Helene Persak
Mitglied
Michelles Griff lockert sich erst, als sie mehrere Schritte in der Lehranstalt sind. In diesem Moment auch erst, scheint Gabrialla wirklich zu erfassen, wie verängstigt sie ist.
Eigentlich dachte ich, überlegt sie, ihre pochende Hand betrachtend, ich sei es gewöhnt, dass Michelle sich an mich klammert. Aber, dass sie einen so festen Griff hat, hätte ich nie gedacht.
Mittlerweile hat Michelle ihr den Rücken zu gekehrt. Geschickt schlängelt diese sich an den anderen Lehrlingen, die sich nahe der großen Treppe und den am weitest entfernten Gebäudefingern gesammelt haben, vorbei.
Wie macht sie das nur?, überlegt sie, während sie versucht, ihr ebenso geschickt zu folgen. Doch es bleibt bei dem Versuch, wie ihr von unaufhörlichen Protesten vermittelt wird.
Warum müssen die auch direkt vor mir einen Schritt nach hinten machen? Können die nicht auch etwas aufpassen? Das ist der Gang, nicht die Aufenthaltsräume. Was machen die hier oben?
Noch bevor Gabrialla Michelle eingeholt hat, hat diese Marie gefunden. Gemeinsam, mit anderen Lehrlingen, stehen beide mitten im Gang zweier mittlerer Gruppen.
Klar, dass auch die beiden einfach mitten im Weg stehenbleiben, kritisiert Gabrialla. Doch hindert sie sich gerade noch daran, ihre Gedanken laut zu sagen, als sie bei ihnen ankommt.
„Es war echt beängstigend.“, sagt Sven gerade, an Michelle gewand, als Gabrialla sie erreicht. Schon beginnen sie erneut zu spekulieren, was hier los ist.
Nach dem Vorfall, vor dem Gebäude, hat sie selbst beschlossen, sich lieber still zu verhalten, und so nickt sie den Freunden nur knapp zu.
Ihre Neugierde hingegen, hält sie nicht zurück. Im Gegenteil lauscht sie aufmerksam den sie umgebenden Gesprächen. Immer darauf bedacht, nahe bei Michelle zu bleiben, folgt sie dieser, von einer Gruppe zu einer Anderen, den Gang hinunter.
Im Allgemeinen scheinen mir hier, alle viel zu große Angst zu haben. Die Wächter haben doch, außer herumzustehen, nichts gemacht. Bewertet sie, die allgemeine Unruhe und Aufregung. Währen sie hier, um uns etwas anzutun, würden sie sich sicher ganz anders verhalten. Und, wenn doch? Was können wir schon dagegen tun?
Schon schiebt sich Michelle weiter, in Richtung Treppe. Bevor sie außerhalb ihrer Reichweite ist, greift sie nach der gedankenverlorenen Gabrialla und zieht sie mit sich.
„Ohne dich fühle ich mich verloren. Du bist so stark, du bist meine Stütze.“, diese Worte sind es, die Gabrialla jeden Tag aufs neue dazu bringen, sich von Michelle führen zu lassen. „Nicht deine körperliche Stärke, die durchaus unübersehbar ist, ist es, die mir oft Stütze ist. Du selber, dein Wille, sei er auch teilweise noch so fremd, ist es, der mir Kraft gibt.“, wärme überkommt sie, als sie an diese Worte zurückdenkt.
Ich weiß nicht mehr, vor wie langer Zeit Michelle mir dies das erste Mal gesagt hat. Doch selbst jetzt bin ich noch immer der Meinung, dass sie die Stärkere ist. Dennoch werde ich ihr nicht widersprechen, schwört sie erneut.
Niemals, hallt es zustimmend aus ihrem tiefen Inneren.
Kaum sind sie am Fuß der Treppe angekommen, strebt Michelle die nächste Gruppe an. Von Gruppe zu Gruppe, von Vermutungen zu Versicherungen, treiben sie in Richtung Wäschekammer. Ihr Stopp ist nur kurz, eilig Waschen sie sich und suchen neue Kleider.
