Helene Persak
Mitglied
Die Stimme der Hausherrin halt durch den Raum, als sie verkündet: „In einem Zehntstrich, Versammlung im großen Raum.“ Ohne Erklärung oder auf Erwiderungen zu warten, dreht sie sich um und verschwindet.
Eine Versammlung? Gebannt starrt Gabrialla immer noch auf die leere Türöffnung. Warum?
„Eine Versammlung?“, fasst Sven ihren Gedanken in Worte. „Heute?“
„Um diese Zeit des Zyklus gibt es sonst keine Versammlungen. Juls?“, wendet sich Marie beunruhigt an ihren Partner. Doch es bleibt ihm keine Zeit zur Antwort.
„Los“, scheucht Michelle sie auf, „sonst kommen wir zu spät“.
Folgsam erhebt sich Marie unmittelbar und schließt sich folgsam Michelle an.
Juls hingegen brummt Unverständliches vor sich hin, als er sich widerwillig erhebt.
Was das wird?, grübelt Gabrialla. Die nächste Versammlung sollte doch erst zum Abschluss des Lehrzyklus sein. Es ist noch fast ein ganzer Mond bis dahin. Es kann nur um die Wächter gehen, folgert sie. Doch, wie so oft, behält sie ihre Gedanken für sich. Sich fügsam gebend, folgt sie Michelle, die auf ihrem Weg auch die unwilligsten Lehrlinge aufscheucht und vor sich her treibt.
Gabrialla hat den Flur noch nie so voll gesehen. Ein drückendes Gefühl der Enge drängt sie zur Flucht. Doch es gibt nichts, wohin sie flüchten kann. Angespannt sieht sie ihren einzigen Ausweg darin, ihre Finger um Michelles Hand zu schließen und bei ihr Kraft zu finden.
Es überrascht sie nur gering, dass sie trotz der Masse an Menschen, fast genauso schnell vorankommen, wie sonst.
Schleichen kann man auch in Massen, wie ich sehe, denkt sie sich ironisch, als ihr eine der Regeln einfällt. Ob wir deswegen immer so langsam gehen sollen? Damit wir für solche Situationen wissen wie schnell wir gehen sollen? Früher dachte ich immer, damit die Wächter uns schneller einsammeln können.
Da die meisten Lehrlinge anscheinend die Haupttreppe nehmen, entscheidet sich die Gruppe, ihrem üblichen morgendlichen Weg zu folgen. Routiniert nutzen die Mädchen den Weg über ihren Schlafbereich und die Treppe dort hinauf. Die Jungs hingegen, denen der Zutritt zu den Mädchen Bereichen verboten ist, den über ihren.
Gabrialla stockt, als sie mit Michelle und Marie an ihrer Seite, einen Stock weiter oben, an der Stelle ankommt, an dem der Finger wider in die Kuppel übergeht. Fasziniert, lässt sie ihren Blick schweifen.
Ich habe den großen Raum 20 Mal gesehen und bin jedes Mal überwältigt.
Ist die Kuppel schon sonst überwältigend, so ist sie jetzt, wo alle Pflanzen, alle beruhigenden Wände weggeräumt wurden, um so vieles mehr.
Immer noch ihren Blick schweifen lassend, lässt sie sich von Michelle zu ihren Stühlen mitziehen. Die Mädchen haben es nicht weit, den die Stühle ihrer Gruppe sind nahe ihres Fingers aufgestellt. Ihre Stühle, die üblicherweise in den Lehrräumen stehen, wurden nun in dem Bereich gestellt, den die Kuppel zwischen den Fingern bildet.
Die Älteren hinten, die Jüngeren vorne.
Das ist so unglaublich.
Die Glaswände wirken nun, da die Sumza fast vollständig untergegangen ist, beinahe wie Kachare. Sie reflektieren die Kerzen, die überall verteilt wurden, bis ins Unendliche.
Als die Mädchen an ihren Plätzen angekommen sind, weigert sich Gabrialla, auf ihren Stuhl platz zu nehmen.
