flammarion
Foren-Redakteur
Meine Brüder
Aus den Gesprächen der Erwachsenen bei Familienfeiern u.a. hatte ich erlauscht, dass mein Vater in erster Ehe drei Kinder hatte und in zweiter Ehe ebenfalls. Ich hatte also zwei Brüder und eine Schwester aus meines Vaters erster Ehe und zwei richtige Brüder. Sie waren älter als ich, der eine um ein Jahr, der andere um drei Jahre. Sie hießen Paul und Manfred. Nie merkte ich mir etwas geschwinder, als diese Namen!
Ich war unerhört neugierig auf meine Brüder, ich sehnte mich nach ihnen, denn ich gehörte von Natur aus zu ihnen und sie zu mir. So dachte ich. Ich fragte (vierjährig) Ida: "Warum nimmste denn Manne und Paule nich ooch zu dir?" Sie erwiderte: "Wo soll ick denn hin mit se? Solln se uff de Erde schlafn? Un außadem - die jehörn nich hier her!"
Ich fragte nicht weiter, denn auf der Erde zu schlafen wollte ich niemandem zumuten. Erst recht nicht meinen Brüdern. Auf der Erde schlafen nur solche Leute, die keine richtigen Menschen sind, soviel war mir schon beigebracht worden. Da ich ein richtiger Mensch zu sein glaubte, sollten auch meine Brüder nicht auf der Erde schlafen müssen.
Dann wollte ich eben zu ihnen. Ich erfuhr, dass sie in einem Heim lebten. Ich fragte: "Wat is n DET?" und Ida antwortete: "Da sin viele Kinda." Nun wusste ich, dass meine Brüder niemals so schrecklich oft allein waren wie ich, und ich beneidete sie glühend. Ich wusste ja damals noch nicht, wie grausam Kinder sein können!
Als ersten meiner Brüder lernte ich den jüngeren, Paul, kennen. Aus irgendeinem Grund besuchte Ida meine Mutter. Sie nahm mich mit, wie zu all ihren Besorgungen. Mühselig erklomm ich Dreijährige die hohen Stufen zu einem winzigen Hinterhaus, nicht wissend, wohin sie mich führten. Ich wunderte mich auch nicht darüber, dass Ida die Tür öffnete und eintrat, ohne vorher zu klingeln oder zu klopfen. Wir standen einfach gleich in einer Küche, wo ein kleiner Junge saß, der genüsslich eine Pfanne Gemüse mit einer Stulle leer schabte. Ida fragte herrisch: "Wo is n deine Mutta?" Der Junge schmatzte: "Keene Ahnung! Is se nich in de Waschküche?" - "Nee", keifte Ida, "da komm wa ja her, du Dämel! Ick hab ihr wat zu fraaren. Wo könnt se denn sonst noch sein, hä?" - "Keene Ahnung, dut mir leid!", erwiderte der Junge seelenruhig und wischte in seiner Pfanne herum. Dabei zwinkerte er mir verstohlen zu. Ich war verblüfft. Ein Junge hat mir zugezwinkert! Mir!!! Die ich nur an Ida klebte und kaum hinter ihrer Schürze sichtbar war! Was sollte denn das? Ich beäugte den Buben argwöhnisch.
Ida fragte weiter: "Wat denkste denn, wenn deine Mutta zurückkommt?" Der Junge schob die leere Pfanne von sich, wischte den Mund mit dem Handrücken ab und sagte würdig: "Mamma hat zu duhn. Wenn se denn mit de Aabeit fertich is, denn kommt se ooch nach Hause." - "So, na denn", resignierte Ida, "denn wa ja der Weech for umsonst. Beschdell ma deine Mutta n schön Jruß von mir un saare ihr, det ick mit die Christa da wa."
Sie drehte sich auf dem Absatz herum, mich mit sich reißend. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wem sollte ich hier vorgestellt werden? Was war mir entgangen? Denn das war doch kein Amtsgebäude, sondern eine Wohnung!
Kaum auf der Straße, fragte ich auch schon: "Wer wah denn der kleene Junge, Omi?" Sie antwortete zunächst nicht, sondern knurrte nur. Doch ich wollte es wissen: Wer war der Junge, der MIR zugezwinkert hatte? Ida antwortete letztendlich entnerft: "Der Bengel, der da seine Fanne mit Brot leerjejessn hat, weil deine Mutta wahscheinlich keen n Tella un keene Jabl hat, wa dein Bruda Paul."
Es ist möglich, dass meine Mutter hinter der nächsten Tür gestanden hatte. Ich kann verstehen, dass sie mich nicht so plötzlich - ohne Vorankündigung - zu sehen wünschte. Und wenn dem nicht so war, hatte Paul sich wahrhaft vortrefflich verhalten.
Das nächste mal sah ich meine Brüder - beide! - als sie aus dem Heim ausgerissen waren. Sie hatten im Hausflur erschöpft gesessen, bis Ida kam, und sie gab sie bei Ls. zur Aufbewahrung ab, bis "die vom Amt" sie holen würden. Aber darüber brach die Nacht herein, und Grete L. gab meine Brüder wieder bei Ida ab.
Ich gaffte sie mit aufgerissenem Munde an und wusste nicht, wie ich mich zu ihnen stellen sollte, sie waren meine Brüder, meine nächsten Verwandten, aber ich, ich war doch "etwas Besseres", ich wusste zwar nicht, worin, aber Ida und Gerda und die Ls. und die "Moabiter" sagten es, also stimmte es doch wohl, dass ein Mädchen etwas Besseres ist.
Es dauerte Stunden, ehe meine Brüder wieder ins Heim abtransportiert wurden. Ich bekam keine Gelegenheit, mit ihnen zu reden. Ich wurde inzwischen zu Bett geschickt. Ich hätte gern meinen Brüdern einen Platz neben mir angeboten, bei Ls. schliefen ja auch zwei bis drei Kinder in einem Bett.
Aber Ida sagte: "Da wirste ja denn wach, wenn se die Bengels hohln, un du musst doch deine Ruhe hahm beit Schlafn. Also schlaaf man ruhich un kümma dir nich um die Bengels. Die müssn ihrn Weech finn. Jungs könn det. Janz von alleene. Da musst de dir keene Sorjen machn. Schlaaf man, meine Kleene, schlaaf!"
Ihre plötzlich so zärtliche Fürsorge tat mir so wohl, dass ich meine Brüder vergaß, bis die Ausreißer einige Monate später wieder vor der Tür standen. Diesmal kamen sie aber am Vormittag, also waren sie am Nachmittag schon wieder verschwunden. Sie kannten als einzig feste Adresse außer der ihrigen, wo ja nun niemand mehr war, nur die von Tante Ida. Sie hofften, von ihr aufgenommen zu werden, weil sie mich in Verwahrung hatte. Sie kannten ja Idas Beweggründe nicht.
Als ich fragte: "Warum könn denn meine Brüda nich bei uns bleim?", erwiderte Ida: "Weil det Jungs sind, du Dussl!"
Ich erinnerte mich daran, dass bei Ls. Mädchen in einem Bett schliefen, und Jungs in dem anderen. Idas Wohnung war zu klein, um ein Bett für Jungs aufzustellen. Sie taten mir unendlich leid, meine armen Brüder! Sie mussten wieder ins Heim ohne Oma, ohne Tante Gerda, ohne Waltraud und ohne die "Moabiter"! Nicht mal die "olle" Tante Irma konnte ihnen beistehen! Und möglicherweise gab es dort keine Kirche! Umso heftiger betete ich mit aller Inbrunst für sie. Mehr konnte ich nicht tun.
Da sie aus jedem Heim ausrissen, wurden sie getrennt. Manfred kam in ein Heim im Vogtland, wo er sich bald einlebte, Paul kam nach Zingst. Er wartete, bis der Bodden zugefroren war, dann schlug er sich bis Bernau durch, wo er von der Transportpolizei aufgegriffen wurde. Nun kam er in ein Heim in Lohme, wo er sich in sein Schicksal ergab.
Eines Tages hatte ich - achtjährig - eine Kollision mit einigen mir unbekannten Kindern in der Charlottenburgerstraße. Ich fühlte mich durch sie belästigt und tönte: "Wenn ihr nich jleich zuseeht, det ihr Land jewinnt, denn hool ick meinn jroßn Bruda, der schpuckt un schmeißt mit Schteine!" (diese Lautäußerung hatte ich kürzlich in einem "Berliner Bilderbogen" gelesen), als plötzlich ein "Jung Siegfried" neben mir stand: blond, blauäugig, breitbeinig, und drohend fragend: "Wer will hier wat von meine kleene Schwesta?"
Die "feindlichen" Kinder zerstoben in alle Winde. Ich fragte den unerwarteten Retter schüchtern: "Wer bist n du? Bist de wirklich mein Bruda? Denn bist de denn woll der Manfred?" - "Ja", sagte er souverän, "der bin ick."
Ich stand vor meinem Bruder. Zum ersten mal in meinem Leben nahm ich ihn in voller Größe wahr. Manfred, dem Ältesten von uns. Und ich liebte ihn, da ich ihn sah. Solange hatte ich immer nur eine trotzige Sympathie für meine Brüder, da ich nach allgemeiner Meinung nicht mehr wert war als meine Familie, aber nachdem Manfred als mein Erlöser und unerwarteter Beschützer neben mich trat und auch noch so schön war, musste ich ihn lieben.
Doch ich kam nicht dazu, ihm meine Gefühle zu offenbaren, zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mir wurde der Weg zum Elternhaus verboten, und ich gehorchte, denn ich wollte ja nicht im Fegefeuer schmoren als ungehorsames Kind. Nur sehr selten pfiff ich - zwölf - bis dreizehnjährig - auf die jenseitige Seligkeit und besuchte meinen Bruder. Mama hatte zu jener Zeit schon ihre Freundin Grete P. kennen gelernt und verbrachte sehr viel Zeit mit ihr; sie war also meistens nicht zu Hause, wenn ich Manfred besuchte.
Als Manfred sechzehn Jahre alt war, wurde er aus dem Heim entlassen. Nun besuchte er mich häufig, was der Ida überhaupt nicht passte, aber sie wusste nicht, wie sie diese Besuche untersagen könnte. Manfred war schließlich mein Bruder, und wir unterhielten uns ja nur bzw. spielten Schach.
Bei unseren Gesprächen stellten wir fest, dass wir viele gemeinsame Interessen hatten - wir schwärmten für utopische Literatur, für Märchenfilme, für Astronomie und für Archäologie. Wir konnten uns stundenlang über Saurier, Steinzeitmenschen und Fossilien unterhalten.
Manchmal steckte Ida den Kopf zur Tür herein, um zu sehen, was wir treiben. Nach Manfreds Fortgehen höhnte sie: "Aschelojie! So n Blödsinn! Wat soll denn det sin, hä?" Ich erklärte es ihr. Sie meinte daraufhin: "Die Dootn soll man ruhn lassn, un wenn se noch so lange doot sin!"
Manfred hatte ein Faible für binomische Zahlen, für Primzahlen und für die römischen Ziffern. In jedem Fall konnte er sie bis über Tausend fehlerfrei hersagen. Ich bewunderte ihn dafür und konnte es nicht fassen, dass er eine Sonderschule - von Ida "Hilfsschule" genannt - besucht hatte. Er begriff den Lehrstoff langsamer als ein Durchschnittskind. Obendrein beging unsere Mutter den Fehler, seine ersten Hausaufgaben selber zu schreiben.
Was unserer Mutter gar nicht gefiel, waren die ständigen Streitereien der Brüder. Mitunter endeten sie in einer handfesten Prügelei, wovon beide etliche Narben zurückbehielten. Einmal - es war zwischen Weihnachten und Neujahr - gerieten sie bei Tisch in einen Streit, worauf einer seine Gabel gegen den anderen schleuderte. Dieser duckte sich, und die Gabel fuhr durch eine Weihnachtsbaumkugel und zum geschlossenen Fenster hinaus. Unvorstellbar, wenn das Geschoß das beabsichtigte Ziel getroffen hätte!
Als Teenager betitelten die Brüder einander mit "Hosenklau" (für Paul) und "Wurschtklau" (für Manfred), weil der eine die Hosen des anderen trug, wenn ihm die eigene nicht mehr sauber erschien, und weil Manfred einmal die Wurst weggegessen hatte, die Paul sich zum Abendbrot reserviert hatte. Manfred konnte die Wohnung nicht verlassen, ehe Paul mit der Hose nach Hause kam, und Paul musste etwas anderes zum Abendbrot essen. Jeder behauptete, der am stärksten Benachteiligte gewesen zu sein.
Zu jener Zeit hatten wir ein neues Spiel entdeckt - ohnmächtig werden. Dazu stellte ich mich mit dem Rücken gegen Manfred, er umklammerte meinen Oberkörper unterhalb der Brust, dann holte ich dreimal tief Luft und hielt den Atem an. In diesem Moment drückte Manfred mich ganz fest mit seinen Armen - und schon sank ich echt in Ohnmacht. Es war ein irres Gefühl, wenn plötzlich die Knie weich wie Butter wurden und die Möbel zur Decke schwebten! Paul hatte nicht so viel Kraft wie Manfred, er schaffte es nicht, mir dieses süße Gefühl zu vermitteln. Darüber war er sehr enttäuscht.
Ich erzählte Waltraud von diesem Spiel und sie erwiderte: "Na, ick würde mir ja nich von mein Bruda unta de Brust fassn lassn!" Es nützte mir nichts, zu erklären, dass er mich gar nicht anfasste. Für Waltraud blieb es etwas Unanständiges.
Im selben Jahr besuchte ich mit meinen Brüdern eine Kinovorstellung. Der Film war "p 14". Paul hatte seinen Personalausweis nicht dabei und unsere Versicherung, dass er 15 ist, wurde ignoriert. Ich Dreizehnjährige brauchte ob meiner stattlichen Oberweite den Ausweis nicht vorzuzeigen, Paul aber musste nach Hause gehen. In Zukunft hatte er seinen Ausweis in der Hosentasche.
In jener Zeit versuchte Paul, mir das Tanzen bei zu bringen. English Walz war gerade groß in Mode. Leider hatten wir keine Musik. Aber wir wussten uns zu helfen, wir sangen die gängigen Schlager und binnen kurzem konnte ich tanzen und hatte viel Spaß.
Manfred war der hübschere und nettere der beiden. Er kam nach unserer Mutter. Paul hingegen war leicht aufbrausend wie unser Vater.
Manfred hatte sich als Ausgleich für seine Unsicherheit in der Rechtschreibung ein umfangreiches Vokabular angeeignet, z.B. den Begriff "Hypersuperedelschnulze". Oder die Frage: "Legst du gesteigerten Wert auf . . ." Grete P. sagte, dass "Wert" sich nicht steigern lässt, um so witziger fand ich meinen Bruder.
Wenn jemand mit ihm Streit suchte, sagte er gelassen: "Du nich. Und zehn andere ooch nich. Aus dir mach ick doch glatt n Hut, n Schirm und vielleicht noch ne Krawatte." Dann kam der Gegner ins Lachen und der Streit war vergessen.
Meine Brüder bewunderten mich dafür, dass ich die Mittelschule besuchte. Manfred sagte einmal zärtlich: "Unsa jelehrtet Schwesterlein!"
Ich lächelte glücklich und Paul prustete: "Du brauchst jar nich so vaklärt zu grinsen, Christa, der Manne schreibt det doch imma noch mit doppel E!"
Manfred wollte auf Paul einschlagen, denn derartige Kritik vertrug er nicht. Ich schlichtete den Streit. Wenn ich damals schon gewusst hätte, was Legasthenie ist, hätte ich Paul zu einem besseren Verhältnis zu unserem Bruder verhelfen können. So konnte ich nur sagen: "Eh, eure Prüjelei is langweilich! Könn wa nich wat schpieln?"
Als ein Spiel mit den wenigsten Streitmöglichkeiten erschien mir Skat. Ich musste es erst lernen, in dieser Phase gab es von vornherein keinen Streit. Wenn sich später ein Streit anbahnte, sagte ich: "Neuet Schpiel, neuet Glück! Wer is dran mit Mischen?" Und wir spielten friedlich weiter. Mitunter nächtelang.
Als ich fünfzehnjährig endlich bei meiner Mutter wohnte, erzählte sie mir drei heitere Begebenheiten aus Manfreds früher Kindheit: Als er einmal in der Stube spielte, wurde es plötzlich sehr still darin. Mama rief, Schlimmes ahnend: "Manfred, was machst du?", und er antwortete heiter: "Dummkeiten!" Mama stürzte entsetzt in die Stube und sah, dass der Junge friedlich spielte. Ihm war so oft vorgeworfen worden, Dummheiten zu machen, dass er bald alles, was er tat, für Dummheit hielt. Mama rügte ihn von nun an seltener.
Er sah, wie ich gestillt wurde, lief zum Vater und rief aufgeregt: "Pappa, Pappa, die Püppi trinkt aus Mamas Bauch!"
