Im Gegenteil, Gabrialla gefällt diese Art der Arbeit, in der sie ihren Körper erst wirklich fühlen und ihn ausreizen kann.
Dann beginnt für uns die Freiheit. Auch, wenn meine Freunde ihre Freiheit innerhalb der inneren Gebäude suchen, ich finde meine immer hier draußen. Daran hat sie nicht ein einziges Mal gezweifelt, seit sie das erste Mal hier war.
Diesen Winter wird es mir zwar nicht erlaubt, in die Gärten zu gehen, aber innerhalb der inneren Gebäude darf ich mich frei bewegen. Wie schön wird das sein, nicht mehr hinter dicken Mauern eingesperrt zu sein.
Verschwitzt, lehnt sich Gabrialla zurück und wischt den Schweiß von der Stirn, während sie sich umblickt.
Es gibt noch so viel zu tun bis zur Ernte. So viel, was noch geschehen wird. Innerhalb der nächsten 21 Nächten werden wir unserer Arbeit zugeteilt. Ich hoffe nur, Sie haben endlich akzeptiert, dass ich nirgendwo sonst hin will, als in die Gärten. Angst schlingt sich um ihr Herz, lässt es verkrampfen und mit harten Schlägen gegen die eisige Umarmung ankämpfen, bevor sie sich davon befreien kann. Nein, ich werde es einfach nicht zulassen, dass sie mich einer anderen Arbeit zuordnen. Ich werde ihnen nicht erlauben, mich weiterhin einzusperren. Was ist hier schon gefährlicher als bei den Häusern? Schnaubt sie verächtlich, wir sind hier bei den inneren und nicht bei den äußeren Gebäuden. Bis der Winter nahe und die Felder abgeerntet sind, droht hier keine Gefahr. Davon ist sie überzeugt.
Seit ich hier arbeite, hab ich noch keinen Jäger gesehen. Nicht einmal die Knurlesse haben sich gemeldet.
Wie immer wenn sie im Garten ist, frei und ungestört ihren Gedanken nachgehen kann, bleibt es nicht bei ihrem Bereich. Immer weiter dringt sie in die, ihren Garten umgebenden Bereiche ein.
Warum ist dieser Garten nur so ungepflegt? Wo ist denn der Ländler? Mein Garten werde ich sicher nicht so verkommen lassen. Meinen Garten! Sehnsüchtig denkt sie an die Zeit, wenn auch sie endlich eine Ländlerin sein wird. Das Glück, das sie durch die Vorstellung durchströmt, lässt sie ihre Hacke nur noch beschwingter in die Erde sausen.
Was ich wohl werde pflanzen dürfen? Sicher, die Anfänger bekommen nur die einfachen robusten Pflanzen, doch ich arbeite nun schon mehrere Zyklen hier und habe mich sicher schon für Besseres bewährt.
Obwohl sie erst 17 Sumarzeiten zählt, ist sie länger hier als manch andere, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Am Anfang war sie, wie viele andere, auch als Strafarbeiterin hier, doch schon bald bemerkten auch ihre Erzieher, wie gut es für sie war.
Die Einzigen, die noch überzeugt werden mussten, waren der Lehranstaltsleiter und die Hausmutter.
Gabrialla war nie ruhig und friedlich, doch die nächsten Tage, so erinnert sie sich jetzt belustigt, mussten schwer für die Erzieher und Lehrer gewesen sein. Wie unbändig ich war, als es an der Zeit war, das ich gehen durfte. Wie sie darauf geachtet haben, dass ich erst mein Essen zu mir nehme und meine anderen Aufgaben erledigt habe. Egal, wohin ich mich gedreht habe, irgendwo war immer eine Erzieherin, die mich kontrolliert hat. Aber dann, nach einer ganzen Nacht in der Ruhekammer, der schlimmsten in ihrem Leben, und einigen Eingeständnissen, durfte sie in die Gärten. Jetzt sehe ich ein, dass ich es wohl etwas übertrieben habe. Vielleicht wäre es besser gewesen das anders anzugehen. Aber, überlegt sie dann doch, ob ich auf anderem Wege wirklich hier her gekommen wäre? Oder, hätten sie eine andere Aufgabe für mich gefunden? Bei den Holzarbeitern? Bei den Tierhütern? Sie versucht zu ergründen, ob sie mit einer dieser Aufgaben ebenso glücklich wäre. Nein, beschließt sie schließlich, hier kann ich so hart auf den Boden einschlagen, ohne dass er zerbricht. Hier kann ich mich bewegen und muss nicht dummen Tieren beim Essen zusehen. Auch, wenn ich jetzt in der Lehranstalt mehr kontrolliert werde, als die anderen Lehrlinge, dessen ist sie sich sicher, habe ich hier draußen so unendlich mehr Freiheit als sie.
Gabrialla fallen viele Dinge ein, die sich seit dieser Zeit für sie geändert haben.
Im Training, der von jedem auf der Farm, jeden Morgen durchgeführt wird, achtet man seit dem noch mehr darauf, dass sie die „weiblichen“ Muskeln trainiert und sich leicht und flüssig bewegt. „Nicht so plump und grob wie die Männer!“, muss sie, zu ihrer übermäßigen Frustration, nicht selten hören.
Jedes Anzeichen an ihr, das sie mehr wie ein Junge wirken lässt, wird sofort vernichtet. Auch verbietet man ihr, zu ihrem Bedauern, sich die Haare kurz zu schneiden, und es wäre so praktisch hier draußen. Diese langen Haare lösen sich immer wieder aus der Frisur und hängen mir im Gesicht herum. Stattdessen muss sie diese, wie bei den anderen Mädchen und Frauen bis zu ihren Hüften wachsen lassen und jeden Tag pflegen. Wenn sie in die Gärten geht, wird streng darauf geachtet, dass sie robuste Kleidung träg, die ihre ach so zarte weibliche Haut nicht beschädigt.
So kommt es, dass sie die Einzige in den Gärten, war und ist, die immer in langen Hosen und Oberteilen, so wie mit Handschützern herumläuft. In der warmen Zeit ist das wirklich nicht schön. Jetzt, wo die kalte Zeit kommt, ist es angenehm.
„Hallo Gabrialla.“, überrascht zuckt die Angesprochene zurück und fällt, ehe sie sich fangen kann, vorn über auf ihre Knie. Noch bevor jedoch ihr Knie den Boden berührt, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Ohne auf einen bewussten Gedanken zu warten, ist ihr Körper bereit zur Flucht.
Doch etwas anderes ist stärker. Etwas, was im vergangenen Zyklus immer stärker geworden ist und nicht nur Gabrialla ängstigt. Zu schnell, zu kräftig, schlägt ihr Herz, als es in ihr erwacht und die Kontrolle übernimmt.
In einer fließenden Bewegung sinkt sie wieder auf ihre Füße zurück. Die Hände fest in den Boden drückend, schwingt sie ihre Beine nach rechts. Durch den Schwung getragen, hebt sich ihre Rechte ebenfalls. Nur noch auf ihre Linken Hand stehend, schwingen ihre Beine und damit auch ihr Oberkörper, nach hinten. Dem Angreifer entgegen. Doch alles, was sie trifft, ist Luft.
Ihr Atem geht stoßweise, das Blut rauscht ihr in den Ohren, als sie unsanft landet. Doch es ist noch nicht vorbei. Geschmeidig zieht sie sich in die Hocke und lässt, zum nächsten Angriff bereit, ihren Blick schweifen.
Schwer atmend, vom Rauschen des Blutes beinnahe übertönt, überhört sie fast das Lachen hinter ihr.
„Dieses Mal hättest du mich fast getroffen.“, erklingt es aus der gleichen Richtung.
Uff. Was war das?
Erst, als sie die Stimme erkennt, wird sich Gabrialla der Situation bewusst.
„Gideon.“, frustriert und mit finsterem Blick dreht sie sich herum, gleichzeitig fällt die Anspannung von ihr ab.
„Hallo Gabrialla.“, wiederholt dieser nur ungerührt.
„Du weißt, dass ich das nicht mag! Wie mich das verstört!“, beschwert sie sich. Sich dem Schutz des Fremden, so verängstigend es auch sein mag, beraubt, sucht sie Sicherheit in der Umarmung ihrer Arme. Als er das sieht, verblasst das fröhliche Lächeln des, für diesen Garten zuständigen Ländlers.
„Ja, ich weiß.“, entgegnet dieser, nun zerknirscht. „Ich wollte dich auch gar nicht erschrecken. Schau, ich bin nicht einmal leise an dich herangeschlichen,“ versucht er sich zu verteidigen. Doch bringt das ihre Unbeschwertheit nicht zurück. Seufzend hebt Gabrialla ihre Hand und bringt ihn so zum Schweigen.
Er hat ja recht, überlegt sie. Die Situation im Lehrraum deutlich vor sich. Ich weiß, dass ich mich oft so tief in meinen Gedanken befinde, dass ich nichts um mich herum mitbekomme. Gibt sie sich wieder einmal selbst die Schuld. Es vergeht ja kaum ein Tag, an dem mich nicht eine meiner Freundinnen zurückholt. Doch das eine, das gerade im Begriff ist, sich zurückzuziehen, widerspricht mit einem letzten Widerhall. Dennoch hat sie das Gefühl sich entschuldigen zu müssen.
„Ich war so in meinen Gedanken,“ versucht sie es ungeschickt. „Ich hab dich einfach nicht gehört. Es tut mir leid, Gideon. Ich wollte dir auch sicher nicht weh tun.“ Nervös, nicht sicher ob das richtig war, schafft sie es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Obwohl sie sich bewusst ist, dass sie es, den Regeln nach, müsste.
„Das weiß ich, Gabrialla.“, seufzt Gideon und bringt sie damit dazu, ihn direkt anzusehen. Die tief stehende Sumza erhellt sein fast weißes Haar, das gerade mal Fingerbreit kurz ist und quer von seinem Kopf absteht. Fasziniert von diesem Farbenspiel, driftet sie wieder in ihre Gedanken.
Einmal war es fast weizengelb. Früher. Doch jetzt ist es, im Laufe der Zyklen, immer weißer geworden. Ach, ich hätte auch gerne so kurze Haare. Diese sind viel vorteilhafter für den Garten, als meine langen. Als ihr bewusst wird, was sie tut, reist sie sich von dem Anblick los und richtet ihren Blick auf Gideons braune Augen. Es überfällt sie, wie so oft im letzten Zyklus, ein unangenehmes Gefühl, wenn sie jemanden direkt ansieht. Dennoch zwingt sie sich dazu, will dem Neuen, dem Fremden einfach nicht nachgeben.
Die Regeln, Gabrialla, denk an die Regeln. Das Neue ist nicht gut. Es entspricht nicht den Regeln!
Tiefe falten um seine Augen, lassen ihren Blick zu seinem lächelnden Mund abschweifen.
“Bist du es nicht auch müde", fährt Gideon fort, als hätte er ihr Abschweifen nicht bemerkt, „dich immer entschuldigen zu müssen?“ Es vergehen einige Atemzüge, bevor Gabrialla den Übergang von Wut, wegen seiner Belustigung über ihr gedankliches Abgleiten, zu Verwirrung schafft. Als sie versteht, dass Gideons Belustigung nicht von ihrem Fehltritt kommt, entspannt sie sich.
„Ja,“ bestätigt sie ihm, ihrer eigenen Reaktion beschämt, „es ist wirklich anstrengend, sich so oft entschuldigen zu müssen. Die Regeln sind teilweise wirklich erschöpfend," ergänzt sie, vor Erleichterung lachend. Nur hier, im Garten fühlt sie sich so unbeschwert, um lachen zu können. Dann jedoch blickt sie sich besorgt um. „Lass das nur keinen der Oberen hören. Du weißt, wie ungern sie es haben, wenn jemand sich über die Gemeinschaft und die Regeln beschwert.“ In ihr Lachen einstimmend, zuckt Gideon abwertend mit den Schultern.
„Was wollen sie schon machen? Ich habe nicht gegen die Regeln verstoßen. Ich lebe alleine, habe keine Kinder und keine Partnerin. Sie haben nichts, was sie mir nehmen könnten,“ meint er unbesorgt. Lässt seinen Blick jedoch über Gabrialla schweifen, bevor er sich schnell abwendet. Sein lachen ist nun gezwungener, was Gabrialla nur kurz bemerkt, den ihre Gedanken beschäftigen sich schon wieder mit etwas anderem.
Ja, da hat er recht. Wenn man erst einmal Erwachsen ist, sind die Regeln nicht mehr so streng, überlegt sie neidisch. Ab da können die Obersten nicht mehr genau kontrollieren, ob man sich an die Regeln hält. Wenn man dann auch noch einer Aufgabe zugeteilt ist, muss man schon etwas Schlimmes getan haben, um mehr befürchten zu müssen, als ein Gespräch. Außer bei Kindern, ist etwas Schlimmes sagen, noch nie bestraft worden. Soweit ich weiß. Kinder stehen unter strengerer Kontrolle. Kinder können .... Gabriallas Lachen erstirbt, als sie ihren nächsten Gedanken ergreift.
„Mich,“ begreift Gabrialla schockartig. Sofort verstimmt auch Gideons Lachen. Drückende Stille umgibt sie, während Gabrialla versteht, was das für ihre Aufgabe in der Gesellschaft bedeutet. Ich bin noch nicht Erwachsen. Ich bin noch keiner Aufgabe zugeteilt. Mich können sie noch wie ein Kind bestrafen.
Als hätte alles nur auf diese Erkenntnis gewartet, scheint ihre Umwelt wieder in Gang zu kommen.
Wie zur Warnung, so scheint es Gabrialla, hat sich ihre Wahrnehmung verstärkt. Das Rascheln der Pflanzen dringt unnatürlich laut zu ihr. Der Geruch der frisch umgegrabenen Erde ist zu intensiv.
„Sie können mir eine andere Aufgabe zuteilen. Ich bin noch nicht Erwachsen und noch keiner Aufgabe zugeteilt.“ Erschrocken schlägt sie die Hand vor ihrem Mund, als ihre Stimme zu laut erklingt. Panisch blickt sie sich um.
Ihre Augen schmerzen von der zu hellen Sonne, als sie die seltsam unscharfe Umgebung durchsucht. Ihr Kopf schwirrt, als sie sich bemüht, die Punkte in der Ferne, die sie vorher noch als Menschen erkennen konnte, nun zu sehen. Was ist nur mit meinen Augen los? Warum schmerzen meine Ohren so?