Nichts ist geblieben von der Pflege, die Michelle so genießt.
Schon eilen sie weiter, zum naheliegenden Aufenthaltsraum.
Schließlich, nach einer weiten und öden Reise, bei der für Gabrialla zu viel geredet und zu wenig gewusst wird, erreichen sie den Essensraum. An dessen Eingang auch schon die Freunde auf sie warten.
„Habt ihr erfahren, warum die Wächter hier sind? Ich habe nur Vermutungen gehört“, begrüßt Michelle diese, ungewohnt neugierig und so gar nicht den Regeln entsprechend. Doch: Was ist heute Abend schon den Regeln entsprechend?, überlegt Gabrialla spöttisch.
„Ein Wächter ist zum Lehrleiter gekommen und sitzt nun mit ihm in seinem Büro. Keiner weiß was er will oder wen.“, sprudelt es aus Sven.
„Das habe ich auch gehört.“, bestätigt Juls. „Und, dass fünf Wächter kurz nach den Prüfungen aufgetaucht sein sollen.“
„Fünf?“, unterbricht ihn Michelle überrascht.
„Ja. Die drei oben, einer, der mit dem Lehranstaltsleiter gegangen ist und einer ist wieder verschwunden.“
Juls wieder, grummelt Gabrialla erbost. Ihn interessiert es nicht, ob er Michelle verletzt oder, wie jetzt, verängstigt. Ich frage mich, ob er überhaupt merkt, was er macht. Oder, geht sie einer anderen, schon früher aufgekommenen Vermutung nach: Macht es ihm sogar Spaß?
Es drängt Gabrialla, nach oben zu gehen und sich nach den Wächtern umzusehen. Doch ihr Hunger ist stärker als ihre Neugierde.
„Wollen wir nicht erst einmal rein gehen? Uns etwas zum Essen holen und einen Platz finden?“, wirft sie in den verbalen Austausch der Freunde.
„Gabrialla hat recht. Es ist spät und ich habe hunger.“ Wie spät es ist, zeigt ihnen ein Blick auf das Sandspiel neben der Tür.
Die Essenszeit ist gleich vorbei. Hoffentlich bekommen wir noch was Gescheites zum Essen. Als ginge das jetzt auch den anderen auf, beeilen sie sich, an die Ausgabe zu gelangen.
„Was ist hier den los?“, flüstert Michelle, als ein, womöglich zehn Zyklen alter Junge, an ihnen vorbei läuft. „Warum sind die Kleinen noch hier? Ihre Essenszeit war vor einem halben Strich und die Sperrzeit beginnt gleich. Warum sind sie noch hier? Warum kümmern die Erzieherinen sich nicht?“
„Ich kann keine anderen sehen. Vielleicht“, hofft Gabrialla, „war das nur ein Nachzügler.“ Was ihr einen zweifelnden Blick von Michelle einbringt.
Wie schon am Mittentag, so belädt Michelle auch jetzt ihr Tablett. Gabrialla achtet nicht darauf, was diese ihr auftischt. Ihr Blick schweift durch den Raum.
„Die Mittleren sind auch noch hier.“, lässt sie Michelle wissen. „Dort drüben, in der Ecke sitzt eine Gruppe und ist immer noch am Essen.“
„Was ist hier los? Ich kann mich an kein Zyklusabschluss erinnern, an dem wir, außerhalb unserer Essenszeit, im Essensraum sein durften.“
„Los, macht weiter, ich hab Hunger.“, treibt Juls sie ungeduldig an. Schnell landen noch zwei Früchte bei Gabrialla und eine bei Michelle. Doch, als sie ihre Auswahl durch die Kontrolle tragen, sitzt dort niemand.
„Also jetzt bekomme ich Angst!“, kommentiert Michelle, bevor sie wieder von Juls angetrieben, weiter gehen.