Und einmal hatte Mama den Vierjährigen zur Polizei mitgenommen, wo sie ihren neuen Personalausweis beantragen wollte. Der Beamte fragte: "Wie heißen Sie?" Mama suchte etwas in ihrer Tasche, da sie ein wenig schwerhörig war, entging ihr die Frage. Manfred antwortete an ihrer Stelle: "Mama heißt se!"
Paul war sehr lebhaft. Manchmal trieb er sogar mit Mama Schabernack. Wenn es Kompott gab, legte er zu ihrer Schale einen durchsichtigen Plastelöffel, weil er wusste, dass sie ihn übersehen würde. Ich fand es gar nicht lustig, wenn Mama dann fragte: "Warum habt ihr mir denn keinen Löffel hingelegt?", lachte aber mit.
Zu jener Zeit erwartete Paul von mir, dass ich seine Wäsche in Ordnung halte. Das fiel mir ja nun im Traum nicht ein. Erstens war ich nicht sein Dienstmädchen, zweitens hatte ich vom Hemdenbügeln keine Ahnung und drittens wusste ich, dass er seine Sachen sehr gut selber in Ordnung halten konnte. Ich ließ mir von ihm zeigen, wie mit einem Oberhemd umzugehen ist - vielleicht geriet ich ja doch an einen Mann, der seine Sachen nicht selber in Ordnung hält. Es gibt leider viele Frauen, die auf diese Weise ihren Mann in Abhängigkeit halten und auch ihre Söhne nicht zur Selbständigkeit erziehen.
Irgendwann kam Paul auf die Idee, uns allen neue Spitznamen zu verpassen. Aus Manfred wurde Mannejekanne, aus Christa wurde Christajetista, aus Mama wurde Mutterjetutter, aus Papa wurde Pappajeklappa und aus Paul wurde Paulejemaule. Als Mama das hörte, war sie beleidigt, aber es gelang uns sehr schnell, sie davon zu überzeugen, dass es nur Spaß ist. Nun benutzte sie selber diese Spitznamen, insbesondere "Pappajeklappa".
Ihre Freundin weigerte sich heftigst, den ihr zugedachten Spitznamen "Gretejetete" anzunehmen. Sie sagte: "Auf ein solches Niveau lasse ich mich nicht hinunter, Spitznamen habe ich schon als Kind vermieden." Bald hatten wir auch selber keinen Spaß mehr an den Namen. Viel besser und lustiger erschienen uns die Bezeichnungen "Lesterschwein" für mich und "Lüderbrein" für meine Brüder.
Einmal besuchte ich mit Paul einen Rummelplatz. Während wir darauf warteten, auf einem Karussell eine leere Gondel zu erwischen, zog mich jemand an den Haaren. Ich war der Meinung, dass ich mir das nicht gefallen lassen muss, drehte mich um und gab ihm eine Ohrfeige. Der Geohrfeigte meinte, er habe nichts getan, aber er sagte auch nicht, wer es getan hatte. So stand für mich fest, dass er log. Auf dem Heimweg fragte Paul: "Wat hätteste denn jemacht, wenn der dir nu ooch eene jescheuert hätte?" Ich erwiderte: "Na, du hättest mir doch beijestandn"
Er zog eine Schnute: "Ick werd mir doch nich wejen dir uff ne Prüjelei mit n fremdn Bengel einlassen!"
Stark enttäuscht sagte ich: "Denn biste ja jar keen richtija Bruder!" Und er erwiderte scharf: "Und du bist keene richtije Schwester!"
Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Heute vermute ich, dass er mich nicht als Schwester ansehen konnte, weil wir nicht zusammen aufgewachsen waren. Trotz aller Zuwendung, die ich ihm gab, bin ich ihm fremd geblieben.
Manchmal gingen wir mit den Spielkumpels aus Kindertagen in die nahe gelegene Eckkneipe. Nun lernte ich Fritz kennen, einen jener Söhne, die Grete L. gleich nach der Geburt zur Adoption freigab. Er blieb ein Freund meiner Brüder, bis sie sich aus den Augen verloren.
Jedenfalls hat er Paul noch ein Jahr nach seiner Eheschließung besucht und bei ihm übernachtet, nachdem sie einige Flaschen geleert hatten. Als Paul schlief, ist Fritz zu der jungen Frau gekrochen und hat sie geschwängert.
Paul sah sich immer vor, er fühlte sich zu jung, um Vater zu sein. Nun hatte er eine Tochter. Er wollte sie "Tertia" nennen, nach einer Gestalt aus einem utopischen Roman. Er ließ es sich ausreden, nachdem ich ihm vor Augen führte, wie er unter dem unmodernen Namen Paul gelitten hat und wie viel Kraft es kostet, mit einem ungewöhnlichen Namen leben zu müssen.
Letztendlich hieß die Tochter Manuela, ein damaliger Modename. Fritz behauptete Jahre später im betrunkenen Zustand, dass die junge Frau ihn zu sich gezogen hatte, so erfuhr Paul, auf welche Weise seine Frau schwanger wurde.
Ich jedenfalls hing wie eine Klette an meinen Brüdern und war tieftraurig, als der eine nach Heringsdorf zog, um zu heiraten, und der andere in ein kleines Dorf bei Leipzig. Er war Landwirt geworden, fand aber später eine Tierpflegerstelle im Berliner Tierpark.
Nach und nach drifteten wir immer weiter auseinander. Heute habe ich zu dem einen gar keinen Kontakt mehr und mit dem anderen telefoniere ich zum Geburtstag und zu Weihnachten.
Hygiene
Ich war etwa vier Jahre alt, als Irma einmal zufällig beobachtete, wie ich "bettfein" gemacht wurde. Ida hatte mich bis auf das Unterhemd entkleidet, mir Gesicht und Hände gewaschen und zog mir nun das Nachthemd über. Irma sagte: "Aba Oma, so kannst de det doch nich machn! Da zieht ja der janze Nachtschweiß in det Tachhemd! Du willst doch woll nich, det uff de Schdraße keena mit Christa schpielt, weil se schdinkt?" Ida antwortete unwirsch: "Die hat janischt uff de Schdraße zu schpieln!" Aber sie zog mir in Zukunft das Unterhemd aus, wenn sie mich zu Bett brachte.
Wenn wir Kinder gebadet werden sollten, kochte Ida mehrere Kessel Wasser und schüttete sie in eine Wanne, in die sie uns anfangs beide zusammen hineinsetzte. Waltraud sollte zuerst mich und dann sich waschen. Das tat sie. Die Wanne war nicht besonders groß, Waltraud musste sich nicht viel bewegen, um mich überall waschen zu können. Nur die Ohren wusch Ida uns. Dazu wickelte sie den Seiflappen um ein abgebranntes Streichholz und fuhr damit in alle Ausbuchtungen bis tief ins Ohrinnere. Das war sehr unangenehm.
Als letztes wurden die Haare gewaschen, wobei Ida uns zum Schluss eine Schüssel warmes Wasser, das mit Essig angereichert war, über die Köpfe goss. Davon sollten die Haare Glanz und Geschmeidigkeit erhalten. Als wir nicht mehr zusammen in die Wanne passten, badete zuerst Waltraud, dann stieg ich in das benutzte Wasser. Nun musste ich mich selber waschen. Es versteht sich, dass ich sehr schnell damit fertig war, denn erstens war es nicht gerade angenehm, zwischen Schmutzflocken zu sitzen und zweitens hatte das Wasser nicht mehr die angenehme Temperatur. Das Haare waschen wurde jetzt von Ida übernommen, wobei ihr durch einen Unfall steif und gefühllos gewordener kleiner Finger heftig meine Kopfhaut kratzte.
In den Genuss dieser Bäder kamen wir einmal im Monat, öfter hielt Ida sie nicht für nötig. An Sonnabenden stellte sie eine große Schüssel warmes Wasser zur Verfügung. Es war jene Schüssel, in welcher wir uns im Sommer die Füße wuschen vor dem Schlafengehen, im Sommer liefen wir barfuss. In ebendieser Schüssel wurde auch der Kuchen angerührt und der Kartoffelsalat angerichtet. Ich konnte kaum lachen, als die Freundin meiner Mutter einen altberliner Kinderwitz kund tat: "Erwin, komm oben, Füße waschen, Mama brauch die Schüssel für Salat!"
Ida mokierte sich darüber, dass bei Familie L. die Kartoffeln im Ausguss gewaschen wurden: "Erst pinkeln se rin un denn waschn se die Katoffiln!"
Als Waltraud nicht mehr bei uns wohnte, gab Ida die Wanne zum Altstoffhandel. Ich sehe ja ein, dass es ihr zu beschwerlich war, das Bad für mich zu richten, aber hätte ich das unter ihrer Anweisung nicht selbst tun können? Namentlich das Ausschöpfen der Wanne mit Schüsseln, was ja wohl das schwerste für sie war. Sie war der Meinung, dass ich für alles zu blöd sei, so fielen die Bäder weg.
Dass und wie man sich morgens und abends waschen sollte, erläuterte eine Lehrerin im Geschichtsunterricht des siebenten Schuljahres, wo das Mittelalter auf dem Lehrplan stand. Ich hatte keine Angst vor der Pest, die war ja längst besiegt, aber die Lehrerin sagte, dass man sich viel wohler fühlt, wenn man seinen Körper pflegt und dass man dadurch auch hübscher wirkt. So wusch ich mich nun täglich. Ida sagte dazu: "Na, nu übatreibst de aba!"
Irma bemerkte, dass ich (vierjährig) stark aus dem Mund roch. Sie bewegte Ida dazu, auch für mich Zahnputzzeug anzuschaffen. Waltraud musste mich das Zähneputzen lehren. Sie fuhrwerkte derart in meinem Mund herum, dass mir alles wehtat. Da an den weiteren Tagen nicht auf meine Zahnpflege geachtet wurde, putzte ich sie immer seltener und hörte bald ganz damit auf. Erst, nachdem ich im zweiten Schuljahr eine Großveranstaltung der "Jungen Pioniere" erlebte, wo in einem kleinen Theaterstück aufgezeigt wurde, was mit den Zähnen geschieht, wenn sie nicht regelmäßig geputzt werden, griff ich täglich zur Zahnbürste.
Wenn meine Haare zu lang geworden waren also wenn sie hinten auf die Schultern fielen und vorn meine Sicht behinderten, stutzte Ida sie auf die gewohnte Länge (gerade noch die Ohren bedeckend) zurück. Bis in mein zehntes Lebensjahr verpasste mir Ida an jedem Morgen die "Hahnekamm"-Frisur. Weil sie den Kamm, der die Haare festhalten sollte, stets heftig über meine Kopfhaut kratzen ließ, brüllte ich beim Frisieren oftmals "wie am Spieß". Ich bin auch heute noch äußerst empfindlich auf der oberen Kopfpartie und gehe ungern zum Friseur.
Ida mokierte sich bei Grete L. über mein "albernes Benehmen". Grete L. riet, mir vom Friseur die neue Kinder-Modefrisur machen zu lassen, einen "Korea-Schnitt". Ida erschrak: "Wat forn Ding? Korea-Schnitt? Wie soll denn det aussehn?" - "Na, det is so n Rundschnitt. Da brauchen sich die Jörn bloß zu schütteln, und schon sind se jekämmt."
Sie zeigte ihr ein Klassenfoto ihrer jüngsten Tochter und Ida konnte sehen: Kein Kind trug mehr den "Hahnekamm", alle hatten kurz anliegende Haare. "Mensch, da kann man ja die Jungs nich mehr von die Meechns untascheidn!", rief Ida. "Doch, kiek ma richtich hin, bei die Jungs sin die Haare noch kürza!", entgegnete Grete L. So ging Ida mit mir zum Friseur und sah zu, wie der neue Schnitt gemacht wird. Sie hat ihn dann auch noch einige Zeit nachgemacht. Als sie es nicht mehr konnte (da sie auf die achtzig zuging, wollten die Augen nicht mehr so recht), bekam ich regelmäßig Geld für den Friseurbesuch.
Als Dreizehnjährige erlaubte ich mir die Extravaganz, die Stirnlocke wachsen zu lassen. Ida tobte: "Det is doch keene Frisur nich! Det schöne Jeld zum Fensta rausjeschmissn!" Aber ich fand mich "cool" und es gab niemanden außer Ida, der meine Frisur beanstandete.
Zur Jugendweihe musste ich mir eine Dauerwelle machen lassen: "Du wirst jetzt erwachsen, du musst ooch danach aussehn!"
Die vielen Stunden tatenlosen Herumsitzens beim Friseur! Grete L. hatte zwar vorsorglich geraten: "Nehm dir n Buch mit!", doch es war gelesen, bevor die Frisur fertig war. Die ätzenden Flüssigkeiten, die die Frisur auf Dauer erhalten sollten! Die Hitze unter der Trockenhaube! Das Ziepen beim Zurechtkämmen! Obendrein sah ich nun viel älter aus. Es hieß ja, dass man bei der Jugendweihe in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wird, also lächelte ich über die krasse Veränderung meines Äußeren.
Waltraud musste mir stets die Nägel schneiden. Ich durfte erst als Zehnjährige eine Schere in die Hand nehmen, als der Mathematiklehrer die Nachbildung eines Würfels zur Hausaufgabe machte. Von da an wusste ich, wo die Schere liegt und benutzte sie zum Basteln und um mir selber die Nägel zu schneiden, das tat weniger weh.
Als ich etwa elf Jahre alt war, wollte Waltraud mir zeigen, wie eine Dame ihre Fingernägel pflegt. Sie schnitt mir die Nägel spitz, eine Dame hat nämlich spitze Nägel, und räumte allen Fingernagelschmutz hinfort, bis sie nur noch Weißes zu Tage förderte. Tags darauf waren meine Fingernägel blutunterlaufen. Ida sah es und fragte, warum ich so unerhört dreckig sei. Ich hatte mir nicht zwischen Abendbrot, Schlafengehen und Aufwachen Schmutz unter die Nägel ziehen können, der "Dreck" war auf Waltrauds Nagelpflege zurückzuführen. Ich erzählte Ida davon und sie verbot Waltraud, irgendetwas an mir "herumzufummeln".
1995 war die mir zunächst gelegene Arztpraxis ausgerechnet jene, in der meine Nichte eine Anstellung bekommen hatte. Sie hatte Diätköchin gelernt und war jahrelang in einem Krankenhaus beschäftigt. Das qualifizierte sie nun zur Sprechstundenhilfe. Ich hatte Schwierigkeiten mit meinem linken Fuß, er ist kleiner als der rechte und hatte daher einen Sporn entwickelt. Manuela durfte ihn mit Bestrahlung behandeln. Als sie mein Bein an die Anlage anschloss, sagte sie: "Du solltest dir mal wieder deine Füße machen." Ich blieb ratlos zurück - wie "macht" man sich die Füße? Ist waschen und Nägelbeschneiden nicht genug?
Ida schneuzte sich übrigens in den Unterrock, obwohl wir viele Taschentücher besaßen.
Bekleidung
Das ist für mich ein heikles Thema. Ein Mensch ist selbstverständlich bekleidet, also hatte auch ich etwas an. Wenn mich meine Kleidung nicht behinderte, war es mir gleichgültig, wie sie aussah. In einer "Frauenzeitschrift" las ich später, dass eine Frau alt wird, wenn sie beginnt, die Kleidung nach der Bequemlichkeit auszusuchen. Demzufolge war ich entweder nie jung oder nie Frau.
Ich erinnere mich nur an wenige Kleider meiner Vorschulzeit. Ich weiß nur noch, dass meine Sommerkleider oft sehr kurz und weit waren (ich hasste es, wenn mir der Halsausschnitt auf den Ellbogen rutschte!); von den Winterkleidern ist mir so gut wie gar nichts erinnerlich. 1948 jedenfalls trug ich im Sommer eine Spielhose, das war eine Zwittergestalt zwischen Hose und Rock, also weit und lang wie ein Rock, aber doch eine Hose. In diesem Bekleidungsstück fühlte ich mich sauwohl - die Bezeichnung "Spielhose" bedeutete mir, dass ich mich frei bewegen durfte, ich durfte tun, wozu ich Lust hatte. Leider war mir die Spielhose im folgenden Jahr zu klein und ich musste wieder normale Mädchenkleidung tragen. Da gab es ein hübsches Trägerkleid aus weißem Nesselleinen, mit rosa Schleifen verziert. Ich sah gewiss ganz süß darin aus, aber das harte Leinen scheuerte meine Haut auf. Ich musste das Kleid immer wieder anziehen, bis mein Blut das Leinen rötete. Nun hatte Ida ein Einsehen und befand: "Die Christa is aus det Kleid rausjewachsn." Ich vermute, dass Ida mich gern wie eine Puppe ausstaffiert hätte. Waltraud und ich besaßen einen Muff aus weißem Pelz und Handschuhe. Die Handschuhe befand ich als sehr nützlich, aber die Muff ließ mich an den Armen frieren, weil sie den Mantelärmel nicht hineinließ.