Das habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal zur dunkelsten Nacht haben sie so viele Kerzen aufgestellt. Wie das reflektiert wird. Und dann dieser Himmel. Staunend dreht sie sich in die Richtung, in der die Sumza hinter den Hügeln verschwunden ist. Nur noch ein kleiner Teil des Himmels ist im klaren aber schwindenden Blau des Tages getaucht.
„Gabrialla“, sobald die Jungen bei ihnen eingetroffen sind, zupft Michelle so lange an ihr, bis Gabrialla sich widerstrebend setzt.
„Findest du das kein bisschen fantastisch, Michelle?“
„Nein. Es ist gruselig. Es ist dunkel und wir sollten schon längst in unseren Schlafräumen und Betten sein. Das ist nicht fantastisch, Gabrialla.“
Wir sind so verschieden.
Schwach. Beute.
NEIN!, schreit Gabrialla auf. Michelle ist meine Freundin!
Schwach!
Energisch schiebt sie die Gedanken beiseite. Das hier ist viel zu aufregend dafür.
Auch wenn Michelle es nicht schön findet. Ich finde, dass es dieser Anblick wert ist hier zu sein.
„Auch wenn du es nicht gerne hörst“, seufzt Michelle. „Aber der Name Mondblume passt wirklich zu dir.“
„Pfff“, kommentiert sie diesen Namen, mit dem man sie so lange geärgert hat. Doch Michelle fährt unbeirrt fort.
„Um so Später der Tag, umso aktiver wirst du. Sobald es dunkel wird, blühst du auf. Du verwandelst dich von einer grübelnden in eine aktive Gabrialla. Von jemand, der versucht sich anzupassen in jemand, der seinen eigenen Weg gehen will. Du verwandelst dich in eine völlig andere Person. In eine anderer Gabrialla, als die der Farm.“
So sieht sie mich also? Das ist es, was sie an mir mag? Dass ich mich versuche anzupassen? Aber, das bin nicht ich.
Schwach. Keine Freundin.
Aber, sie war so lange für mich da. Sie hat zu mir gestanden ...
Schwach. Sie hat niemand anderen. Sie mag dich, weil sie meint, du bist schwächer als sie. Doch wir sind stärker. Sie ist Beute!
„Setzt euch“, hallt die Stimme einer Erzieherin durch den Raum und beendet alle Gespräche. Nun eilen auch die Letzten zu ihren Stühlen.
Ein leises, unerwartetes Türklicken, im allgemeinen Schaben fast nicht zu vernehmen, veranlasst Gabrialla, sich nach links, zum Finger der jüngsten Gruppe, herum zu drehen. Anders als die anderen vier Finger der Kuppel, ist dieser direkt am Übergang noch einmal mit einer Wand abgetrennt. Hinter dieser befindet sich, zwischen dem eigentlichen Bereich der Jüngsten und der Kuppel, die beiden Räume des Lehrleiters und der Hausherrin.
Mehrere Lehrer ergießen sich nun aus eben diesem Bereich. So, wie die Jüngsten Lehrlinge zuvor, streben sie in Richtung Podest. Als auch der Letzte durch die Tür ist, will sich Gabrialla schon umdrehen. Doch dann stockt sie.
Fünf Lehrer bleiben zurück und postieren sich neben der Tür.
Was soll das? Seit wann bewachen die Lehrer die Türen? Ihr bleibt keine Zeit mehr zum Überlegen, den die Hauptgruppe teilt sich weiter.
Noch hinter der Stuhlreihe der Jüngsten trennen sich zehn weitere. Fünf gehen nach links, Fünf nach rechts. Gabrialla versucht, beiden Gruppen zu folgen, doch ihre Aufmerksamkeit wird von der Hauptgruppe gefangen genommen.
Anders als von ihr erwartet, steuern diese nicht die beiden kleinen Treppen an, die sie auf das Podest führen würden. Stattdessen trennen sie sich erneut und umrunden dieses.
Eilig wirft Gabrialla einen Blick auf diejenige der beiden ersten Gruppen, die in ihre Richtung abgebogen ist.
Was für einen Grund gibt es, den Eingang zu den Fingern zu bewachen?