„Gut, keiner ist nahe genug, um uns zu hören.“ Erschrocken hüpft Gabrialla einen Schritt zurück, als sie Gideons Stimme vernimmt. Warum schreit er so? Ich stehe doch genau neben ihm. Als sie ihn bitten will leiser zu sein, bemerkt sie seinen seltsamen Blick und stockt. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie kräftig ihr Herz klopft. Oh nein! Als hätte es darauf gewartet, macht ihr Herz noch einen Sprung, um dann langsamer, fast unmerklich wieder in ihrer Brust weiter zu schlagen. Nervös lässt sie ihre Schultern kreisen, in dem Versuch die Anspannung endgültig loszuwerden. Zwei mal? In so kurzer Zeit? Es wird immer schlimmer. Oooh, ich werde immer seltsamer. Sich in sich zurückziehend - Gideons Blick ausweichend - lässt sie ihren Blick wieder über den Garten schweifen. Nichts ist zurückgeblieben, von der seltsamen Wahrnehmung. Alleine das bekannte Gefühl der Beklommenheit ist ihr geblieben und erinnert sie an ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Fremden in ihr.
Viel zu langsam, entspannen sich ihre Muskeln und lassen sie erschöpft zurück, während ihr Blick weiter über den Garten schweift.
Als ihr ausweichender Blick die Gartenhütte findet, fällt ihr auf: „Warum bist du eigentlich hier? Die Sumza steht noch weit über den Hügeln und die Sperrstunde ist doch noch nicht nahe.“ Kurz scheint es, als würde Gideon sich von ihr zurückziehen, Abstand zu ihr nehmen, doch dann strafft er seine Schultern.
„Ich habe mir den letzten Strich freigenommen", erklärt er ihr atemlos, „ich will dir etwas zeigen. Los, komm mit.“ Seine Hand zuckt nach oben, als wolle er nach ihr greifen, doch dann dreht er sich einfach nur um und deutet zum Ausgang.
Unbekümmert, dem seltsamen verhalten Gideons wenig Beachtung schenkend, zögert sie nicht einen Herzschlag lang. Aufgeregt, etwas neues, etwas unbekanntes zu Gesicht zu bekommen, sucht sie ihr Werkzeug zusammen und macht sich auf den Weg. Doch nur wenige Schritte später fällt ihr schon das Erste hinunter.
„Lass mich.“ Noch während sie versucht, die Anderen wieder sicher zu halten, hebt Gideon das Verlorene auf. „Nein, Gabrialla. Los, gib her.“ Schnell entzieht Gideon, die erbeutete Harke, ihren greifenden Händen und schnappt sich noch eine Schaufel, bevor diese ihr ebenfalls aus der Hand fällt. Nun, nur noch mit ihren Handschützern, einer kleinen Schaufel mit langem Blatt und der Kanne in ihren Händen, gelingt es Gabrialla, diese wieder sicher zu halten. Dankbar lächelt sie ihn an und wartet, dass er weiter geht.
„Danke Gideon.“ Erst einige Herzschläge, fast schon einen Zehntstrich später fällt ihr ein, sich zu bedanken. Wie aus einer Starre entrissen, kommt erst jetzt Bewegung in Gideon.
„Äh, ja, gerne, Gabrialla.“ Stammelt dieser, während er sich umdreht und den Weg wieder aufnimmt.
Ich habe es schon wieder vergessen. Schimpft sie sich erneut. Werde ich froh sein, wenn ich nicht mehr so viel mit Menschen zu tun haben muss. Wenn ich meinen eigenen Garten habe und alleine Arbeiten darf. Warum muss es so anstrengend sein? Zumindest für mich. Für alle anderen scheint es ganz normal zu sein. Energisch reist sie sich von den trüben Gedanken los, die sie wieder in sich ziehen wollen und konzentriert sich darauf Gideon zu folgen.
„Weißt du“, meint Gabrialla fröhlich„ noch 21 Nächte. Dann ist die Schule vorbei.“
„Und?“, will Gideon, wie nebensächlich wissen. Doch Gabrialla ist sich bewusst, dass er genau weiß, was dann ist.
Er will mich nur ärgern. Ihre Schulter trifft spielerisch die Seine und lässt ihn einen schnellen Schritt auf die Seite machen. Ich denke diese Neckereien könnten mir später sogar fehlen.
„Hey.“ Neckt er sie. Bleibt jedoch, vorsichtshalber, auf seinem neuen Weg und lässt zwei Pflanzstreifen zwischen ihnen. Gabrialla beschleicht das Gefühl, allein gelassen zu werden. Doch sie verdrängt es schnell wieder. Ein kurzer Blick in sein Gesicht bestätigt, was sie schon zu wissen meint: Das ist Gideon. Er liebt und braucht seine Freiheit, genauso wie ich die meine.
„Du weist genau, was dann ist.“, erwidert sie enthusiastisch. „Ich bekomme eine Arbeit zugeteilt.“
„Und du hoffst natürlich, in den Garten zu kommen!“
„Natürlich.“ In gespielten Entsetzten, sieht sie ihn an, doch sein Blick bleibt in die Ferne gerichtet. Verunsicherung keimt in ihr.
Weiß er etwas und will es mir nur nicht sagen? Oder, überlegt sie, darf er nicht? Angst zieht ihr Innerstes zusammen, als ein schrecklicher Gedanke über sie kommt. Nein, Gideon würde es mir sagen, wenn er wüsste, dass sie mich nicht in die Gärten lassen - Oder?
„Ich habe schon immer gesagt, ich möchte in die Gärten.“ Bestätigt sie ihm, mit brüchiger Stimme. „Immer wenn wir befragt wurden, hab ich es ihnen gesagt. Ich habe, seit ich das erste Mal hier war, nie wieder etwas anderes gewollt.“ Wegen seiner Verschlossenheit verunsichert, beobachtet sie ihn, versucht in seinem Gesicht zu lesen, ob es das ist, was er vor ihr verheimlicht. Doch, auch dieses Mal gelingt es ihr nicht. Angespannt geht sie weiter.
Als sie beim Gartenhaus angekommen sind, nimmt Gideon ihr, wie es seine Pflicht ist, wortlos das restliche Werkzeug ab und verschwindet im Gartenhaus. Nur Ländler dürfen in das Haus und so wartet sie ungeduldig auf seine Rückkehr.
„An was denkst du?“ Unbemerkt ist Gideon wieder hinter sie getreten. Nervös horcht sie in sich hinein.
Nichts. Erleichtert sie selbst zu sein, dreht sie sich zu ihm herum. Sie müsste nur ihre Hand heben, ihren Arm nicht einmal ausstrecken und schon würde sie ihn berühren.
Näher sind sie sich wohl noch nie gekommen. Fasziniert betrachtet sie ihn. Bemerkt, wie etwas in seinem Mundwinkel zuckt. Beobachtet, wie er, scheinbar nervös, seine Hand hebt, um seine Haare zurückzustreifen.
Tief atmet sie ein, um etwas zu sagen, und hat auf einmal das Bedürfnis zurückzuweichen. Ihre Beine zwingend, auf der Stelle stehenzubleiben, gelingt es ihr, lediglich ihren Kopf zu drehen und ihren Blick in die Ferne zu richten.
Gideon immer im Blick, antwortet sie: „Dass die Sumarzeit fast vorbei ist.“ Schweigend verharren nicht nur ihre Schritte mehrere Herzschläge. Die Sumza berührt schon fast den entfernten Hügel, während sich beide stumm betrachten. Die Sperrzeit ist jedoch noch fast einen Strich fern und so drängt sie nichts nachhause.
Schließlich ist es Gideon, der sich als Erster bewegt und auf den Weg zu den inneren Gebäuden zugeht. Neugierig folgt sie ihm. Nicht überrascht, dass er sich schnell an ihren leichten Lauf anpasst, entspannt sie sich wieder etwas.
Hoffentlich lohnt es sich. Es ist noch viel zu früh, um zurückzugehen, überlegt sie nun doch und ist überrascht, als er vom Weg abweicht. Hohe Bäume säumen den Weg an dieser Stelle. Auf der einen Seite scheinen sie weniger zu werden und Gabrialla meint, eine Weide dahinter erkennen zu können. Auf der Linken jedoch steigt das Gelände an, die Bäume scheinen sich dichter aneinanderzudrängen und das Licht zu verschlingen.
Hier ist doch nichts. Was will er mir hier zeigen? Bäume? Eine neue Pflanze?
Gideon beginnt den Hügel hochzusteigen und Gabrialla folgt ihm, trotz ihrer Zweifel und ohne zu Fragen. Sie kennt Gideon lange genug um sich sicher zu sein, dass es sich lohnen wird. Erst, als sie die Bäume hinter sich lässt und auf eine große, sich zu beiden Seiten ausbreitende freie Fläche kommt, bleibt Gabrialla verwirrt stehen.
„Das ist der Grenzwald“, erkennt sie sofort, „den dürfen wir nicht betreten.“ Gideon, der bei ihrem Aufschrei stehen geblieben ist, sieht sich nun, scheinbar das erste Mal, wirklich um.
Doch dann grinst er ihr zu und antwortet: „Keine Sorge, wir gehen nicht in den Wald. Komm.“, lockt er sie weiter. Dennoch, unsicher geworden, lässt Gabrialla ihn erst zwei Schritte rückwärtsgehen und sie zu sich winken, bevor sie ihrer Neugierde nachgibt und ihm folgt. „Wir folgen dem Wald nur", beruhigt er sie, als sie ihn wieder eingeholt hat, „schau, das ist wie ein breiter Weg, dem wir nachgehen.“ Und tatsächlich, als sich Gabrialla noch einmal umsieht, erkennt sie es auch.
Als hätte jemand den Wald verkürzt, um diesen Weg zu erzeugen. Kein Baum, kein Strauch, wächst auf dem, von Gras und anderem, kaum kniehohen Gewächs bedecktem Bereich. Aber, warum hier? Der andere Weg ist doch nur wenige Schritte rechts von uns und führt in die gleiche Richtung. Warum sollte man hier noch einen Weg erzeugen? Und, überlegt sie weiter, wohin führt er? Ihr Blick schweift noch einmal zu den Bäumen zurück, zum bekannten Weg, als ihr klar wird: Links von dem alten Weg gibt es keinen anderen, der zu den inneren Gebäuden führt. Sie bleibt erneut auf dem baumfreien Bereich hängen. Aber nicht in die Richtung, in die Gideon geht, sondern in die Andere.
„Als würde jemand dafür sorgen, dass hier keine Bäume wachsen.“ Überlegt sie laut. „Was, wenn es Absicht ist? Was, wenn so der Bereich gekennzeichnet ist, den wir nicht überschreiten dürfen?“ Langsam, steigert sich das Unbehagen und die nagenden Fragen, zu Furcht. Sorgfältig sieht sie sich um, sucht Warnungen, Anzeichen, die ihr sagen, dass sie schnell verschwinden soll.
„Ich glaube nicht,“ widerspricht ihr Gideon. „Ich bin nicht das erste Mal hier, Gabrialla. Noch nie ist hier jemand gewesen. Komm,„ lockt er sie ungeduldig, „dass Beste hast du noch nicht gesehen.“ Obwohl seine Worte ihre Furcht nicht vertreiben können, folgt Gabrialla ihm weiter.
Bald schon beginnt links und rechts von ihr, das Gelände anzusteigen. Scheint sie einzuhüllen, je weiter sie dem Weg in die Tiefe folgen.
Als hätte jemand einen Weg in den Boden gegraben. Gabrialla lässt sich auf ihre Knie sinken und sieht sich um. Ich kann gerade darüber sehen. Ihre Hand fährt über die bewachsene Wand, die leicht schräg von ihr weicht. Aber, das muss schon sehr alt sein, ob jemand noch davon weis?
„Was machst du da?“ Lachend kommt Gideon wieder zu ihr zurück. „Warum kniest du auf dem Boden?“ Beschämt, in dem Glauben, wieder etwas falsch gemacht zu haben, steht Gabrialla ruckartig auf.
„Ich wollte nur etwas schauen. Es war nichts Wichtiges,“ winkt sie ab und erstickt so die befürchteten Fragen. „Los,“ versucht sie, abzulenken, „ zeig mir, was hier so toll ist.“ Gideon sieht sie noch einen Herzschlag seltsam an, bevor er sich umdreht und den Weg weiter geht.
Nach etwa 20 Schritten bleibt er erneut stehen, dreht sich zu ihr herum und meint: „Es ist nicht mehr weit, komm.“ Kaum hat er das gesagt, verschwindet er auch schon und Gabrialla bleibt verdutzt zurück. Die Wände sind jetzt so hoch, dass sie gerade einmal das Gras darauf sehen kann, wenn sie sich streckt.
Was? Wo ist er hin? Da muss doch ... und richtig, als Gabrialla zu der Stelle kommt, sieht sie, das der Weg einen Knick macht. Gideon steht, einige Schritte vor ihr und winkt sie weiter, bevor er wieder verschwindet.
Was ist das für ein seltsamer Weg?, überlegt Gabrialla, wehrend sie ihm hinter her eilt. Wieso macht er diese Biegungen? Wobei .... - Verdutzt bleibt sie, einige Schritte vor dem Ort, an dem Gideon das zweite Mal verschwunden ist, stehen - ..., dieser Weg geht weiter. Langsamer als zuvor nähert sie sich der Abbiegung, ihren Blick auf die andere Seite gerichtet. Der Weg steigt wieder an. Aber, ist sie sich sicher, Gideon ist hier verschwunden. Als sie den Punkt erreicht, an dem dieser abgebogen ist, dreht sie sich in die Richtung und bleibt wie vor eine Mauer gelaufen stehen.
Das ist .... Unfähig das, was sie sieht, in Worte zu fassen, kann sie nur mit größer werdenden Augen betrachten, was sich ihr hier eröffnet.
„Und, was sagst du?“ Gideons Stimme erklingt neben ihr, doch Gabrialla hat nur Augen für das, was sie vor sich sieht.
„Die Steinwände!“ Dunkel ragen die Felswände, in einiger Entfernung, vor ihr auf. Aber, das kann nicht sein. Sie umgeben doch den See. Wie können sie hier sein, wo kein See ist. Oder, ziehen sie sich weiter, als ich bis jetzt gedacht habe? Ja, natürlich, sie sollen uns ja schützen. Sie müssen also größer sein, als ich gedacht habe. Nur langsam Schaft sie es, ihren Blick von der beeindruckenden Formation los zu reisen und sich in ihrer näheren Umgebung umzusehen.
Vor ihr, umgeben von der Ebene, auf der sie den Wald verlassen haben, öffnet sich ein Raum. Die Wände neigen sich, so wie im Gang, nach außen und sind mit Grün bedeckt. Doch der Bode nicht. Hier und da findet sich ein bewachsener Fleck, aber der Großteil ist von Kies, fast so fein wie der Sand am Strand, bedeckt. Vor sich, nahe am Eingang, erkennt sie eine Feuerstelle.
Es sieht aus, wie ein kleines Haus, in den Boden geschlagen. Nur eine Wand und das Dach fehlen.
„Sind das wirklich die Steinwände?“, will sie, von Gideon bestätigt wissen.
