Helene Persak
Mitglied
Doch, hinter ihr ist niemand. Niemand, den sie Freund nennt. Niemand, der ihre Hand greifen hätte wollen. Erleichtert entlässt sie seufzend ihren angehaltenen Atem.
„Gabrialla?“, Michelles Stimme, die sie besser kennt als ihre eigene, lässt sie ihren Blick herrumdrehen. „Was ist?“
Angespannt, die Situation noch nicht verarbeitet, begeht Gabrialla den Fehler ihrer Freundin offen zu sagen, was geschehen ist: „Die Tür nach oben ist offen.“
„Was fantasierst du, Gabrialla?“, spottet Juls.
„Wie kommst du darauf?“
„Marie, meine Liebe, hör nicht auf sie“, versucht Juls, seine Freundin zu beruhigen. „Die Situation ist zu viel für sie. Sieh sie dir doch an, wie nervös sie ist. Ihre Gedanken haben ihr einen Streich ge..“
„Nein, haben sie nicht!“, begehrt Gabrialla auf. „Ich weiß doch, was ich gesehen habe“, fährt sie, mit gedämpfter Stimme fort, als Michelle zurückschreckt.
„Und? Was meinst du, gesehen zu haben?“
„Eine Erzieherin. Wie sie durch diese Tür gegangen ist. Eben gerade. Geh hin und sie nach, Juls“, fordert sie ihn auf. Wie erwartet, ändert sich sein geringschätziger Blick jedoch nicht. Gabrialla macht einen Schritt auf ihn zu und sieht ihn ihrerseits auffordernd an. „Oder traust du dich nicht?“
Nun durchbricht auch bei ihm sein Instinkt, sein Inneres, die Maske der Farmbewohner und Gabrialla kann seinen Trotz, seine Selbstgefälligkeit deutlich erkennen. Doch, zu ihrem Leidwesen, gewinnt schon gleich die Erziehung wieder überhand.
„Nein!“, erklärt er entschieden. „Es ist verboten, in der Sperrzeit nach oben zu gehen. Warum also, sollte ich zur Tür gehen?“
Feigling.
„Lass es gut sein, Juls“, unterbricht schließlich Marie ihren stummen Kampf. „Wir wollten doch in den Aufenthaltsraum gehen und nach Neuigkeiten fragen. Los, kommt.“
Als Juls von ihr herum gezogen und der Blickkontakt getrennt wird, sucht Gabrialla noch einmal die Tür.
Da sieht sie es erneut. Die Tür nach oben öffnet sich. Es ist die selbe Erzieherin, die gerade nach oben gegangen ist, welche nun nach unten eilt. Ein eiliger Blick zu ihren Freunden, zeigt ihr, dass sie dieses Mal nicht die Einzige ist, die es gesehen hat.
Michelles Mund ist erstaunt geöffnet, als ihr Blick der, nun sichtlich verstört wirkenden Erzieherin folgt. Ihren eigenen Blick auf Juls richtend, offenbart ihr, dass dieser es ebenfalls gesehen hat. Unglaube ist es jedoch bei ihm, was man deutlich erkennen kann. Blinzelnd verharrt er, lässt sich nicht weiter von Marie ziehen und starrt auf die Tür.
„Aber ...“, erklingt Ginos Stimme und verklingt dann in einem Wimmern.
„Das sagt Garnichts“, behauptet Juls erneut und versucht das gesehene zu verharmlosen, als er anfügt: „Es ist die Aufgabe der Erzieher, oben nach dem Rechten zu sehen. Sie sind für unsere Sicherheit verantwortlich und müssen auch den oberen Bereich kontrollieren.“ Gabrialla glaubt ihm nicht. Ein Blick in Michelles, Svens und Ginos Gesicht, zeigt ihr, dass sie ihm wohl gerne glauben würden, doch ebenfalls zweifeln.
„Los“, drängt Marie wieder, die offensichtlich einfach nur weg will, „lasst uns gehen.“ Und tatsächlich setzt sich die Gruppe in Bewegung.
Bevor sie zu ihrem üblichen Aufenthaltsraum gehen, verteilen sie sich auf die anderen Beiden, um dort nach Neuigkeiten zu forschen.