Ein weiterer Blick auf diejenige der beiden letzten Gruppen, die das Podest auf ihrer Seite umrundet hat, zeigt das gleiche Bild.
Auch unser Finger? Was soll das? Wir sind fertig. Wir warten nur noch auf unsere Berufe und unsere Aufnahme als Erwachsene. Ich dachte, dass wir jetzt freier wären. Warum diese Absperrung? Warum muss man die Finger mit je Fünf Lehrern sichern? Doch, halt, bemerkt sie. Es fehlen noch sechs Lehrer. Sie sind mit der anderen Gruppe um das Podest gegangen. Angestrengt lauscht sie. Doch dass muss sie nicht, den schon treten sie hinter dem Podest hervor. Rechts von ihr. Auf dem Weg zum Haupttor. Sprachlos und unfähig einen klaren Gedanken zu formen, blickt sie diesen nach.
Als dann auch der letzte Lehrer, seinen Platz erreicht hat, wird sich Gabrialla der Stille um sie herum bewusst.
Alleine das Atmen, der sie umgebenden, ist zu vernehmen. Kein Schaben, kein Tuscheln nicht einmal ein Knarren, mit dem die Stühle eine Gewichtsverlagerung quittieren, ist zu hören.
Gabrialla überkommt das Gefühl, eingesperrt und ausgeliefert worden zu sein. Bebendes Zittern überfällt ihren Körper, was sogleich vom Stuhl, mit einem überlauten Knarren kommentiert wird. Von einem Herzschlag auf den anderen, spannen sich ihre Muskeln an. Ihr Magen zieht sich zusammen und ihre Lunge saugt so viel Luft ein, dass sie sich anfühlt, als wolle sie zerspringen.
Es dauert nicht lange, dann hält sie es nicht mehr aus. Sie kann dem Drang, davon zu laufen, kaum mehr widerstehen. Eines ihrer Beine, schon halb zurückgezogen, das andere zur Seite ausgestreckt, verharrt sie, als neue Geräusche sie erreichen.
Ungewohnt feste Schritte, die überlaut im Raum widerhallen, erklingen hinter ihr.
Unser Lehrraum! Die Räume der älteren Mädchen!
Hin und hergerissen zwischen dem Drang, der Stille zu entkommen, der Neugierde und der Erziehung, verharrt sie bewegungslos. Nicht ein Muskel rührt sich in ihr, während die Schritte hämmernd näher kommen.
Kurz bevor diese sie erreichen, gewinnt ihre Erziehung die Oberhand. Im ersten Moment weigern sich ihre Muskeln noch, ihr zu gehorchen, doch dann sinkt ihr Körper wieder auf den Stuhl. Ihrer Neugierde ist jedoch nicht verflogen. Dieser folgend, will sie sich umdrehen, doch eine Bewegung aus der anderen Richtung lenkt ihre Aufmerksamkeit ab.
Die Tür des Lehrlingsfingers, welche sich erneut öffnet, lässt sie sich vollständig umdrehen.
Beide? Regungslos verharrt sie, als ihr etwas klar wird. Wenn alle Lehrer hier sind, der Lehrleiter und die Hausherrin eben so, wer ...?
Überlaut donnernd, nähern sich die Schritte weiterhin. Gleichmäßig, wie das Trommeln bei den Feiern, kommen sie näher. Mit jedem Donnern schlägt ihr Herz unruhiger.
Ihr Magen, der sich erneut zu einem schmerzenden Klumpen zusammen gezogen hat, löst sich mit einem lauten Knurren.
Flüchtig streift sie Scham, doch ihr Hunger, erneut in ihr erwacht, domminiert ihre Gedanken.
Hunger. Speichel sammelt sich in ihrem Mund. So viel, dass sie mehrmals hintereinander schlucken muss, um dem Bedürfnis, auf den Boden zu spucken, widerstehen zu können.
Was riecht hier nur so gut? Genüsslich schließt sie ihre Augen und zieht die Luft ein. Daraufhin krampft sich ihr Magen erneut zusammen und verlangt knurrend nach Essen.