Ich weiß, dass Gerda, wenn sie ein Kleid für ihre Tochter kaufte, meistens auch eines für mich kaufte. Anfangs ohne eine von uns beiden befragt zu haben. Sie fand einfach mal ein Kleid hübsch und brachte es mit. Erst, nachdem sie mehrmals erlebte, dass Waltraud ein Kleid partout nicht anziehen wollte, nahm sie uns mit zum Kleiderkauf. Bevor sie ein Kleidungsstück zum Kassentisch trug, vergewisserte sie sich, dass an der Innennaht auch der obligatorische Flicken nebst Ersatzknopf befestigt war. Den Ersatzknopf befand ich als sehr nützlich, doch der Flicken war lächerlich, denn meist hatte das Gewand eine andere Farbe, ehe es ein Loch bekam.
Ich war es gewohnt, Kleider zu tragen, die vor mir schon andere trugen. Es machte mir nichts aus. Ich musste angezogen sein. Ich folgte Idas Maxime: "Hauptsache sauber und ganz!" Wenn ein Kleid sauber und ganz war und mir halbwegs passte, trug ich es, bis es mir zu klein wurde. Ich erinnere mich - bis auf wenige Ausnahmen - nur an die Kleider, die auf Fotos festgehalten wurden.
Eine dieser Ausnahmen bildete ein ockergelbes, mit sehr kleinen schwarzen Rosen bedrucktes Hängerkleid, das ich sehr schön fand. Es war weit und luftig und hatte auch eine mir gefallende Länge, d.h., es bedeckte die Knie. Auch, wenn es mir nicht von meiner Mutter geschenkt worden wäre, hätte ich es geliebt. Aber Ida argwöhnte da Zusammenhänge und schon war das Kleid verschwunden, noch ehe ich ihm entwachsen war.
Ich bekam anfangs Kleidungsstücke aus dem Altstoffhandel meines Vaters, danach aus mir unbekannten Quellen, und natürlich jene, aus denen Waltraud herausgewachsen war. Für mich war das ganz natürlich, aber heute komme ich zu der Erkenntnis, dass es Waltraud gar nicht recht war, wenn ich ihre Kleider auftrug. Sie hat sehr ärgerlich darauf reagiert, wenn sie eines ihrer Kleider vier bis fünf Jahre später an mir wieder sah. Vor allem ärgerte sie sich darüber, dass man ihr ständig verboten hatte, die Hände in die Taschen zu stecken, dass bei mir aber darauf nicht geachtet wurde. Wenn ich ermahnt wurde, war sie anscheinend stets außer Hörweite.
1954 beobachtete ich, dass zunehmend mehr Mädchen Hosen trugen, namentlich im Winter. Ich wollte auch eine Hose haben. Ich bettelte und bat, aber ein Mädchen mit Hosen war für Ida völlig undenkbar. Endlich sagte Grete L.: "Koof ihr doch ne Treeningshose, die brauch se wiso for die Schule. Denn hat sie ne Hose un du hast deine Ruhe. Außadem is ne Treeningshose nich so deua wie die andan." Ich bekam also eine Trainingshose und wagte nicht, zu meckern. Nicht einmal dann, wenn Ida mich zwang, noch einen Rock über die Hose zu ziehen, wenn sie mit mir einkaufen gehen wollte.
Waltraud besaß ein paar Shorts, die 1954 sehr modern waren. Das waren kurze, weite Hosen aus kariertem Stoff. Sie trug sie sehr gern, denn so kamen ihre langen, schlanken, wohlgeformten Beine vorzüglich zur Geltung. Einmal gingen wir zusammen durch die Pistoriusstraße. Waltraud hatte ihre Shorts nebst Nicky, Nickytuch und hochhackige Schuhe an. Da keifte plötzlich eine alte Vettel hinter uns: "Sowat jehört vabotn! Scheemt die sich denn ja nich? In Hosn! Und denn noch so ne kurze! Vabrenn müßte man die! Wie ne Hexe vabrenn!" Und ihr Gemahl pflichtete ihr bei. Wir kicherten verhalten und fühlten uns absolut nicht wohl in unserer Haut. Diese Begebenheit lehrte mich, Modisches nach Möglichkeit zu meiden.
Als ich zwölf bis dreizehn Jahre alt war, wollte ich auch so schön sein wie Waltraud. Sie besaß zwei Kleider, auf die ich unerhört scharf war: Ein taubenblaues Kleid mit schwarzen Punkten und einer "Tellerglocke"; wenn man sich schnell genug drehte, hob sich der Rock bis in Hüfthöhe!, aber nicht darauf war ich aus; mich faszinierte der Schnitt dieses Kleides. Wenn man sich hinsetzte, fiel der Stoff am Stuhl vorbei bis auf den Fußboden. Ich fühlte mich in diesem Kleid wie eine Lady.
Das andere war ein giftgrünes Kleid mit weichem Georgeanzekragen und reichen Bordüren darauf. Mir gefiel die Farbe und auch der Schnitt, es war für mich das Kleid aller Kleider, auch ohne den duftigen Kragen, der schon zerschlissen war, als Waltraud das Kleid noch trug. Aber ich musste bei beiden lange bitten, ehe Waltraud sie mir überließ. Das Kleid mit der Tellerglocke durfte ich nur selten anziehen, Ida sagte: "Det is keen Kleid for alle Daare!" Ich sah es auch so, aber ich wollte es nicht auf meinen Spaziergängen verschleißen, sondern zur Schau stellen: "Seht her, so schöne Kleider gibt es!"
Endlich durfte ich es zum Schulgang anziehen. Es wurde von meinen Mitschülern betrampelt. Wenige Wochen später schon passte es mir nicht mehr, man konnte das Kleid auch nicht auf meine Figur umändern. Ich verkörperte nun mal nicht Waltrauds Typ "Südstaatenschönheit", sondern eher den Typ "dralle Deern". Das giftgrüne trug ich, bis ihm alle Nähte platzten. Zuerst platzten die Ziernähte, dadurch wurde das Kleid etwas weiter, ich konnte es noch einige Wochen tragen, dann platzten aber auch die Nähte, die das Kleid zusammenhielten. Darüber war ich todtraurig.
An meine Schuhe kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern, außer natürlich an die Sandalen, die Onkel Bruno mir aus meinen alten Halbschuhen geschnitten hatte. Und ich bin mir sicher, dass ich im Winter solche Stiefel trug, in die man rasch hinein- und wieder herausschlüpfen konnte, das war gut für das Umkleiden zum Sportunterricht. Sie waren braun oder schwarz. Helle Schuhe sahen sehr bald schäbig aus, weil ich so einen sonderbaren Gang hatte. Hätte Ida mich nicht zu fest gewickelt, als ich noch in den Windeln lag, hätte ich auch normal laufen können.
Die einzigen Schuhe, an welche ich mich erinnere, waren meine Hausschuhe - weiche, flauschige Kamelhaarschuhe, wir trugen alle die gleichen gelb- braun karierten "Mauken". Und natürlich erinnere ich mich an meine blau- weißen Turnschuhe, mit denen ich viel Ärger hatte. Ich musste erst etliche Fünfen bekommen, ehe Ida begriff, dass ich nicht in Straßenschuhen oder barfuss turnen durfte, sondern wie alle anderen Kinder Turnschuhe benötigte. Und dann nach dem Unterricht immer sofort die Turnschuhe in den Beutel stecken und mich am besten darauf setzen, damit meine Klassenkameraden nicht mit ihm Fußball spielten.
Es ist seltsam, dass ich mich kaum an meine Schuhe erinnere, denn ich putzte doch jeden Sonnabend alle Schuhe der Familie! An Waltrauds Pumps in allen Farben erinnere ich mich deutlich!
Als ich zwölf Jahre alt war, nähte Waltraud aus dem Faltenrock eines mir zu klein gewordenen Kleides ein Turnhemd, welches ich sehr liebte. Es war leuchtendrot mit dunkelblauen Strichellinien. Das war zwar nicht nach dem Geschmack des Turnlehrers. Er hätte uns gern alle in vorschriftsmäßiger Sportkleidung gesehen. Aber es waren noch andere Kinder in meiner Klasse, bei denen die Eltern nicht das nötige Kleingeld hatten, um komplette Turnkleidung kaufen zu können. Viele von uns trugen nur die Turnhose und als Oberteil etwas, das nicht mehr als Alltagskleidung getragen werden konnte.
Es war wohl 1954, als eine weitläufige Verwandte wieder zur Familie stieß. Sie war Schneiderin von Beruf und nähte mit Leidenschaft. Ganz gleich, wie gering der Verdienst war, sie lieferte Qualitätsarbeit. Gerda gab u.a. je ein Nachthemd für sich und Waltraud in Auftrag. Als die Hemden fertig waren, bot die Schneiderin, deren Namen ich längst vergessen habe, an, aus den Resten noch ein Nachthemd für mich zu nähen. Der Stoff war ja der gleiche, nur das Muster war anders. Ich war darüber sehr glücklich, denn ich hatte am Ende ein Nachthemd, von dem der eine Ärmel zu Waltraud, der andere zu Gerda gehörte, das Rückenteil war von Waltrauds Muster übrig geblieben und das Vorderteil war raffiniert aus beiden Mustern zusammengesetzt. Ein wunderbar kuscheliges Nachthemd, wie man es sich nur träumen kann.
Sie hat dann auch noch ein Kleid für mich genäht. Kariert war damals gerade groß in Mode, und kariert kann ich absolut nicht ausstehen, weil man mir immer vorgeworfen hatte, kariert zu quatschen. Gerda suchte den Stoff aus, ich erinnere mich deutlich, dass sie sagte: "Det is det allamoderrnste, Mensch!" Ich ließ mich überreden. Mein Harmoniebedürfnis verbot mir jeglichen Streit, und mit Erwachsenen zu streiten erschien mir ohnehin lächerlich. Gerda und die Schneiderin wählten den Schnitt aus. Sie fragten mich zwar immer wieder, ob es mir denn so auch recht sei, aber ich wusste, wenn es mir nicht recht war, würde ich es entweder doch bekommen oder es würde großen Ärger geben, und die Begebenheit würde bei jeder Gelegenheit erneut erörtert werden. So stimmte ich lächelnd allem zu. Wenn dieses Kleid nicht zufällig auf einem Foto festgehalten worden wäre, hätte ich es längst vergessen.
Das Karomuster war von besonderer Scheußlichkeit: Große und kleine Karos in blau, rot und schwarz wurden von gelben und grünen Linien durchzogen, die ihrerseits ein eigenes Karomuster bildeten. Wo die Farben aufeinander trafen, änderten sie sich, wie sich Tuschfarben ändern, wenn sie miteinander gemischt werden. Diese Farbgebung empfand ich als grässlichen Mischmasch. Als besondere Zierde wurden große, weiße Knöpfe auf das Kleid genäht. Ich hasse es, wenn die Brust durch Knöpfe oder Taschen besonders betont wird! Ich trug das Kleid mit Gelassenheit, es war modern. Dieses Wort benutzte ich gewöhnlich nur im Sinne von "verwesen".
Ich erinnere mich aber lebhaft an diese Frau, die sich mit mir unterhielt wie mit einer Gleichgestellten. Sie erzählte mir, dass sie als junges Mädchen in einem Bühnenstück mitwirken durfte. Sie hatte zwar nur wenige Worte zu sagen, aber diese waren Schicksal gebend für die Hauptpersonen. Sie stellte eine Magd auf einem Bauernhof dar, musste mit einem Hufeisen in den Händen auf die Knie fallen und dem Jungbauern schlechte Aussichten für die Zukunft prophezeihen. Weil sie sich bei diesen Kniefällen blutig geschlagen hatte, hat sie das Hufeisen als ewige Erinnerung über ihrer Stubentür aufgehangen.
Sie erkundigte sich bei mir, was denn heutzutage die Kinder so in der Schule lernen, denn sie war kinderlos. Ich zählte ihr die Lehrfächer auf, und sie wollte wissen, was wir denn so im Musikunterricht lernen? Zu jenem Zeitpunkt lernten wir gerade das "Moorsoldatenlied" kennen. "Aha", sagte sie, "so n Mist lernt ihr. Könn Euch Eure Leehra keene Volkslieda beibring? Kennst du ooch nur een Volkslied?" Ich erzählte ihr, dass ich im Schulchor singe, und dass wir dort - und auch im normalen Musikuntericht - Volkslieder singen, z.B. "Burschen aus Mystrina".
Sie keifte: "Mystrina! Det is doch keen deutschet Volkslied; ihr lernt nur Scheiße!" Ich zählte nun alle Volkslieder auf, die ich kannte, aber es nützte nichts, die Dame war der Überzeugung, dass das deutsche Liedgut an den Schulen nicht mehr gepflegt wird. Aber sie hatte mich ganz allgemein nach Volksliedern gefragt. "Burschen aus Mystrina" ist ein polnisches Volkslied. Bei ihr waren die Polen immer noch Untermenschen. Dabei gibt es ein weit verbreitetes Lied: "In einem Polenstädtchen . . . " In diesem Lied wählt ein Mädchen den Freitod, weil es geküsst, aber nicht geheiratet wurde. Gibt es eine höhere Moral? Am Ende des Liedes heißt es: "Drum küss ein deutsches Kind, das nicht beim ersten Kuss gleich sterben muss!" Also sind deutsche Mädchen leichfertiger als polnische. Da ich diese Vermutung äußerte, war unsere Bekanntschaft sogleich beendet.
In Bezug auf "Die Mode" hatte ich meine eigenen Gedanken. Ich war der Meinung, dass die Mode die Menschen uniformiert und sie der Kreativität entfernt. Wer sich der Mode unterwirft, entsagt der eigenen Originalität. Ich finde es lächerlich, wenn Leute sich - nur um modisch gekleidet zu sein - in Kleidungsstücke zwängen, in denen sie unvorteilhaft aussehen.
Irgendwann besaß ich einen grünen Lodenmantel, in welchem ich mich sehr wohl fühlte. Ich glaube, ich war da schon zwölf oder dreizehn Jahre alt.
Als ich dreizehn Jahre alt war, bekam ich von Grete L. einen braunen, wollenen Wickelrock geschenkt. Das war praktisch eine Riesenschürze; man wickelte sie sich um den Bauch, band eine Schleife und fertig. Ich fand das ja ganz lustig, aber für die Schule ungeeignet. Ich musste den Rock dennoch zur Schule anziehen. Natürlich haben sich meine Klassenkameraden darüber lustig gemacht und ihn mir beinahe ausgezogen. Ida reagierte auf meine Klagen: "Wenn se dir ärjan, denn musste dir weean." Ja gerne, aber wie? Sie hatte mir doch beigebracht, dass ein Mädchen nicht rauft! Außerdem war mir selber jegliche Gewaltanwendung zuwider. Und meine Argumente wurden von meinen Mitschülern verlacht. Doch jetzt hatte ich den Mut, gegen Ida anzutreten. Ich sagte ihr, dass ich diese Zumutung von einem Kleidungsstück nicht noch einmal tragen werde, und wenn sie sich kopfstellt. Daraufhin brauchte ich den Wickelrock nicht mehr anzuziehen.
Gerda spendierte mir mein Jugendweihekleid. Ich konnte mir denken, dass sie nicht gerade darauf erpicht war, ein kleines Vermögen für mein "Kleid für einen Tag" auszugeben. Bevor dieser Kauf getätigt wurde, hatte Ida sich des langen und breiten mit Grete L. darüber unterhalten, dass so ein Jugendweihekleid ebenso wie ein Hochzeitskleid nie wieder getragen wird: "Oda denkste etwa, die Jöre jeht uff n Ball oda int Tiata?" Wozu also viel Geld ausgeben für eine Eintagsfliege?
Aber ich hatte das Recht, an diesem bedeutsamen Tag das schönste Kleid zu tragen, welches ich jemals besaß. Ich ging an der verglasten Vitrine mit den prächtigen teuren Kleidern achtlos vorüber, ich hatte kein Interesse, ein Kleid anzuprobieren, welches ich nicht bekommen würde. Aber in der nächsten Preiskategorie war ich sehr wählerisch. Gerda empfahl mir dieses und jenes, vorwiegend helle Kleider, denn ich wurde ja nicht konfirmiert.
Mir schienen diese Kleider aber allesamt zu übertrieben, das eine war mit riesigen Blumen bemustert (darin wäre ich einem Sofa ähnlich), das andere war mit Schleifchen verziert, die ich affig fand, das nächste hatte ein sehr gewagtes Dekollete, ein weiteres eine "elegante" Schärpe, die meine schweren Hüften übermäßig betont hätte. Ich diskutierte nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Gerda blieb bemerkenswert ruhig. Sie ließ mich auswählen, es war mein Tag.
