Kapitel 10: Momo hat keinen Nachnamen

„Und wie heißt du?“, fragte die Frau mit dem runden roten Gesicht.
„Ann“, sagte Momos Freundin.
Die Klassenlehrerin suchte mit ihrem Bleistift den Namen von Ann in der Liste. Der Bleistift hielt an, fuhr fort und hielt ein zweites Mal an.
„Ann Kleinschmidt oder Ann Blümchen?“, fragte sie hinter ihren dicken Brillengläsern.
„Ann Kleinschmidt“, antwortete Ann.
„Du kannst jetzt irgendwo Platz nehmen, Ann“, schlug die Lehrerin vor. Ann lief zum letzten freien Doppelpult und zeigte auf den freien Platz neben ihr. Momo grinste und nickte; sie war die Letzte in der Reihe; sie musste noch warten. Vor Momo waren noch zwei Jungen und drei andere Mädchen; alle anderen Erstklässler hatten schon Platz genommen.
„Und du heißt…“, fragte sie die Lehrerin, als sie an der Reihe war.
„Momo“, ergänzte unsere Freundin.
„Liebe, kleine Momo, deine Eltern haben wohl einen kleinen Fehler gemacht, als sie dich angemeldet haben. Sie haben uns nur deinen Spitznamen angegeben.“
„Spitzname?“, fragte Momo. Sie verstand die Frage nicht.
„Ja, schau, mein Kind“, erklärte das jetzt ernste Brillengesicht, „ hört doch mal bitte alle zu: Wer kennt den Unterschied zwischen Vorname und Spitzname?“
Viele Finger gingen hoch. Die Lehrerin nahm einen Jungen aus der ersten Reihe dran: „Wie heißt du, bitte, mein Kleiner?“
„Johnny, das heißt Johannes“, sagte der kleine, schwarzhaarige Junge.
„Wie ist also deine Vorname?“, fragte die Lehrerin geduldig.
„Johnny, weil Johannes zu lang ist. Alle nennen mich Johnny.“
Die nachdenklichen, dicken Brillengläser verbargen, was die Lehrerin von dieser Antwort hielt.
„Du heißt also mit Vornamen Johannes, und man nennt dich mit Spitznamen Johnny“, fasste die Lehrerin zusammen. „Du verstehst jetzt, Momo? Man kann also einen Spitznamen und einen Vornamen haben. Wie heißt du also mit Vornamen?“
Momo zögerte. Die Brillengläser sahen sie fest an. Momo wurde es unbehaglich. Was sollte sie sagen? Sie blickte auf den Fußboden und scharrte verlegen mit den Füssen.
„Momo“, sagte sie leise.
Das Lächeln des runden, roten Gesichts war zu einem blutleeren Strich erstarrt.
„Es tut mir leid, Frau Lehrerin“, fügte Momo noch fast unhörbar an.
„Das macht nichts. Aber bitte gib mir doch wenigstens deinen Nachnamen; den haben deine Eltern auch vergessen, anzugeben.“
„Gigi.“ verbesserte Momo wahrheitsgemäß.
„Wer?“
„Gigi Fremdenführer hat mich angemeldet.“
„Ist Herr Fremdenführer dein Vater?“
„Nein.“
Die Lehrerin griff sich fest an die Knopfleiste ihres schwarzen Hemds, so als bekäme sie keine Luft: „Liebes Kind, wie heißen deine Eltern, bitte?“
Momo wusste, dass sie irgendwie in eine Falle geraten war, und zog es vor, nichts zu sagen. Sie wusste, dass es nicht der Augenblick war, von dem Kinderheim und ihrer Flucht zu erzählen und wie sie angekommen war im Amphitheater und wie Nino, Gigi, Beppo und all die anderen sich um sie gekümmert hatten. Nein. Das konnte sie nicht der Lehrerin erzählen.
Die Lehrerin begann, sich nervös am Hemd zu zupfen: „Kinder, hört mal her! Momo versteht nicht, warum Namen so wichtig sind. Da wollen wir ihr mal zeigen, was schöne lappalische Namen sind.“
Die Brille zeigte mit ihrem Bleistift auf einen Jungen ganz vorne rechts.
„Bäcker.“
Der Bleistift wanderte zum Pultnachbarn.
„Groß.“
Zum Nebenpult.
„Blümchen.“
„Grünspecht.“
Zu den nächsten Pulten, durch die ganze Reihe, durch die ganze Klasse.
„Obermeier.“
„Conte.“
„Siewerts.“
„Feluci.“
„Himmelich.“
Momo hörte all diese Namen und fühlte sich immer einsamer in ihrer neuen Klasse. Warum hatte sie keinen Namen? Gehörte sie nicht zur Klasse? Hatten die anderen Kinder ein Recht hier zu sein und sie nicht?
„Oberspross.“
„Bockmann.“
„Rösner.“
„Medici.“
„Özkalan.” Die Lehrerin blieb einen Moment vor dem Pult von Thomas Medici und Selma Özkalan stehen, so als ob sie etwas sagen wollte. Doch dann fuhr ihr Bleistift fort, die Namen der Kinder abzufragen.
„Riffier.“
„Melan.“
Der Bleistift blieb auf Ann gerichtet stehen. Momos Freundin war ganz bleich geworden.
„Ja?“, fragte das runde Gesicht der Lehrerin nun, als Ann nicht sofort antwortete. Die Lehrerin schien plötzlich sehr streng und beugte sich vor. Ann rutschte auf ihrem Holzstuhl nach hinten.
„Äh…, ist es schlimm, dass Momo keinen Nachnamen hat?“, fragte Ann mit leiser, zittriger Stimme.
Das war zuviel. Das rote, runde Gesicht pustete sich auf und füllte sich mit roter Zornesfarbe wie eine große Tomate; auf der Stirn über der Brille bildete sich eine Schweißspur.
Der Bleistift bohrte sich durch die Luft in Anns Richtung. Momo befürchtete, dass Ann mit dem Stuhl aus Angst nach hinten umkippen würde.
„Alle!“, rief die tomatenrote Lehrerin, „alle Lappalier haben einen Nachnamen! Kinder, seid stolz auf euren Namen! Eure Urahnen wohnten schon in unserer schönen kleinen Stadt Lappalia. Ihr dürft euch freuen, solche Nachnamen tragen zu dürfen. Euer Name macht einen Unterschied. Ihr seid jemand aus dieser Region. Ihr seid wer.“
„Und Momo?“, fragte Johnny schüchtern.
„Vielleicht sind Momos Eltern Zigeuner oder Afrikaner, die Momo hier ausgesetzt haben. In diesen fremden Völkern gibt es nicht so schöne Nachnamen wie in Lappalia…“
Momo schaute beschämt auf den Fußboden. Sie hätte am liebsten geheult. Warum hatte sie keine Eltern, die sie jetzt verteidigen konnten?

In diesem Moment ging die Schulglocke.
Die Klassenlehrerin ging an Momo vorbei, ohne sie zu beachten. Sie schlug das Klassenbuch zu und schaute wütend zuerst auf Momo, dann in die Klasse und wollte noch etwas sagen.

Da erschien ein neuer Lehrer im Türrahmen.
 



 
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