„Ja, das sind sie!“, bestätigt ihr dieser begeistert. „Und, was sagst du?“, wieder holt er so gleich seine Frage. „Aber, warte“, stoppt er sie, bevor sie den Mund öffnen kann, „es wird noch besser. Komm weiter.“ Immer noch überwältigt von dem Anblick, beobachtet sie Gideon, wie dieser sich auf den Boden gleiten lässt und langsam auf die fehlende Wand zu schiebt. Seinem aufgeregtem Deuten folgend, macht Gabrialla es ihm nach. Ihre Neugierde ist so groß, dass es ihr schwerfällt, sich flach auf dem Boden fortzubewegen. Viel lieber würde sie hinlaufen und sehen, was sich dort versteckt.
Doch, je näher sie der Öffnung kommen, um so langsamer wird Gabrialla.
Was ist das nur? Die Steinwände gehen immer weiter. Das sieht einfach falsch aus. Wo ist der Boden?
Gideon kriecht immer weiter, als wäre es ganz normal für ihn, doch Gabrialla folgt ihm immer zögerlicher. Erst, als seine Hand schon ins Nichts fassen kann, hält Gideon an und blickt zu ihr zurück.
„Los komm her, das musst du dir ansehen.“ Er scheint so aufgeregt, so begeistert, dass sie ihr Zögern abstreift und die kurze Strecke zwischen ihnen schnell zurücklegt.
Bei ihm angekommen, folgt Gabriallas Blick den Steinwänden in die Tiefe.
Ihr Atem stockt, als sie den Boden unter sich erblickt.
Er ist so weit unten, wie kann das sein? Aber .... Ihr Blick schnellt nach hinten, auf der Suche nach dem Weg, den sie zurückgelegt haben. Doch alles, was sie sieht, ist die Öffnung, durch die sie den seltsamen Raum betreten haben. ... wie haben wir diese Höhe überwunden?
Unter ihr, in sicher 100 Schrittlängen Entfernung, befindet sich der Badestrand. Beide Badestrände. Sie sehen so klein aus. Die Mauer, die sie trennt ... interessiert betrachtet sie den großen Felsen, der von unten unüberwindlich wirkt, doch hier oben ihren Blick nicht begrenzt. Schuldbewusst, weil sie das noch gar nicht sehen dürfte, wendet sie eilig ihren Blick vom Strand der Erwachsenen ab. Was, wenn uns hier jemand sehen kann? Sofort lässt Gabrialla sich vollständig auf den Boden sinken.
„Keine Angst, sie können uns hier nicht sehen.“ Beruhigt Gideon sie wieder. Doch nur zögerlich hebt Gabrialla wieder ihren Kopf, um über die Kante zu blicken.
Ob Michelle und die anderen auch da unten sind? Sie wollten doch heute noch zum Strand. Suchend wandert ihr Blick über den Strand der Lehrlinge. Klein liegt er, von der Sumza beschienen und mit Menschen befüllte unter ihr.
„Woher weist du das?“ Wenn nur er diesen Platz kennt, dann konnte er das doch nie testen, meint sie.
„Aus dem Unterricht. Siehst du?“, mit der Hand deutet er in die Richtung, aus der sie gekommen sind. „Hier steigt das Gelände wieder etwas an. Wohl gerade so viel, dass sie uns nicht sehen können.“ Erklärt ehr ihr stolz. „Solange wir flach am Boden bleiben zumindest.“, fügt er hinzu. „Und“, ergänzt er, als sie ihn offensichtlich ungläubig ansieht, „ich habe es mit einem kleinen Felsen ausprobiert. Schau.“ Er deutet zu ihrer Seite und auf einen kleinen Felsen, der gut einen halben Schritt vor dem Abgrund liegt.
„Den hast du alleine hierher gebracht?“ Bewunderung, die sie lange nicht mehr für jemanden empfunden hat, steigt bei dieser Vorstellung in ihr auf.
„Ich würde ja gerne sagen: Ja“, gibt Gideon lachend zu, „aber, er war schon hier. Ich habe ihn nur weiter an den Rand gerollt.“ Selbst das bremst ihre Bewunderung nur ein wenig ab.
Der Felsen ist wirklich groß. Er geht mir sicher bis an die Hüften, wenn nicht gar weiter. Ihn zu bewegen war sicher nicht leicht. Sofort erwacht wieder der Drang, sich beweisen zu müssen. Zu zeigen, dass sie körperlich auch dazu in der Lage ist - Ob ich das auch könnte?
„Hast du gesehen, wie groß der See ist?“, lenkt Gideon ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Ausblick.
Wie endlos man von hier sehen kann. Ich wusste nicht, dass der See so groß ist. Gabrialla versucht, ihn zu schätzen: Also, der Schülerstrand ist mindestens 60 Schritte groß. Der erwachsenen Strand - Gabrialla versucht, nicht zu lange hinzusehen, immer noch in der Angst, jemand könnte sie hier sehen - sieht, von hier oben, fast genauso groß aus. Aber, beide zusammen nehmen sie nicht mal die Hälfte dieser Seite des Sees ein. Als ihr Blick in den See schweift, findet sie die kleinen Insel, auf der je ein bis fünf Bäume wachsen und die etwa 40 Schritte vom Strand entfernt liegen. Das haben wir, also Michelle, ich und die anderen, ausgemessen. Aber das scheint, von hier oben gesehen, nur ein kleiner Teil des Sees zu sein. Neben dem Strand der Erwachsenen geht der See noch weiter. Also .... Gabrialla versinkt in ihre Berechnungen, aber schon nach kurzer Zeit gibt sie frustriert auf. Hätte ich doch besser aufgepasst, wahrscheinlich hätte ich es dann herrausfinden können. So wie Gideon das mit dem Stein.
„Ich wusste nicht, dass der See so groß ist.“, antwortet sie, geknickt und verspätet auf die Frage.
„Ja, er ist wirklich riesig. Mindestens 10 Gärten groß, denke ich. Das ist aber von hier oben, schwer zu sagen.“ Eine Weile noch, womöglich ein oder zwei Zehntstriche, liegen sie da und genießen die Aussicht.
Wenn ich daran denke, dass wir gerade einmal bis zu den Bäumen, schwimmen dürfen ... Er ist viel größer, als ich je vermutet habe.
„Weißt du schon, was du nach der Schule machen wirst?“, unterbricht auf einmal Gideons Stimme die angenehme Stille und reist sie aus ihrer Überlegung.
„Was?“,verwirrt dreht sie sich zu ihm herum. "Mich für die Arbeit im Garten melden, darüber haben wir doch gerade gesprochen.“ Gideon wirft ihr einen kurzen Blick zu, den Gabrialla nicht deuten kann. Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt? Warum ist Gideon heute so komisch? Sie will ihn schon fragen, doch er ist schneller.
„Ja, das hast du erwähnt.“ Sichtlich nervös streicht Gideon durch sein Haar. Bevor Gabrialla ihn fragen kann, zieht dieser sich vom Rand zurück. Zögernd, aber nicht ohne noch einmal einen Blick auf den faszinierenden Ausblick zu werfen, folgt ihm Gabrialla.
„Was ich wissen wollte“, fährt er fort, als sie wieder stehen, „was willst du außerhalb der Arbeit machen? Hast du Pläne?“ Schwer atmend, aber hin und her wandernd, scheint Gideon diese Fragen über seinem Mund zwingen zu müssen.
„Nein,“ antwortet sie und fragt sich im Stillen: Was ist hier los? Was soll ich nach der Arbeit anderes machen als bisher? Antwortet jedoch: „Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ Angespannt, da sie ihn so nicht kennt, beobachtet sie jede seiner Regungen.
Hat er sich angespannt? Entspannt? Sie kann nicht sagen, ob ihre Antwort die richtige war, oder was er von ihr erwartet. Sie hat keine Angst, den dafür kennt sie ihn schon zu lange, und doch wird ihr diese Situation immer unangenehmer. Ist das ein Lächeln, das da seinen Mund umspielt? Nervös von seinem Schweigen und der Wanderschaft, schließt sie sich ihm an. Als hätte er nur darauf gewartet, führt sie sein Weg nun zu der Öffnung, durch die sie diesen seltsamen Raum betreten haben. Keinen Herzschlag lang lässt sie ihn aus den Augen, als sie ihn den Weg zurück folgt.
Gideon führt sie, aus dem Tal und wieder zurück auf die Freifläche, der sie langsam folgen.
„Für mich ist es bald Zeit eine Frau zu nehmen.“ Erklärt er ihr schließlich. Im nächsten Moment wünscht sie sich, auf den Weg geachtet zu haben.
Gabrialla stolpert, streckt ihre Arme aus, findet halt an einem der Bäume, und schafft es gerade noch, sich auf den Beinen zu halten.
„Eine Frau?“ Nun ist es sie, die nicht genug Luft zum Sprechen hat und die Worte erzwingen muss.
Gideon, der noch einige Schritte weiter gelaufen ist, bleibt nun ebenfalls stehen und sieht sie nervös an.
„Innerhalb des nächsten Mondes werde ich 20. Ich kann es nicht länger von mir weisen.“
„20“, wiederholt Gabrialla ungläubig. Ist es schon so lange her, dass wir den gemeinsamen Strafdienst hatten? Wie sehr habe ich mir gewünscht, Erwachsen zu werden. Dabei habe ich vergessen, welche Pflichten das mit sich bringt. Eilig versucht sie sich, an die Regel der Partnerschaft zu erinnern. Gleich nach dem Abschluss, darf man sich seinen Partner wählen und selbst gewählt werden. Ohne daran zu denken ihm eine Antwort zu geben, folgt Gabrialla Gideon, der ihren Weg wieder aufgenommen hat, durch das Wäldchen. Sich an den Bäumen festhaltend, während sie sich den Hang hinunter hangelt, überlegt sie weiter: Außerdem, heißt es, man muss sich bis zum Ende der Sumarzeit, seines zwanzigsten Zyklus, entscheiden. Mit Ende der Lehrzeit, wenn man einer Arbeit zugeteilt wurde und seine eigenen Räume hat, ist es auch an der Zeit, dass man der Gemeinschaft Kinder schenkt. Schlitternd, viel zu schnell, verlässt sie den Hang. Sie braucht einige Schritte, bis sie ihre Balance und ihre Gedanken wieder gefunden hat. Gideon wurde kurz vor Ende der Sumarzeit geboren. Das ist sein zwanzigster Zyklus. Das ist seine letzte Sumarzeit, in der er sich entscheiden kann. Ihre Schritte stocken, als die inneren Gebäude, die Sicherheit, in Sicht ist. Dennoch schafft sie es nicht, weiter zu gehen. “Du hast noch diesen Mond, um dir eine Frau zu suchen. Einen Mond, um zu entscheiden, mit wem du weitere Kinder haben willst.“ Wird ihr jetzt erst wirklich klar. So kurz. Warum erst jetzt? Er hat fast zwei Zyklen Zeit gehabt sich eine Frau zu suchen. Warum hat er bis jetzt gewartet? Ein Kind muss er schon erschaffen haben. Jeder muss, in seinem ersten Zyklus, als Erwachsener, zumindest ein Kind der Gesellschaft geschenkt haben. Warum ist er nicht bei der Frau geblieben? Wer war sie?
„Richtig, spätestens mit 20 muss ein Mann seine Frau gefunden haben.“ Bestätigt ihr auch Gideon. Doch das ist noch nicht alles: „Hat er diese nicht, wird ihm eine zugewiesen, um die er sich kümmern muss.“ Sich unter ihrem Blick windend sieht er überall hin, nur nicht zu ihr.
Warum aber hat er sich dann keine gesucht?, will Gabrialla nicht erkennen. Zwei Zyklen sind eine lange Zeit. Die Treffen, derer, die sich nicht gebunden haben ... Die Freunde, aus der Lehranstalt. Da fällt ihr erst auf: Ich hab auch noch niemanden. Kein Junge aus meiner Lehrgruppe, mit den ich mir überlegt habe mich zu vereinigen. Kenne ich überhaupt einen von ihnen, außer Sven, Gino und Juls? Doch weder der eine, noch der andere kommen für mich in Frage. Juls wird sich mit Maria binden und Sven wird mit Gino in einer Gruppe leben.
„Ich habe mir gedacht“, reist Gideon sie aus ihren Gedanken. „Ich habe mir gedacht,“ beginnt er von neuem, „da wir beide ...“ Nervös greift er mit einer Hand seinen Oberarm und versucht sich dahinter zu verstecken, bevor er es erneut versucht: „Da du und ich, uns doch so gut verstehen“. Ein schneller Blick zu ihr und dann zu seinen Füßen unterbricht seine Rede. Nur einen Herzschlag später dreht sich Gideon zur Seite und setzt seinen Weg zu den inneren Gebäuden fort.
Was ist nur mit ihm los? Verwirrt blickt Gabrialla ihm nach. Nur, um ihm dann nach zu laufen. Macht ihn die Wahl so viel Schwierigkeiten? Was will er mir nur sagen? Als sie ihn eingeholt hat, mustert sie ihn prüfend. Ich verstehe ihn heute wirklich nicht. Warum nur ist er so nervös? Kann es sein ... geht ihr auf ... dass er Michelle will? Ja, ist sie sich sicher, dass muss es sein. Er hätte gerne meine Hilfe bei ihr, weil er nicht weiß, wie er sie ansprechen soll. Da kann ich ihm helfen. Mehr noch: Ich helfe ihm da wirklich gerne. Gideon ist wirklich nett. Genau wie Michelle.
Ehe sie Gideon danach fragen kann, hält dieser wieder an und fährt fort, „Na ja ich dachte, wir beide könnten, ...“. Seine Hand lässt den Oberarm los und er versteift sich, als er ihr entschlossen in die Augen blickt. „Ich mag dich wirklich Gabrialla und ich würde gerne mit dir ein Paar bilden.“
Vollkommen überrumpelt stolpert Gabrialla zwei Schritte rückwärts, bevor sie das hohe Gestrüpp, das hier den Waldrand bildet, aufhält.
Frau? Mich? Gideon und ich? Aber ...? Michelle? Ihre Gedanken springen von einem Wort zum anderen. Scheinen nicht bewältigen zu können, was Gideon gesagt hat.
Schweigend, nervös von einem Fuß auf den anderen wankend, sieht dieser sie, weiterhin abwartend, an.
„Frau?“ Erschrocken vom rauen Klang ihrer Stimme ist nicht nur sie es, die zusammen zuck. Gabrialla räuspert sich, versucht ihren Mund, ihre Stimmbänder geschmeidiger zu bekommen. Erst, als sie das Gefühl hat, wieder normal sprechen zu können, fährt sie fort: „Du fragst mich, ob ich deine Frau werden will?“ Sie sind nur noch wenige Schritte von den Ersten, der inneren Gebäuden, entfernt. Haben es nicht mehr weit, bis sich ihre Wege trennen, doch keiner der beiden hat es mehr eilig.