Endlich ging ich zur nächsten Preisklasse hinüber, wo ich ein dunkelblaues Kleid erblickte, welches mir außerordentlich gut gefiel. Während die vorherigen Kleider zumeist Einzelstücke waren, war hier ein ganzer Warenträger voll mit ein und demselben Modell. Ich fand es zauberhaft. Es hatte einen kleinen, runden Halsausschnitt, dem eine Bahn geraffter Stoff folgte (etwa 4cm breit und mit weißem Kräuselband eingefasst) und eine Gürtellinie auf Gummizug, was garantierte, dass ich das Kleid auch dann noch tragen kann, wenn ich an Umfang zunehme. Im nahezu knöchellangen Rock wiederholte sich die geraffte Stoffbahn, diesmal 40cm breit und ebenfalls weiß eingefasst. Ich fand das Kleid so schön, dass ich sogar den unangenehmen Dreiviertelärmel in Kauf nahm. Gerda bezahlte kopfschüttelnd, und ich freute mich, das schönste Kleid, welches nach meinem Geschmack im Angebot war, an meinem Festtag zu tragen.
Zur Jugendweihe war auch die Parallelklasse anwesend. In dem von mir ausgesuchten Kleid erschienen insgesamt zehn Mädchen. Als ich auf der Bühne stand, hatten noch drei andere Mädchen "mein" Kleid an. Ich fand das so lächerlich, dass ich, anstatt mich bei der Gratulation zu verneigen, wie ich es mir fest vorgenommen hatte, einen Knicks machte. Aber ich war auch glücklich darüber, dass so viele Mädchen "mein" Kleid trugen, diese Tatsache zeigte mir, dass ich doch nicht so viel anders war als die anderen.
Ich trug dieses Kleid dann doch noch öfter, denn ich ging tatsächlich ins Theater. Und als es mir zu eng geworden war, trennte ich das Oberteil ab, trennte eine Seitennaht auf, nähte den Halsausschnitt mitsamt dem gekräuselten Stoffteil auf die Gürtellinie und hatte nun einen "Musketier-Mantel". Leider besuchte ich nur ein einziges mal ein Faschingsfest. So blieb mein Jugendweihekleid mir nicht nur Erinnerung an einen Höhepunkt in meinem Leben, sondern auch Gegenstand meiner Phantastereien.
Um 1973 aber trennte ich mich von diesem Gewand und gab es zum Altstoffhandel nebst anderen Kleidern, die mir und meinen Kindern nicht mehr passten. Ich hatte nun drei Kinder zu ernähren und brauchte jeden Pfennig. Ich hätte gern die Erstausstattung meiner Tochter aufbewahrt, aber ich reichte sie an die Tochter meines Bruders Paul weiter, weil er und seine Frau ja auch nicht über Reichtümer verfügten.
Als Waltraud und Doris Teenager waren, glaubte eine jede von ihnen, im Kleid der Freundin besser auszusehen. So tauschten die Mädchen auf der Treppe ihre Kleidung. Wenn Ida das bemerkte, dann schimpfte sie: "Ihr sollt nich imma kommune draren! Die Dooriß wird dir noch n Loch oda n Fleck in deine schöhn Kleida machn!" Irgendwann geschah das tatsächlich, und die Tauscherei hatte ein Ende.
Als Doris sechzehn Jahre alt war, hatte sie einen Verehrer, der viel Taschengeld hatte. Er kaufte der Doris alles, was sie wollte, und Doris schraubte ihre Ansprüche immer höher. Dann lernte sie einen anderen Jungen kennen, und Waltraud fragte: "Wat machste denn nu jetz mit N.?" Doris antwortete: "Von dem lass ick mir jetz noch det schöne Kleid koofen, weeßte, det, wat wa vorje Woche im Schaufensta jesehn ham, un denn schieb ick n ab." Sie bekam nicht das Kleid, sondern ein blaues Auge, denn er hatte sie mit dem anderen gesehen.
Von Kollegen und Bekannten wurde mir oft geraten, mich “sportlich” zu kleiden. Da ich absolut kein sportlicher Typ bin, erschien mir das als eine Aufforderung, zu lügen, und ich befolgte den guten Rat nicht.
Nach der Wende bekam ich maßgeschneiderte Dienstkleidung. Der Schneider stellte fest, dass meine Arme zehn Zentimeter zu kurz sind. Endlich wusste ich, warum mir langärmelige Konfektion so schlecht passte, und auch, weshalb mir viele Verrichtungen schwerer fielen als den meisten Menschen. Die mir so schlecht passenden Winterkleider wurden von Gerda und Grete L. seinerzeit als "DDR-Schundproduktion" bezeichnet. Ausnahmsweise waren sie mal nicht der Meinung, dass es mein Fehler sein könnte!
Nur ein einziges mal kaufte ich mir ein Kleid, in welchem ich jemandem gefallen wollte. Da war ich siebzehn. Und er fand das Kleid völlig geschmacklos . . .
Dabei war es mit so hübschen Blumen bedruckt!
Mein Spielzeug
Als ich noch sehr klein war, besaß ich eine große Menge von kleinem Spielzeug. Ich erinnere mich daran, dass ich gelangweilt am Daumen lutschend auf dem Küchenfußboden inmitten meines gesamten Spielzeugs lag und nicht mehr wusste, wonach ich jetzt wohl noch greifen sollte. Da erstand mein gesamter Bauernhof (er war aus Presspappe, bunt bemalt und lackiert, jedes Tier und jeder Baum oder Zaun festgemacht auf Pappe), Kuh an Kuh, Pferd an Pferd, Schwein an Schwein, vor meinem inneren Auge an der Decke der Küche, und ich begann mit ihnen ein Gespräch, d.h. ich resümierte die Gespräche der Erwachsenen: "Ach, hallo, Frau Dings, ist ihr Mann endlich aus der Kriegsgefangenschaft gekommen? Wie schön für Sie und ihre Kinder! Ich gratuliere Ihnen!" - "Guten Tag, Frau Dings, ja, es ist schrecklich in dieser Zeit! Nichts, buchstäblich nichts bekommt man für sein gutes Geld! Man kann sich anstellen wie man will, es ist alles nur zum Argen, nur zum Argen, Frau Dings, ja, dann bis auf Weiteres, Frau Dings, bis auf Weiteres!" Ich hörte derartige Gespräche so oft, dass ich mir die Namen der Ansprechpartner nicht merken konnte. Aus der Auswechselbarkeit der Namen hatte ich ersehen, dass es der Ida nicht allzu ernst war mit ihren Bemerkungen. Aber ich setzte ihre Dialoge fort: "Jetzt, wo der Herr des Hauses wieder da ist, wird Wohlstand einziehen. Die Kinder werden nicht mehr nach Brot und Liebe schreien, das wird alles da sein mit der Rückkunft des Hausherrn. Der Krieg ist zu Ende, alle trachten nach Harmonie und Wohlstand, auch der Heimkehrer, der vor allen Dingen." Onkel Bruno war so ein Heimkehrer, auf ihn setzte ich all meine Hoffnungen in Bezug auf Harmonie, ich glaubte allen Ernstes, dass er mein Leben zum Besseren wenden könnte.
Ich hatte wirklich viel Spielzeug, viele kleine Dinge; Ida war der Meinung, dass kleine Kinder auch nur kleines Spielzeug haben müssen. Da waren Bilderbücher aus Pappe, besagter Bauernhof mit Häusern, Zäunen und allem, was sonst noch zu einem Dorf gehört. Auch alle Tiere, die man auf einem Bauernhof hält, waren vertreten. Diese Teile waren zwischen einem und zehn Zentimetern groß. Durch unsachgemäße Lagerung gingen sie der Reihe nach entzwei, worüber ich sehr traurig war, denn ich spielte sehr gern mit ihnen. Manchmal reparierte Irma mir die zerbrochenen Teile.
Zu meinem Spielzeug gehörte auch eine Unzahl von Spielkarten aller Art und Größe, u.a. zwei komplette Skatblätter, ein deutsches und ein französisches. Ich gab den Buben, Damen und Königen Namen und ließ sie sich miteinander unterhalten. Die Asse waren Generale, die Luschen waren Bauern und Soldaten. Ich dachte mir viele Geschichten aus, die ich mit den Karten nachspielte. Dennoch gab ich ohne zu murren die Skatblätter ab, als zuerst Alfred und dann auch Herr L. mich darum baten. Alfred benötigte die Karten zum Spielen, Walter L. hoffte auf einen Nebenverdienst.
Des weiteren besaß ich sehr viele glitzernde Perlen, aus denen ich Ketten zusammenlegte. Ida gab mir keinen Faden zum Auffädeln, das hielt sie für Verschwendung. Auch legte ich die Perlen zu hübschen Mustern auf einem unserer Stubenstühle aus. Dieser Stuhl hatte nämlich eine aus dünnem Rohr geflochtene Sitzfläche, wobei sich ein symmetrisches Lochmuster ergab. Ida betrachtete meine Werke mit verächtlichem Kopfschütteln. In ihren Augen war das kein Spiel, sondern der pure Blödsinn. Als meine Tochter später ganz von allein ebenfalls ihre Murmeln auf einem Stuhl zu bunten Mustern auslegte, dachte ich voller Glück: "Also war ich DOCH ein ganz normales Kind!"
Unter meinem Spielzeug befanden sich auch viele aus Illustrierten ausgeschnittene Damen und Herren und Kinder und Häuser und Autos. Logischerweise waren sie bald arg zerknittert, was mich aber nicht im Geringsten störte. Ich spielte immer wieder gern mit ihnen, indem ich ihnen diverse Dialoge unterlegte.
Auch einen Pferdewagen besaß ich, ein etwa 15cm langes Gefährt aus dünnem Holz, wo man zwei kleine Pferdchen anschirren konnte. Das Zaumzeug war sehr fein, und ich musste gut aufpassen, dass es sich nicht verhedderte. Das geschah jedoch immer wieder, so wurde der Pferdewagen samt allem Zubehör in den Ofen gesteckt.
Ich hatte noch anderes Spielzeug auf Rädern - ein Entenpärchen, das beim Fahren abwechselnd mit dem Kopf nickte. Aber da war ich schon zu alt, um diesen "Nachläufer" als Spielgefährten zu akzeptieren.
Ein weiteres geliebtes Spielzeug war ein aus sehr dünnem, buntem Papier zusammengeklebter Fächer, bestehend aus drei unterschiedlich breiten, girlandenförmigen Teilen. Sie waren zwischen zwei feste Pappen geklebt, und wenn man diese Pappen gegeneinander legte, dann verdrehte sich der Fächer zu farbenfrohen Ornamenten.
Fast ebensoviel Spaß hatte ich an einem etwa 30cm großen Hampelmann. Ich zog ganz vorsichtig an seiner Schnur, ich wollte nicht, dass er die Arme über dem Kopf zusammenschlug, aber Waltraud und die L.-Kinder ließen ihn so arg tanzen, dass seine Schnur riss. Dreimal hat Irma mir die Schnur geflickt, dann wurde der Hampelmann in den Ofen gesteckt. Ein ähnliches Schicksal erlitt der metallene Kletteraffe. Wenn man an seiner Schnur zog, dann kletterte er jeweils etwa 30cm hoch, bis er am oberen Ende der Schnur angekommen war. Ließ man die Schnur los, rutschte er lustig zappelnd zum unteren Ende. Als die Schnur riss, kam er in den Mülleimer.
Diese beiden Spielzeuge waren damals an der Küchenwand befestigt, neben meinem Sitzplatz. Alles andere wurde in einer großen Spielzeugkiste aufbewahrt (ein Persilkarton). Im Winter 1950 beschloss Ida, die Spielzeugkiste abzuschaffen. Sie sagte: "Du kommst jetze bald in ne Schule, da brauchst de det Beebischpielzeuch nich mehr!" Ich freute mich auf die Schule und betrachtete die Vernichtung meines Spielzeugs als ersten Schritt zur Klugheit. Ich hieb selber kräftig mit dem Feuerhaken auf den großen Karton ein, um ihn zu zerstören. Dabei holte ich leider auch einen Kochtopf vom Herd. Ich fürchtete, dass ich Dresche bekommen würde, aber der Kochtopf war leer und er war auch heil geblieben, so lachte Ida nur und schimpfte mich einen entsetzlichen Trampel, eben "janz die Elli".
Für ein paar Monate besaß ich - dreijährig - ein Schaukelpferd. Es machte mir sehr großen Spaß, darauf zu reiten. Es ging mir kaum wild genug, häufig schaukelte ich so heftig, dass das Pferd nahezu senkrecht stand. Ida schimpfte dann mit mir, auch, weil das Pferd bei seinen Bewegungen knarrte. Letztendlich verschenkte sie es an die L.-Kinder, wo ich dann beobachten konnte, dass ihm so nach und nach der Schwanz, die Ohren und das Zaumzeug abgerissen wurde.
Kurzzeitig besaß ich - ebenfalls Dreijährig - auch ein Dreirad. Mein Vater hatte es zum Verschrotten bekommen. Ida sagte: "Dreirad is Jungsschpielzeuch, det brauchst de nich!" und verschenkte es an die L.-Kinder. In Wahrheit stand es ihr im Weg. Unsere Wohnung war nicht so groß, dass man ein Dreirad im Flur zu stehen haben konnte. Ganz anders verhielt es sich mit den Puppenwagen. Die waren zwar größer als das Dreirad, hatten aber bequem Platz im Flur.
Zu jedem Mädchen gehörte nach Idas Meinung ein Puppenwagen. Der eine Wagen war aus Holz und Pappmache zusammengefügt und hatte ein Verdeck aus Wachstuch, welches sich sehr schwer bewegen ließ, man hätte drei Hände gebraucht, um es zusammen- bzw. auseinander zu falten, denn die Falten ergaben sich nicht von selbst, man musste sie mit den Händen formen. Der Wagen war pastellrosa gefärbt und trug weiße Verzierungen. Der andere war ein so genannter "Sportwagen" mit kleiner Rückenlehne und sehr hohem Lenker. Ich weiß nicht mehr genau, welcher davon mir gehörte und welcher Waltraud, das war völlig unwichtig für mich, denn wir tauschten unser Spielzeug nach Bedarf hin und her. Der Sportwagen war genauso schwer wie der andere, ließ sich aber noch viel schwerer lenken, seine Räder waren starr, im Ganzen wirkte der Wagen recht klobig.
Ebenso kurzzeitig wie das Dreirad besaß ich einen kleinen Rummel. Auch ihn hatte mein Vater zum Verschrotten bekommen. Da war eine etwa 20cm große Losbude, ein etwa 50cm hohes Kettenkarussell und eine zweischiffige Luftschaukel, beides der Realität getreu nachgebildet. Nur zweimal durfte ich damit spielen, dann wurde alles an einen mir unbekannten Nachbarsjungen verkauft. Ida stoppte meine Tränen mit einigen Bonbons, die sie - nach ihrer Darstellung - nicht hätte kaufen können, wenn wir den Rummel behalten hätten. Die Bonbons haben mir nicht geschmeckt. Ich hätte lieber mit dem Rummel gespielt. Aber ich war ja nur ein Kind und hatte zu gehorchen.
Ein weiteres Spielzeug, mit dem ich nur ein einziges mal und unter strenger Aufsicht spielen durfte, war ein Puppenkochherd. Man konnte ihn mit Petroleum oder mit kleinen Kerzen betreiben. Da ich nicht alleine mit dem Herd spielen durfte (Messer, Gabel, Schere, Licht dürfen kleine Kinder nicht!), verlor ich jegliches Interesse an ihm. Es war mir gleichgültig, als er eines Tages - ich weiß nicht, an wen - verschenkt oder verkauft wurde.
Ebenso wenig kümmerte es mich, dass die kleine Lokomotive - sie war etwa 50cm lang und ebenfalls von meinem Vater als "Müll" mitgebracht worden - nur einen Tag lang in meinem Besitz war. Sie hatte einen naturgetreu nachgebildeten Antriebsmotor, konnte also wie eine richtige Dampflok fahren, benötigte dazu aber keine Schienen. Sie konnte sogar wie eine Dampflok pfeifen, wie Walter L. uns begeistert demonstrierte. Sie wurde auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ich war stolz, durch den Verzicht auf Spielzeug zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen zu haben, zumal ich mit diesem Jungsspielzeug "naturgemäß" ohnehin nicht RICHTIG hätte spielen können.
Bei all diesem Metallspielzeug sagte Ida: "Wat der Otto det allet hier herschleppt! Warum jibt er det denn nich seine Söhne? Naja, der Manfred und der Paul sin ja noch dußlicha als die Christa . . ."
Als ich im Winter 48 mit einer leichten Lungenentzündung tagelang das Bett hüten musste, bettelte ich mit aller Inbrunst um Bausteine. Ida tobte: "Det is Jungsschpielzeuch! Wat willst DU damit?!" Aber ich weinte und bat, bis sie sich erweichen ließ. Sie brachte mir einen Kasten mit bedruckten Würfeln mit, aus denen sich Märchenbilder zusammensetzen ließen. Zuerst plärrte ich in großer Enttäuschung, dass das keine Bausteine seien, dann machte Irma mir die hübschen Märchenbilder schmackhaft und sagte abschließend: "Wenn de die Bilda nachher üba hast, kannste imma noch Türme aus die Steine baun!"