Es dauert einige Zeit, schieben und gut zu reden, bis sie einen Platz für alle gefunden haben.
Als alle schließlich sitzen, will Michelle wissen: „Also, was habt ihr gehört? Was habt ihr Neues erfahren? Weis irgendjemand, was die Wächter wollen?“ Trotz der Anspannung hat jeder, außer ihr und Gabrialla, sofort nach einer Speise gegriffen.
Weiterhin nur dieser Dreck. Ob ich noch einmal zur Ausgabe soll und zusätzliches Fleisch holen soll? Es ist niemand da, der kontrolliert.
Nun lassen sie jedoch ihre Blicke schweifen. Scheinen zu forschen, welcher von ihnen das Rätsel lösen kann.
„Sie sollen kurz nach der letzten Prüfung angekommen sein,“ eröffnet Juls schließlich. „Seit dem sollen die drei oben und der eine im Gebäude sein. Ein Freund hat es beobachtet.“ Scheinbar entspannt, unter den neugierigen Blicken der anderen, teilt er eine Wurzel. Gemächlich, als würde ihm die Aufmerksamkeit, die Anspannung der Anderen gefallen, kaut er diese genüsslich.
„Und?“, fordert ihn Gabrialla, neugierig auf weiter zu sprechen, „Was haben sie gemacht?“ Als sich die Köpfe ihrer Freunde zu ihr herum drehen, steigt erneut ein mulmiges Gefühl in ihr hoch. Was?, fragt sie sich verletzt. Was ist jetzt schon wieder? Sie wollten doch wissen, was geschehen ist! Was ist an meiner Frage jetzt schon wieder falsch?
„Nichts,“ antwortet Juls. „Seit ihrer Ankunft stehen sie da und tun einfach nichts. Weder unterhalten sie sich, noch scheinen sie von einem der Lehrlinge Notiz zu nehmen.“
„Aber sie sind doch nicht einfach mal vorbei gekommen. Noch nie ist ein Wächter einfach so vorbei gekommen und sicher nicht fünf“, erwidert Michelle energisch. Kauend nicken einige zustimmend, während andere ihren Blick nachdenklich senken.
„Ich weiß zwar nichts von den Wächtern,“ bricht Gino das Schweigen, „aber einer meiner Freunde hat mir etwas seltsames erzählt. Er arbeitet im Archiv der Lehranstalt. Da,“ klärt er sie auf, „wo sie die Unterlagen der abgeschlossenen aufbewahren.“ Sich, sichtbar unwohl fühlend, unter den Blicken der Freunde windend, sucht sein Blick Svens. Erst, als dieser ihm aufmunternd zu nickt, fährt er fort zu erzählen. „Die Hausherrin ist in das Archiv gekommen und hat in den Unterlagen gesucht. Sie hat ihn erst gesehen, als sie gefunden hat, was sie suchte und war über seine Anwesenheit nicht erfreut. Er meinte, dass sie sichtlich irritiert, womöglich sogar Böse war. Jedenfalls hat sie ihn mit raus genommen und ihm erklärt, er wäre für heute fertig.“
„Was hat ...“, Juls kommt nicht weiter, sondern wird durch Svens erhobene Hand unterbrochen.
„Erzähl weiter,“ fordert er sanft, den immer nervöser werdenden Gino auf. „Was ist dann geschehen?“
„Als sie ihn also rausgeschmissen hat,“ fährt er fort, „hat er sich hinter der nächsten Biegung versteckt und ist dann der Hausherrin gefolgt.“ Das entsetzte Luftholen, über diese Verletzung der Regeln, unterbricht seine Ausführung dieses Mal nur kurz. „Mein Freund ist ziemlich wissbegierig. Weswegen er auch gerne im Archiv arbeitet.“, versucht er, die Entscheidung seines Freundes zu entschuldigen. “Er ist ihr in Richtung des Lehranstaltsleiterraumes gefolgt. Sie war, so versicherte er mir, wirklich schnell unterwegs.“, beendet er seine Erzählung.