Gabriallas Hand zuckt automatisch zu ihrem Bauch, in dem Bedürfnis, das Geräusch zu dämpfen, doch dafür ist es längst zu spät.
Die Lehrlinge in ihrer Umgebung, zucken sichtlich erschrocken zurück. Sie ist offensichtlich nicht die Einzige, die den Schritten angespannt lauscht.
Ich hätte mich zwingen müssen mehr zu essen. Warum habe ich in letzter Zeit so einen Hunger?, wundert sich Gabrialla.
„Alle herhören“, erklingt die Stimme der Hausherrin. Erschrocken wendet sich Gabrialla wieder dem Podest zu, auf dem die beiden Leiter ihre Positionen eingenommen haben.
Die Versammlung, wie konnte ich in so kurzer Zeit nur die Versammlung vergessen? Was ist nur los mit mir? Was geschieht hier?
In der folgenden Stille, wandern die musternden, oder gar suchenden - Gabrialla kann es nicht genau sagen - Blicke beider über die Lehrlinge.
Bei um die 300, ist es sicher unmöglich, einen Lehrling zu finden, überlegt sie. Das ist nur ein Zeichen. Wieder eines dieser Symbole, die zeigen sollen, dass sie jeden von uns sehen.
„Eurem Verhalten und der Unruhe“, beginnt die Hausherrin in tadelndem Ton zu sprechen, „die hier herrscht, entnehme ich, dass ihr von unserem Besuch erfahren habt. Ich möchte euch hiermit sagen, dass es mich sehr enttäuscht, wie schnell ihr unsere Regeln vergesst. Ich hätte zumindest von den Älteren unter euch“, dieses Mal blickt sie eindeutig alleine auf Gabriallas Seite. Wo so gleich auch verlegenes herum Rutschen einsetzt, „erwartet, dass sie sich an die Regeln halten würden. Ich bin sehr enttäuscht von euch.“ In der erneuten Stille, hört Gabrialla nur das vereinzelte Rutschen beschämter Lehrlinge auf ihren Stühlen. Doch, etwas anderes lässt Gabrialla aufhorchen.
Wo sind die Schritte hin? Ich bin mir sicher, dass sie auf uns zu gekommen sind. Sie müssen knapp hinter uns sein. Wieder zupft an ihr der Drang, sich umzudrehen und nach den Schritten zu suchen, doch auch dieses Mal wird sie gestoppt.
„Dennoch“, unterbricht die Hausherrin ihre Gedanken erneut, „um mögliche und auch sehr wahrscheinliche Missverständnisse“, ihre Betonung liegt eindeutig auf Letzterem und stellt damit klar, was sie von diesen hält, „richtigzustellen.“
„Es ist richtig“, fährt sie nach erneuter, nervenbelastender Pause fort, „Wächter sind zu uns gekommen, um sich mit unserem Leiter zu unterhalten und Informationen einzusammeln.“ Ein Raunen geht durch die Menge. Kurz herrscht wieder das hektische Treiben von vorhin. Köpfe werden zusammengesteckt Vermutungen ausgetauscht und Bestätigungen gemurmelt.
„Ruhe. Sofort“, ruft die donnernde Stimme des Lehranstaltsleiters durch den Raum. Nicht nur Gabrialla zuckt schuldbewusst zusammen. Den Blick gesenkt, richtet sie sich erneut korrekt auf ihrem Stuhl auf und wartet angespannt.
Hinter ihr erklingt ein Knarren. Doch die Schelte ist noch zu neu. So verharrt Gabrialla in ihrer Position, wartet, bis weiter gesprochen wird und horcht nach den Schritten in ihrem Rücken.
„Das alles erscheint euch ungewöhnlich, ist es aber nicht“, schallt seine Stimme zu Gabrialla. "Ihr habt bis jetzt nichts davon gehört, weil es nicht notwendig war, dass ihr es wisst. Dennoch ist es dieses Mal erwähnenswert, da der Besuch noch hier ist.“ Der gesamte Raum scheint den Atem anzuhalten, bei dieser Bekanntgabe.
Sie sind noch hier? Hier in der Lehranstalt? Die Schritte ..., flammt ihr Verdacht erneut auf.