Ich setzte also die Märchenbilder zusammen und hatte sogar viel Freude daran. Ich war beschäftigt und musste nicht mehr Daumen lutschend an die Zimmerdecke starren. Als Waltraud aus der Schule kam, beschäftigte sie sich fünf Minuten mit dem Mosaik und sagte dann: "Mensch, is det piepeleinfach! Kiek ma, wenn de die Reihe umdrehst, denn haste schon den Anfang von t neechste Bild, un denn drehste die neechste Reihe um un imma so weita, denn is det Bild fertich! Un wenn de die lange Reihe nimmst, denn brauchste die ooch bloß umzudrehn, un schon fängt det neechste Bild an!" Nun brauchte ich nicht mehr nach den passenden Steinen zu suchen, ich brauchte nur noch die Steine reihenweise umzudrehen. Was mich den ganzen Vormittag erfreut hatte, langweilte mich jetzt schon nach fünf Minuten. Nun baute ich Türme aus den Würfeln.
Zu Weihnachten bekam ich einen richtigen Baukasten. Ein sauber gearbeitetes kleines Kästchen mit Schiebedeckel, in welchem etwa 50 zierliche Holzbausteine verstaut waren. Da gab es rot bzw. grün gemusterte Ziersteine, größere und kleinere Dreiecksteine für Ziergiebel, Fenster mit roten Kunststoffscheiben und sogar vier gedrechselte Säulen von paarweise unterschiedlicher Größe. Natürlich gab es auch unterschiedlich lange einfache Vierkantsteine, aber aus alledem ließen sich zwar fantastische Schlossfronten errichten, doch keine Häuser. Dennoch spielte ich fast täglich mit den Bausteinen, bis sie im nächsten Winter den üblichen Weg all meines Spielzeugs nahmen.
Irgendwoher bekam ich einen Kaufmannsladen. Die Verkaufstheke reichte mir bis an die Brust. Sie hatte vorn und hinten viele Fächer, wo man das Verkaufsgut lagern konnte. Zu diesem Kaufmannsladen gehörten allerlei Nachbildungen von Lebensmitteln, und man konnte auch bereits vorhandenes Spielzeug in die Auslagen tun. Ich dekorierte den Kaufmannsladen, so schön ich konnte, und das war es dann auch schon, denn niemand spielte mit mir. Unberührt lag das Spielgeld in der Ladenkasse. Es war mir streng verboten, fremde Kinder in unsere Wohnung mitzubringen.
Eines Tages klingelte es wiederholt an der Wohnungstür. Ich glaubte, Ida hätte vielleicht den Schlüssel nicht dabei und öffnete die Tür. Da stand eine Frau, von der ich wusste, dass sie meine Mutter war, aber mir war eingeschärft worden, sie wie jede andere Frau "Tante" zu nennen, Tante Elly in diesem Fall.
Ich jubelte: "Tante Elly, schön, det du kommst, Oma is nich da, aba vielleicht spielst de n bisschen mit mir?" Unschlüssig trat meine Mutter ein und wir spielten mit dem Kaufmannsladen. Es wurde einer der schönsten Tage in meinem Leben. Erstmals durfte auch ich meine Spielwünsche äußern! Mama ging auf alles ein und wir amüsierten uns köstlich über die vielen nicht vorhandenen Artikel, die ich an sie verkaufen wollte oder von ihr zu kaufen wünschte. Was für herrliche Ausreden hatte sie parat, um mir zu erklären, dass der geforderte Artikel nicht zu haben war! Z.B. sagte sie: "Der Könich von Latifundien hat wat dajejen, dass in einem Krämerladen Goldbarren verkauft werden!" Ich bat sie inständig, bald wiederzukommen, als sie dann doch gehen musste.
Natürlich erzählte ich Ida von unserem lieben Besuch. Sie tobte: "Wat, du lässt fremde Leute in de Wohnung? Hab ick dir nich dausendmal jesaacht, det de die Düre nich uffzumachn hast, wenn ick nich da bin?"
Zum Weihnachtsfest 1950 hatte Irma mir einen Satz Kasperlepuppen geschenkt. Da war der Kaspar, seine Grete, der Teufel, ein König, eine Prinzessin und ein Prinz. Das Krokodil besaß ich schon länger, Waltraud hatte es oft in der Hand und drohte mir: "Wenn de nich aatich bist, beißt dir det Krokodil die Neese ab!"
Nun konnte ich meine selbst erdachten Märchen mit den Puppen nachspielen. Aber bald war es mir zu mühselig, ständig die Puppen für die einzelnen Rollen mitten im spannendsten Text wechseln zu müssen. Ich sehnte mich nach einem Spielpartner und sprach - da Waltraud nicht greifbar war - als erstes Ida an. Sie lachte mich aus: "Mit so n Blödkram schpiel ick nich!" Dann kam Waltraud vom Weihnachtsurlaub bei ihren Eltern zurück und ich offerierte ihr eine Hauptrolle in meinem Kaspertheater. Sie hörte sich meine Texte an und sagte danach: "Det schdimmt ja allet nich! So wat doowet schpiel ick nich mit dir!" Als ob Märchen je dem wahren Leben entsprochen hätten!
Bei Gerda hatte ich ebenfalls Pech, sie gab vor, keine Zeit zu haben. Nun wandte ich mich nochmals an Ida, bettelte und bat. Sie lief aufgebracht zu Irma: "Du hast die Jöre die blödn Puppn jeschenkt, nu schpiel ooch mit se!" Aber Irma hatte eine Verabredung, die sie nicht verpassen wollte. So wurden die Puppen letztendlich an die "Moabiter" verschenkt.
Zu meinem siebenten Geburtstag schenkte Gerda mir eine Kinder-Post. Ida lachte: "Wat soll denn die blöde Jöre damit?" Gerda meinte: "Na, die jeht doch jetz in ne Schule, da kann se denn denn doch ooch ma Briefe schreim." Ida lachte: "An wem denn?" und verbot mir, irgendwelche Briefe zu schreiben. Das Briefpapier und die Umschläge wurden weiterverschenkt, ebenso Stempel und Stempelkissen. Ich hätte ja Tintenflecke damit machen können, wie Ida fürchtete. Nur die Briefmarken waren mir geblieben. Aus Zorn darüber, dass Ida schon so viel von meinem Spielzeug verschenkt bzw. verkauft hatte, klebte ich die unnützen Briefmarken an unseren Kleiderschrank. Als Ida das ein paar Tage später sah, verpasste sie mir eine saftige Tracht Prügel. Die Marken ließen sich zwar mit Wasser und Seife entfernen, aber es blieben hässliche Flecke zurück. Da bekam ich dann die zweite Tracht Prügel für ein und dieselbe Aufsässigkeit.
Nachdem die Spielzeugkiste verheizt war, besaß ich nur noch die Puppen. Sie saßen tagsüber auf meinem Bett. Die Art, wie Ida mit ihnen umging, gab mir das Gefühl, dass ihr diese Puppen lieber waren als ich, so zärtlich behandelte sie sie. Wenn ich mit den Puppen spielte, überwachte sie mich gewöhnlich streng, damit ihnen ja nichts zustieß.
Da war als erstes die Bettpuppe, ein unaussprechlich hässliches, etwa 30cm langes Monstrum aus Stoff. Sie war dunkelblau gekleidet und hatte Hände und Füße aus rosa Plüsch. Ihr Gesicht war mit bunter Wolle aufgestickt. Ich fand das Ding zum Fürchten, bekam es aber lange Zeit zum Schlafen ins Bett. Wo ich nun nicht mehr so viel ablenkendes Spielzeug hatte, begann ich, dieses verhasste Ding zu zerstören. Unauffällig löste ich Tag für Tag einige Fäden aus dem Gesicht, bis Ida sagte: "Na, die is ja nu so hässlich jewordn, du hast sicha nischt dajejen, wenn ick se in n Ofn stecke." Endlich war ich sie los! Übrigens war dies das einzige mal, dass sie fragte, bevor sie ein Spielzeug verschwinden ließ.
Der bunte Harlekin gefiel mir viel besser. Er hatte ein lustiges Gesicht, war rot-weiß gekleidet und ebenso groß wie die Bettpuppe. Aber nach ein paar Tagen verlor er die Schelle von der Zipfelmütze. Das war für Ida ein Grund, ihn in den Ofen zu stecken. Oder tat sie es, weil er mir von meiner Mutter geschenkt worden war? Ich weiß es nicht.
Dann waren da die Lotte-Puppen. Es waren so genannte Schildkrot-Puppen, aus einem empfindlichen Material gearbeitet. Sie hatten zarte, sehr hübsche Gesichter, ihre Haare waren nur aufgemalt, aber erhaben aus dem selben Material gepresst wie der ganze Puppenkopf. Genau genommen war der Puppenkopf - ebenso wie der Körper und die Extremitäten - nur eine Kunststoffblase. Diese Puppen hatten herrlich blaue Augen, einen hübschen Mund und einen engelsgleichen Gesichtsausdruck. Das waren meine Lieblingspuppen. Zuerst gehörte Waltraud die kleinere der beiden Puppen, weil sie ein klein wenig hübscher war als die größere, vor allem aber hatte sie ein hübscheres Kleid an als die große. Sie nannte ihre Puppe Liese und ich nannte meine Puppe der Moabiter-Tante Lotte zu Ehren Lotte (genau genommen Onkel Bruno zu Ehren, denn Lotte war ja seine Frau). Auf die Namen Liese und Lotte war Waltraud durch das Buch "Das doppelte Lottchen" von Erich Kästner gekommen, wie ich später erfuhr. Ich hatte meine Puppe nach ihrem Willen "Lotte" zu nennen und dachte mir meine eigene Begründung aus.
Nachdem Waltraud und Doris ein Jahr lang mit diesen Puppen gespielt hatten ("Du hast ja noch n pa andre Puppn, Krille, borch uns ma die Lotte-Puppe!"), bekam die kleine Puppe anlässlich eines Streites ein kleines Loch in den Kopf. Es wurde mit einem Pflaster überklebt. Die Puppe war nun nicht mehr so niedlich wie vorher, darum überredete Waltraud mich, die Puppen zu tauschen. Mir war es gleich, ob mir nun die große oder die kleine Puppe gehörte. Die hübschen Kleider waren längst zerschlissen, beide trugen nun das gleiche von Gerda genähte Kleid. Auch das Loch im Kopf machte mir nichts aus. Ich hatte "den Invaliden" (so bezeichnete Waltraud sie) dafür um so lieber. Nun hieß die kleine Puppe Lotte. Waltraud taufte die große um. Ich habe mir den neuen Namen nicht gemerkt. Wieder spielten Waltraud und Doris mit den Puppen, bis auch die große bei einem Streit ein Loch in den Kopf bekam, an der selben Stelle! Es stellte sich heraus, dass die Mädchen sich gegenseitig die Puppen über den Schädel geschlagen hatten, daher die Löcher. Nun gehörten mir beide Puppen, und sie hießen beide Lotte.
Des Weiteren hatte ich eine Puppe mit echten schwarzen Haaren. Sie waren in 20 cm lange Zöpfe geflochten, und es war mir verboten, die Zöpfe zu lösen. Ihre Gelenke waren sehr starr, es kostete einige Kraftanstrengung, sie zu bewegen. Aber sie hatte hübsche braune Schlafaugen. Diese Puppe saß mit ausgestreckten Armen immer nur herum. Zu einem Weihnachtsfest bekam ich ein "Rotkäppchen", damit konnte ich noch weniger anfangen. Das rote Käppchen war auf den superfeinen strohblonden Haaren festgeklebt und löste sich schon nach kurzer Zeit ab, wobei sichtbar wurde, dass nicht der gesamte Puppenkopf mit Haaren bedeckt war. Auch die schwarzen Lackschuhe lösten sich auf, das Körbchen ebenfalls. Aber diese Puppe wurde sonderbarerweise nicht von Ida weggeworfen, ebenso wenig wie die glotzäugige Babypuppe, zu der mir überhaupt keine Spielidee kam. Der Strampelanzug war auf ihrem Körper festgenäht, ebenso die Zipfelmütze auf dem Kopf. So konnte man sie weder an- noch ausziehen, oder Trockenlegen, von waschen oder frisieren ganz zu schweigen. Einzig ihr quäkendes "Mama" war für mich von Bedeutung. Man hatte mich auf "Puppenmutti" getrimmt, und nun hatte ich eine Puppe, die "Mama" zu mir sagte. Doch schon nach kurzer Zeit ertrug man es nicht, dass ich die Puppe „ständig“ plärren ließ. Es war meine einzige Möglichkeit, mit meinem neuen Puppenkind zu spielen, und es wurde mir verboten. So montierte ich die Stimme heraus. Das war natürlich sehr ungezogen von mir, ich hatte die teure Puppe kaputt gemacht. Da sie nun keine Stimme mehr hatte, wurde sie weggeworfen.
Als ich neun Jahre alt war, hatte ich eine sehr hübsche und auch preiswerte Negerpuppe in einem Spielzeugladen gesehen, das war die einzige Puppe, die ich mir jemals wirklich wünschte. Sie sah aus wie ein ganz normales einjähriges Kind und war auch so gekleidet. Ich hätte mir denken können, dass ich sie nicht bekommen würde. Ich bekam stattdessen eine lediglich mit einer grellroten kurzen Hose bekleideten Negerpuppe aus Stoff, ein hässliches Ding mit breitem rotem Mund, riesigen Händen, schwarzen, krausen, strohigen Haaren und angeklebten großen goldenen Papp-Ohrringen.
Na, das war ein Weihnachten! Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten und wurde wieder einmal für äußerst undankbar gehalten, weil ich es wagte, zu sagen, dass die Puppe nicht meinen Erwartungen entsprach. Da hatte man mir nun schon eine Negerpuppe geschenkt - "Wie kann man sich nur eine Negerpuppe zu Weihnachten wünschen!" - und es war obendrein nicht die Rechte!
Da ich nur die Puppen zum Spielen hatte, musste ich mir auch einfallen lassen, was ich denn überhaupt mit ihnen spielen konnte. An- und ausziehen durfte ich sie nicht, geschweige denn waschen oder kämmen. Also setzte ich sie eines Tages hoch oben auf die Schränke. Ida kam ins Zimmer und fragte erschrocken: "Wat machn denn die Puppn da uff n Schrank?" Ich antwortete wahrheitsgemäß: "Die machn ne Feerjenreise int Jebirje." Kopfschüttelnd meinte sie: "Du hast aba ooch wirklich nur Blödsinn im Kopp! Je älta det du wirst, desto dußlicha wirste!"
Dann kam die Zeit der Anzieh-Puppen. Sie waren aus sehr dünnem Karton geschnitten, und zu jeder gehörten mehrere unterschiedliche Kleidungsstücke aus demselben Material. Man konnte die Puppen je nach Geschmack und Laune einkleiden. Waltraud und Doris bastelten ihnen zu meinem großen Vergnügen noch zusätzliche Kleider und andere Assessoirs aus Papier, um noch weitere, nicht vorgegebene Situationen nachempfinden zu können. Auch diese Puppen überließ ich auf Verlangen der Doris. Glücklicherweise machte sie sich nicht allzu viel aus diesem Spiel, so blieben meine Puppen heil und Waltraud schenkte mir obendrein auch noch die ihrigen. Bis zur nächsten Heizperiode konnte ich mich ungestört an ihnen erfreuen. Ging etwas an ihnen entzwei (was ja bei so dünnem Karton sehr leicht geschehen konnte), bat ich Irma, es mir zu flicken, denn nur sie besaß Klebstoff.
Von meinem zehnten Geburtstag an wünschte ich mir nur noch Bücher zu Weihnachten und zum Geburtstag und bekam auch welche. Anfangs so genannte "Mädchenbücher", deren Titel ich heute nicht mehr weiß und deren Inhalte mich nicht fesselten, dann aber auch "Die Kinder des Kapitän Grant" von Jules Verne und eine von Afrika handelnde Reisebeschreibung von Hans Schomburgk. Die "Mädchenbücher" benutzte ich als Pressmaterial für Trockenblumen.
Einiges von Waltrauds Spielzeug war bei Ida geblieben, als sie - inzwischen dreizehnjährig - endlich wieder bei ihrer Mutter leben durfte. So z.B. ein Spielemagazin, bestehend aus Dame, Mühle, Halma und Puff. Letzteres hatte sie oft und gern mit Doris gespielt. Aber Dame und Mühle hat Waltraud oft mit mir gespielt. Wenn sie gewann, lachte sie mich aus: "Hast valoorn, Valiiiera! Valiiiera!", bis ich weinte. Dann warf sie mir vor, ein schlechter Verlierer zu sein. Entgegnete ich: "Un du bist n olla Schdenka!", wies sie mich zurecht: "Zieh nich imma von dir uff andre!"