Fasziniert ist Gabrialla seiner Geschichte gefolgt. Jetzt, da sie geendet hat, bemerkt sie erst, wie still es um sie geworden ist. Nicht einfach nur still. Alle um sie, scheinen den Atem anzuhalten. Kein Laut, abgesehen, von Ginos hektischem Atem ist zu hören. Wie hypnotisiert, beobachtet sie, wie sich seine Brust hebt, Luft ansaugt und in zu schnellen Stößen abgibt. Drei. Vier.
Herzschläge lang verharrt alles Still.
„Also,“ durchbricht Svens Stimme die Stille und lässt Gabrialla Auffahren, „geht es um einen von uns.“ Verwirrt darüber, was gerade gewesen ist, sucht Gabriallas Blick die Freunde ab. Alle Blicke sind auf Sven gerichtet, während ihre Münder an ihrem Essen kauen.
„Wie meinst du das?“, erklingt Juls Stimme fragend.
„Na“, fährt dieser fort, als er seinen nächsten Bissen geschluckt hat. „Ist doch klar. Welche Unterlagen werden im Archiv aufbewahrt? Die, der Prüflinge. Die, aus den zehn letzten Zyklen. Unsere sind noch am Abend vor den ersten Prüfungen einsortiert worden.“
„Aber,“ will Marie krächzend wissen, „Warum sollten die Wächter Unterlagen eines Prüflings benötigen?“
Das Erlöschen der Kerze auf ihrem Tisch, unterbricht die Unterhaltung.
Was?, nicht nur Gabrialla sieht sich in der Gruppe nach einer Antwort um. Es muss schon sehr spät sein, entscheidet sie, wenn die Kerze ausgeht.
„Die Kerze ist aus. Die Essenszeit muss schon seit einiger Zeit zu Ende sein,“ spricht Michelle Gabriallas Gedanken aus. „Und keine Erzieherin, kein Erzieher ist da, um uns raus zu scheuchen. Wo sind sie?“
„Wir sollten raus, ehe die letzten Kerzen erlöschen.“ Ein kurzer Blick zeigt auch den anderen, dass ihre Kerze nicht die erste ist, die erloschen ist.
Zügig bringen sie ihre Tablets zurück, bevor sie sich an der Trinkenausgabe anstellen.
Oh. Hier ist jemand, stellt Gabrialla überrascht fest, als sie bemerkt, dass alle Ausgabestellen besetzt sind. Doch, auch sie sehen nervös aus. Nicht so träge wie heute zur Mittentagszeit. Als sie endlich den Raum verlassen können, sind auch die letzten Kerzen an den Tischen verloschen. Alleine im Bereich der Ausgabe, wurden neue entzündet.
Wie seltsam.
Gabrialla ist erneut versucht, nach oben zu eilen. Doch sie stoppt sich. Wendet alleine ihren Blick sehnsüchtig der Treppe entgegen.
Ich würde so gerne wissen, was sie hier wollen. Aber, die Tür nach oben ist schon lange abgeschlossen, schlussfolgert sie, nach einem Blick auf das Sandspiel. Was die Wächter jetzt machen? Abrupt stockt sie.
Was? Ihr Blick hat eine Erzieherin erfasst, die auf die Treppe zuhält. Soeben hat diese die beiden Aufpasser erreicht. Statt jedoch, wie erwartet, stehen zu bleiben, schlüpft sie nun eilig durch die Tür, die Gabrialla bis eben noch für verschlossen hielt. Ihr Atem stockt, ihre Beine geraten durcheinander und sie fällt fast über diese, als sie begreift was ihre Augen gesehen haben.
Die Türen sind offen! Aber ... wie kann das sein? Nun spürt auch Gabrialla, wie ein Schauer über sie gleitet und ihre Haut erzittern lässt. Eine Hand, die sie ergreift, lässt sie herumfahren. Dabei streift sie einige Lehrlinge und schleudert sie von sich.