Wie auf Kommando erklingen sie wider.
Dieses Mal eindeutig lauter und näher.
Eine Versammlung? Gebannt starrt Gabrialla immer noch auf die leere Türöffnung. Warum?
„Eine Versammlung?“, fasst Sven ihren Gedanken in Worte. „Heute?“
„Um diese Zeit des Zyklus gibt es sonst keine Versammlungen. Juls?“, wendet sich Marie beunruhigt an ihren Partner. Doch es bleibt ihm keine Zeit zur Antwort.
„Los“, scheucht Michelle sie auf, „sonst kommen wir zu spät“.
Folgsam erhebt sich Marie unmittelbar und schließt sich folgsam Michelle an.
Juls hingegen brummt Unverständliches vor sich hin, als er sich widerwillig erhebt.
Was das wird?, grübelt Gabrialla. Die nächste Versammlung sollte doch erst zum Abschluss des Lehrzyklus sein. Es ist noch fast ein ganzer Mond bis dahin. Es kann nur um die Wächter gehen, folgert sie. Doch, wie so oft, behält sie ihre Gedanken für sich. Sich fügsam gebend, folgt sie Michelle, die auf ihrem Weg auch die unwilligsten Lehrlinge aufscheucht und vor sich her treibt.
Gabrialla hat den Flur noch nie so voll gesehen. Ein drückendes Gefühl der Enge drängt sie zur Flucht. Doch es gibt nichts, wohin sie flüchten kann. Angespannt sieht sie ihren einzigen Ausweg darin, ihre Finger um Michelles Hand zu schließen und bei ihr Kraft zu finden.
Es überrascht sie nur gering, dass sie trotz der Masse an Menschen, fast genauso schnell vorankommen, wie sonst.
Schleichen kann man auch in Massen, wie ich sehe, denkt sie sich ironisch, als ihr eine der Regeln einfällt. Ob wir deswegen immer so langsam gehen sollen? Damit wir für solche Situationen wissen wie schnell wir gehen sollen? Früher dachte ich immer, damit die Wächter uns schneller einsammeln können.
Da die meisten Lehrlinge anscheinend die Haupttreppe nehmen, entscheidet sich die Gruppe, ihrem üblichen morgendlichen Weg zu folgen. Routiniert nutzen die Mädchen den Weg über ihren Schlafbereich und die Treppe dort hinauf. Die Jungs hingegen, denen der Zutritt zu den Mädchen Bereichen verboten ist, den über ihren.
Gabrialla stockt, als sie mit Michelle und Marie an ihrer Seite, einen Stock weiter oben, an der Stelle ankommt, an dem der Finger wider in die Kuppel übergeht. Fasziniert, lässt sie ihren Blick schweifen.
Ich habe den großen Raum 20 Mal gesehen und bin jedes Mal überwältigt.
Ist die Kuppel schon sonst überwältigend, so ist sie jetzt, wo alle Pflanzen, alle beruhigenden Wände weggeräumt wurden, um so vieles mehr.
Immer noch ihren Blick schweifen lassend, lässt sie sich von Michelle zu ihren Stühlen mitziehen. Die Mädchen haben es nicht weit, den die Stühle ihrer Gruppe sind nahe ihres Fingers aufgestellt. Ihre Stühle, die üblicherweise in den Lehrräumen stehen, wurden nun in dem Bereich gestellt, den die Kuppel zwischen den Fingern bildet.
Die Älteren hinten, die Jüngeren vorne.
Das ist so unglaublich.
Die Glaswände wirken nun, da die Sumza fast vollständig untergegangen ist, beinahe wie Kachare. Sie reflektieren die Kerzen, die überall verteilt wurden, bis ins Unendliche.
Als die Mädchen an ihren Plätzen angekommen sind, weigert sich Gabrialla, auf ihren Stuhl platz zu nehmen.
Das habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal zur dunkelsten Nacht haben sie so viele Kerzen aufgestellt. Wie das reflektiert wird. Und dann dieser Himmel. Staunend dreht sie sich in die Richtung, in der die Sumza hinter den Hügeln verschwunden ist. Nur noch ein kleiner Teil des Himmels ist im klaren aber schwindenden Blau des Tages getaucht.