Ich war mir zwar keiner Schuld bewusst und habe auch nie einen Spielgefährten zum Weinen gebracht, aber durch ihre Zurechtweisung - wenn auch ungerechtfertigt - lernte ich, für andere mitzudenken. Da ich allerorts abgelehnt wurde, wusste ich, dass ich anders bin als andere, und versuchte, mich nicht nur anzupassen, sondern auch die Handlungen der anderen voraus zu sehen (was mir häufig nur schlecht gelang).
Nun waren diese Spiele mein, und ich spielte stundenlang mit wachsender Begeisterung Halma zu sechst mit mir alleine. Ich ordnete die einzelnen Farben nicht existierenden Personen zu. Der blaue war der Unglücksrabe, ich sorgte dafür, dass er fast immer verlor. Er war ich.
Kam Onkel Erich im Winter zu Besuch, brachte er sein Schachspiel mit. Ich hatte größtes Vergnügen an diesem Spiel. Irma besaß auch ein Schachspiel, so forderte ich sie einmal zu einer Partie heraus. Sie fragte mitleidig: "Und wenn de valierst?" Sie hatte oft genug meine Streitereien mit Waltraud durch die Wand hindurch angehört. Ich versicherte: "Beim Schach jibt et keene Valiera. Wenn die Partie zu Ende is, hahm beede Spiela wat jelernt, un von dir kann ick janz beschdimmt ne Menge lern!"
Nun setzten wir uns an das Brett, und Irma freute sich, dass ich schon mehrere Eröffnungen kannte und auch das Schäfer-Matt beherrschte. Dennoch gewann sie jede Partie, sie war entschieden der stärkere Spieler. Nun wusste wenigstens sie, dass ich es durchaus ertragen konnte, ein Spiel zu verlieren und dass Waltraud mich absichtlich zum Weinen brachte.
Zum nächsten Weihnachten schenkte Irma mir ein eigenes Schachspiel. Jetzt konnte ich auch mit meinem großen Bruder Schach spielen, wenn er mich besuchen kam. Er gab anfangs die Dame vor, wenn wir ein Spiel begannen, damit ich eine Chance hatte, zu siegen. Ich hatte nie zuvor und niemals wieder einen so geduldigen, liebenswerten, humorvollen und freundlichen Spielgefährten wie meinen Bruder Manfred.
Manchmal spielte ich mit den Figuren auch ohne Brett. Dann dachte ich mir Geschichten aus, gab den Figuren Namen wie seinerzeit den Spielkarten und spielte Bauernkrieg und anderes.
Als ich dreizehn Jahre alt war, fühlte ich mich oft sehr einsam und verlassen. Da nahm ich - zu Idas großem Gelächter - manchmal die kleine Lotte-Puppe mit ins Bett. Ich rieb ihr den Saft aus meiner Scheide zwischen die Beine und stellte mir vor, sie würde dadurch ein richtiges kleines Mädchen werden, an dem ich dann den Leuten in meiner nächsten Umgebung demonstrieren könnte, wie man mit einem Kind umgeht. Eines Nachts hatte ich mich im Schlaf auf sie gelegt und sie dabei zerdrückt. Das tat mir sehr leid, und ich nahm nie wieder eine Puppe mit ins Bett. Puppen sind ohnehin hartkantig.
Ida kannte den Begriff "Kuscheltier" noch nicht, er erstand erst viele Jahre nach ihrem Tod. Zu ihrer Zeit hieß das noch "Bettpuppe" für Mädchen und "Teddy" für Jungs. Es war mein Fehler, dass ich mich vor der Bettpuppe fürchtete und sie überhaupt nicht kuschelig fand.
Außerdem ist eine Puppe kein Ersatz für mütterliche Fürsorge. Ida gab mir eine Puppe und nahm mir die Mutter. Sie war ja so stark! Was hatte sie nicht alles vollbracht! Sie hatte Bruno aufgezogen, Gerda vom nahen Tode befreit, Irma aus dem Waisenhaus erlöst . . . Das erkenne ich alles an. Aber an mir hat sie gesündigt!
Aus den Gesprächen der Erwachsenen bei Familienfeiern u.a. hatte ich erlauscht, dass mein Vater in erster Ehe drei Kinder hatte und in zweiter Ehe ebenfalls. Ich hatte also zwei Brüder und eine Schwester aus meines Vaters erster Ehe und zwei richtige Brüder. Sie waren älter als ich, der eine um ein Jahr, der andere um drei Jahre. Sie hießen Paul und Manfred. Nie merkte ich mir etwas geschwinder, als diese Namen!
Ich war unerhört neugierig auf meine Brüder, ich sehnte mich nach ihnen, denn ich gehörte von Natur aus zu ihnen und sie zu mir. So dachte ich. Ich fragte (vierjährig) Ida: "Warum nimmste denn Manne und Paule nich ooch zu dir?" Sie erwiderte: "Wo soll ick denn hin mit se? Solln se uff de Erde schlafn? Un außadem - die jehörn nich hier her!"
Ich fragte nicht weiter, denn auf der Erde zu schlafen wollte ich niemandem zumuten. Erst recht nicht meinen Brüdern. Auf der Erde schlafen nur solche Leute, die keine richtigen Menschen sind, soviel war mir schon beigebracht worden. Da ich ein richtiger Mensch zu sein glaubte, sollten auch meine Brüder nicht auf der Erde schlafen müssen.
Dann wollte ich eben zu ihnen. Ich erfuhr, dass sie in einem Heim lebten. Ich fragte: "Wat is n DET?" und Ida antwortete: "Da sin viele Kinda." Nun wusste ich, dass meine Brüder niemals so schrecklich oft allein waren wie ich, und ich beneidete sie glühend. Ich wusste ja damals noch nicht, wie grausam Kinder sein können!
Als ersten meiner Brüder lernte ich den jüngeren, Paul, kennen. Aus irgendeinem Grund besuchte Ida meine Mutter. Sie nahm mich mit, wie zu all ihren Besorgungen. Mühselig erklomm ich Dreijährige die hohen Stufen zu einem winzigen Hinterhaus, nicht wissend, wohin sie mich führten. Ich wunderte mich auch nicht darüber, dass Ida die Tür öffnete und eintrat, ohne vorher zu klingeln oder zu klopfen. Wir standen einfach gleich in einer Küche, wo ein kleiner Junge saß, der genüsslich eine Pfanne Gemüse mit einer Stulle leer schabte. Ida fragte herrisch: "Wo is n deine Mutta?" Der Junge schmatzte: "Keene Ahnung! Is se nich in de Waschküche?" - "Nee", keifte Ida, "da komm wa ja her, du Dämel! Ick hab ihr wat zu fraaren. Wo könnt se denn sonst noch sein, hä?" - "Keene Ahnung, dut mir leid!", erwiderte der Junge seelenruhig und wischte in seiner Pfanne herum. Dabei zwinkerte er mir verstohlen zu. Ich war verblüfft. Ein Junge hat mir zugezwinkert! Mir!!! Die ich nur an Ida klebte und kaum hinter ihrer Schürze sichtbar war! Was sollte denn das? Ich beäugte den Buben argwöhnisch.
Ida fragte weiter: "Wat denkste denn, wenn deine Mutta zurückkommt?" Der Junge schob die leere Pfanne von sich, wischte den Mund mit dem Handrücken ab und sagte würdig: "Mamma hat zu duhn. Wenn se denn mit de Aabeit fertich is, denn kommt se ooch nach Hause." - "So, na denn", resignierte Ida, "denn wa ja der Weech for umsonst. Beschdell ma deine Mutta n schön Jruß von mir un saare ihr, det ick mit die Christa da wa."
Sie drehte sich auf dem Absatz herum, mich mit sich reißend. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wem sollte ich hier vorgestellt werden? Was war mir entgangen? Denn das war doch kein Amtsgebäude, sondern eine Wohnung!
Kaum auf der Straße, fragte ich auch schon: "Wer wah denn der kleene Junge, Omi?" Sie antwortete zunächst nicht, sondern knurrte nur. Doch ich wollte es wissen: Wer war der Junge, der MIR zugezwinkert hatte? Ida antwortete letztendlich entnerft: "Der Bengel, der da seine Fanne mit Brot leerjejessn hat, weil deine Mutta wahscheinlich keen n Tella un keene Jabl hat, wa dein Bruda Paul."
Es ist möglich, dass meine Mutter hinter der nächsten Tür gestanden hatte. Ich kann verstehen, dass sie mich nicht so plötzlich - ohne Vorankündigung - zu sehen wünschte. Und wenn dem nicht so war, hatte Paul sich wahrhaft vortrefflich verhalten.
Das nächste mal sah ich meine Brüder - beide! - als sie aus dem Heim ausgerissen waren. Sie hatten im Hausflur erschöpft gesessen, bis Ida kam, und sie gab sie bei Ls. zur Aufbewahrung ab, bis "die vom Amt" sie holen würden. Aber darüber brach die Nacht herein, und Grete L. gab meine Brüder wieder bei Ida ab.
Ich gaffte sie mit aufgerissenem Munde an und wusste nicht, wie ich mich zu ihnen stellen sollte, sie waren meine Brüder, meine nächsten Verwandten, aber ich, ich war doch "etwas Besseres", ich wusste zwar nicht, worin, aber Ida und Gerda und die Ls. und die "Moabiter" sagten es, also stimmte es doch wohl, dass ein Mädchen etwas Besseres ist.
Es dauerte Stunden, ehe meine Brüder wieder ins Heim abtransportiert wurden. Ich bekam keine Gelegenheit, mit ihnen zu reden. Ich wurde inzwischen zu Bett geschickt. Ich hätte gern meinen Brüdern einen Platz neben mir angeboten, bei Ls. schliefen ja auch zwei bis drei Kinder in einem Bett.
Aber Ida sagte: "Da wirste ja denn wach, wenn se die Bengels hohln, un du musst doch deine Ruhe hahm beit Schlafn. Also schlaaf man ruhich un kümma dir nich um die Bengels. Die müssn ihrn Weech finn. Jungs könn det. Janz von alleene. Da musst de dir keene Sorjen machn. Schlaaf man, meine Kleene, schlaaf!"
Ihre plötzlich so zärtliche Fürsorge tat mir so wohl, dass ich meine Brüder vergaß, bis die Ausreißer einige Monate später wieder vor der Tür standen. Diesmal kamen sie aber am Vormittag, also waren sie am Nachmittag schon wieder verschwunden. Sie kannten als einzig feste Adresse außer der ihrigen, wo ja nun niemand mehr war, nur die von Tante Ida. Sie hofften, von ihr aufgenommen zu werden, weil sie mich in Verwahrung hatte. Sie kannten ja Idas Beweggründe nicht.
Als ich fragte: "Warum könn denn meine Brüda nich bei uns bleim?", erwiderte Ida: "Weil det Jungs sind, du Dussl!"
Ich erinnerte mich daran, dass bei Ls. Mädchen in einem Bett schliefen, und Jungs in dem anderen. Idas Wohnung war zu klein, um ein Bett für Jungs aufzustellen. Sie taten mir unendlich leid, meine armen Brüder! Sie mussten wieder ins Heim ohne Oma, ohne Tante Gerda, ohne Waltraud und ohne die "Moabiter"! Nicht mal die "olle" Tante Irma konnte ihnen beistehen! Und möglicherweise gab es dort keine Kirche! Umso heftiger betete ich mit aller Inbrunst für sie. Mehr konnte ich nicht tun.
Da sie aus jedem Heim ausrissen, wurden sie getrennt. Manfred kam in ein Heim im Vogtland, wo er sich bald einlebte, Paul kam nach Zingst. Er wartete, bis der Bodden zugefroren war, dann schlug er sich bis Bernau durch, wo er von der Transportpolizei aufgegriffen wurde. Nun kam er in ein Heim in Lohme, wo er sich in sein Schicksal ergab.
Eines Tages hatte ich - achtjährig - eine Kollision mit einigen mir unbekannten Kindern in der Charlottenburgerstraße. Ich fühlte mich durch sie belästigt und tönte: "Wenn ihr nich jleich zuseeht, det ihr Land jewinnt, denn hool ick meinn jroßn Bruda, der schpuckt un schmeißt mit Schteine!" (diese Lautäußerung hatte ich kürzlich in einem "Berliner Bilderbogen" gelesen), als plötzlich ein "Jung Siegfried" neben mir stand: blond, blauäugig, breitbeinig, und drohend fragend: "Wer will hier wat von meine kleene Schwesta?"
Die "feindlichen" Kinder zerstoben in alle Winde. Ich fragte den unerwarteten Retter schüchtern: "Wer bist n du? Bist de wirklich mein Bruda? Denn bist de denn woll der Manfred?" - "Ja", sagte er souverän, "der bin ick."
Ich stand vor meinem Bruder. Zum ersten mal in meinem Leben nahm ich ihn in voller Größe wahr. Manfred, dem Ältesten von uns. Und ich liebte ihn, da ich ihn sah. Solange hatte ich immer nur eine trotzige Sympathie für meine Brüder, da ich nach allgemeiner Meinung nicht mehr wert war als meine Familie, aber nachdem Manfred als mein Erlöser und unerwarteter Beschützer neben mich trat und auch noch so schön war, musste ich ihn lieben.
Doch ich kam nicht dazu, ihm meine Gefühle zu offenbaren, zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mir wurde der Weg zum Elternhaus verboten, und ich gehorchte, denn ich wollte ja nicht im Fegefeuer schmoren als ungehorsames Kind. Nur sehr selten pfiff ich - zwölf - bis dreizehnjährig - auf die jenseitige Seligkeit und besuchte meinen Bruder. Mama hatte zu jener Zeit schon ihre Freundin Grete P. kennen gelernt und verbrachte sehr viel Zeit mit ihr; sie war also meistens nicht zu Hause, wenn ich Manfred besuchte.
Als Manfred sechzehn Jahre alt war, wurde er aus dem Heim entlassen. Nun besuchte er mich häufig, was der Ida überhaupt nicht passte, aber sie wusste nicht, wie sie diese Besuche untersagen könnte. Manfred war schließlich mein Bruder, und wir unterhielten uns ja nur bzw. spielten Schach.
Bei unseren Gesprächen stellten wir fest, dass wir viele gemeinsame Interessen hatten - wir schwärmten für utopische Literatur, für Märchenfilme, für Astronomie und für Archäologie. Wir konnten uns stundenlang über Saurier, Steinzeitmenschen und Fossilien unterhalten.
Manchmal steckte Ida den Kopf zur Tür herein, um zu sehen, was wir treiben. Nach Manfreds Fortgehen höhnte sie: "Aschelojie! So n Blödsinn! Wat soll denn det sin, hä?" Ich erklärte es ihr. Sie meinte daraufhin: "Die Dootn soll man ruhn lassn, un wenn se noch so lange doot sin!"
Manfred hatte ein Faible für binomische Zahlen, für Primzahlen und für die römischen Ziffern. In jedem Fall konnte er sie bis über Tausend fehlerfrei hersagen. Ich bewunderte ihn dafür und konnte es nicht fassen, dass er eine Sonderschule - von Ida "Hilfsschule" genannt - besucht hatte. Er begriff den Lehrstoff langsamer als ein Durchschnittskind. Obendrein beging unsere Mutter den Fehler, seine ersten Hausaufgaben selber zu schreiben.
Was unserer Mutter gar nicht gefiel, waren die ständigen Streitereien der Brüder. Mitunter endeten sie in einer handfesten Prügelei, wovon beide etliche Narben zurückbehielten. Einmal - es war zwischen Weihnachten und Neujahr - gerieten sie bei Tisch in einen Streit, worauf einer seine Gabel gegen den anderen schleuderte. Dieser duckte sich, und die Gabel fuhr durch eine Weihnachtsbaumkugel und zum geschlossenen Fenster hinaus. Unvorstellbar, wenn das Geschoß das beabsichtigte Ziel getroffen hätte!
Als Teenager betitelten die Brüder einander mit "Hosenklau" (für Paul) und "Wurschtklau" (für Manfred), weil der eine die Hosen des anderen trug, wenn ihm die eigene nicht mehr sauber erschien, und weil Manfred einmal die Wurst weggegessen hatte, die Paul sich zum Abendbrot reserviert hatte. Manfred konnte die Wohnung nicht verlassen, ehe Paul mit der Hose nach Hause kam, und Paul musste etwas anderes zum Abendbrot essen. Jeder behauptete, der am stärksten Benachteiligte gewesen zu sein.