Eigentlich dachte ich, überlegt sie, ihre pochende Hand betrachtend, ich sei es gewöhnt, dass Michelle sich an mich klammert. Aber, dass sie einen so festen Griff hat, hätte ich nie gedacht.
Mittlerweile hat Michelle ihr den Rücken zu gekehrt. Geschickt schlängelt diese sich an den anderen Lehrlingen, die sich nahe der großen Treppe und den am weitest entfernten Gebäudefingern gesammelt haben, vorbei.
Wie macht sie das nur?, überlegt sie, während sie versucht, ihr ebenso geschickt zu folgen. Doch es bleibt bei dem Versuch, wie ihr von unaufhörlichen Protesten vermittelt wird.
Warum müssen die auch direkt vor mir einen Schritt nach hinten machen? Können die nicht auch etwas aufpassen? Das ist der Gang, nicht die Aufenthaltsräume. Was machen die hier oben?
Noch bevor Gabrialla Michelle eingeholt hat, hat diese Marie gefunden. Gemeinsam, mit anderen Lehrlingen, stehen beide mitten im Gang zweier mittlerer Gruppen.
Klar, dass auch die beiden einfach mitten im Weg stehenbleiben, kritisiert Gabrialla. Doch hindert sie sich gerade noch daran, ihre Gedanken laut zu sagen, als sie bei ihnen ankommt.
„Es war echt beängstigend.“, sagt Sven gerade, an Michelle gewand, als Gabrialla sie erreicht. Schon beginnen sie erneut zu spekulieren, was hier los ist.
Nach dem Vorfall, vor dem Gebäude, hat sie selbst beschlossen, sich lieber still zu verhalten, und so nickt sie den Freunden nur knapp zu.
Ihre Neugierde hingegen, hält sie nicht zurück. Im Gegenteil lauscht sie aufmerksam den sie umgebenden Gesprächen. Immer darauf bedacht, nahe bei Michelle zu bleiben, folgt sie dieser, von einer Gruppe zu einer Anderen, den Gang hinunter.
Im Allgemeinen scheinen mir hier, alle viel zu große Angst zu haben. Die Wächter haben doch, außer herumzustehen, nichts gemacht. Bewertet sie, die allgemeine Unruhe und Aufregung. Währen sie hier, um uns etwas anzutun, würden sie sich sicher ganz anders verhalten. Und, wenn doch? Was können wir schon dagegen tun?
Schon schiebt sich Michelle weiter, in Richtung Treppe. Bevor sie außerhalb ihrer Reichweite ist, greift sie nach der gedankenverlorenen Gabrialla und zieht sie mit sich.
„Ohne dich fühle ich mich verloren. Du bist so stark, du bist meine Stütze.“, diese Worte sind es, die Gabrialla jeden Tag aufs neue dazu bringen, sich von Michelle führen zu lassen. „Nicht deine körperliche Stärke, die durchaus unübersehbar ist, ist es, die mir oft Stütze ist. Du selber, dein Wille, sei er auch teilweise noch so fremd, ist es, der mir Kraft gibt.“, wärme überkommt sie, als sie an diese Worte zurückdenkt.
Ich weiß nicht mehr, vor wie langer Zeit Michelle mir dies das erste Mal gesagt hat. Doch selbst jetzt bin ich noch immer der Meinung, dass sie die Stärkere ist. Dennoch werde ich ihr nicht widersprechen, schwört sie erneut.
Niemals, hallt es zustimmend aus ihrem tiefen Inneren.
Kaum sind sie am Fuß der Treppe angekommen, strebt Michelle die nächste Gruppe an. Von Gruppe zu Gruppe, von Vermutungen zu Versicherungen, treiben sie in Richtung Wäschekammer. Ihr Stopp ist nur kurz, eilig Waschen sie sich und suchen neue Kleider.