„Gabrialla“, sobald die Jungen bei ihnen eingetroffen sind, zupft Michelle so lange an ihr, bis Gabrialla sich widerstrebend setzt.
„Findest du das kein bisschen fantastisch, Michelle?“
„Nein. Es ist gruselig. Es ist dunkel und wir sollten schon längst in unseren Schlafräumen und Betten sein. Das ist nicht fantastisch, Gabrialla.“
Wir sind so verschieden.
Schwach. Beute.
NEIN!, schreit Gabrialla auf. Michelle ist meine Freundin!
Schwach!
Energisch schiebt sie die Gedanken beiseite. Das hier ist viel zu aufregend dafür.
Auch wenn Michelle es nicht schön findet. Ich finde, dass es dieser Anblick wert ist hier zu sein.
„Auch wenn du es nicht gerne hörst“, seufzt Michelle. „Aber der Name Mondblume passt wirklich zu dir.“
„Pfff“, kommentiert sie diesen Namen, mit dem man sie so lange geärgert hat. Doch Michelle fährt unbeirrt fort.
„Um so Später der Tag, umso aktiver wirst du. Sobald es dunkel wird, blühst du auf. Du verwandelst dich von einer grübelnden in eine aktive Gabrialla. Von jemand, der versucht sich anzupassen in jemand, der seinen eigenen Weg gehen will. Du verwandelst dich in eine völlig andere Person. In eine anderer Gabrialla, als die der Farm.“
So sieht sie mich also? Das ist es, was sie an mir mag? Dass ich mich versuche anzupassen? Aber, das bin nicht ich.
Schwach. Keine Freundin.
Aber, sie war so lange für mich da. Sie hat zu mir gestanden ...
Schwach. Sie hat niemand anderen. Sie mag dich, weil sie meint, du bist schwächer als sie. Doch wir sind stärker. Sie ist Beute!
„Setzt euch“, hallt die Stimme einer Erzieherin durch den Raum und beendet alle Gespräche. Nun eilen auch die Letzten zu ihren Stühlen.
Ein leises, unerwartetes Türklicken, im allgemeinen Schaben fast nicht zu vernehmen, veranlasst Gabrialla, sich nach links, zum Finger der jüngsten Gruppe, herum zu drehen. Anders als die anderen vier Finger der Kuppel, ist dieser direkt am Übergang noch einmal mit einer Wand abgetrennt. Hinter dieser befindet sich, zwischen dem eigentlichen Bereich der Jüngsten und der Kuppel, die beiden Räume des Lehrleiters und der Hausherrin.
Mehrere Lehrer ergießen sich nun aus eben diesem Bereich. So, wie die Jüngsten Lehrlinge zuvor, streben sie in Richtung Podest. Als auch der Letzte durch die Tür ist, will sich Gabrialla schon umdrehen. Doch dann stockt sie.
Fünf Lehrer bleiben zurück und postieren sich neben der Tür.
Was soll das? Seit wann bewachen die Lehrer die Türen? Ihr bleibt keine Zeit mehr zum Überlegen, den die Hauptgruppe teilt sich weiter.
Noch hinter der Stuhlreihe der Jüngsten trennen sich zehn weitere. Fünf gehen nach links, Fünf nach rechts. Gabrialla versucht, beiden Gruppen zu folgen, doch ihre Aufmerksamkeit wird von der Hauptgruppe gefangen genommen.
Anders als von ihr erwartet, steuern diese nicht die beiden kleinen Treppen an, die sie auf das Podest führen würden. Stattdessen trennen sie sich erneut und umrunden dieses.
Eilig wirft Gabrialla einen Blick auf diejenige der beiden ersten Gruppen, die in ihre Richtung abgebogen ist.
Was für einen Grund gibt es, den Eingang zu den Fingern zu bewachen?
Ein weiterer Blick auf diejenige der beiden letzten Gruppen, die das Podest auf ihrer Seite umrundet hat, zeigt das gleiche Bild.
