Kapitel 11: Bruno und Wendeline lernen die Krähe kennen

„Ihre Papiere bitte!“
Der Polizist besaß das hohlwangige Gesicht einer Krähe mit einem feinen schwarzen Oberlippenbart und schien, keinen Spaß zu verstehen. Er strich sich nervös über den Schnäuzer.
Murrend stellte Alfons den Motor des LKWs aus und suchte die Wagenpapiere und auch seinen Führerschein. Er fand sie und reichte sie stumm dem Gesetzeshüter.
Der überprüfte die Papiere, kratzte sich die Stirn, von der unter seinem Polizei-Keppi der Schweiß hervorperlte, und fragte dann: „Wissen Sie, dass heute kein Auto fahren darf?“
„Was ist das denn für ein Blödsinn?“, knurrte Alfons und er wippte ungeduldig von links nach rechts.
„Entschuldigen Sie bitte, aber dieses Fahrverbot bezieht sich doch auf die Ozonwarnung. Und die Gewerbetätigen sind doch davon ausgeschlossen“, schaltete sich Bruno vom Beifahrersitz ein.
„Wer hat Sie denn gefragt? Zeigen Sie erst mal Ihre Aufenthaltserlaubnis!“, entgegnete der dürre Polizist zornig.
„Was hat das denn mit dem Fahrverbot zu tun?“, fragte Bruno genervt.
„Gar nichts. Sie steigen erst mal aus!“, sagte der Bulle und zeigte mit seinem dürren Zeigefinger auf Bruno. „Und Sie suchen Ihren Gewerbeschein und können dann weiterfahren.“, meinte er kopfnickend zu Alfons.
Bruno stieg missmutig aus und übergab seinen Personalausweis und seine Aufenthaltserlaubnis dem Polizisten.
Die Krähe strich sich nachdenklich über seinen Schnäuzer und seine hohlen Wangen.
Alfons stieg jetzt auch aus und knallte die Fahrertür hinter sich zu. Er übergab mit einer ausholenden Bewegung seinen Gewerbeschein an den Wachtmeister.
„Ist schon gut“, meinte der Gesetzeshüter abwehrend, denn er wollte den Schein gar nicht sehen, „Sie können weiterfahren; kein Problem.“
Aber Alfons rührte sich nicht, sondern verschränkte provozierend seine Arme, so als ob er auf etwas warten würde.
Der Polizist verstand, dass Alfons warten würde, bis die Angelegenheit mit Bruno geregelt sein würde. Da stand er also, der kleine dürre Polizist mit dem Krähengesicht, und vor ihm der dicke Bruno, während der kleine Alfons ungeduldig fußtappend wartete.
Die Krähe beobachtete Alfons aus den Augenwinkeln und tat so, als ob er noch die Papiere von Bruno prüfen würde.
„Sie müssen noch mal auf das Polizeirevier kommen“, sagte er sehr ernst und gab die Papiere an Bruno zurück.
„Ach?“, fragte Bruno überrascht.
„Ja, wir müssen Ihre Herkunft und Ihren Namen überprüfen“, sagte der Wachtmeister, ohne genauer zu werden.
„Soso“, schüttelte Bruno verständnislos den Kopf.
Die beiden steigen wieder ins Alfons’ Laster ein. Der Wachtmeister beobachtete sie, wie sie davonfuhren.

„So ein Idiot!“, entfuhr es Alfons.
„Der wollte mich festhalten“, war Bruno überzeugt.
„Mit wem soll ich denn arbeiten, wenn nicht mit dir?“, fragte Alfons. „Alle klagen über die Arbeitslosigkeit, aber wenn ich von der Feldarbeit spreche, sagen mir viele, dass diese Arbeit zu schwer für sie wäre...“
„Es ist wahr, sie ist schwer“, stimmte Bruno zu.
Alfons wechselte das Thema: „Was ist das für eine Geschichte mit dem Fahrverbot?“
„Es fehlt Wind und Regen, und deshalb stauen sich die Abgase in der Stadt an“, erklärte Bruno, „ich hab es in den Nachrichten gehört.“
„Es ist wahr“, stimmte Alfons zu, „ein bisschen Regen würde uns gut tun.“
„Deshalb hat der Bürgermeister verboten, dass die Privatleute mit ihren Autos fahren, sonnst sammeln sich noch mehr Gase an.“
„Mmh“, machte Alfons.
Sie kamen mit dem Laster auf dem Marktplatz an. Alfons gehörte der Bauernkooperative an. Die hatte einen großen Stand auf der Mitte des Marktplatzes. Sie entluden die Holzkisten mit dem Mais, den Melonen, den Tomaten und Gemüsezwiebeln auf dem gemeinsamen Stand der Bauernkooperative.
Der Duft von Kaffee und der Geruch von frisch gebackenem Brot wehten ihnen aus den nahen Geschäften entgegen. Überall war Geschrei von Bauern, Handwerkern, Kunden und Verkäufern zu hören. LKWs fuhren hin und her. Ein Fischhändler klappte seinen Verkaufs-Anhänger auf, in dem er die frischen Fische hinter blank geputzten Glasscheiben aufbaute.
Ein alter Bauer kam sogar mit seinem Traktor. Seine Erntehelfer saßen auf dem Anhänger. Der Traktor hielt an, und sie begannen, die Obstkisten von der Ladefläche des Anhängers abzuladen: Weintrauben, Birnen, Äpfel, Melonen.
Obwohl es noch früh am Morgen war, war es schon ein heißer Tag. Die Krähe hatte sich auf seinen Beobachtungsposten in einer Bäckerei zurückgezogen, wo er schlürfend einen Kaffee trank.
Der Vormittag verging schnell; viele Käufer kamen früh, um der großen Hitze zu entgehen.
„Ach, in der Sonne verfaulen die Früchte so schnell“, beklagte sich ein Großmütterchen.
„Wir haben das Wetter nicht gemacht“, wollte Alfons einen Witz machen, aber war an die Falsche geraten.
„Da bin mich mir gar nicht so sicher“, geiferte das Mütterchen und kaufte trotzdem drei Tomaten.