Gabrialla weiß, dass sie nicht viel Zeit haben. Nicht einmal sechzig Zehnstriche sind es mehr, bis ihre Schlafenszeit beginnt. Infolgedessen, eilen Michelle und Gabrialla eher durch den Raum und sind, in weniger als zwanzig Zehntstrichen, im Bereich ihres üblichen Sitzplatzes angekommen.
Sven und Gino warten schon auf sie.
Nur Juls und Marie fehlen noch.
„Und?“, sprudelt es aus Gabrialla, „habt ihr etwas Neues erfahren?“
„Nicht wirklich“, dämpft Sven ihre Ungeduld. „Du bist aber nicht die Einzige, die die offene Tür entdeckt hat. Die meisten stimmen aber Juls zu.“
„Leute“, stürmt Juls, als währe er gerufen worden, in die Unterhaltung. „Ich habe was Neues erfahren.“ Sofort sind alle Blicke auf ihn gerichtet und Gabriallas Neugierde von neuem entfacht.
„Na los“, drängt sie ihn, als dieser ihr zu lange braucht, um sich zu setzten und zu erzählen. Doch zunächst erntet sie wieder eines dieser milden, strafenden Lächeln, die in ihr den Drang wecken ihn zu schlagen.
„Also, ich hab erfahren, dass die Türen noch offen sind.“
„Das wissen wir doch schon“, wirft Michelle ein.
„Warte doch einmal ab“, tadelt er sie besserwisserisch. „Ich meine nicht die Tür nach oben. Ich meine auch das Haupttor nach draußen und sämtliche kleinen Tore.“ Sein Blick schweift über die Freunde, scheint sich vergewissern zu wollen, dass ihn auch alle ansehen, bevor er weiter spricht. „Einer meiner Freunde hat mir gesagt, dass er noch nach dem Läuten, nach dem Torschluss, draußen gewesen ist. Nicht nur er. So wie er es gesagt hat, waren noch einige Lehrlinge bei den Bäumen und haben sich nicht an den Wächtern vorbei getraut. Das Seltsame ist“, spricht er schnell weiter, als Sven etwas sagen will, „das die Wächter ihre Position geändert haben, kurz als die Glocke verklungen war.“
Was? Haben wir nicht gelernt, dass nach dem Beginn der Sperrzeit die Jagdzeit beginnt? Das jeder, der dann noch draußen ist, beute für die Wächter ist?
„Erzähl, was Kin gesagt hat“, fordert Marie ihn auf.
„Ja, Kin, der Waghalsige“, kichert Juls anerkennend. „Kin sagte, dass er mit der letzten Gruppe das Tor durchquert hat. Er wollte sehen, was geschieht. Er ist fast genauso fasziniert von den Wächtern, wie du, Gabrialla. Er macht nächsten Zyklus seinen Abschluss und will dann auch in die Gärten.“
„Bleib bitte beim Thema, Juls.“
„Ist ja gut. Er meinte, dass an keinem der Wächter Anzeichen zu sehen waren, dass die Lehrlinge sie interessieren.“
„Eigentlich hat er gesagt, dass es nicht so ausgesehen hätte, als würden sie die Lehrlinge bemerken!“ Berichtigt Marie.
„Ja doch. Was er damit sagen wollte, war, dass es ausgesehen habe, als würden wir für sie nicht existieren. Als wären wir es nicht wert, von ihnen beachtet zu werden.“
„Was bestätigt, was wir gelernt haben: Wir sind für sie nicht mehr als Tiere für uns“, zitiert Sven.
„Und“, meldet sich Michelle mit zitternder Stimme zu Wort, „ist das Tor noch immer offen?“
Juls zuckt mit den Schultern.
„Das, konnte Kin uns nicht sagen. Er hat es nicht gesehen oder gehört. Als die letzte Gruppe in der Lehranstalt war, sind sie von den Erziehern gleich hinunter gescheucht worden.“
„Was er uns jedoch sagen konnte“, schließt Marie, „dass er, kurz bevor er durch das Tor lief, neue Wächter gesehen hat.“
Neue Wächter?, Gabrialla horcht auf. Es sind noch mehr Wächter angekommen? Oder, überlegt sie dann, waren sie schon da und haben uns beobachtet? Haben wo anders gewartet? Haben sie womöglich bei den Häusern der Erwachsenen gestanden? Gidion!