Auch unser Finger? Was soll das? Wir sind fertig. Wir warten nur noch auf unsere Berufe und unsere Aufnahme als Erwachsene. Ich dachte, dass wir jetzt freier wären. Warum diese Absperrung? Warum muss man die Finger mit je Fünf Lehrern sichern? Doch, halt, bemerkt sie. Es fehlen noch sechs Lehrer. Sie sind mit der anderen Gruppe um das Podest gegangen. Angestrengt lauscht sie. Doch dass muss sie nicht, den schon treten sie hinter dem Podest hervor. Rechts von ihr. Auf dem Weg zum Haupttor. Sprachlos und unfähig einen klaren Gedanken zu formen, blickt sie diesen nach.
Als dann auch der letzte Lehrer, seinen Platz erreicht hat, wird sich Gabrialla der Stille um sie herum bewusst.
Alleine das Atmen, der sie umgebenden, ist zu vernehmen. Kein Schaben, kein Tuscheln nicht einmal ein Knarren, mit dem die Stühle eine Gewichtsverlagerung quittieren, ist zu hören.
Gabrialla überkommt das Gefühl, eingesperrt und ausgeliefert worden zu sein. Bebendes Zittern überfällt ihren Körper, was sogleich vom Stuhl, mit einem überlauten Knarren kommentiert wird. Von einem Herzschlag auf den anderen, spannen sich ihre Muskeln an. Ihr Magen zieht sich zusammen und ihre Lunge saugt so viel Luft ein, dass sie sich anfühlt, als wolle sie zerspringen.
Es dauert nicht lange, dann hält sie es nicht mehr aus. Sie kann dem Drang, davon zu laufen, kaum mehr widerstehen. Eines ihrer Beine, schon halb zurückgezogen, das andere zur Seite ausgestreckt, verharrt sie, als neue Geräusche sie erreichen.
Ungewohnt feste Schritte, die überlaut im Raum widerhallen, erklingen hinter ihr.
Unser Lehrraum! Die Räume der älteren Mädchen!
Hin und hergerissen zwischen dem Drang, der Stille zu entkommen, der Neugierde und der Erziehung, verharrt sie bewegungslos. Nicht ein Muskel rührt sich in ihr, während die Schritte hämmernd näher kommen.
Kurz bevor diese sie erreichen, gewinnt ihre Erziehung die Oberhand. Im ersten Moment weigern sich ihre Muskeln noch, ihr zu gehorchen, doch dann sinkt ihr Körper wieder auf den Stuhl. Ihrer Neugierde ist jedoch nicht verflogen. Dieser folgend, will sie sich umdrehen, doch eine Bewegung aus der anderen Richtung lenkt ihre Aufmerksamkeit ab.
Die Tür des Lehrlingsfingers, welche sich erneut öffnet, lässt sie sich vollständig umdrehen.
Beide? Regungslos verharrt sie, als ihr etwas klar wird. Wenn alle Lehrer hier sind, der Lehrleiter und die Hausherrin eben so, wer ...?
Überlaut donnernd, nähern sich die Schritte weiterhin. Gleichmäßig, wie das Trommeln bei den Feiern, kommen sie näher. Mit jedem Donnern schlägt ihr Herz unruhiger.
Ihr Magen, der sich erneut zu einem schmerzenden Klumpen zusammen gezogen hat, löst sich mit einem lauten Knurren.
Flüchtig streift sie Scham, doch ihr Hunger, erneut in ihr erwacht, domminiert ihre Gedanken.
Hunger. Speichel sammelt sich in ihrem Mund. So viel, dass sie mehrmals hintereinander schlucken muss, um dem Bedürfnis, auf den Boden zu spucken, widerstehen zu können.
Was riecht hier nur so gut? Genüsslich schließt sie ihre Augen und zieht die Luft ein. Daraufhin krampft sich ihr Magen erneut zusammen und verlangt knurrend nach Essen.
Gabriallas Hand zuckt automatisch zu ihrem Bauch, in dem Bedürfnis, das Geräusch zu dämpfen, doch dafür ist es längst zu spät.