Ein zaghaftes Nicken, gefolgt von einem nervösen „Ja …“ ist ihre Antwort. Fast zehn Herzschläge später, reckt sich Gideon zu seiner vollen Größe, räuspert sich ebenfalls und erklärt: „Ich meine, ich würde gerne, wenn du auch willst, mit dir in einer Partnerschaft leben. Ich mag dich wirklich sehr Gabrialla.“, stottert er weiter. „Eigentlich bist du die einzige Frau, die ich mag.“ Versichert er ihr Hecktisch. „Du bist eine der wenigen Menschen, die ich überhaupt mag.“ Sprudelt es ungebremst aus ihm heraus und gibt Gabrialla Zeit ihre Starre zu überwinden. „Sicher, als ich dich das erste Mal getroffen habe, da warst du nur ein kleines Mädchen. Ein starrsinniges Mädchen, das denkt, Männerarbeit machen zu können.“
Wie nett, denkt sie sich. Du warst aber auch nicht gerade mein Traum eines Arbeitspartners. Erinnert sie sich.
„Doch mit der Zeit konnte ich hinter diese Fassade blicken und ich fand ein nettes Mädchen, dessen Gesellschaft ich sehr genieße.“ Seine klaren braunen Augen sehen sie flehend an und Gabrialla wird ganz eigenartig. Schwindel, gefolgt von Übelkeit und dem starken Bedürfnis, davon zu laufen, wühlen sie auf. Als würde er das alles nicht bemerken, wartet er auf eine Antwort von ihr. „Jetzt, wo es an der Zeit ist, mir eine Frau zu nehmen, “ versucht er noch einmal, sich zu erklären, „wird mir klar, dass nur du infrage kommst. Ich will nur dich an meiner Seite.“
Gabrialla fühlt sich, als käme sie gerade von der Sportlehre, in der sie noch 20 extra Runden laufen musste. Schwer atmend versucht sie ihre Gedanken zu ordnen und zu verstehen, was Gideon gesagt hat.
Er will wirklich mich als seine Frau. Aber, warum? Seit wann? Wie kann das sein? Er ist doch nur mein alter Arbeitspartner. Der Ländler vom Garten. Wieso will er mich? Will ich ihn? Doch, dass Gefühl, das ihr bei dieser Frage an sich selber kommt, erwidert Gideons Sehnsucht nicht. Was soll ich ihm nur sagen? Ich brauch noch Zeit, ist der erste Ausweg, den sie erkennt. Doch Gabrialla kommt nicht mehr dazu Gideon zu antworten.
„Hey, ihr.“ Gabriallas und Gideons Blicke rucken erschrocken zu der Stelle, von der die Stimme kommt. Schutzlos, zwischen dem Wald und den inneren Gebäuden, stehen beide wie versteinert auf dem Weg. Star vor Schreck, so kommt es Gabrialla vor, steht Gideon neben ihr und start der tiefen Stimme entgegen.
„Was sucht ihr hier draußen?“
Der Klang verrät Gabrialla, dass die Stimme näher kommt und ihr Körper signalisiert ihr: Wir müssen weg, doch etwas anderes ist dagegen.
„Die Sperrstunde beginnt und ihr habt hier nichts zu suchen.“ Gabriallas Herz scheint einige Schläge auszulassen, als sie erkennt, wer da vor ihnen steht.
Ein Wächter. Kurz keimt in ihr der Wunsch auf, dem antrainierten nachzugeben, doch etwas anderes ist in ihr erwacht und übernimmt. Automatisch spult ihr Geist die Regeln, die sie alle, im Umgang mit Wächtern, gelernt haben, und die selbst sie kennt, herunter.
VERMEIDET ES, EINEN WÄCHTER ANZUSCHAUEN.
MACHT KEINEN WÄCHTER AUF EUCH AUFMERKSAM, SO GROSS KANN EURE NOT NICHT SEIN.
SPRECHT KEINEN WÄCHTER AN, ER WIRD EUCH NICHT ANTWORTEN, DENN ER SIEHT EUCH NICHT ALS WÜRDIG AN.
VERÄRGERT KEINEN WÄCHTER, ER IST IMMER STÄRKER.
BEGEGNET IHR EINEM WÄCHTER, VERSUCHT EUCH LANGSAM VON IHM WEG ZU BEWEGEN, OHNE ZU FLÜCHTEN.
SOLLTET IHR, MIT EINEM WÄCHTER IN EINEM GESCHLOSSENEN RAUM GERATEN, FLEHT UND VERSUCHT ZU FLÜCHTEN!
WÄCHTER, SIND BESTIEN IN MENSCHENGESTALT UND DEM MENSCHEN ÜBERLEGEN. BEHANDELT SIE AUCH SO.
Zwei Herzschläge lang steckt sie hier fest. Von ihrem Körper, der in Zyklen des Trainings geprägt wurde, zur Flucht gedrängt. Von ihrem Instinkt, einem Teil von ihr, gegen den sie schon immer kämpft, zum Bleiben gezwungen. Gefangen zwischen der Glaswand, dem Tor nach draußen und in die Freiheit, und der Tür in den Flur, versucht jede der Seiten zu gewinnen. Erst beim dritten Herzschlag erkennt sie, wer vor ihr steht und der Kampf ist beendet.
„Gabrialla?“ Michelles besänftigende Stimme dringt durch ihre rasenden Gedanken.
Michelle. Es ist nur Michelle, also beruhige dich wieder.
„Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Gabrialla?“, seufzt Michelle und schüttelt tadelnd ihren Kopf, „Ich hab dich gefragt, ob du mit uns gehen willst!“ Entferntes Kichern lenkt ihre Aufmerksamkeit zu den anderen drei, die hinter Michelle an der Tür warten.
Gabriallas Mund verzieht sich verärgert.
Immer lachen sie. Sie selber hätten genau so gehandelt. Nun gut, sie wären gleich geflohen und hätte nicht gegen die Versuchung ankämpfen müssen, das weis sie. Jeder Körper wird täglich für die Flucht trainiert, denn es ist die Einzige Möglichkeit zu überleben. Sie amüsieren sich nur, weil ich mit meinen Gedanken wieder einmal nicht bei der Aufgabe war. Dennoch fragt sie sich: Wann werde ich es begreifen? Wann werde ich es schaffen die Versuchung abzulegen?
Gabrialla runzelt ihre Stirn, als sie die anderen ausblendet und versucht sich an Michelles Frage zu erinnern.
Seit wann steht sie schon hier? Hat sie schon viel gesagt? Was könnte sie wollen? Es ist so schwierig. Konzentrier dich Gabrialla, das ist deine Freundin. Du willst sie nicht verlieren.
Warum kann ich nicht schon fertig sein und in den Gärten? Schon beginnen ihre Gedanken wieder abzuschweifen. Wie kann ich in Gedanken dort sein, wenn ich meine Aufgabe hier nicht fertig bekomme? Schimpft sie sich. Ich muss mich besser konzentrieren!
Frustriert, aber entschlossen befreit sie sich von der Ablenkung, richtet ihre Aufmerksamkeit auf ihrer Freundin und blickt sie fragend an.
Was könnte sie mich gefragt haben?
Diese seufzt merklich übertrieben, mustert sie tadelnd und wirft einen schnellen Blick, über ihre Schulter, zu der Gruppe.
„Oh, Gabrialla“, ein belustigter Unterton besänftigt ihren vormals tadelnden Tonfall, als sie sich noch einmal ganz zu ihr herumdreht, „wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?“ Das unterdrückte Grinsen in ihrem Gesicht verdrängt nun jeden Tadel und lässt sie wieder zu ihrer besten Freundin werden.
„Sag nichts“, sie deutet ihr zu schweigen, als Gabrialla antworten will, „ich weiß es schon.“ Wie auf ein stummes Kommando erklingt ihre und die Stimmen der anderen: „Bei den Gärten.“ Während ihre Freunde lachen, sieht Michelle sie mit diesem offenen und freundlichen Lächeln an, der es Gabrialla unmöglich macht böse, auf nur einen von ihnen zu sein.
„Ich habe dich gefragt, ob du mit uns spielen und später noch schwimmen kommst?“, hilft ihr Michelle weiter.
Dem ersten Impuls nach will Gabrialla zusagen, doch dann wirft sie einen Blick auf das leere Papier, das vor ihr liegt und sie höhnisch anzugrinsen scheint. Ihr Gesicht verfinstert sich, als ihr die Aufgabe wieder einfällt: wichtige Dinge der Kindererziehung.
Ich hab noch kein Wort geschrieben. Bestätigt es nur, was sie schon weis. Wie soll ich jemals fertig werden, wenn ich nicht einmal anfange? Ich würde viel lieber mit ihnen gehen, als auch nur ein weiteres Wort zu diesem Thema zu schreiben. Doch, ich kann nicht weg, bevor ich das nicht erledigt habe. Ist sie sich bewusst. Jede weitere Strafe ist ein weiterer Grund für sie gegen meine Freiheit zu stimmen.
Schuldbewusst nach Worten ringend, versucht sie, Michelle ein freundliches Lächeln zu schenken. Doch bevor sie anfängt zu sprechen, erkennt sie, dass ihre Freundin die Antwort schon weis.
„Es tut mir leid Michelle,“ seufzt sie entschuldigend, „ich kann nicht. Ich hab einfach so viel zu tun.“ Michelles Lächeln verblasst nicht wie befürchtet, sondern wird nur belustigter, als sie weiter spricht. „Ich muss das hier fertig schreiben und dann noch in den Garten. Ich habe ihn über den Freientag zu sehr vernachlässigt. Wenn ich ihn heute nicht herrichte, bekomme ich ärger.“
„Wer das glaubt.“ Michelle zwinkert ihr verschwörerisch zu „Du bist fast öfter in den Gärten als die Ländler,“ neckt sie. „Man könnte meinen, du seist erwachsen und kein Lehrling mehr“. Ihr Lächeln wird schwächer, als sie sich zu ihr hinab beugt und mit leiser Stimme warnt: „Alla es bleiben uns nur noch wenige Nächte. Bald sind wir erwachsen und wer weiß, ob wir uns dann alle zusammentreffen können. Wenn du weiter träumst, wirst du die wenige Zeit verträumen.“ Sie spricht es nicht aus, doch jeder weiß es: Wer weiß, wer von ihnen nach dem Abschluss, noch hier sein wird? Jeder von ihnen könnte geholt, geerntet werden, doch keiner denkt daran, denn jeder kennt und fürchtet diese Möglichkeit.
Ein Schauer der Angst lässt Gabriallas Muskeln erzittern. Angst, aufgrund der Erinnerung an die Geschichten, die ihnen seit Beginn erzählt werden. Doch geht die Angst nicht tiefgenug, um ständig bei ihr zu sein und ihr Handeln zu bestimmen, wie bei den anderen.
Instinktiv spannen sich ihre Muskeln an, um den Schauer zu stoppen.
„Ich weiß“, seufzt sie zustimmend, „ich bin ja auch gleich fertig.“ Michelle hat Recht, überlegt sie. Ich bin mit meinen Gedanken meistens bei den Gärten. Warum nur? Ich mag meine Freunde. Versichert sie sich selber. Ich bin gerne mit ihnen zusammen. Warum schweifen meine Gedanken dann immer ab?, will sie von sich wissen. Doch weis sie auch dieses Mal keine Antwort. Sicher, wenn ich eine so langweilige Hausarbeit wie gerade machen muss, wer würde da nicht abschweifen? Versucht sie, ihre Gedankengänge zu rechtfertigen. Doch weiß sie selber, dass dies alleine nicht der Grund ist. Meine Freunde sind nicht langweilig. Sie sind immer für mich da. Sie verstehen mich und wenn nicht, dann lassen sie mich nicht fallen, wie andere. Sie haben es verdient, dass ich ihnen meine volle Aufmerksamkeit gebe und nicht von der Freiheit träume.
Entschlossen setzt sie sich aufrecht hin und straft ihre Schultern „Morgen, ich verspreche es. Morgen werde ich meine Aufgaben rechtzeitig erledigt haben.“ Verspricht sie.
„Gut,“ lenkt Michelle ein. „Dann sehen wir uns heute Abend im Schlafraum. Denk an die Sperrstunde" ermahnt sie, "du hast nicht mehr viel Zeit.“
„Und", mahnend lehnt sich Michelle zu ihr hinunter, „pass auf dich auf, Alla. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, die Jäger sind nie weit.“ Zitiert sie einen der Sprüche, die die Lehrer und Erzieher so gerne sagen, um die Lehrlinge zum gehorsam zu bringen.
Dieser Spruch macht mir schon lange keine Angst mehr. Denkt sich Gabrialla, wohl wissend, dass dies die Erzieher nicht gerne hören. Sie würden nur noch mehr versuchen mich an die anderen anzupassen. Sie verstehen nicht, dass ich anders bin. Und die, die es offensichtlich tun, scheinen es nicht wissen zu wollen. Außerdem würde es Michelle nur noch mehr verängstigen. Sie macht sich so schon, zu viel sorgen, wenn ich draußen, in den Gärten bin. Ich weiß gar nicht, ob sie je außerhalb der inneren Gebäude war. Sie ist so verängstigt, von dem, was die Lehrer und Erzieher uns beibringen. Sie kann einfach nicht verstehen, dass ich noch nie einen Wächter oder Jäger gesehen habe. Wird sie sich jemals trauen rauszugehen? Wird einer meiner Freunde es je wagen? Doch schnell, um nicht weiter in ihren Gedanken zu versinken, schiebt sie diese von sich und richtet ihre Konzentration wieder auf ihre Freunde.
Um Michelle zu beruhigen, versucht sie, deren furchtsamen Gesichtsausdruck widerzuspiegeln. Diese mustert sie prüfend, als würde sie ihre Gedanken hören. Ihr Blick wird beschwörend, als wolle sie noch etwas sagen, doch dann stößt sie sich von Gabriallas Tisch ab. In einer fließenden, bezaubernd weiblichen Bewegung, genau wie sie ihnen gelehrt wird, dreht Michelle sich herum und lässt Gabrialla alleine.
An der Tür angekommen, winkt sie ihr noch einmal zu, bevor sie sich den, immer noch kichernden Freunden anschließt.
„Ja, bis zum Schlafraum“, ruft Gabrialla ihr hektisch nach. Verwirrt, ob das jetzt noch richtig war oder ob sie es hätte bleiben lassen sollen, beobachtet sie Michelle, Marie und Sven. Wie diese sich winkend von ihr abwenden und den Lehrraum verlassen. Traurig erwidert sie ihr winken. Warum bin ich nur so anders? Michelle weiß wie man sich benimmt, sie scheint immer zu wissen, wann man was sagen muss und wann nicht. Bevor mir eingefallen ist, dass ich was sagen sollte, ist es schon zu spät. Warum kommt mir das ganze nur so seltsam vor? So unnatürlich!
Als sie ihre Freunde nicht mehr sehen kann, lässt sie ihren Blick über die anderen Stühle und Tische wandern. Sie ist die Letzte. Wieder einmal.