Zu jener Zeit hatten wir ein neues Spiel entdeckt - ohnmächtig werden. Dazu stellte ich mich mit dem Rücken gegen Manfred, er umklammerte meinen Oberkörper unterhalb der Brust, dann holte ich dreimal tief Luft und hielt den Atem an. In diesem Moment drückte Manfred mich ganz fest mit seinen Armen - und schon sank ich echt in Ohnmacht. Es war ein irres Gefühl, wenn plötzlich die Knie weich wie Butter wurden und die Möbel zur Decke schwebten! Paul hatte nicht so viel Kraft wie Manfred, er schaffte es nicht, mir dieses süße Gefühl zu vermitteln. Darüber war er sehr enttäuscht.
Ich erzählte Waltraud von diesem Spiel und sie erwiderte: "Na, ick würde mir ja nich von mein Bruda unta de Brust fassn lassn!" Es nützte mir nichts, zu erklären, dass er mich gar nicht anfasste. Für Waltraud blieb es etwas Unanständiges.
Im selben Jahr besuchte ich mit meinen Brüdern eine Kinovorstellung. Der Film war "p 14". Paul hatte seinen Personalausweis nicht dabei und unsere Versicherung, dass er 15 ist, wurde ignoriert. Ich Dreizehnjährige brauchte ob meiner stattlichen Oberweite den Ausweis nicht vorzuzeigen, Paul aber musste nach Hause gehen. In Zukunft hatte er seinen Ausweis in der Hosentasche.
In jener Zeit versuchte Paul, mir das Tanzen bei zu bringen. English Walz war gerade groß in Mode. Leider hatten wir keine Musik. Aber wir wussten uns zu helfen, wir sangen die gängigen Schlager und binnen kurzem konnte ich tanzen und hatte viel Spaß.
Manfred war der hübschere und nettere der beiden. Er kam nach unserer Mutter. Paul hingegen war leicht aufbrausend wie unser Vater.
Manfred hatte sich als Ausgleich für seine Unsicherheit in der Rechtschreibung ein umfangreiches Vokabular angeeignet, z.B. den Begriff "Hypersuperedelschnulze". Oder die Frage: "Legst du gesteigerten Wert auf . . ." Grete P. sagte, dass "Wert" sich nicht steigern lässt, um so witziger fand ich meinen Bruder.
Wenn jemand mit ihm Streit suchte, sagte er gelassen: "Du nich. Und zehn andere ooch nich. Aus dir mach ick doch glatt n Hut, n Schirm und vielleicht noch ne Krawatte." Dann kam der Gegner ins Lachen und der Streit war vergessen.
Meine Brüder bewunderten mich dafür, dass ich die Mittelschule besuchte. Manfred sagte einmal zärtlich: "Unsa jelehrtet Schwesterlein!"
Ich lächelte glücklich und Paul prustete: "Du brauchst jar nich so vaklärt zu grinsen, Christa, der Manne schreibt det doch imma noch mit doppel E!"
Manfred wollte auf Paul einschlagen, denn derartige Kritik vertrug er nicht. Ich schlichtete den Streit. Wenn ich damals schon gewusst hätte, was Legasthenie ist, hätte ich Paul zu einem besseren Verhältnis zu unserem Bruder verhelfen können. So konnte ich nur sagen: "Eh, eure Prüjelei is langweilich! Könn wa nich wat schpieln?"
Als ein Spiel mit den wenigsten Streitmöglichkeiten erschien mir Skat. Ich musste es erst lernen, in dieser Phase gab es von vornherein keinen Streit. Wenn sich später ein Streit anbahnte, sagte ich: "Neuet Schpiel, neuet Glück! Wer is dran mit Mischen?" Und wir spielten friedlich weiter. Mitunter nächtelang.
Als ich fünfzehnjährig endlich bei meiner Mutter wohnte, erzählte sie mir drei heitere Begebenheiten aus Manfreds früher Kindheit: Als er einmal in der Stube spielte, wurde es plötzlich sehr still darin. Mama rief, Schlimmes ahnend: "Manfred, was machst du?", und er antwortete heiter: "Dummkeiten!" Mama stürzte entsetzt in die Stube und sah, dass der Junge friedlich spielte. Ihm war so oft vorgeworfen worden, Dummheiten zu machen, dass er bald alles, was er tat, für Dummheit hielt. Mama rügte ihn von nun an seltener.
Er sah, wie ich gestillt wurde, lief zum Vater und rief aufgeregt: "Pappa, Pappa, die Püppi trinkt aus Mamas Bauch!"
Und einmal hatte Mama den Vierjährigen zur Polizei mitgenommen, wo sie ihren neuen Personalausweis beantragen wollte. Der Beamte fragte: "Wie heißen Sie?" Mama suchte etwas in ihrer Tasche, da sie ein wenig schwerhörig war, entging ihr die Frage. Manfred antwortete an ihrer Stelle: "Mama heißt se!"
Paul war sehr lebhaft. Manchmal trieb er sogar mit Mama Schabernack. Wenn es Kompott gab, legte er zu ihrer Schale einen durchsichtigen Plastelöffel, weil er wusste, dass sie ihn übersehen würde. Ich fand es gar nicht lustig, wenn Mama dann fragte: "Warum habt ihr mir denn keinen Löffel hingelegt?", lachte aber mit.
Zu jener Zeit erwartete Paul von mir, dass ich seine Wäsche in Ordnung halte. Das fiel mir ja nun im Traum nicht ein. Erstens war ich nicht sein Dienstmädchen, zweitens hatte ich vom Hemdenbügeln keine Ahnung und drittens wusste ich, dass er seine Sachen sehr gut selber in Ordnung halten konnte. Ich ließ mir von ihm zeigen, wie mit einem Oberhemd umzugehen ist - vielleicht geriet ich ja doch an einen Mann, der seine Sachen nicht selber in Ordnung hält. Es gibt leider viele Frauen, die auf diese Weise ihren Mann in Abhängigkeit halten und auch ihre Söhne nicht zur Selbständigkeit erziehen.
Irgendwann kam Paul auf die Idee, uns allen neue Spitznamen zu verpassen. Aus Manfred wurde Mannejekanne, aus Christa wurde Christajetista, aus Mama wurde Mutterjetutter, aus Papa wurde Pappajeklappa und aus Paul wurde Paulejemaule. Als Mama das hörte, war sie beleidigt, aber es gelang uns sehr schnell, sie davon zu überzeugen, dass es nur Spaß ist. Nun benutzte sie selber diese Spitznamen, insbesondere "Pappajeklappa".
Ihre Freundin weigerte sich heftigst, den ihr zugedachten Spitznamen "Gretejetete" anzunehmen. Sie sagte: "Auf ein solches Niveau lasse ich mich nicht hinunter, Spitznamen habe ich schon als Kind vermieden." Bald hatten wir auch selber keinen Spaß mehr an den Namen. Viel besser und lustiger erschienen uns die Bezeichnungen "Lesterschwein" für mich und "Lüderbrein" für meine Brüder.
Einmal besuchte ich mit Paul einen Rummelplatz. Während wir darauf warteten, auf einem Karussell eine leere Gondel zu erwischen, zog mich jemand an den Haaren. Ich war der Meinung, dass ich mir das nicht gefallen lassen muss, drehte mich um und gab ihm eine Ohrfeige. Der Geohrfeigte meinte, er habe nichts getan, aber er sagte auch nicht, wer es getan hatte. So stand für mich fest, dass er log. Auf dem Heimweg fragte Paul: "Wat hätteste denn jemacht, wenn der dir nu ooch eene jescheuert hätte?" Ich erwiderte: "Na, du hättest mir doch beijestandn"
Er zog eine Schnute: "Ick werd mir doch nich wejen dir uff ne Prüjelei mit n fremdn Bengel einlassen!"
Stark enttäuscht sagte ich: "Denn biste ja jar keen richtija Bruder!" Und er erwiderte scharf: "Und du bist keene richtije Schwester!"
Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Heute vermute ich, dass er mich nicht als Schwester ansehen konnte, weil wir nicht zusammen aufgewachsen waren. Trotz aller Zuwendung, die ich ihm gab, bin ich ihm fremd geblieben.
Manchmal gingen wir mit den Spielkumpels aus Kindertagen in die nahe gelegene Eckkneipe. Nun lernte ich Fritz kennen, einen jener Söhne, die Grete L. gleich nach der Geburt zur Adoption freigab. Er blieb ein Freund meiner Brüder, bis sie sich aus den Augen verloren.
Jedenfalls hat er Paul noch ein Jahr nach seiner Eheschließung besucht und bei ihm übernachtet, nachdem sie einige Flaschen geleert hatten. Als Paul schlief, ist Fritz zu der jungen Frau gekrochen und hat sie geschwängert.
Paul sah sich immer vor, er fühlte sich zu jung, um Vater zu sein. Nun hatte er eine Tochter. Er wollte sie "Tertia" nennen, nach einer Gestalt aus einem utopischen Roman. Er ließ es sich ausreden, nachdem ich ihm vor Augen führte, wie er unter dem unmodernen Namen Paul gelitten hat und wie viel Kraft es kostet, mit einem ungewöhnlichen Namen leben zu müssen.
Letztendlich hieß die Tochter Manuela, ein damaliger Modename. Fritz behauptete Jahre später im betrunkenen Zustand, dass die junge Frau ihn zu sich gezogen hatte, so erfuhr Paul, auf welche Weise seine Frau schwanger wurde.
Ich jedenfalls hing wie eine Klette an meinen Brüdern und war tieftraurig, als der eine nach Heringsdorf zog, um zu heiraten, und der andere in ein kleines Dorf bei Leipzig. Er war Landwirt geworden, fand aber später eine Tierpflegerstelle im Berliner Tierpark.
Nach und nach drifteten wir immer weiter auseinander. Heute habe ich zu dem einen gar keinen Kontakt mehr und mit dem anderen telefoniere ich zum Geburtstag und zu Weihnachten.
Hygiene
Ich war etwa vier Jahre alt, als Irma einmal zufällig beobachtete, wie ich "bettfein" gemacht wurde. Ida hatte mich bis auf das Unterhemd entkleidet, mir Gesicht und Hände gewaschen und zog mir nun das Nachthemd über. Irma sagte: "Aba Oma, so kannst de det doch nich machn! Da zieht ja der janze Nachtschweiß in det Tachhemd! Du willst doch woll nich, det uff de Schdraße keena mit Christa schpielt, weil se schdinkt?" Ida antwortete unwirsch: "Die hat janischt uff de Schdraße zu schpieln!" Aber sie zog mir in Zukunft das Unterhemd aus, wenn sie mich zu Bett brachte.
Wenn wir Kinder gebadet werden sollten, kochte Ida mehrere Kessel Wasser und schüttete sie in eine Wanne, in die sie uns anfangs beide zusammen hineinsetzte. Waltraud sollte zuerst mich und dann sich waschen. Das tat sie. Die Wanne war nicht besonders groß, Waltraud musste sich nicht viel bewegen, um mich überall waschen zu können. Nur die Ohren wusch Ida uns. Dazu wickelte sie den Seiflappen um ein abgebranntes Streichholz und fuhr damit in alle Ausbuchtungen bis tief ins Ohrinnere. Das war sehr unangenehm.
Als letztes wurden die Haare gewaschen, wobei Ida uns zum Schluss eine Schüssel warmes Wasser, das mit Essig angereichert war, über die Köpfe goss. Davon sollten die Haare Glanz und Geschmeidigkeit erhalten. Als wir nicht mehr zusammen in die Wanne passten, badete zuerst Waltraud, dann stieg ich in das benutzte Wasser. Nun musste ich mich selber waschen. Es versteht sich, dass ich sehr schnell damit fertig war, denn erstens war es nicht gerade angenehm, zwischen Schmutzflocken zu sitzen und zweitens hatte das Wasser nicht mehr die angenehme Temperatur. Das Haare waschen wurde jetzt von Ida übernommen, wobei ihr durch einen Unfall steif und gefühllos gewordener kleiner Finger heftig meine Kopfhaut kratzte.
In den Genuss dieser Bäder kamen wir einmal im Monat, öfter hielt Ida sie nicht für nötig. An Sonnabenden stellte sie eine große Schüssel warmes Wasser zur Verfügung. Es war jene Schüssel, in welcher wir uns im Sommer die Füße wuschen vor dem Schlafengehen, im Sommer liefen wir barfuss. In ebendieser Schüssel wurde auch der Kuchen angerührt und der Kartoffelsalat angerichtet. Ich konnte kaum lachen, als die Freundin meiner Mutter einen altberliner Kinderwitz kund tat: "Erwin, komm oben, Füße waschen, Mama brauch die Schüssel für Salat!"
Ida mokierte sich darüber, dass bei Familie L. die Kartoffeln im Ausguss gewaschen wurden: "Erst pinkeln se rin un denn waschn se die Katoffiln!"
Als Waltraud nicht mehr bei uns wohnte, gab Ida die Wanne zum Altstoffhandel. Ich sehe ja ein, dass es ihr zu beschwerlich war, das Bad für mich zu richten, aber hätte ich das unter ihrer Anweisung nicht selbst tun können? Namentlich das Ausschöpfen der Wanne mit Schüsseln, was ja wohl das schwerste für sie war. Sie war der Meinung, dass ich für alles zu blöd sei, so fielen die Bäder weg.
Dass und wie man sich morgens und abends waschen sollte, erläuterte eine Lehrerin im Geschichtsunterricht des siebenten Schuljahres, wo das Mittelalter auf dem Lehrplan stand. Ich hatte keine Angst vor der Pest, die war ja längst besiegt, aber die Lehrerin sagte, dass man sich viel wohler fühlt, wenn man seinen Körper pflegt und dass man dadurch auch hübscher wirkt. So wusch ich mich nun täglich. Ida sagte dazu: "Na, nu übatreibst de aba!"
Irma bemerkte, dass ich (vierjährig) stark aus dem Mund roch. Sie bewegte Ida dazu, auch für mich Zahnputzzeug anzuschaffen. Waltraud musste mich das Zähneputzen lehren. Sie fuhrwerkte derart in meinem Mund herum, dass mir alles wehtat. Da an den weiteren Tagen nicht auf meine Zahnpflege geachtet wurde, putzte ich sie immer seltener und hörte bald ganz damit auf. Erst, nachdem ich im zweiten Schuljahr eine Großveranstaltung der "Jungen Pioniere" erlebte, wo in einem kleinen Theaterstück aufgezeigt wurde, was mit den Zähnen geschieht, wenn sie nicht regelmäßig geputzt werden, griff ich täglich zur Zahnbürste.
Wenn meine Haare zu lang geworden waren also wenn sie hinten auf die Schultern fielen und vorn meine Sicht behinderten, stutzte Ida sie auf die gewohnte Länge (gerade noch die Ohren bedeckend) zurück. Bis in mein zehntes Lebensjahr verpasste mir Ida an jedem Morgen die "Hahnekamm"-Frisur. Weil sie den Kamm, der die Haare festhalten sollte, stets heftig über meine Kopfhaut kratzen ließ, brüllte ich beim Frisieren oftmals "wie am Spieß". Ich bin auch heute noch äußerst empfindlich auf der oberen Kopfpartie und gehe ungern zum Friseur.
Ida mokierte sich bei Grete L. über mein "albernes Benehmen". Grete L. riet, mir vom Friseur die neue Kinder-Modefrisur machen zu lassen, einen "Korea-Schnitt". Ida erschrak: "Wat forn Ding? Korea-Schnitt? Wie soll denn det aussehn?" - "Na, det is so n Rundschnitt. Da brauchen sich die Jörn bloß zu schütteln, und schon sind se jekämmt."
Sie zeigte ihr ein Klassenfoto ihrer jüngsten Tochter und Ida konnte sehen: Kein Kind trug mehr den "Hahnekamm", alle hatten kurz anliegende Haare. "Mensch, da kann man ja die Jungs nich mehr von die Meechns untascheidn!", rief Ida. "Doch, kiek ma richtich hin, bei die Jungs sin die Haare noch kürza!", entgegnete Grete L. So ging Ida mit mir zum Friseur und sah zu, wie der neue Schnitt gemacht wird. Sie hat ihn dann auch noch einige Zeit nachgemacht. Als sie es nicht mehr konnte (da sie auf die achtzig zuging, wollten die Augen nicht mehr so recht), bekam ich regelmäßig Geld für den Friseurbesuch.
Als Dreizehnjährige erlaubte ich mir die Extravaganz, die Stirnlocke wachsen zu lassen. Ida tobte: "Det is doch keene Frisur nich! Det schöne Jeld zum Fensta rausjeschmissn!" Aber ich fand mich "cool" und es gab niemanden außer Ida, der meine Frisur beanstandete.
Zur Jugendweihe musste ich mir eine Dauerwelle machen lassen: "Du wirst jetzt erwachsen, du musst ooch danach aussehn!"
Die vielen Stunden tatenlosen Herumsitzens beim Friseur! Grete L. hatte zwar vorsorglich geraten: "Nehm dir n Buch mit!", doch es war gelesen, bevor die Frisur fertig war. Die ätzenden Flüssigkeiten, die die Frisur auf Dauer erhalten sollten! Die Hitze unter der Trockenhaube! Das Ziepen beim Zurechtkämmen! Obendrein sah ich nun viel älter aus. Es hieß ja, dass man bei der Jugendweihe in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wird, also lächelte ich über die krasse Veränderung meines Äußeren.