„Wir sind hier gefangen, wie Tiere vor der Zerlegung.“ Ginos schrille Stimme reist Sie aus ihren Gedanken und wieder in das Gespräch hinein.
„Nein, so ist das nicht“, will ihn Sven sofort beruhigen.
„Warum? Er hat doch recht. Wir sind hier unten und die Türen und Tore sind offen. Oben stehen die Wächter. Meinst du, wir könnten irgendetwas machen, wenn sie runter kommen? Meinst du, wir könnten entkommen?“, widerspricht Juls.
„Lasst das“, fährt Michelle ihn an und überrascht damit alle. „Rede von uns nicht wie von Tieren. Wir sind Menschen und das hier ist unser Zuhause.“
Ein betörender Geruch erreicht Gabriallas Nase und lässt sie gierig einatmen.
„Ich glaube nicht“, bricht Marie die Stille, „dass die Wächter uns alle nehmen werden. Was hätten sie davon?“
Was ist das nur? Suchend dreht Gabrialla ihr Gesicht. Schnüffelt nach dem delikaten Duft.
„Vielleicht“, fährt Marie fort, als keiner etwas sagt, „haben sie die Türen nicht abgeschlossen, weil keine Gefahr für uns besteht.“ Ihre Vermutung klingt wie ein Flehen. Auch ihr Blick, mit dem sie jeden von ihnen ansieht, scheint sie anzuflehen, dem zu zustimmen.
Doch keiner aus der Gruppe erwidert etwas.
Das riecht so fantastisch. Speichel sammelt sich in Gabriallas Mund und ihr Magen grummelt laut, während sie weiterhin versucht die Quelle des Geruches, ausfindig zu machen. Ich hätte mir doch noch etwas Fleisch holen sollen. So eine Gelegenheit bekomme ich sicher nicht wieder. Wie zur Zustimmung zieht sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, bevor er protestierend grollt und dann ausgezehrt zusammen fällt. Die Unterhaltung ist in den Hintergrund getreten. Nur noch der Geruch ist wichtig. Er und ihr Hunger.
Marie, erschnüffelt sie. Der Geruch kommt eindeutig von ihr. Irgendjemand muss mehrere Kerzen angezündet haben, den Gabrialla kann ihre Freundin auf einmal so gut wie im Licht des Tages erkennen. Die Härchen, noch zu kurz, um von der Frisur gebändigt zu werden. Den verängstigten Glanz in ihren Augen. Der Schweißfilm, der sich auf ihrer Stirn gebildet hat.
Hat sie etwas aus dem Essensraum mitgenommen?, überlegt sie. Das ist nicht erlaubt, also wird sie wohl nicht. Aber das, was in der kleinen Sonderküche ist, riecht sicher nicht so gut. Ein Tropfen Schweiß löst sich von Maries Stirn. Fasziniert, fast schon hypnotisiert sieht Gabrialla zu, wie dieser sich seinen Weg bahnt. Fast im gleichen Moment schwebt ihr erneut dieser unwiderstehliche Geruch entgegen. Von diesem angezogen, beugt sie sich weiter zu Marie vor.
„Gabrialla?“ Wie, aus einem Traum gerissen, schreckt die angesprochene empor. Blinzelnd sucht sie, in dem trüben Licht der kleinen Kerze, nach Michelle.
Warum ist Michelle so klein? Erst jetzt wird ihr bewusst, dass sie auf die Füße gesprungen ist und geduckt im Kreis ihrer Freunde sitzt. Beschämt über ihr Verhalten, lässt sie sich, unter den musternden Blicken ihrer Freunde, wieder auf den Boden sinken.
„Was ist mit dir?“, will Michelle flüsternd erfahren.
„Ich weiß nicht. Vielleicht“, seufzt sie, „hat Juls recht und das alles ist zu viel für mich. Die Prüfung heute, die Angst nicht in die Gärten zu kommen, das mit Gidion und jetzt auch noch die Wächter. Es ist so viel geschehen, in so kurzer Zeit.“ Mitfühlend legt sich der Arm ihrer Freundin um sie und Gabrialla hat das seltsame Geschehen fast schon vergessen.