Die Lehrlinge in ihrer Umgebung, zucken sichtlich erschrocken zurück. Sie ist offensichtlich nicht die Einzige, die den Schritten angespannt lauscht.
Ich hätte mich zwingen müssen mehr zu essen. Warum habe ich in letzter Zeit so einen Hunger?, wundert sich Gabrialla.
„Alle herhören“, erklingt die Stimme der Hausherrin. Erschrocken wendet sich Gabrialla wieder dem Podest zu, auf dem die beiden Leiter ihre Positionen eingenommen haben.
Die Versammlung, wie konnte ich in so kurzer Zeit nur die Versammlung vergessen? Was ist nur los mit mir? Was geschieht hier?
In der folgenden Stille, wandern die musternden, oder gar suchenden - Gabrialla kann es nicht genau sagen - Blicke beider über die Lehrlinge.
Bei um die 300, ist es sicher unmöglich, einen Lehrling zu finden, überlegt sie. Das ist nur ein Zeichen. Wieder eines dieser Symbole, die zeigen sollen, dass sie jeden von uns sehen.
„Eurem Verhalten und der Unruhe“, beginnt die Hausherrin in tadelndem Ton zu sprechen, „die hier herrscht, entnehme ich, dass ihr von unserem Besuch erfahren habt. Ich möchte euch hiermit sagen, dass es mich sehr enttäuscht, wie schnell ihr unsere Regeln vergesst. Ich hätte zumindest von den Älteren unter euch“, dieses Mal blickt sie eindeutig alleine auf Gabriallas Seite. Wo so gleich auch verlegenes herum Rutschen einsetzt, „erwartet, dass sie sich an die Regeln halten würden. Ich bin sehr enttäuscht von euch.“ In der erneuten Stille, hört Gabrialla nur das vereinzelte Rutschen beschämter Lehrlinge auf ihren Stühlen. Doch, etwas anderes lässt Gabrialla aufhorchen.
Wo sind die Schritte hin? Ich bin mir sicher, dass sie auf uns zu gekommen sind. Sie müssen knapp hinter uns sein. Wieder zupft an ihr der Drang, sich umzudrehen und nach den Schritten zu suchen, doch auch dieses Mal wird sie gestoppt.
„Dennoch“, unterbricht die Hausherrin ihre Gedanken erneut, „um mögliche und auch sehr wahrscheinliche Missverständnisse“, ihre Betonung liegt eindeutig auf Letzterem und stellt damit klar, was sie von diesen hält, „richtigzustellen.“
„Es ist richtig“, fährt sie nach erneuter, nervenbelastender Pause fort, „Wächter sind zu uns gekommen, um sich mit unserem Leiter zu unterhalten und Informationen einzusammeln.“ Ein Raunen geht durch die Menge. Kurz herrscht wieder das hektische Treiben von vorhin. Köpfe werden zusammengesteckt Vermutungen ausgetauscht und Bestätigungen gemurmelt.
„Ruhe. Sofort“, ruft die donnernde Stimme des Lehranstaltsleiters durch den Raum. Nicht nur Gabrialla zuckt schuldbewusst zusammen. Den Blick gesenkt, richtet sie sich erneut korrekt auf ihrem Stuhl auf und wartet angespannt.
Hinter ihr erklingt ein Knarren. Doch die Schelte ist noch zu neu. So verharrt Gabrialla in ihrer Position, wartet, bis weiter gesprochen wird und horcht nach den Schritten in ihrem Rücken.
„Das alles erscheint euch ungewöhnlich, ist es aber nicht“, schallt seine Stimme zu Gabrialla. "Ihr habt bis jetzt nichts davon gehört, weil es nicht notwendig war, dass ihr es wisst. Dennoch ist es dieses Mal erwähnenswert, da der Besuch noch hier ist.“ Der gesamte Raum scheint den Atem anzuhalten, bei dieser Bekanntgabe.
Sie sind noch hier? Hier in der Lehranstalt? Die Schritte ..., flammt ihr Verdacht erneut auf.
Wie auf Kommando erklingen sie wider.
Dieses Mal eindeutig lauter und näher.