„Warum? Warum kann ich mich einfach nicht konzentrieren?“ Schimpft sie den leeren Raum. Doch entschlossen ihr Versprechen einzuhalten schiebt sie störende Gedanken beiseite und wendet ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu.
Und sofort schwindet ihre Entschlossenheit. Wer braucht schon schreiben? Wir sind so kurz vor den Prüfungen, da ist es doch nicht mehr wichtig, ob ich schön schreibe oder nicht. Verärgert erinnert sie sich an den Vorfall, von vor wenigen Zehntstrichen, als ihr die Lehrerin gesagt hat, dass sie, noch hier bleiben muss, um eine Arbeit zu schreiben. „Damit du deine Schrift verbesserst.“ Was bringt das jetzt noch? Und warum muss ich etwas über Kindererziehung lernen? Ich will Ländlerin werden und nicht in einer Schreibkammer oder der Kinderstätte enden. Ich will draußen sein, in der Freiheit. Mir ist egal, wenn sie sagen, dass es zu gefährlich ist, ich will nicht in irgendwelchen Räumen eingeschlossen sein. Ich will die Sumza spüren, die Welt um mich herum sehen und fühlen. Nie werde ich wohl verstehen, warum die anderen lieber innerhalb der inneren Gebäude sind. Was bringt mir die versprochene Sicherheit, wenn ich mich eingesperrt fühle? Wie sicher bin ich innerhalb der Gebäude, wenn immer wieder Menschen verschwinden? Mit steigendem Widerwillen und mehrfacher Ermahnung, schafft sie es schließlich doch mit der Arbeit zu beginnen.
Als sie endlich von ihrem Platz aufstehen und den Raum verlassen kann, liegt der Flur verlassen vor ihr.
Es ist wirklich ärgerlich. Ich wüste so viele Dinge mit meiner Zeit anzufangen und dennoch sitze ich den ganzen Tag nur im Lehrraum, um nutzlose Dinge zu lernen. Ein Blick in die anderen Räume zeigt ihr, dass sie Widereinmal die Letzte ist. Nur ganz leise hört sie in der Ferne die jungen Lehrlinge, wie sie in den unter ihr liegendem Wohnbereich Lärm verbreiten. Lauschend bleibt sie stehen.
Kommen die jetzt hoch? Ein Schauer des Unbehagens überzieht ihre Unterarme und sie entscheidet: Schnell, raus hier, bevor diese kleinen Bälger auftauchen. Als sie die Tür nach draußen erreicht und die warme Luft ihre Lungen erfüllt fällt die Anspannung des Tages von ihr ab und sie kann leichter atmen. Aufgeregt macht sie sich auf den Weg zu den Gärten.
Zumindest ist es nicht mehr lange hin bis zum Ende. Bald ist es vorbei mit dem Lernen und ich kann meine Zeit mit Sinnvollerem verbringen, ist sie sich sicher.
Als sie die Letzten, der inneren Häuser, und damit auch die Sicherheit der Farm, hinter sich lässt, werden ihre Schritte instinktiv schneller.
Bald schon ist sie in einem angenehmen Lauf verfallen und eilt leichtfüßig den breiten, von Erntewägen geformten Weg, entlang. Eilig führen sie ihre Schritte an großen Weiden vorbei, auf den die Tiere grasen, und scheinen immer schneller zu werden, je kleiner die Gebäude werden. Mit jedem Bach, den sie überquert, werden die Geräusche der Menschen, die lieber innerhalb der Grenzen bleiben, leiser und fremder. Jedes Wäldchen, das sie durchquert, verdeckt mehr und mehr den Blick auf diese Gebäude, die sie nur einsperren und in Regeln drängen, die sie nicht begreift. Noch bevor sie über die letzte Brücke geht und ihren Garten, den ersten auf ihrem Weg, erreicht hat, scheint sie in eine andere Welt eingetaucht zu sein.
Wie immer, ohne sich bei dem zuständigen Ländler anzumelden, greift sie sich das Werkzeug, das vor der Hütte steht. Irgendein Ländler oder Strafarbeiter wird es hingestellt haben, wie so oft, und erspart Gabrialla das Warten. Zielstrebig begibt sie sich in den geschützten Garten und zu ihrem Bereich.
Sobald sie auf dem Feld ist, umgibt sie die Sicherheit des Gartens. Es ist nur eine vage Sicherheit und doch mehr als das Fehlen jedes Sicherheitszuspruches, auf dem Weg hierher. Die Sicherheit steigt auch nicht dadurch, dass dieser im ersten Kreis liegt. Entgegen dazu steigt bei Gabrialla, alleine dadurch, dass die Tierweiden zwischen ihnen liegen, das Gefühl der Freiheit.
Sollen sie ruhig versuchen mich nahe bei sich zu haben. Wenn ich ausgelernt habe, ist es damit vorbei. Ist sie überzeugt. Die Gärten. Ruhe und Frieden. Genüsslich zieht sie die Luft, die hier so anders riecht, nach Freiheit, in sich. Keiner, der mich herumkommandiert. Beschwingt eilt sie an den ersten Reihen vorbei, um dann in ihre ab zu biegen. Keiner, der mich zu Regeln versucht. Beide Arme von sich gestreckt, streift sie über die Pflanzen, als sie den ausgetretenen Weg entlang eilt. Kein Zwang sich so zu benehmen, dass ich nicht auffalle. Ihr Blick schweift in die Ferne. Hier muss ich nicht aufpassen, dass ich jemanden missfalle. Gleitet, über die noch mehrere Reihen entfernten Büsche, die an der Grenze des Gartens stehen, hinweg zu den Hügeln und Bergen. Keiner wird mich strafen, weil ich mich nicht wie ein Mädchen benehme oder nicht nett genug bin. Hier kann ich so viel ich sein, wie sonst nirgends. Immer mehr entspannt sie sich, während die langsam kälter werdende Luft in sie strömt. Ich mag diese Zeit des Zyklus. Alles ist so grün und steht in voller Frucht. Man kann fast nicht glauben, das wir in nur zwei Monden eingesperrt werden. Betrübt erinnert sie sich an die dunklen Tage und ihr Herz zieht sich zusammen. Im tiefen Winter, wenn den Lehrlingen nicht erlaubt ist, die Lehranstalt zu verlassen und alle anderen sich in ihren Wohngebäuden verstecken, sobald die Sumza untergeht. Wie froh werde ich sein, dass diese Zeit vorbei ist und ich den inneren Gebäuden endgültig entfliehen kann. Ihr Blick sucht die Häuser, die so weit weg in den Bergen liegen. Seufzend widersteht sie dem Drang, sich sofort auf den Weg zu machen. Morgen werden wir noch einmal die wichtigsten Sachen durchgehen und Zeit bekommen unsere Schwächen zu verbessern. Das wird auch, für einige Tage, das letzte Mal sein, dass ich hierher kommen kann. Denn, am nächsten Tag beginnen die Prüfungen.
Angekommen in ihrem Bereich des Gartens, abgegrenzt durch zwei rosa farbene Bänder, beginnt sie mit ihrer Arbeit. Rosa. Natürlich ist es Rosa, dass sie mir gegeben haben. War ihr Gedanke, als sie es zum ersten Mal gesehen hat. Und auch jetzt nagt das Zeichen, dass sie das einzige Mädchen hier ist, an ihr. Damit ich auch ja nie vergesse, was ich bin und wohin ich gehöre. Zu den Mädchen. Zu den Arbeiten einer Frau und nicht in die Gärten.
Was kann ich dafür, dass ich diese Sehnsucht nicht habe? Mich sehnt es nach der Freiheit. Ich muss draußen sein.
Selten ist um diese Zeit noch jemand hier, weswegen sie es nicht für nötig hält, sich zu vergewissern, alleine zu sein. Es ist der Bereich der Strafarbeiter, dem jeder gerne Entfliehen will. Jeder außer sie. Aber so ist es auch gewollt. Es soll den Strafarbeitern zeigen was sie verlieren, wenn sie gegen Regeln verstoßen. Hier werden nur robuste Pflanzen angebaut, die den meisten Widrigkeiten widerstehen.
Mit mehr Kraft als benötigt, reist sie an den ungewollten Pflanzen, die dieser zu wenig entgegensetzten können.
Nach den Freientagen werden wir die Zeit vor Mittentag damit verbringen Prüfungen zu schreiben. Michelle hat mich auch schon davor gewarnt, danach in die Gärten abzuhauen. Ein Lächeln erhält ihr betrübtes Gesicht, als ihr wieder einfällt, wie innig diese ihr gesagt hat, dass sie Gabrialla danach unbedingt braucht. Das kann ich ihr nicht verweigern. Michelle ist meine engste Freundin, muss sie wehmütig einsehen.
Auch eine Nacht nach den Prüfungen werde ich hier nicht viel machen können. Zwar haben wir einen Tag frei vom Unterricht, aber ich werde nur kurz herkommen können. Aufsteigender Frust mehrt die Kraft, mit der sie an den unerwünschten Pflanzen reist und Gabrialla fällt fast rücklings zu Boden. Gerade, bevor ihre, Hand die Erde hinter ihr berührt, schafft sie es, ihre Balance erneut zu erreichen. Wir brauchen diese Zeit, den nach der darauffolgenden Nacht ist die Auswahl.
Erst die nächsten drei Tage, den Freientag und die zwei Tage davor, werde ich wieder ausreichend Zeit haben herzukommen. Diese Tage sind frei, den ihn ihnen wird unser Platz in der Gesellschaft beschlossen. Es steht uns frei, diese nach unseren Wünschen zu gestalten. Michelle hat mir nicht gesagt, dass sie schon etwas vorhat. Vor Freude, ob der Tage, die dann kommen, greift sie nach der Hacke und beginnt die Erde zu lockern. Vielleicht schaffe ich es, und ihr Herz hüpft bei diesem Gedanken voller Vorfreude, mehrere Striche hier draußen bleiben zu dürfen.
Dann müssen noch 10 Nächte vergehen, an deren Tagen wir auf unsere Arbeit vorbereitet werden. Erst dann, also nach jetzt 20 Nächten, am Freientag, werden wir zu den Erwachsenen gehören.
Der Schweiß beginnt ihr über die Stirn, den Hals und ihren Rücken zu laufen, so intensiv ist sie in ihre Arbeit versunken. Doch das macht ihr nichts. Im Gegenteil, Gabrialla gefällt diese Art der Arbeit, in der sie ihren Körper erst wirklich fühlen und ihn ausreizen kann.
Dann beginnt für uns die Freiheit. Auch, wenn meine Freunde ihre Freiheit innerhalb der inneren Gebäude suchen, ich finde meine immer hier draußen. Daran hat sie nicht ein einziges Mal gezweifelt, seit sie das erste Mal hier war.
Diesen Winter wird es mir zwar nicht erlaubt, in die Gärten zu gehen, aber innerhalb der inneren Gebäude darf ich mich frei bewegen. Wie schön wird das sein, nicht mehr hinter dicken Mauern eingesperrt zu sein.
Verschwitzt, lehnt sich Gabrialla zurück und wischt den Schweiß von der Stirn, während sie sich umblickt.
Es gibt noch so viel zu tun bis zur Ernte. So viel, was noch geschehen wird. Innerhalb der nächsten 21 Nächten werden wir unserer Arbeit zugeteilt. Ich hoffe nur, Sie haben endlich akzeptiert, dass ich nirgendwo sonst hin will, als in die Gärten. Angst schlingt sich um ihr Herz, lässt es verkrampfen und mit harten Schlägen gegen die eisige Umarmung ankämpfen, bevor sie sich davon befreien kann. Nein, ich werde es einfach nicht zulassen, dass sie mich einer anderen Arbeit zuordnen. Ich werde ihnen nicht erlauben, mich weiterhin einzusperren. Was ist hier schon gefährlicher als bei den Häusern? Schnaubt sie verächtlich, wir sind hier bei den inneren und nicht bei den äußeren Gebäuden. Bis der Winter nahe und die Felder abgeerntet sind, droht hier keine Gefahr. Davon ist sie überzeugt.
Seit ich hier arbeite, hab ich noch keinen Jäger gesehen. Nicht einmal die Knurlesse haben sich gemeldet.
Wie immer wenn sie im Garten ist, frei und ungestört ihren Gedanken nachgehen kann, bleibt es nicht bei ihrem Bereich. Immer weiter dringt sie in die, ihren Garten umgebenden Bereiche ein.
Warum ist dieser Garten nur so ungepflegt? Wo ist denn der Ländler? Mein Garten werde ich sicher nicht so verkommen lassen. Meinen Garten! Sehnsüchtig denkt sie an die Zeit, wenn auch sie endlich eine Ländlerin sein wird. Das Glück, das sie durch die Vorstellung durchströmt, lässt sie ihre Hacke nur noch beschwingter in die Erde sausen.
Was ich wohl werde pflanzen dürfen? Sicher, die Anfänger bekommen nur die einfachen robusten Pflanzen, doch ich arbeite nun schon mehrere Zyklen hier und habe mich sicher schon für Besseres bewährt.
Obwohl sie erst 17 Sumarzeiten zählt, ist sie länger hier als manch andere, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Am Anfang war sie, wie viele andere, auch als Strafarbeiterin hier, doch schon bald bemerkten auch ihre Erzieher, wie gut es für sie war.
Die Einzigen, die noch überzeugt werden mussten, waren der Lehranstaltsleiter und die Hausmutter.
Gabrialla war nie ruhig und friedlich, doch die nächsten Tage, so erinnert sie sich jetzt belustigt, mussten schwer für die Erzieher und Lehrer gewesen sein. Wie unbändig ich war, als es an der Zeit war, das ich gehen durfte. Wie sie darauf geachtet haben, dass ich erst mein Essen zu mir nehme und meine anderen Aufgaben erledigt habe. Egal, wohin ich mich gedreht habe, irgendwo war immer eine Erzieherin, die mich kontrolliert hat. Aber dann, nach einer ganzen Nacht in der Ruhekammer, der schlimmsten in ihrem Leben, und einigen Eingeständnissen, durfte sie in die Gärten. Jetzt sehe ich ein, dass ich es wohl etwas übertrieben habe. Vielleicht wäre es besser gewesen das anders anzugehen. Aber, überlegt sie dann doch, ob ich auf anderem Wege wirklich hier her gekommen wäre? Oder, hätten sie eine andere Aufgabe für mich gefunden? Bei den Holzarbeitern? Bei den Tierhütern? Sie versucht zu ergründen, ob sie mit einer dieser Aufgaben ebenso glücklich wäre. Nein, beschließt sie schließlich, hier kann ich so hart auf den Boden einschlagen, ohne dass er zerbricht. Hier kann ich mich bewegen und muss nicht dummen Tieren beim Essen zusehen. Auch, wenn ich jetzt in der Lehranstalt mehr kontrolliert werde, als die anderen Lehrlinge, dessen ist sie sich sicher, habe ich hier draußen so unendlich mehr Freiheit als sie.