„... sollten sie solche Umstände machen? Jeder Prüfling weiß, dass seine erste Ernte bevorsteht.“ Hört sie Sven gerade sagen, als sie sich wieder auf das Gespräch konzentriert.
„Aber, was ist, wenn wir, unser Abschlusszyklus, einer jener ist, die vollständig geerntet werden?“
„Ach was. Alles Erzählungen Ich habe noch nie von einem gehört, dem das geschehen ist. Du etwa?“
„Nein“, bestätigt Juls, „aber andere. Einige Erwachsene erzählen sich davon. Ich habe es von ihnen gehört.“
„Sie wollen uns damit nur Angst machen. Hör auf damit, diese Geschichten weiter zu erzählen, Juls. Du machst den anderen nur unnötig Angst. Außerdem“, verlangt Sven zu erfahren, „was würdest du dagegen machen wollen? Willst du fliehen? Willst du versuchen, alleine zu überleben? Da draußen? Als Freiwild?“
„Hört auf, ihr alle beide!“, durchschneidet Michelles energische Stimme das Wortgefecht. „Ihr beide fantasiert hier Dinge zusammen, die uns nicht weiter helfen.“ Den Blick auf den Boden gerichtet, fährt sie mit zitternder Stimme fort: „Es ist eine Ehre, gleich nach dem Abschluss gewählt zu werden“, zitiert sie einen weiteren Teil der Regeln.
Eine Ehre, wiederholt Gabrialla ironisch. Genau. Es ist eine Ehre von seinen Freunden weggeholt zu werden. Wie kann man so etwas nur glauben? Ob ein Suchkss es als eine Ehre betrachtet, zerlegt und zu essen verarbeitet zu werden? Ich weiß es nicht. Doch eins weiß ich, ich werde mich nicht freiwillig auf den Weg machen, ohne zu wissen, was mich erwartet!
„Keiner von uns wird sich entziehen“, fährt Michelle fort, „wenn er geholt wird.“ In der Stille, die dann folgt, wird ihnen bewusst, dass ihre Gruppe im Mittelpunkt des Geschehens ist. Alle im Raum scheinen den Atem angehalten zu haben.
Dann, als hätte sie nur darauf gewartet, dass sie still sind, ertönt eine andere Stimme.
„Gabrialla?“, Michelles Stimme, die sie besser kennt als ihre eigene, lässt sie ihren Blick herrumdrehen. „Was ist?“
Angespannt, die Situation noch nicht verarbeitet, begeht Gabrialla den Fehler ihrer Freundin offen zu sagen, was geschehen ist: „Die Tür nach oben ist offen.“
„Was fantasierst du, Gabrialla?“, spottet Juls.
„Wie kommst du darauf?“
„Marie, meine Liebe, hör nicht auf sie“, versucht Juls, seine Freundin zu beruhigen. „Die Situation ist zu viel für sie. Sieh sie dir doch an, wie nervös sie ist. Ihre Gedanken haben ihr einen Streich ge..“
„Nein, haben sie nicht!“, begehrt Gabrialla auf. „Ich weiß doch, was ich gesehen habe“, fährt sie, mit gedämpfter Stimme fort, als Michelle zurückschreckt.
„Und? Was meinst du, gesehen zu haben?“
„Eine Erzieherin. Wie sie durch diese Tür gegangen ist. Eben gerade. Geh hin und sie nach, Juls“, fordert sie ihn auf. Wie erwartet, ändert sich sein geringschätziger Blick jedoch nicht. Gabrialla macht einen Schritt auf ihn zu und sieht ihn ihrerseits auffordernd an. „Oder traust du dich nicht?“
Nun durchbricht auch bei ihm sein Instinkt, sein Inneres, die Maske der Farmbewohner und Gabrialla kann seinen Trotz, seine Selbstgefälligkeit deutlich erkennen. Doch, zu ihrem Leidwesen, gewinnt schon gleich die Erziehung wieder überhand.
„Nein!“, erklärt er entschieden. „Es ist verboten, in der Sperrzeit nach oben zu gehen. Warum also, sollte ich zur Tür gehen?“
Feigling.