Nichts ist geblieben von der Pflege, die Michelle so genießt.
Schon eilen sie weiter, zum naheliegenden Aufenthaltsraum.
Schließlich, nach einer weiten und öden Reise, bei der für Gabrialla zu viel geredet und zu wenig gewusst wird, erreichen sie den Essensraum. An dessen Eingang auch schon die Freunde auf sie warten.
„Habt ihr erfahren, warum die Wächter hier sind? Ich habe nur Vermutungen gehört“, begrüßt Michelle diese, ungewohnt neugierig und so gar nicht den Regeln entsprechend. Doch: Was ist heute Abend schon den Regeln entsprechend?, überlegt Gabrialla spöttisch.
„Ein Wächter ist zum Lehrleiter gekommen und sitzt nun mit ihm in seinem Büro. Keiner weiß was er will oder wen.“, sprudelt es aus Sven.
„Das habe ich auch gehört.“, bestätigt Juls. „Und, dass fünf Wächter kurz nach den Prüfungen aufgetaucht sein sollen.“
„Fünf?“, unterbricht ihn Michelle überrascht.
„Ja. Die drei oben, einer, der mit dem Lehranstaltsleiter gegangen ist und einer ist wieder verschwunden.“
Juls wieder, grummelt Gabrialla erbost. Ihn interessiert es nicht, ob er Michelle verletzt oder, wie jetzt, verängstigt. Ich frage mich, ob er überhaupt merkt, was er macht. Oder, geht sie einer anderen, schon früher aufgekommenen Vermutung nach: Macht es ihm sogar Spaß?
Es drängt Gabrialla, nach oben zu gehen und sich nach den Wächtern umzusehen. Doch ihr Hunger ist stärker als ihre Neugierde.
„Wollen wir nicht erst einmal rein gehen? Uns etwas zum Essen holen und einen Platz finden?“, wirft sie in den verbalen Austausch der Freunde.
„Gabrialla hat recht. Es ist spät und ich habe hunger.“ Wie spät es ist, zeigt ihnen ein Blick auf das Sandspiel neben der Tür.
Die Essenszeit ist gleich vorbei. Hoffentlich bekommen wir noch was Gescheites zum Essen. Als ginge das jetzt auch den anderen auf, beeilen sie sich, an die Ausgabe zu gelangen.
„Was ist hier den los?“, flüstert Michelle, als ein, womöglich zehn Zyklen alter Junge, an ihnen vorbei läuft. „Warum sind die Kleinen noch hier? Ihre Essenszeit war vor einem halben Strich und die Sperrzeit beginnt gleich. Warum sind sie noch hier? Warum kümmern die Erzieherinen sich nicht?“
„Ich kann keine anderen sehen. Vielleicht“, hofft Gabrialla, „war das nur ein Nachzügler.“ Was ihr einen zweifelnden Blick von Michelle einbringt.
Wie schon am Mittentag, so belädt Michelle auch jetzt ihr Tablett. Gabrialla achtet nicht darauf, was diese ihr auftischt. Ihr Blick schweift durch den Raum.
„Die Mittleren sind auch noch hier.“, lässt sie Michelle wissen. „Dort drüben, in der Ecke sitzt eine Gruppe und ist immer noch am Essen.“
„Was ist hier los? Ich kann mich an kein Zyklusabschluss erinnern, an dem wir, außerhalb unserer Essenszeit, im Essensraum sein durften.“
„Los, macht weiter, ich hab Hunger.“, treibt Juls sie ungeduldig an. Schnell landen noch zwei Früchte bei Gabrialla und eine bei Michelle. Doch, als sie ihre Auswahl durch die Kontrolle tragen, sitzt dort niemand.
„Also jetzt bekomme ich Angst!“, kommentiert Michelle, bevor sie wieder von Juls angetrieben, weiter gehen.
Es dauert einige Zeit, schieben und gut zu reden, bis sie einen Platz für alle gefunden haben.