Gabrialla fallen viele Dinge ein, die sich seit dieser Zeit für sie geändert haben.
Im Training, der von jedem auf der Farm, jeden Morgen durchgeführt wird, achtet man seit dem noch mehr darauf, dass sie die „weiblichen“ Muskeln trainiert und sich leicht und flüssig bewegt. „Nicht so plump und grob wie die Männer!“, muss sie, zu ihrer übermäßigen Frustration, nicht selten hören.
Jedes Anzeichen an ihr, das sie mehr wie ein Junge wirken lässt, wird sofort vernichtet. Auch verbietet man ihr, zu ihrem Bedauern, sich die Haare kurz zu schneiden, und es wäre so praktisch hier draußen. Diese langen Haare lösen sich immer wieder aus der Frisur und hängen mir im Gesicht herum. Stattdessen muss sie diese, wie bei den anderen Mädchen und Frauen bis zu ihren Hüften wachsen lassen und jeden Tag pflegen. Wenn sie in die Gärten geht, wird streng darauf geachtet, dass sie robuste Kleidung träg, die ihre ach so zarte weibliche Haut nicht beschädigt.
So kommt es, dass sie die Einzige in den Gärten, war und ist, die immer in langen Hosen und Oberteilen, so wie mit Handschützern herumläuft. In der warmen Zeit ist das wirklich nicht schön. Jetzt, wo die kalte Zeit kommt, ist es angenehm.
„Hallo Gabrialla.“, überrascht zuckt die Angesprochene zurück und fällt, ehe sie sich fangen kann, vorn über auf ihre Knie. Noch bevor jedoch ihr Knie den Boden berührt, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Ohne auf einen bewussten Gedanken zu warten, ist ihr Körper bereit zur Flucht.
Doch etwas anderes ist stärker. Etwas, was im vergangenen Zyklus immer stärker geworden ist und nicht nur Gabrialla ängstigt. Zu schnell, zu kräftig, schlägt ihr Herz, als es in ihr erwacht und die Kontrolle übernimmt.
In einer fließenden Bewegung sinkt sie wieder auf ihre Füße zurück. Die Hände fest in den Boden drückend, schwingt sie ihre Beine nach rechts. Durch den Schwung getragen, hebt sich ihre Rechte ebenfalls. Nur noch auf ihre Linken Hand stehend, schwingen ihre Beine und damit auch ihr Oberkörper, nach hinten. Dem Angreifer entgegen. Doch alles, was sie trifft, ist Luft.
Ihr Atem geht stoßweise, das Blut rauscht ihr in den Ohren, als sie unsanft landet. Doch es ist noch nicht vorbei. Geschmeidig zieht sie sich in die Hocke und lässt, zum nächsten Angriff bereit, ihren Blick schweifen.
Schwer atmend, vom Rauschen des Blutes beinnahe übertönt, überhört sie fast das Lachen hinter ihr.
„Dieses Mal hättest du mich fast getroffen.“, erklingt es aus der gleichen Richtung.
Uff. Was war das?
Erst, als sie die Stimme erkennt, wird sich Gabrialla der Situation bewusst.
„Gideon.“, frustriert und mit finsterem Blick dreht sie sich herum, gleichzeitig fällt die Anspannung von ihr ab.
„Hallo Gabrialla.“, wiederholt dieser nur ungerührt.
„Du weißt, dass ich das nicht mag! Wie mich das verstört!“, beschwert sie sich. Sich dem Schutz des Fremden, so verängstigend es auch sein mag, beraubt, sucht sie Sicherheit in der Umarmung ihrer Arme. Als er das sieht, verblasst das fröhliche Lächeln des, für diesen Garten zuständigen Ländlers.
„Ja, ich weiß.“, entgegnet dieser, nun zerknirscht. „Ich wollte dich auch gar nicht erschrecken. Schau, ich bin nicht einmal leise an dich herangeschlichen,“ versucht er sich zu verteidigen. Doch bringt das ihre Unbeschwertheit nicht zurück. Seufzend hebt Gabrialla ihre Hand und bringt ihn so zum Schweigen.
Er hat ja recht, überlegt sie. Die Situation im Lehrraum deutlich vor sich. Ich weiß, dass ich mich oft so tief in meinen Gedanken befinde, dass ich nichts um mich herum mitbekomme. Gibt sie sich wieder einmal selbst die Schuld. Es vergeht ja kaum ein Tag, an dem mich nicht eine meiner Freundinnen zurückholt. Doch das eine, das gerade im Begriff ist, sich zurückzuziehen, widerspricht mit einem letzten Widerhall. Dennoch hat sie das Gefühl sich entschuldigen zu müssen.
„Ich war so in meinen Gedanken,“ versucht sie es ungeschickt. „Ich hab dich einfach nicht gehört. Es tut mir leid, Gideon. Ich wollte dir auch sicher nicht weh tun.“ Nervös, nicht sicher ob das richtig war, schafft sie es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Obwohl sie sich bewusst ist, dass sie es, den Regeln nach, müsste.
„Das weiß ich, Gabrialla.“, seufzt Gideon und bringt sie damit dazu, ihn direkt anzusehen. Die tief stehende Sumza erhellt sein fast weißes Haar, das gerade mal Fingerbreit kurz ist und quer von seinem Kopf absteht. Fasziniert von diesem Farbenspiel, driftet sie wieder in ihre Gedanken.
Einmal war es fast weizengelb. Früher. Doch jetzt ist es, im Laufe der Zyklen, immer weißer geworden. Ach, ich hätte auch gerne so kurze Haare. Diese sind viel vorteilhafter für den Garten, als meine langen. Als ihr bewusst wird, was sie tut, reist sie sich von dem Anblick los und richtet ihren Blick auf Gideons braune Augen. Es überfällt sie, wie so oft im letzten Zyklus, ein unangenehmes Gefühl, wenn sie jemanden direkt ansieht. Dennoch zwingt sie sich dazu, will dem Neuen, dem Fremden einfach nicht nachgeben.
Die Regeln, Gabrialla, denk an die Regeln. Das Neue ist nicht gut. Es entspricht nicht den Regeln!
Tiefe falten um seine Augen, lassen ihren Blick zu seinem lächelnden Mund abschweifen.
“Bist du es nicht auch müde", fährt Gideon fort, als hätte er ihr Abschweifen nicht bemerkt, „dich immer entschuldigen zu müssen?“ Es vergehen einige Atemzüge, bevor Gabrialla den Übergang von Wut, wegen seiner Belustigung über ihr gedankliches Abgleiten, zu Verwirrung schafft. Als sie versteht, dass Gideons Belustigung nicht von ihrem Fehltritt kommt, entspannt sie sich.
„Ja,“ bestätigt sie ihm, ihrer eigenen Reaktion beschämt, „es ist wirklich anstrengend, sich so oft entschuldigen zu müssen. Die Regeln sind teilweise wirklich erschöpfend," ergänzt sie, vor Erleichterung lachend. Nur hier, im Garten fühlt sie sich so unbeschwert, um lachen zu können. Dann jedoch blickt sie sich besorgt um. „Lass das nur keinen der Oberen hören. Du weißt, wie ungern sie es haben, wenn jemand sich über die Gemeinschaft und die Regeln beschwert.“ In ihr Lachen einstimmend, zuckt Gideon abwertend mit den Schultern.
„Was wollen sie schon machen? Ich habe nicht gegen die Regeln verstoßen. Ich lebe alleine, habe keine Kinder und keine Partnerin. Sie haben nichts, was sie mir nehmen könnten,“ meint er unbesorgt. Lässt seinen Blick jedoch über Gabrialla schweifen, bevor er sich schnell abwendet. Sein lachen ist nun gezwungener, was Gabrialla nur kurz bemerkt, den ihre Gedanken beschäftigen sich schon wieder mit etwas anderem.
Ja, da hat er recht. Wenn man erst einmal Erwachsen ist, sind die Regeln nicht mehr so streng, überlegt sie neidisch. Ab da können die Obersten nicht mehr genau kontrollieren, ob man sich an die Regeln hält. Wenn man dann auch noch einer Aufgabe zugeteilt ist, muss man schon etwas Schlimmes getan haben, um mehr befürchten zu müssen, als ein Gespräch. Außer bei Kindern, ist etwas Schlimmes sagen, noch nie bestraft worden. Soweit ich weiß. Kinder stehen unter strengerer Kontrolle. Kinder können .... Gabriallas Lachen erstirbt, als sie ihren nächsten Gedanken ergreift.
„Mich,“ begreift Gabrialla schockartig. Sofort verstimmt auch Gideons Lachen. Drückende Stille umgibt sie, während Gabrialla versteht, was das für ihre Aufgabe in der Gesellschaft bedeutet. Ich bin noch nicht Erwachsen. Ich bin noch keiner Aufgabe zugeteilt. Mich können sie noch wie ein Kind bestrafen.
Als hätte alles nur auf diese Erkenntnis gewartet, scheint ihre Umwelt wieder in Gang zu kommen.
Wie zur Warnung, so scheint es Gabrialla, hat sich ihre Wahrnehmung verstärkt. Das Rascheln der Pflanzen dringt unnatürlich laut zu ihr. Der Geruch der frisch umgegrabenen Erde ist zu intensiv.
„Sie können mir eine andere Aufgabe zuteilen. Ich bin noch nicht Erwachsen und noch keiner Aufgabe zugeteilt.“ Erschrocken schlägt sie die Hand vor ihrem Mund, als ihre Stimme zu laut erklingt. Panisch blickt sie sich um.
Ihre Augen schmerzen von der zu hellen Sonne, als sie die seltsam unscharfe Umgebung durchsucht. Ihr Kopf schwirrt, als sie sich bemüht, die Punkte in der Ferne, die sie vorher noch als Menschen erkennen konnte, nun zu sehen. Was ist nur mit meinen Augen los? Warum schmerzen meine Ohren so?
„Gut, keiner ist nahe genug, um uns zu hören.“ Erschrocken hüpft Gabrialla einen Schritt zurück, als sie Gideons Stimme vernimmt. Warum schreit er so? Ich stehe doch genau neben ihm. Als sie ihn bitten will leiser zu sein, bemerkt sie seinen seltsamen Blick und stockt. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie kräftig ihr Herz klopft. Oh nein! Als hätte es darauf gewartet, macht ihr Herz noch einen Sprung, um dann langsamer, fast unmerklich wieder in ihrer Brust weiter zu schlagen. Nervös lässt sie ihre Schultern kreisen, in dem Versuch die Anspannung endgültig loszuwerden. Zwei mal? In so kurzer Zeit? Es wird immer schlimmer. Oooh, ich werde immer seltsamer. Sich in sich zurückziehend - Gideons Blick ausweichend - lässt sie ihren Blick wieder über den Garten schweifen. Nichts ist zurückgeblieben, von der seltsamen Wahrnehmung. Alleine das bekannte Gefühl der Beklommenheit ist ihr geblieben und erinnert sie an ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Fremden in ihr.
Viel zu langsam, entspannen sich ihre Muskeln und lassen sie erschöpft zurück, während ihr Blick weiter über den Garten schweift.
Als ihr ausweichender Blick die Gartenhütte findet, fällt ihr auf: „Warum bist du eigentlich hier? Die Sumza steht noch weit über den Hügeln und die Sperrstunde ist doch noch nicht nahe.“ Kurz scheint es, als würde Gideon sich von ihr zurückziehen, Abstand zu ihr nehmen, doch dann strafft er seine Schultern.
„Ich habe mir den letzten Strich freigenommen", erklärt er ihr atemlos, „ich will dir etwas zeigen. Los, komm mit.“ Seine Hand zuckt nach oben, als wolle er nach ihr greifen, doch dann dreht er sich einfach nur um und deutet zum Ausgang.
Unbekümmert, dem seltsamen verhalten Gideons wenig Beachtung schenkend, zögert sie nicht einen Herzschlag lang. Aufgeregt, etwas neues, etwas unbekanntes zu Gesicht zu bekommen, sucht sie ihr Werkzeug zusammen und macht sich auf den Weg. Doch nur wenige Schritte später fällt ihr schon das Erste hinunter.
„Lass mich.“ Noch während sie versucht, die Anderen wieder sicher zu halten, hebt Gideon das Verlorene auf. „Nein, Gabrialla. Los, gib her.“ Schnell entzieht Gideon, die erbeutete Harke, ihren greifenden Händen und schnappt sich noch eine Schaufel, bevor diese ihr ebenfalls aus der Hand fällt. Nun, nur noch mit ihren Handschützern, einer kleinen Schaufel mit langem Blatt und der Kanne in ihren Händen, gelingt es Gabrialla, diese wieder sicher zu halten. Dankbar lächelt sie ihn an und wartet, dass er weiter geht.
„Danke Gideon.“ Erst einige Herzschläge, fast schon einen Zehntstrich später fällt ihr ein, sich zu bedanken. Wie aus einer Starre entrissen, kommt erst jetzt Bewegung in Gideon.
„Äh, ja, gerne, Gabrialla.“ Stammelt dieser, während er sich umdreht und den Weg wieder aufnimmt.
Ich habe es schon wieder vergessen. Schimpft sie sich erneut. Werde ich froh sein, wenn ich nicht mehr so viel mit Menschen zu tun haben muss. Wenn ich meinen eigenen Garten habe und alleine Arbeiten darf. Warum muss es so anstrengend sein? Zumindest für mich. Für alle anderen scheint es ganz normal zu sein. Energisch reist sie sich von den trüben Gedanken los, die sie wieder in sich ziehen wollen und konzentriert sich darauf Gideon zu folgen.
„Weißt du“, meint Gabrialla fröhlich„ noch 21 Nächte. Dann ist die Schule vorbei.“
„Und?“, will Gideon, wie nebensächlich wissen. Doch Gabrialla ist sich bewusst, dass er genau weiß, was dann ist.
Er will mich nur ärgern. Ihre Schulter trifft spielerisch die Seine und lässt ihn einen schnellen Schritt auf die Seite machen. Ich denke diese Neckereien könnten mir später sogar fehlen.
„Hey.“ Neckt er sie. Bleibt jedoch, vorsichtshalber, auf seinem neuen Weg und lässt zwei Pflanzstreifen zwischen ihnen. Gabrialla beschleicht das Gefühl, allein gelassen zu werden. Doch sie verdrängt es schnell wieder. Ein kurzer Blick in sein Gesicht bestätigt, was sie schon zu wissen meint: Das ist Gideon. Er liebt und braucht seine Freiheit, genauso wie ich die meine.
„Du weist genau, was dann ist.“, erwidert sie enthusiastisch. „Ich bekomme eine Arbeit zugeteilt.“
„Und du hoffst natürlich, in den Garten zu kommen!“
„Natürlich.“ In gespielten Entsetzten, sieht sie ihn an, doch sein Blick bleibt in die Ferne gerichtet. Verunsicherung keimt in ihr.