„Lass es gut sein, Juls“, unterbricht schließlich Marie ihren stummen Kampf. „Wir wollten doch in den Aufenthaltsraum gehen und nach Neuigkeiten fragen. Los, kommt.“
Als Juls von ihr herum gezogen und der Blickkontakt getrennt wird, sucht Gabrialla noch einmal die Tür.
Da sieht sie es erneut. Die Tür nach oben öffnet sich. Es ist die selbe Erzieherin, die gerade nach oben gegangen ist, welche nun nach unten eilt. Ein eiliger Blick zu ihren Freunden, zeigt ihr, dass sie dieses Mal nicht die Einzige ist, die es gesehen hat.
Michelles Mund ist erstaunt geöffnet, als ihr Blick der, nun sichtlich verstört wirkenden Erzieherin folgt. Ihren eigenen Blick auf Juls richtend, offenbart ihr, dass dieser es ebenfalls gesehen hat. Unglaube ist es jedoch bei ihm, was man deutlich erkennen kann. Blinzelnd verharrt er, lässt sich nicht weiter von Marie ziehen und starrt auf die Tür.
„Aber ...“, erklingt Ginos Stimme und verklingt dann in einem Wimmern.
„Das sagt Garnichts“, behauptet Juls erneut und versucht das gesehene zu verharmlosen, als er anfügt: „Es ist die Aufgabe der Erzieher, oben nach dem Rechten zu sehen. Sie sind für unsere Sicherheit verantwortlich und müssen auch den oberen Bereich kontrollieren.“ Gabrialla glaubt ihm nicht. Ein Blick in Michelles, Svens und Ginos Gesicht, zeigt ihr, dass sie ihm wohl gerne glauben würden, doch ebenfalls zweifeln.
„Los“, drängt Marie wieder, die offensichtlich einfach nur weg will, „lasst uns gehen.“ Und tatsächlich setzt sich die Gruppe in Bewegung.
Bevor sie zu ihrem üblichen Aufenthaltsraum gehen, verteilen sie sich auf die anderen Beiden, um dort nach Neuigkeiten zu forschen.
Gabrialla weiß, dass sie nicht viel Zeit haben. Nicht einmal sechzig Zehnstriche sind es mehr, bis ihre Schlafenszeit beginnt. Infolgedessen, eilen Michelle und Gabrialla eher durch den Raum und sind, in weniger als zwanzig Zehntstrichen, im Bereich ihres üblichen Sitzplatzes angekommen.
Sven und Gino warten schon auf sie.
Nur Juls und Marie fehlen noch.
„Und?“, sprudelt es aus Gabrialla, „habt ihr etwas Neues erfahren?“
„Nicht wirklich“, dämpft Sven ihre Ungeduld. „Du bist aber nicht die Einzige, die die offene Tür entdeckt hat. Die meisten stimmen aber Juls zu.“
„Leute“, stürmt Juls, als währe er gerufen worden, in die Unterhaltung. „Ich habe was Neues erfahren.“ Sofort sind alle Blicke auf ihn gerichtet und Gabriallas Neugierde von neuem entfacht.
„Na los“, drängt sie ihn, als dieser ihr zu lange braucht, um sich zu setzten und zu erzählen. Doch zunächst erntet sie wieder eines dieser milden, strafenden Lächeln, die in ihr den Drang wecken ihn zu schlagen.
„Also, ich hab erfahren, dass die Türen noch offen sind.“
„Das wissen wir doch schon“, wirft Michelle ein.
„Warte doch einmal ab“, tadelt er sie besserwisserisch. „Ich meine nicht die Tür nach oben. Ich meine auch das Haupttor nach draußen und sämtliche kleinen Tore.“ Sein Blick schweift über die Freunde, scheint sich vergewissern zu wollen, dass ihn auch alle ansehen, bevor er weiter spricht. „Einer meiner Freunde hat mir gesagt, dass er noch nach dem Läuten, nach dem Torschluss, draußen gewesen ist. Nicht nur er. So wie er es gesagt hat, waren noch einige Lehrlinge bei den Bäumen und haben sich nicht an den Wächtern vorbei getraut. Das Seltsame ist“, spricht er schnell weiter, als Sven etwas sagen will, „das die Wächter ihre Position geändert haben, kurz als die Glocke verklungen war.“
Was? Haben wir nicht gelernt, dass nach dem Beginn der Sperrzeit die Jagdzeit beginnt? Das jeder, der dann noch draußen ist, beute für die Wächter ist?