Als alle schließlich sitzen, will Michelle wissen: „Also, was habt ihr gehört? Was habt ihr Neues erfahren? Weis irgendjemand, was die Wächter wollen?“ Trotz der Anspannung hat jeder, außer ihr und Gabrialla, sofort nach einer Speise gegriffen.
Weiterhin nur dieser Dreck. Ob ich noch einmal zur Ausgabe soll und zusätzliches Fleisch holen soll? Es ist niemand da, der kontrolliert.
Nun lassen sie jedoch ihre Blicke schweifen. Scheinen zu forschen, welcher von ihnen das Rätsel lösen kann.
„Sie sollen kurz nach der letzten Prüfung angekommen sein,“ eröffnet Juls schließlich. „Seit dem sollen die drei oben und der eine im Gebäude sein. Ein Freund hat es beobachtet.“ Scheinbar entspannt, unter den neugierigen Blicken der anderen, teilt er eine Wurzel. Gemächlich, als würde ihm die Aufmerksamkeit, die Anspannung der Anderen gefallen, kaut er diese genüsslich.
„Und?“, fordert ihn Gabrialla, neugierig auf weiter zu sprechen, „Was haben sie gemacht?“ Als sich die Köpfe ihrer Freunde zu ihr herum drehen, steigt erneut ein mulmiges Gefühl in ihr hoch. Was?, fragt sie sich verletzt. Was ist jetzt schon wieder? Sie wollten doch wissen, was geschehen ist! Was ist an meiner Frage jetzt schon wieder falsch?
„Nichts,“ antwortet Juls. „Seit ihrer Ankunft stehen sie da und tun einfach nichts. Weder unterhalten sie sich, noch scheinen sie von einem der Lehrlinge Notiz zu nehmen.“
„Aber sie sind doch nicht einfach mal vorbei gekommen. Noch nie ist ein Wächter einfach so vorbei gekommen und sicher nicht fünf“, erwidert Michelle energisch. Kauend nicken einige zustimmend, während andere ihren Blick nachdenklich senken.
„Ich weiß zwar nichts von den Wächtern,“ bricht Gino das Schweigen, „aber einer meiner Freunde hat mir etwas seltsames erzählt. Er arbeitet im Archiv der Lehranstalt. Da,“ klärt er sie auf, „wo sie die Unterlagen der abgeschlossenen aufbewahren.“ Sich, sichtbar unwohl fühlend, unter den Blicken der Freunde windend, sucht sein Blick Svens. Erst, als dieser ihm aufmunternd zu nickt, fährt er fort zu erzählen. „Die Hausherrin ist in das Archiv gekommen und hat in den Unterlagen gesucht. Sie hat ihn erst gesehen, als sie gefunden hat, was sie suchte und war über seine Anwesenheit nicht erfreut. Er meinte, dass sie sichtlich irritiert, womöglich sogar Böse war. Jedenfalls hat sie ihn mit raus genommen und ihm erklärt, er wäre für heute fertig.“
„Was hat ...“, Juls kommt nicht weiter, sondern wird durch Svens erhobene Hand unterbrochen.
„Erzähl weiter,“ fordert er sanft, den immer nervöser werdenden Gino auf. „Was ist dann geschehen?“
„Als sie ihn also rausgeschmissen hat,“ fährt er fort, „hat er sich hinter der nächsten Biegung versteckt und ist dann der Hausherrin gefolgt.“ Das entsetzte Luftholen, über diese Verletzung der Regeln, unterbricht seine Ausführung dieses Mal nur kurz. „Mein Freund ist ziemlich wissbegierig. Weswegen er auch gerne im Archiv arbeitet.“, versucht er, die Entscheidung seines Freundes zu entschuldigen. “Er ist ihr in Richtung des Lehranstaltsleiterraumes gefolgt. Sie war, so versicherte er mir, wirklich schnell unterwegs.“, beendet er seine Erzählung.