Irgendwann am späten Vormittag sah Bruno, dass seine Frau Wendeline auf dem Markt ankam. Er hatte ihr gesagt, dass sie kommen sollte, weil das Obst und das Gemüse oft billiger auf dem Markt als in den Geschäften waren.
Dann vergaß er sie wieder, bis er irgendwann in der Mittagshitze den Schrei hörte: „Haltet die Diebin! Haltet das Zigeunerpack!“
Er sah, wie die Krähe auf jemanden zugeflogen kam, und rasch bildete sich eine Menschentraube um den Polizisten und eine zweite Person. Verwundert sah Bruno Alfons an, aber der hatte auch nichts gesehen.
Bruno entschloss, nach dem Rechten zu sehen und näherte sich der aufgebrachten Menschenmenge.
„Da haben wir sie überführt“, kreischte die Krähe im inneren Kreis des Menschenauflaufs.
„Aber was soll ich denn getan haben?“, fragte eine Frauenstimme, und Bruno erkannte seine Frau.
„Lassen Sie mich mal durch“, sagte er und schubste die Leute auseinander, die nur unwillig ihn passieren ließen.
„Du Diebin, du Zigeunerpack, du falsches Stück!“, krakeelte die Krähe.
„Aber habe ich Unrechtes getan?“, fragte Wendeline von neuem.
„Das passiert, wenn man die Fremden ungestraft herumlaufen lässt“, überschlug sich die Stimme der Krähe, „sie trägt noch das Diebesgut mit sich herum und fragt unschuldig, wie ein Lamm, was sie angestellt haben soll.“
Die Krähe entriss Wendeline die große Plastiktüte, die sie trug, und heraus kullerten Birnen, Äpfel, Melonen, Tomaten...
„Verhaften! Sofort dingfest machen! Das ist ja unerhört!“, riefen verschiedene Stimmen in der Menge.
„Einen Moment mal“, rief Bruno laut mit ruhiger, tiefer Stimme. „Ich will wissen, was meine Frau getan haben soll.“
Es kehrte für einen Moment Ruhe ein.
„Sie sind also der Zigeunerehemann dieser Diebin!“, geiferte das Krähengesicht.
„Das geht Sie gar nichts an, ob ich Chinese, Afrikaner oder Lappalier bin“, sagte Bruno gesetzt. „Ich will nur wissen, was meine Frau getan haben soll.“
„Aber das ist doch offensichtlich: sie hat das Gemüse und Obst bei ehrenhaften Lappaliern gestohlen.“
„Was? Dieses Obst?“, Bruno bückte sich und nahm eine herumkullernde Birne hoch, die einen braunen Fleck hatte. „Dieses Gemüse?“ Er nahm eine etwas wabbelige Tomate, die ziemlich überreif war. „Welch ehrenhafter Lappalier verkauft verfaultes Obst und überreifes Gemüse?“
„Das ist wahr“, rief jetzt ein Verkäufer, „die Zigeunerfrau hat sie gar nicht gestohlen, sondern in den Abfällen herumgesucht; ich hab’s gesehen.“
„Quatsch, das ist eine Diebin!“, krähte der Polizist.
„WER!“, schrie auf einmal Bruno wirklich laut, „HAT GESEHEN, DASS MEINE FRAU GESTOHLEN HAT? WO? WANN?“
Die Krähe zog den Kopf ein.
Bruno zog Wendeline aus dem Kreis.
Die Leute machten eine Gasse, um sie gehen zu lassen.
Keiner sagte etwas.
Irgendwie hatte Bruno das Gefühl, dass die Meute in jedem Augenblick losbrüllen könnte: „Die Diebe! Die Zigeuner! Lasst sie nicht entkommen!“ Aber keiner sagte etwas.
Die Krähe schaute den zweien mit verkniffenen Augen und hasserfüllt nach.
 



 
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