Weiß er etwas und will es mir nur nicht sagen? Oder, überlegt sie, darf er nicht? Angst zieht ihr Innerstes zusammen, als ein schrecklicher Gedanke über sie kommt. Nein, Gideon würde es mir sagen, wenn er wüsste, dass sie mich nicht in die Gärten lassen - Oder?
„Ich habe schon immer gesagt, ich möchte in die Gärten.“ Bestätigt sie ihm, mit brüchiger Stimme. „Immer wenn wir befragt wurden, hab ich es ihnen gesagt. Ich habe, seit ich das erste Mal hier war, nie wieder etwas anderes gewollt.“ Wegen seiner Verschlossenheit verunsichert, beobachtet sie ihn, versucht in seinem Gesicht zu lesen, ob es das ist, was er vor ihr verheimlicht. Doch, auch dieses Mal gelingt es ihr nicht. Angespannt geht sie weiter.
Als sie beim Gartenhaus angekommen sind, nimmt Gideon ihr, wie es seine Pflicht ist, wortlos das restliche Werkzeug ab und verschwindet im Gartenhaus. Nur Ländler dürfen in das Haus und so wartet sie ungeduldig auf seine Rückkehr.
„An was denkst du?“ Unbemerkt ist Gideon wieder hinter sie getreten. Nervös horcht sie in sich hinein.
Nichts. Erleichtert sie selbst zu sein, dreht sie sich zu ihm herum. Sie müsste nur ihre Hand heben, ihren Arm nicht einmal ausstrecken und schon würde sie ihn berühren.
Näher sind sie sich wohl noch nie gekommen. Fasziniert betrachtet sie ihn. Bemerkt, wie etwas in seinem Mundwinkel zuckt. Beobachtet, wie er, scheinbar nervös, seine Hand hebt, um seine Haare zurückzustreifen.
Tief atmet sie ein, um etwas zu sagen, und hat auf einmal das Bedürfnis zurückzuweichen. Ihre Beine zwingend, auf der Stelle stehenzubleiben, gelingt es ihr, lediglich ihren Kopf zu drehen und ihren Blick in die Ferne zu richten.
Gideon immer im Blick, antwortet sie: „Dass die Sumarzeit fast vorbei ist.“ Schweigend verharren nicht nur ihre Schritte mehrere Herzschläge. Die Sumza berührt schon fast den entfernten Hügel, während sich beide stumm betrachten. Die Sperrzeit ist jedoch noch fast einen Strich fern und so drängt sie nichts nachhause.
Schließlich ist es Gideon, der sich als Erster bewegt und auf den Weg zu den inneren Gebäuden zugeht. Neugierig folgt sie ihm. Nicht überrascht, dass er sich schnell an ihren leichten Lauf anpasst, entspannt sie sich wieder etwas.
Hoffentlich lohnt es sich. Es ist noch viel zu früh, um zurückzugehen, überlegt sie nun doch und ist überrascht, als er vom Weg abweicht. Hohe Bäume säumen den Weg an dieser Stelle. Auf der einen Seite scheinen sie weniger zu werden und Gabrialla meint, eine Weide dahinter erkennen zu können. Auf der Linken jedoch steigt das Gelände an, die Bäume scheinen sich dichter aneinanderzudrängen und das Licht zu verschlingen.
Hier ist doch nichts. Was will er mir hier zeigen? Bäume? Eine neue Pflanze?
Gideon beginnt den Hügel hochzusteigen und Gabrialla folgt ihm, trotz ihrer Zweifel und ohne zu Fragen. Sie kennt Gideon lange genug um sich sicher zu sein, dass es sich lohnen wird. Erst, als sie die Bäume hinter sich lässt und auf eine große, sich zu beiden Seiten ausbreitende freie Fläche kommt, bleibt Gabrialla verwirrt stehen.
„Das ist der Grenzwald“, erkennt sie sofort, „den dürfen wir nicht betreten.“ Gideon, der bei ihrem Aufschrei stehen geblieben ist, sieht sich nun, scheinbar das erste Mal, wirklich um.
Doch dann grinst er ihr zu und antwortet: „Keine Sorge, wir gehen nicht in den Wald. Komm.“, lockt er sie weiter. Dennoch, unsicher geworden, lässt Gabrialla ihn erst zwei Schritte rückwärtsgehen und sie zu sich winken, bevor sie ihrer Neugierde nachgibt und ihm folgt. „Wir folgen dem Wald nur", beruhigt er sie, als sie ihn wieder eingeholt hat, „schau, das ist wie ein breiter Weg, dem wir nachgehen.“ Und tatsächlich, als sich Gabrialla noch einmal umsieht, erkennt sie es auch.
Als hätte jemand den Wald verkürzt, um diesen Weg zu erzeugen. Kein Baum, kein Strauch, wächst auf dem, von Gras und anderem, kaum kniehohen Gewächs bedecktem Bereich. Aber, warum hier? Der andere Weg ist doch nur wenige Schritte rechts von uns und führt in die gleiche Richtung. Warum sollte man hier noch einen Weg erzeugen? Und, überlegt sie weiter, wohin führt er? Ihr Blick schweift noch einmal zu den Bäumen zurück, zum bekannten Weg, als ihr klar wird: Links von dem alten Weg gibt es keinen anderen, der zu den inneren Gebäuden führt. Sie bleibt erneut auf dem baumfreien Bereich hängen. Aber nicht in die Richtung, in die Gideon geht, sondern in die Andere.
„Als würde jemand dafür sorgen, dass hier keine Bäume wachsen.“ Überlegt sie laut. „Was, wenn es Absicht ist? Was, wenn so der Bereich gekennzeichnet ist, den wir nicht überschreiten dürfen?“ Langsam, steigert sich das Unbehagen und die nagenden Fragen, zu Furcht. Sorgfältig sieht sie sich um, sucht Warnungen, Anzeichen, die ihr sagen, dass sie schnell verschwinden soll.
„Ich glaube nicht,“ widerspricht ihr Gideon. „Ich bin nicht das erste Mal hier, Gabrialla. Noch nie ist hier jemand gewesen. Komm,„ lockt er sie ungeduldig, „dass Beste hast du noch nicht gesehen.“ Obwohl seine Worte ihre Furcht nicht vertreiben können, folgt Gabrialla ihm weiter.
Bald schon beginnt links und rechts von ihr, das Gelände anzusteigen. Scheint sie einzuhüllen, je weiter sie dem Weg in die Tiefe folgen.
Als hätte jemand einen Weg in den Boden gegraben. Gabrialla lässt sich auf ihre Knie sinken und sieht sich um. Ich kann gerade darüber sehen. Ihre Hand fährt über die bewachsene Wand, die leicht schräg von ihr weicht. Aber, das muss schon sehr alt sein, ob jemand noch davon weis?
„Was machst du da?“ Lachend kommt Gideon wieder zu ihr zurück. „Warum kniest du auf dem Boden?“ Beschämt, in dem Glauben, wieder etwas falsch gemacht zu haben, steht Gabrialla ruckartig auf.
„Ich wollte nur etwas schauen. Es war nichts Wichtiges,“ winkt sie ab und erstickt so die befürchteten Fragen. „Los,“ versucht sie, abzulenken, „ zeig mir, was hier so toll ist.“ Gideon sieht sie noch einen Herzschlag seltsam an, bevor er sich umdreht und den Weg weiter geht.
Nach etwa 20 Schritten bleibt er erneut stehen, dreht sich zu ihr herum und meint: „Es ist nicht mehr weit, komm.“ Kaum hat er das gesagt, verschwindet er auch schon und Gabrialla bleibt verdutzt zurück. Die Wände sind jetzt so hoch, dass sie gerade einmal das Gras darauf sehen kann, wenn sie sich streckt.
Was? Wo ist er hin? Da muss doch ... und richtig, als Gabrialla zu der Stelle kommt, sieht sie, das der Weg einen Knick macht. Gideon steht, einige Schritte vor ihr und winkt sie weiter, bevor er wieder verschwindet.
Was ist das für ein seltsamer Weg?, überlegt Gabrialla, wehrend sie ihm hinter her eilt. Wieso macht er diese Biegungen? Wobei .... - Verdutzt bleibt sie, einige Schritte vor dem Ort, an dem Gideon das zweite Mal verschwunden ist, stehen - ..., dieser Weg geht weiter. Langsamer als zuvor nähert sie sich der Abbiegung, ihren Blick auf die andere Seite gerichtet. Der Weg steigt wieder an. Aber, ist sie sich sicher, Gideon ist hier verschwunden. Als sie den Punkt erreicht, an dem dieser abgebogen ist, dreht sie sich in die Richtung und bleibt wie vor eine Mauer gelaufen stehen.
Das ist .... Unfähig das, was sie sieht, in Worte zu fassen, kann sie nur mit größer werdenden Augen betrachten, was sich ihr hier eröffnet.
„Und, was sagst du?“ Gideons Stimme erklingt neben ihr, doch Gabrialla hat nur Augen für das, was sie vor sich sieht.
„Die Steinwände!“ Dunkel ragen die Felswände, in einiger Entfernung, vor ihr auf. Aber, das kann nicht sein. Sie umgeben doch den See. Wie können sie hier sein, wo kein See ist. Oder, ziehen sie sich weiter, als ich bis jetzt gedacht habe? Ja, natürlich, sie sollen uns ja schützen. Sie müssen also größer sein, als ich gedacht habe. Nur langsam Schaft sie es, ihren Blick von der beeindruckenden Formation los zu reisen und sich in ihrer näheren Umgebung umzusehen.
Vor ihr, umgeben von der Ebene, auf der sie den Wald verlassen haben, öffnet sich ein Raum. Die Wände neigen sich, so wie im Gang, nach außen und sind mit Grün bedeckt. Doch der Bode nicht. Hier und da findet sich ein bewachsener Fleck, aber der Großteil ist von Kies, fast so fein wie der Sand am Strand, bedeckt. Vor sich, nahe am Eingang, erkennt sie eine Feuerstelle.
Es sieht aus, wie ein kleines Haus, in den Boden geschlagen. Nur eine Wand und das Dach fehlen.
„Sind das wirklich die Steinwände?“, will sie, von Gideon bestätigt wissen.
„Ja, das sind sie!“, bestätigt ihr dieser begeistert. „Und, was sagst du?“, wieder holt er so gleich seine Frage. „Aber, warte“, stoppt er sie, bevor sie den Mund öffnen kann, „es wird noch besser. Komm weiter.“ Immer noch überwältigt von dem Anblick, beobachtet sie Gideon, wie dieser sich auf den Boden gleiten lässt und langsam auf die fehlende Wand zu schiebt. Seinem aufgeregtem Deuten folgend, macht Gabrialla es ihm nach. Ihre Neugierde ist so groß, dass es ihr schwerfällt, sich flach auf dem Boden fortzubewegen. Viel lieber würde sie hinlaufen und sehen, was sich dort versteckt.
Doch, je näher sie der Öffnung kommen, um so langsamer wird Gabrialla.
Was ist das nur? Die Steinwände gehen immer weiter. Das sieht einfach falsch aus. Wo ist der Boden?
Gideon kriecht immer weiter, als wäre es ganz normal für ihn, doch Gabrialla folgt ihm immer zögerlicher. Erst, als seine Hand schon ins Nichts fassen kann, hält Gideon an und blickt zu ihr zurück.
„Los komm her, das musst du dir ansehen.“ Er scheint so aufgeregt, so begeistert, dass sie ihr Zögern abstreift und die kurze Strecke zwischen ihnen schnell zurücklegt.
Bei ihm angekommen, folgt Gabriallas Blick den Steinwänden in die Tiefe.
Ihr Atem stockt, als sie den Boden unter sich erblickt.
Er ist so weit unten, wie kann das sein? Aber .... Ihr Blick schnellt nach hinten, auf der Suche nach dem Weg, den sie zurückgelegt haben. Doch alles, was sie sieht, ist die Öffnung, durch die sie den seltsamen Raum betreten haben. ... wie haben wir diese Höhe überwunden?
Unter ihr, in sicher 100 Schrittlängen Entfernung, befindet sich der Badestrand. Beide Badestrände. Sie sehen so klein aus. Die Mauer, die sie trennt ... interessiert betrachtet sie den großen Felsen, der von unten unüberwindlich wirkt, doch hier oben ihren Blick nicht begrenzt. Schuldbewusst, weil sie das noch gar nicht sehen dürfte, wendet sie eilig ihren Blick vom Strand der Erwachsenen ab. Was, wenn uns hier jemand sehen kann? Sofort lässt Gabrialla sich vollständig auf den Boden sinken.
„Keine Angst, sie können uns hier nicht sehen.“ Beruhigt Gideon sie wieder. Doch nur zögerlich hebt Gabrialla wieder ihren Kopf, um über die Kante zu blicken.
Ob Michelle und die anderen auch da unten sind? Sie wollten doch heute noch zum Strand. Suchend wandert ihr Blick über den Strand der Lehrlinge. Klein liegt er, von der Sumza beschienen und mit Menschen befüllte unter ihr.
„Woher weist du das?“ Wenn nur er diesen Platz kennt, dann konnte er das doch nie testen, meint sie.
„Aus dem Unterricht. Siehst du?“, mit der Hand deutet er in die Richtung, aus der sie gekommen sind. „Hier steigt das Gelände wieder etwas an. Wohl gerade so viel, dass sie uns nicht sehen können.“ Erklärt ehr ihr stolz. „Solange wir flach am Boden bleiben zumindest.“, fügt er hinzu. „Und“, ergänzt er, als sie ihn offensichtlich ungläubig ansieht, „ich habe es mit einem kleinen Felsen ausprobiert. Schau.“ Er deutet zu ihrer Seite und auf einen kleinen Felsen, der gut einen halben Schritt vor dem Abgrund liegt.
„Den hast du alleine hierher gebracht?“ Bewunderung, die sie lange nicht mehr für jemanden empfunden hat, steigt bei dieser Vorstellung in ihr auf.
„Ich würde ja gerne sagen: Ja“, gibt Gideon lachend zu, „aber, er war schon hier. Ich habe ihn nur weiter an den Rand gerollt.“ Selbst das bremst ihre Bewunderung nur ein wenig ab.
Der Felsen ist wirklich groß. Er geht mir sicher bis an die Hüften, wenn nicht gar weiter. Ihn zu bewegen war sicher nicht leicht. Sofort erwacht wieder der Drang, sich beweisen zu müssen. Zu zeigen, dass sie körperlich auch dazu in der Lage ist - Ob ich das auch könnte?
„Hast du gesehen, wie groß der See ist?“, lenkt Gideon ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Ausblick.