„Erzähl, was Kin gesagt hat“, fordert Marie ihn auf.
„Ja, Kin, der Waghalsige“, kichert Juls anerkennend. „Kin sagte, dass er mit der letzten Gruppe das Tor durchquert hat. Er wollte sehen, was geschieht. Er ist fast genauso fasziniert von den Wächtern, wie du, Gabrialla. Er macht nächsten Zyklus seinen Abschluss und will dann auch in die Gärten.“
„Bleib bitte beim Thema, Juls.“
„Ist ja gut. Er meinte, dass an keinem der Wächter Anzeichen zu sehen waren, dass die Lehrlinge sie interessieren.“
„Eigentlich hat er gesagt, dass es nicht so ausgesehen hätte, als würden sie die Lehrlinge bemerken!“ Berichtigt Marie.
„Ja doch. Was er damit sagen wollte, war, dass es ausgesehen habe, als würden wir für sie nicht existieren. Als wären wir es nicht wert, von ihnen beachtet zu werden.“
„Was bestätigt, was wir gelernt haben: Wir sind für sie nicht mehr als Tiere für uns“, zitiert Sven.
„Und“, meldet sich Michelle mit zitternder Stimme zu Wort, „ist das Tor noch immer offen?“
Juls zuckt mit den Schultern.
„Das, konnte Kin uns nicht sagen. Er hat es nicht gesehen oder gehört. Als die letzte Gruppe in der Lehranstalt war, sind sie von den Erziehern gleich hinunter gescheucht worden.“
„Was er uns jedoch sagen konnte“, schließt Marie, „dass er, kurz bevor er durch das Tor lief, neue Wächter gesehen hat.“
Neue Wächter?, Gabrialla horcht auf. Es sind noch mehr Wächter angekommen? Oder, überlegt sie dann, waren sie schon da und haben uns beobachtet? Haben wo anders gewartet? Haben sie womöglich bei den Häusern der Erwachsenen gestanden? Gidion!
„Wir sind hier gefangen, wie Tiere vor der Zerlegung.“ Ginos schrille Stimme reist Sie aus ihren Gedanken und wieder in das Gespräch hinein.
„Nein, so ist das nicht“, will ihn Sven sofort beruhigen.
„Warum? Er hat doch recht. Wir sind hier unten und die Türen und Tore sind offen. Oben stehen die Wächter. Meinst du, wir könnten irgendetwas machen, wenn sie runter kommen? Meinst du, wir könnten entkommen?“, widerspricht Juls.
„Lasst das“, fährt Michelle ihn an und überrascht damit alle. „Rede von uns nicht wie von Tieren. Wir sind Menschen und das hier ist unser Zuhause.“
Ein betörender Geruch erreicht Gabriallas Nase und lässt sie gierig einatmen.
„Ich glaube nicht“, bricht Marie die Stille, „dass die Wächter uns alle nehmen werden. Was hätten sie davon?“
Was ist das nur? Suchend dreht Gabrialla ihr Gesicht. Schnüffelt nach dem delikaten Duft.
„Vielleicht“, fährt Marie fort, als keiner etwas sagt, „haben sie die Türen nicht abgeschlossen, weil keine Gefahr für uns besteht.“ Ihre Vermutung klingt wie ein Flehen. Auch ihr Blick, mit dem sie jeden von ihnen ansieht, scheint sie anzuflehen, dem zu zustimmen.
Doch keiner aus der Gruppe erwidert etwas.
Das riecht so fantastisch. Speichel sammelt sich in Gabriallas Mund und ihr Magen grummelt laut, während sie weiterhin versucht die Quelle des Geruches, ausfindig zu machen. Ich hätte mir doch noch etwas Fleisch holen sollen. So eine Gelegenheit bekomme ich sicher nicht wieder. Wie zur Zustimmung zieht sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, bevor er protestierend grollt und dann ausgezehrt zusammen fällt. Die Unterhaltung ist in den Hintergrund getreten. Nur noch der Geruch ist wichtig. Er und ihr Hunger.