Fasziniert ist Gabrialla seiner Geschichte gefolgt. Jetzt, da sie geendet hat, bemerkt sie erst, wie still es um sie geworden ist. Nicht einfach nur still. Alle um sie, scheinen den Atem anzuhalten. Kein Laut, abgesehen, von Ginos hektischem Atem ist zu hören. Wie hypnotisiert, beobachtet sie, wie sich seine Brust hebt, Luft ansaugt und in zu schnellen Stößen abgibt. Drei. Vier.
Herzschläge lang verharrt alles Still.
„Also,“ durchbricht Svens Stimme die Stille und lässt Gabrialla Auffahren, „geht es um einen von uns.“ Verwirrt darüber, was gerade gewesen ist, sucht Gabriallas Blick die Freunde ab. Alle Blicke sind auf Sven gerichtet, während ihre Münder an ihrem Essen kauen.
„Wie meinst du das?“, erklingt Juls Stimme fragend.
„Na“, fährt dieser fort, als er seinen nächsten Bissen geschluckt hat. „Ist doch klar. Welche Unterlagen werden im Archiv aufbewahrt? Die, der Prüflinge. Die, aus den zehn letzten Zyklen. Unsere sind noch am Abend vor den ersten Prüfungen einsortiert worden.“
„Aber,“ will Marie krächzend wissen, „Warum sollten die Wächter Unterlagen eines Prüflings benötigen?“
Das Erlöschen der Kerze auf ihrem Tisch, unterbricht die Unterhaltung.
Was?, nicht nur Gabrialla sieht sich in der Gruppe nach einer Antwort um. Es muss schon sehr spät sein, entscheidet sie, wenn die Kerze ausgeht.
„Die Kerze ist aus. Die Essenszeit muss schon seit einiger Zeit zu Ende sein,“ spricht Michelle Gabriallas Gedanken aus. „Und keine Erzieherin, kein Erzieher ist da, um uns raus zu scheuchen. Wo sind sie?“
„Wir sollten raus, ehe die letzten Kerzen erlöschen.“ Ein kurzer Blick zeigt auch den anderen, dass ihre Kerze nicht die erste ist, die erloschen ist.
Zügig bringen sie ihre Tablets zurück, bevor sie sich an der Trinkenausgabe anstellen.
Oh. Hier ist jemand, stellt Gabrialla überrascht fest, als sie bemerkt, dass alle Ausgabestellen besetzt sind. Doch, auch sie sehen nervös aus. Nicht so träge wie heute zur Mittentagszeit. Als sie endlich den Raum verlassen können, sind auch die letzten Kerzen an den Tischen verloschen. Alleine im Bereich der Ausgabe, wurden neue entzündet.
Wie seltsam.
Gabrialla ist erneut versucht, nach oben zu eilen. Doch sie stoppt sich. Wendet alleine ihren Blick sehnsüchtig der Treppe entgegen.
Ich würde so gerne wissen, was sie hier wollen. Aber, die Tür nach oben ist schon lange abgeschlossen, schlussfolgert sie, nach einem Blick auf das Sandspiel. Was die Wächter jetzt machen? Abrupt stockt sie.
Was? Ihr Blick hat eine Erzieherin erfasst, die auf die Treppe zuhält. Soeben hat diese die beiden Aufpasser erreicht. Statt jedoch, wie erwartet, stehen zu bleiben, schlüpft sie nun eilig durch die Tür, die Gabrialla bis eben noch für verschlossen hielt. Ihr Atem stockt, ihre Beine geraten durcheinander und sie fällt fast über diese, als sie begreift was ihre Augen gesehen haben.
Die Türen sind offen! Aber ... wie kann das sein? Nun spürt auch Gabrialla, wie ein Schauer über sie gleitet und ihre Haut erzittern lässt. Eine Hand, die sie ergreift, lässt sie herumfahren. Dabei streift sie einige Lehrlinge und schleudert sie von sich.