Wie endlos man von hier sehen kann. Ich wusste nicht, dass der See so groß ist. Gabrialla versucht, ihn zu schätzen: Also, der Schülerstrand ist mindestens 60 Schritte groß. Der erwachsenen Strand - Gabrialla versucht, nicht zu lange hinzusehen, immer noch in der Angst, jemand könnte sie hier sehen - sieht, von hier oben, fast genauso groß aus. Aber, beide zusammen nehmen sie nicht mal die Hälfte dieser Seite des Sees ein. Als ihr Blick in den See schweift, findet sie die kleinen Insel, auf der je ein bis fünf Bäume wachsen und die etwa 40 Schritte vom Strand entfernt liegen. Das haben wir, also Michelle, ich und die anderen, ausgemessen. Aber das scheint, von hier oben gesehen, nur ein kleiner Teil des Sees zu sein. Neben dem Strand der Erwachsenen geht der See noch weiter. Also .... Gabrialla versinkt in ihre Berechnungen, aber schon nach kurzer Zeit gibt sie frustriert auf. Hätte ich doch besser aufgepasst, wahrscheinlich hätte ich es dann herrausfinden können. So wie Gideon das mit dem Stein.
„Ich wusste nicht, dass der See so groß ist.“, antwortet sie, geknickt und verspätet auf die Frage.
„Ja, er ist wirklich riesig. Mindestens 10 Gärten groß, denke ich. Das ist aber von hier oben, schwer zu sagen.“ Eine Weile noch, womöglich ein oder zwei Zehntstriche, liegen sie da und genießen die Aussicht.
Wenn ich daran denke, dass wir gerade einmal bis zu den Bäumen, schwimmen dürfen ... Er ist viel größer, als ich je vermutet habe.
„Weißt du schon, was du nach der Schule machen wirst?“, unterbricht auf einmal Gideons Stimme die angenehme Stille und reist sie aus ihrer Überlegung.
„Was?“,verwirrt dreht sie sich zu ihm herum. "Mich für die Arbeit im Garten melden, darüber haben wir doch gerade gesprochen.“ Gideon wirft ihr einen kurzen Blick zu, den Gabrialla nicht deuten kann. Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt? Warum ist Gideon heute so komisch? Sie will ihn schon fragen, doch er ist schneller.
„Ja, das hast du erwähnt.“ Sichtlich nervös streicht Gideon durch sein Haar. Bevor Gabrialla ihn fragen kann, zieht dieser sich vom Rand zurück. Zögernd, aber nicht ohne noch einmal einen Blick auf den faszinierenden Ausblick zu werfen, folgt ihm Gabrialla.
„Was ich wissen wollte“, fährt er fort, als sie wieder stehen, „was willst du außerhalb der Arbeit machen? Hast du Pläne?“ Schwer atmend, aber hin und her wandernd, scheint Gideon diese Fragen über seinem Mund zwingen zu müssen.
„Nein,“ antwortet sie und fragt sich im Stillen: Was ist hier los? Was soll ich nach der Arbeit anderes machen als bisher? Antwortet jedoch: „Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ Angespannt, da sie ihn so nicht kennt, beobachtet sie jede seiner Regungen.
Hat er sich angespannt? Entspannt? Sie kann nicht sagen, ob ihre Antwort die richtige war, oder was er von ihr erwartet. Sie hat keine Angst, den dafür kennt sie ihn schon zu lange, und doch wird ihr diese Situation immer unangenehmer. Ist das ein Lächeln, das da seinen Mund umspielt? Nervös von seinem Schweigen und der Wanderschaft, schließt sie sich ihm an. Als hätte er nur darauf gewartet, führt sie sein Weg nun zu der Öffnung, durch die sie diesen seltsamen Raum betreten haben. Keinen Herzschlag lang lässt sie ihn aus den Augen, als sie ihn den Weg zurück folgt.
Gideon führt sie, aus dem Tal und wieder zurück auf die Freifläche, der sie langsam folgen.
„Für mich ist es bald Zeit eine Frau zu nehmen.“ Erklärt er ihr schließlich. Im nächsten Moment wünscht sie sich, auf den Weg geachtet zu haben.
Gabrialla stolpert, streckt ihre Arme aus, findet halt an einem der Bäume, und schafft es gerade noch, sich auf den Beinen zu halten.
„Eine Frau?“ Nun ist es sie, die nicht genug Luft zum Sprechen hat und die Worte erzwingen muss.
Gideon, der noch einige Schritte weiter gelaufen ist, bleibt nun ebenfalls stehen und sieht sie nervös an.
„Innerhalb des nächsten Mondes werde ich 20. Ich kann es nicht länger von mir weisen.“
„20“, wiederholt Gabrialla ungläubig. Ist es schon so lange her, dass wir den gemeinsamen Strafdienst hatten? Wie sehr habe ich mir gewünscht, Erwachsen zu werden. Dabei habe ich vergessen, welche Pflichten das mit sich bringt. Eilig versucht sie sich, an die Regel der Partnerschaft zu erinnern. Gleich nach dem Abschluss, darf man sich seinen Partner wählen und selbst gewählt werden. Ohne daran zu denken ihm eine Antwort zu geben, folgt Gabrialla Gideon, der ihren Weg wieder aufgenommen hat, durch das Wäldchen. Sich an den Bäumen festhaltend, während sie sich den Hang hinunter hangelt, überlegt sie weiter: Außerdem, heißt es, man muss sich bis zum Ende der Sumarzeit, seines zwanzigsten Zyklus, entscheiden. Mit Ende der Lehrzeit, wenn man einer Arbeit zugeteilt wurde und seine eigenen Räume hat, ist es auch an der Zeit, dass man der Gemeinschaft Kinder schenkt. Schlitternd, viel zu schnell, verlässt sie den Hang. Sie braucht einige Schritte, bis sie ihre Balance und ihre Gedanken wieder gefunden hat. Gideon wurde kurz vor Ende der Sumarzeit geboren. Das ist sein zwanzigster Zyklus. Das ist seine letzte Sumarzeit, in der er sich entscheiden kann. Ihre Schritte stocken, als die inneren Gebäude, die Sicherheit, in Sicht ist. Dennoch schafft sie es nicht, weiter zu gehen. “Du hast noch diesen Mond, um dir eine Frau zu suchen. Einen Mond, um zu entscheiden, mit wem du weitere Kinder haben willst.“ Wird ihr jetzt erst wirklich klar. So kurz. Warum erst jetzt? Er hat fast zwei Zyklen Zeit gehabt sich eine Frau zu suchen. Warum hat er bis jetzt gewartet? Ein Kind muss er schon erschaffen haben. Jeder muss, in seinem ersten Zyklus, als Erwachsener, zumindest ein Kind der Gesellschaft geschenkt haben. Warum ist er nicht bei der Frau geblieben? Wer war sie?
„Richtig, spätestens mit 20 muss ein Mann seine Frau gefunden haben.“ Bestätigt ihr auch Gideon. Doch das ist noch nicht alles: „Hat er diese nicht, wird ihm eine zugewiesen, um die er sich kümmern muss.“ Sich unter ihrem Blick windend sieht er überall hin, nur nicht zu ihr.
Warum aber hat er sich dann keine gesucht?, will Gabrialla nicht erkennen. Zwei Zyklen sind eine lange Zeit. Die Treffen, derer, die sich nicht gebunden haben ... Die Freunde, aus der Lehranstalt. Da fällt ihr erst auf: Ich hab auch noch niemanden. Kein Junge aus meiner Lehrgruppe, mit den ich mir überlegt habe mich zu vereinigen. Kenne ich überhaupt einen von ihnen, außer Sven, Gino und Juls? Doch weder der eine, noch der andere kommen für mich in Frage. Juls wird sich mit Maria binden und Sven wird mit Gino in einer Gruppe leben.
„Ich habe mir gedacht“, reist Gideon sie aus ihren Gedanken. „Ich habe mir gedacht,“ beginnt er von neuem, „da wir beide ...“ Nervös greift er mit einer Hand seinen Oberarm und versucht sich dahinter zu verstecken, bevor er es erneut versucht: „Da du und ich, uns doch so gut verstehen“. Ein schneller Blick zu ihr und dann zu seinen Füßen unterbricht seine Rede. Nur einen Herzschlag später dreht sich Gideon zur Seite und setzt seinen Weg zu den inneren Gebäuden fort.
Was ist nur mit ihm los? Verwirrt blickt Gabrialla ihm nach. Nur, um ihm dann nach zu laufen. Macht ihn die Wahl so viel Schwierigkeiten? Was will er mir nur sagen? Als sie ihn eingeholt hat, mustert sie ihn prüfend. Ich verstehe ihn heute wirklich nicht. Warum nur ist er so nervös? Kann es sein ... geht ihr auf ... dass er Michelle will? Ja, ist sie sich sicher, dass muss es sein. Er hätte gerne meine Hilfe bei ihr, weil er nicht weiß, wie er sie ansprechen soll. Da kann ich ihm helfen. Mehr noch: Ich helfe ihm da wirklich gerne. Gideon ist wirklich nett. Genau wie Michelle.
Ehe sie Gideon danach fragen kann, hält dieser wieder an und fährt fort, „Na ja ich dachte, wir beide könnten, ...“. Seine Hand lässt den Oberarm los und er versteift sich, als er ihr entschlossen in die Augen blickt. „Ich mag dich wirklich Gabrialla und ich würde gerne mit dir ein Paar bilden.“
Vollkommen überrumpelt stolpert Gabrialla zwei Schritte rückwärts, bevor sie das hohe Gestrüpp, das hier den Waldrand bildet, aufhält.
Frau? Mich? Gideon und ich? Aber ...? Michelle? Ihre Gedanken springen von einem Wort zum anderen. Scheinen nicht bewältigen zu können, was Gideon gesagt hat.
Schweigend, nervös von einem Fuß auf den anderen wankend, sieht dieser sie, weiterhin abwartend, an.
„Frau?“ Erschrocken vom rauen Klang ihrer Stimme ist nicht nur sie es, die zusammen zuck. Gabrialla räuspert sich, versucht ihren Mund, ihre Stimmbänder geschmeidiger zu bekommen. Erst, als sie das Gefühl hat, wieder normal sprechen zu können, fährt sie fort: „Du fragst mich, ob ich deine Frau werden will?“ Sie sind nur noch wenige Schritte von den Ersten, der inneren Gebäuden, entfernt. Haben es nicht mehr weit, bis sich ihre Wege trennen, doch keiner der beiden hat es mehr eilig.
Ein zaghaftes Nicken, gefolgt von einem nervösen „Ja …“ ist ihre Antwort. Fast zehn Herzschläge später, reckt sich Gideon zu seiner vollen Größe, räuspert sich ebenfalls und erklärt: „Ich meine, ich würde gerne, wenn du auch willst, mit dir in einer Partnerschaft leben. Ich mag dich wirklich sehr Gabrialla.“, stottert er weiter. „Eigentlich bist du die einzige Frau, die ich mag.“ Versichert er ihr Hecktisch. „Du bist eine der wenigen Menschen, die ich überhaupt mag.“ Sprudelt es ungebremst aus ihm heraus und gibt Gabrialla Zeit ihre Starre zu überwinden. „Sicher, als ich dich das erste Mal getroffen habe, da warst du nur ein kleines Mädchen. Ein starrsinniges Mädchen, das denkt, Männerarbeit machen zu können.“
Wie nett, denkt sie sich. Du warst aber auch nicht gerade mein Traum eines Arbeitspartners. Erinnert sie sich.
„Doch mit der Zeit konnte ich hinter diese Fassade blicken und ich fand ein nettes Mädchen, dessen Gesellschaft ich sehr genieße.“ Seine klaren braunen Augen sehen sie flehend an und Gabrialla wird ganz eigenartig. Schwindel, gefolgt von Übelkeit und dem starken Bedürfnis, davon zu laufen, wühlen sie auf. Als würde er das alles nicht bemerken, wartet er auf eine Antwort von ihr. „Jetzt, wo es an der Zeit ist, mir eine Frau zu nehmen, “ versucht er noch einmal, sich zu erklären, „wird mir klar, dass nur du infrage kommst. Ich will nur dich an meiner Seite.“
Gabrialla fühlt sich, als käme sie gerade von der Sportlehre, in der sie noch 20 extra Runden laufen musste. Schwer atmend versucht sie ihre Gedanken zu ordnen und zu verstehen, was Gideon gesagt hat.
Er will wirklich mich als seine Frau. Aber, warum? Seit wann? Wie kann das sein? Er ist doch nur mein alter Arbeitspartner. Der Ländler vom Garten. Wieso will er mich? Will ich ihn? Doch, dass Gefühl, das ihr bei dieser Frage an sich selber kommt, erwidert Gideons Sehnsucht nicht. Was soll ich ihm nur sagen? Ich brauch noch Zeit, ist der erste Ausweg, den sie erkennt. Doch Gabrialla kommt nicht mehr dazu Gideon zu antworten.
„Hey, ihr.“ Gabriallas und Gideons Blicke rucken erschrocken zu der Stelle, von der die Stimme kommt. Schutzlos, zwischen dem Wald und den inneren Gebäuden, stehen beide wie versteinert auf dem Weg. Star vor Schreck, so kommt es Gabrialla vor, steht Gideon neben ihr und start der tiefen Stimme entgegen.
„Was sucht ihr hier draußen?“
Der Klang verrät Gabrialla, dass die Stimme näher kommt und ihr Körper signalisiert ihr: Wir müssen weg, doch etwas anderes ist dagegen.
„Die Sperrstunde beginnt und ihr habt hier nichts zu suchen.“ Gabriallas Herz scheint einige Schläge auszulassen, als sie erkennt, wer da vor ihnen steht.
Ein Wächter. Kurz keimt in ihr der Wunsch auf, dem antrainierten nachzugeben, doch etwas anderes ist in ihr erwacht und übernimmt. Automatisch spult ihr Geist die Regeln, die sie alle, im Umgang mit Wächtern, gelernt haben, und die selbst sie kennt, herunter.
VERMEIDET ES, EINEN WÄCHTER ANZUSCHAUEN.
MACHT KEINEN WÄCHTER AUF EUCH AUFMERKSAM, SO GROSS KANN EURE NOT NICHT SEIN.
SPRECHT KEINEN WÄCHTER AN, ER WIRD EUCH NICHT ANTWORTEN, DENN ER SIEHT EUCH NICHT ALS WÜRDIG AN.
VERÄRGERT KEINEN WÄCHTER, ER IST IMMER STÄRKER.
BEGEGNET IHR EINEM WÄCHTER, VERSUCHT EUCH LANGSAM VON IHM WEG ZU BEWEGEN, OHNE ZU FLÜCHTEN.
SOLLTET IHR, MIT EINEM WÄCHTER IN EINEM GESCHLOSSENEN RAUM GERATEN, FLEHT UND VERSUCHT ZU FLÜCHTEN!
WÄCHTER, SIND BESTIEN IN MENSCHENGESTALT UND DEM MENSCHEN ÜBERLEGEN. BEHANDELT SIE AUCH SO.