Marie, erschnüffelt sie. Der Geruch kommt eindeutig von ihr. Irgendjemand muss mehrere Kerzen angezündet haben, den Gabrialla kann ihre Freundin auf einmal so gut wie im Licht des Tages erkennen. Die Härchen, noch zu kurz, um von der Frisur gebändigt zu werden. Den verängstigten Glanz in ihren Augen. Der Schweißfilm, der sich auf ihrer Stirn gebildet hat.
Hat sie etwas aus dem Essensraum mitgenommen?, überlegt sie. Das ist nicht erlaubt, also wird sie wohl nicht. Aber das, was in der kleinen Sonderküche ist, riecht sicher nicht so gut. Ein Tropfen Schweiß löst sich von Maries Stirn. Fasziniert, fast schon hypnotisiert sieht Gabrialla zu, wie dieser sich seinen Weg bahnt. Fast im gleichen Moment schwebt ihr erneut dieser unwiderstehliche Geruch entgegen. Von diesem angezogen, beugt sie sich weiter zu Marie vor.
„Gabrialla?“ Wie, aus einem Traum gerissen, schreckt die angesprochene empor. Blinzelnd sucht sie, in dem trüben Licht der kleinen Kerze, nach Michelle.
Warum ist Michelle so klein? Erst jetzt wird ihr bewusst, dass sie auf die Füße gesprungen ist und geduckt im Kreis ihrer Freunde sitzt. Beschämt über ihr Verhalten, lässt sie sich, unter den musternden Blicken ihrer Freunde, wieder auf den Boden sinken.
„Was ist mit dir?“, will Michelle flüsternd erfahren.
„Ich weiß nicht. Vielleicht“, seufzt sie, „hat Juls recht und das alles ist zu viel für mich. Die Prüfung heute, die Angst nicht in die Gärten zu kommen, das mit Gidion und jetzt auch noch die Wächter. Es ist so viel geschehen, in so kurzer Zeit.“ Mitfühlend legt sich der Arm ihrer Freundin um sie und Gabrialla hat das seltsame Geschehen fast schon vergessen.
„... sollten sie solche Umstände machen? Jeder Prüfling weiß, dass seine erste Ernte bevorsteht.“ Hört sie Sven gerade sagen, als sie sich wieder auf das Gespräch konzentriert.
„Aber, was ist, wenn wir, unser Abschlusszyklus, einer jener ist, die vollständig geerntet werden?“
„Ach was. Alles Erzählungen Ich habe noch nie von einem gehört, dem das geschehen ist. Du etwa?“
„Nein“, bestätigt Juls, „aber andere. Einige Erwachsene erzählen sich davon. Ich habe es von ihnen gehört.“
„Sie wollen uns damit nur Angst machen. Hör auf damit, diese Geschichten weiter zu erzählen, Juls. Du machst den anderen nur unnötig Angst. Außerdem“, verlangt Sven zu erfahren, „was würdest du dagegen machen wollen? Willst du fliehen? Willst du versuchen, alleine zu überleben? Da draußen? Als Freiwild?“
„Hört auf, ihr alle beide!“, durchschneidet Michelles energische Stimme das Wortgefecht. „Ihr beide fantasiert hier Dinge zusammen, die uns nicht weiter helfen.“ Den Blick auf den Boden gerichtet, fährt sie mit zitternder Stimme fort: „Es ist eine Ehre, gleich nach dem Abschluss gewählt zu werden“, zitiert sie einen weiteren Teil der Regeln.
Eine Ehre, wiederholt Gabrialla ironisch. Genau. Es ist eine Ehre von seinen Freunden weggeholt zu werden. Wie kann man so etwas nur glauben? Ob ein Suchkss es als eine Ehre betrachtet, zerlegt und zu essen verarbeitet zu werden? Ich weiß es nicht. Doch eins weiß ich, ich werde mich nicht freiwillig auf den Weg machen, ohne zu wissen, was mich erwartet!
„Keiner von uns wird sich entziehen“, fährt Michelle fort, „wenn er geholt wird.“ In der Stille, die dann folgt, wird ihnen bewusst, dass ihre Gruppe im Mittelpunkt des Geschehens ist. Alle im Raum scheinen den Atem angehalten zu haben.
Dann, als hätte sie nur darauf gewartet, dass sie still sind, ertönt eine andere Stimme.