Waltraud musste mir stets die Nägel schneiden. Ich durfte erst als Zehnjährige eine Schere in die Hand nehmen, als der Mathematiklehrer die Nachbildung eines Würfels zur Hausaufgabe machte. Von da an wusste ich, wo die Schere liegt und benutzte sie zum Basteln und um mir selber die Nägel zu schneiden, das tat weniger weh.
Als ich etwa elf Jahre alt war, wollte Waltraud mir zeigen, wie eine Dame ihre Fingernägel pflegt. Sie schnitt mir die Nägel spitz, eine Dame hat nämlich spitze Nägel, und räumte allen Fingernagelschmutz hinfort, bis sie nur noch Weißes zu Tage förderte. Tags darauf waren meine Fingernägel blutunterlaufen. Ida sah es und fragte, warum ich so unerhört dreckig sei. Ich hatte mir nicht zwischen Abendbrot, Schlafengehen und Aufwachen Schmutz unter die Nägel ziehen können, der "Dreck" war auf Waltrauds Nagelpflege zurückzuführen. Ich erzählte Ida davon und sie verbot Waltraud, irgendetwas an mir "herumzufummeln".
1995 war die mir zunächst gelegene Arztpraxis ausgerechnet jene, in der meine Nichte eine Anstellung bekommen hatte. Sie hatte Diätköchin gelernt und war jahrelang in einem Krankenhaus beschäftigt. Das qualifizierte sie nun zur Sprechstundenhilfe. Ich hatte Schwierigkeiten mit meinem linken Fuß, er ist kleiner als der rechte und hatte daher einen Sporn entwickelt. Manuela durfte ihn mit Bestrahlung behandeln. Als sie mein Bein an die Anlage anschloss, sagte sie: "Du solltest dir mal wieder deine Füße machen." Ich blieb ratlos zurück - wie "macht" man sich die Füße? Ist waschen und Nägelbeschneiden nicht genug?
Ida schneuzte sich übrigens in den Unterrock, obwohl wir viele Taschentücher besaßen.
Bekleidung
Das ist für mich ein heikles Thema. Ein Mensch ist selbstverständlich bekleidet, also hatte auch ich etwas an. Wenn mich meine Kleidung nicht behinderte, war es mir gleichgültig, wie sie aussah. In einer "Frauenzeitschrift" las ich später, dass eine Frau alt wird, wenn sie beginnt, die Kleidung nach der Bequemlichkeit auszusuchen. Demzufolge war ich entweder nie jung oder nie Frau.
Ich erinnere mich nur an wenige Kleider meiner Vorschulzeit. Ich weiß nur noch, dass meine Sommerkleider oft sehr kurz und weit waren (ich hasste es, wenn mir der Halsausschnitt auf den Ellbogen rutschte!); von den Winterkleidern ist mir so gut wie gar nichts erinnerlich. 1948 jedenfalls trug ich im Sommer eine Spielhose, das war eine Zwittergestalt zwischen Hose und Rock, also weit und lang wie ein Rock, aber doch eine Hose. In diesem Bekleidungsstück fühlte ich mich sauwohl - die Bezeichnung "Spielhose" bedeutete mir, dass ich mich frei bewegen durfte, ich durfte tun, wozu ich Lust hatte. Leider war mir die Spielhose im folgenden Jahr zu klein und ich musste wieder normale Mädchenkleidung tragen. Da gab es ein hübsches Trägerkleid aus weißem Nesselleinen, mit rosa Schleifen verziert. Ich sah gewiss ganz süß darin aus, aber das harte Leinen scheuerte meine Haut auf. Ich musste das Kleid immer wieder anziehen, bis mein Blut das Leinen rötete. Nun hatte Ida ein Einsehen und befand: "Die Christa is aus det Kleid rausjewachsn." Ich vermute, dass Ida mich gern wie eine Puppe ausstaffiert hätte. Waltraud und ich besaßen einen Muff aus weißem Pelz und Handschuhe. Die Handschuhe befand ich als sehr nützlich, aber die Muff ließ mich an den Armen frieren, weil sie den Mantelärmel nicht hineinließ.
Ich weiß, dass Gerda, wenn sie ein Kleid für ihre Tochter kaufte, meistens auch eines für mich kaufte. Anfangs ohne eine von uns beiden befragt zu haben. Sie fand einfach mal ein Kleid hübsch und brachte es mit. Erst, nachdem sie mehrmals erlebte, dass Waltraud ein Kleid partout nicht anziehen wollte, nahm sie uns mit zum Kleiderkauf. Bevor sie ein Kleidungsstück zum Kassentisch trug, vergewisserte sie sich, dass an der Innennaht auch der obligatorische Flicken nebst Ersatzknopf befestigt war. Den Ersatzknopf befand ich als sehr nützlich, doch der Flicken war lächerlich, denn meist hatte das Gewand eine andere Farbe, ehe es ein Loch bekam.
Ich war es gewohnt, Kleider zu tragen, die vor mir schon andere trugen. Es machte mir nichts aus. Ich musste angezogen sein. Ich folgte Idas Maxime: "Hauptsache sauber und ganz!" Wenn ein Kleid sauber und ganz war und mir halbwegs passte, trug ich es, bis es mir zu klein wurde. Ich erinnere mich - bis auf wenige Ausnahmen - nur an die Kleider, die auf Fotos festgehalten wurden.
Eine dieser Ausnahmen bildete ein ockergelbes, mit sehr kleinen schwarzen Rosen bedrucktes Hängerkleid, das ich sehr schön fand. Es war weit und luftig und hatte auch eine mir gefallende Länge, d.h., es bedeckte die Knie. Auch, wenn es mir nicht von meiner Mutter geschenkt worden wäre, hätte ich es geliebt. Aber Ida argwöhnte da Zusammenhänge und schon war das Kleid verschwunden, noch ehe ich ihm entwachsen war.
Ich bekam anfangs Kleidungsstücke aus dem Altstoffhandel meines Vaters, danach aus mir unbekannten Quellen, und natürlich jene, aus denen Waltraud herausgewachsen war. Für mich war das ganz natürlich, aber heute komme ich zu der Erkenntnis, dass es Waltraud gar nicht recht war, wenn ich ihre Kleider auftrug. Sie hat sehr ärgerlich darauf reagiert, wenn sie eines ihrer Kleider vier bis fünf Jahre später an mir wieder sah. Vor allem ärgerte sie sich darüber, dass man ihr ständig verboten hatte, die Hände in die Taschen zu stecken, dass bei mir aber darauf nicht geachtet wurde. Wenn ich ermahnt wurde, war sie anscheinend stets außer Hörweite.
1954 beobachtete ich, dass zunehmend mehr Mädchen Hosen trugen, namentlich im Winter. Ich wollte auch eine Hose haben. Ich bettelte und bat, aber ein Mädchen mit Hosen war für Ida völlig undenkbar. Endlich sagte Grete L.: "Koof ihr doch ne Treeningshose, die brauch se wiso for die Schule. Denn hat sie ne Hose un du hast deine Ruhe. Außadem is ne Treeningshose nich so deua wie die andan." Ich bekam also eine Trainingshose und wagte nicht, zu meckern. Nicht einmal dann, wenn Ida mich zwang, noch einen Rock über die Hose zu ziehen, wenn sie mit mir einkaufen gehen wollte.
Waltraud besaß ein paar Shorts, die 1954 sehr modern waren. Das waren kurze, weite Hosen aus kariertem Stoff. Sie trug sie sehr gern, denn so kamen ihre langen, schlanken, wohlgeformten Beine vorzüglich zur Geltung. Einmal gingen wir zusammen durch die Pistoriusstraße. Waltraud hatte ihre Shorts nebst Nicky, Nickytuch und hochhackige Schuhe an. Da keifte plötzlich eine alte Vettel hinter uns: "Sowat jehört vabotn! Scheemt die sich denn ja nich? In Hosn! Und denn noch so ne kurze! Vabrenn müßte man die! Wie ne Hexe vabrenn!" Und ihr Gemahl pflichtete ihr bei. Wir kicherten verhalten und fühlten uns absolut nicht wohl in unserer Haut. Diese Begebenheit lehrte mich, Modisches nach Möglichkeit zu meiden.
Als ich zwölf bis dreizehn Jahre alt war, wollte ich auch so schön sein wie Waltraud. Sie besaß zwei Kleider, auf die ich unerhört scharf war: Ein taubenblaues Kleid mit schwarzen Punkten und einer "Tellerglocke"; wenn man sich schnell genug drehte, hob sich der Rock bis in Hüfthöhe!, aber nicht darauf war ich aus; mich faszinierte der Schnitt dieses Kleides. Wenn man sich hinsetzte, fiel der Stoff am Stuhl vorbei bis auf den Fußboden. Ich fühlte mich in diesem Kleid wie eine Lady.
Das andere war ein giftgrünes Kleid mit weichem Georgeanzekragen und reichen Bordüren darauf. Mir gefiel die Farbe und auch der Schnitt, es war für mich das Kleid aller Kleider, auch ohne den duftigen Kragen, der schon zerschlissen war, als Waltraud das Kleid noch trug. Aber ich musste bei beiden lange bitten, ehe Waltraud sie mir überließ. Das Kleid mit der Tellerglocke durfte ich nur selten anziehen, Ida sagte: "Det is keen Kleid for alle Daare!" Ich sah es auch so, aber ich wollte es nicht auf meinen Spaziergängen verschleißen, sondern zur Schau stellen: "Seht her, so schöne Kleider gibt es!"
Endlich durfte ich es zum Schulgang anziehen. Es wurde von meinen Mitschülern betrampelt. Wenige Wochen später schon passte es mir nicht mehr, man konnte das Kleid auch nicht auf meine Figur umändern. Ich verkörperte nun mal nicht Waltrauds Typ "Südstaatenschönheit", sondern eher den Typ "dralle Deern". Das giftgrüne trug ich, bis ihm alle Nähte platzten. Zuerst platzten die Ziernähte, dadurch wurde das Kleid etwas weiter, ich konnte es noch einige Wochen tragen, dann platzten aber auch die Nähte, die das Kleid zusammenhielten. Darüber war ich todtraurig.
An meine Schuhe kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern, außer natürlich an die Sandalen, die Onkel Bruno mir aus meinen alten Halbschuhen geschnitten hatte. Und ich bin mir sicher, dass ich im Winter solche Stiefel trug, in die man rasch hinein- und wieder herausschlüpfen konnte, das war gut für das Umkleiden zum Sportunterricht. Sie waren braun oder schwarz. Helle Schuhe sahen sehr bald schäbig aus, weil ich so einen sonderbaren Gang hatte. Hätte Ida mich nicht zu fest gewickelt, als ich noch in den Windeln lag, hätte ich auch normal laufen können.
Die einzigen Schuhe, an welche ich mich erinnere, waren meine Hausschuhe - weiche, flauschige Kamelhaarschuhe, wir trugen alle die gleichen gelb- braun karierten "Mauken". Und natürlich erinnere ich mich an meine blau- weißen Turnschuhe, mit denen ich viel Ärger hatte. Ich musste erst etliche Fünfen bekommen, ehe Ida begriff, dass ich nicht in Straßenschuhen oder barfuss turnen durfte, sondern wie alle anderen Kinder Turnschuhe benötigte. Und dann nach dem Unterricht immer sofort die Turnschuhe in den Beutel stecken und mich am besten darauf setzen, damit meine Klassenkameraden nicht mit ihm Fußball spielten.
Es ist seltsam, dass ich mich kaum an meine Schuhe erinnere, denn ich putzte doch jeden Sonnabend alle Schuhe der Familie! An Waltrauds Pumps in allen Farben erinnere ich mich deutlich!
Als ich zwölf Jahre alt war, nähte Waltraud aus dem Faltenrock eines mir zu klein gewordenen Kleides ein Turnhemd, welches ich sehr liebte. Es war leuchtendrot mit dunkelblauen Strichellinien. Das war zwar nicht nach dem Geschmack des Turnlehrers. Er hätte uns gern alle in vorschriftsmäßiger Sportkleidung gesehen. Aber es waren noch andere Kinder in meiner Klasse, bei denen die Eltern nicht das nötige Kleingeld hatten, um komplette Turnkleidung kaufen zu können. Viele von uns trugen nur die Turnhose und als Oberteil etwas, das nicht mehr als Alltagskleidung getragen werden konnte.
Es war wohl 1954, als eine weitläufige Verwandte wieder zur Familie stieß. Sie war Schneiderin von Beruf und nähte mit Leidenschaft. Ganz gleich, wie gering der Verdienst war, sie lieferte Qualitätsarbeit. Gerda gab u.a. je ein Nachthemd für sich und Waltraud in Auftrag. Als die Hemden fertig waren, bot die Schneiderin, deren Namen ich längst vergessen habe, an, aus den Resten noch ein Nachthemd für mich zu nähen. Der Stoff war ja der gleiche, nur das Muster war anders. Ich war darüber sehr glücklich, denn ich hatte am Ende ein Nachthemd, von dem der eine Ärmel zu Waltraud, der andere zu Gerda gehörte, das Rückenteil war von Waltrauds Muster übrig geblieben und das Vorderteil war raffiniert aus beiden Mustern zusammengesetzt. Ein wunderbar kuscheliges Nachthemd, wie man es sich nur träumen kann.
Sie hat dann auch noch ein Kleid für mich genäht. Kariert war damals gerade groß in Mode, und kariert kann ich absolut nicht ausstehen, weil man mir immer vorgeworfen hatte, kariert zu quatschen. Gerda suchte den Stoff aus, ich erinnere mich deutlich, dass sie sagte: "Det is det allamoderrnste, Mensch!" Ich ließ mich überreden. Mein Harmoniebedürfnis verbot mir jeglichen Streit, und mit Erwachsenen zu streiten erschien mir ohnehin lächerlich. Gerda und die Schneiderin wählten den Schnitt aus. Sie fragten mich zwar immer wieder, ob es mir denn so auch recht sei, aber ich wusste, wenn es mir nicht recht war, würde ich es entweder doch bekommen oder es würde großen Ärger geben, und die Begebenheit würde bei jeder Gelegenheit erneut erörtert werden. So stimmte ich lächelnd allem zu. Wenn dieses Kleid nicht zufällig auf einem Foto festgehalten worden wäre, hätte ich es längst vergessen.
Das Karomuster war von besonderer Scheußlichkeit: Große und kleine Karos in blau, rot und schwarz wurden von gelben und grünen Linien durchzogen, die ihrerseits ein eigenes Karomuster bildeten. Wo die Farben aufeinander trafen, änderten sie sich, wie sich Tuschfarben ändern, wenn sie miteinander gemischt werden. Diese Farbgebung empfand ich als grässlichen Mischmasch. Als besondere Zierde wurden große, weiße Knöpfe auf das Kleid genäht. Ich hasse es, wenn die Brust durch Knöpfe oder Taschen besonders betont wird! Ich trug das Kleid mit Gelassenheit, es war modern. Dieses Wort benutzte ich gewöhnlich nur im Sinne von "verwesen".
Ich erinnere mich aber lebhaft an diese Frau, die sich mit mir unterhielt wie mit einer Gleichgestellten. Sie erzählte mir, dass sie als junges Mädchen in einem Bühnenstück mitwirken durfte. Sie hatte zwar nur wenige Worte zu sagen, aber diese waren Schicksal gebend für die Hauptpersonen. Sie stellte eine Magd auf einem Bauernhof dar, musste mit einem Hufeisen in den Händen auf die Knie fallen und dem Jungbauern schlechte Aussichten für die Zukunft prophezeihen. Weil sie sich bei diesen Kniefällen blutig geschlagen hatte, hat sie das Hufeisen als ewige Erinnerung über ihrer Stubentür aufgehangen.
Sie erkundigte sich bei mir, was denn heutzutage die Kinder so in der Schule lernen, denn sie war kinderlos. Ich zählte ihr die Lehrfächer auf, und sie wollte wissen, was wir denn so im Musikunterricht lernen? Zu jenem Zeitpunkt lernten wir gerade das "Moorsoldatenlied" kennen. "Aha", sagte sie, "so n Mist lernt ihr. Könn Euch Eure Leehra keene Volkslieda beibring? Kennst du ooch nur een Volkslied?" Ich erzählte ihr, dass ich im Schulchor singe, und dass wir dort - und auch im normalen Musikuntericht - Volkslieder singen, z.B. "Burschen aus Mystrina".
Sie keifte: "Mystrina! Det is doch keen deutschet Volkslied; ihr lernt nur Scheiße!" Ich zählte nun alle Volkslieder auf, die ich kannte, aber es nützte nichts, die Dame war der Überzeugung, dass das deutsche Liedgut an den Schulen nicht mehr gepflegt wird. Aber sie hatte mich ganz allgemein nach Volksliedern gefragt. "Burschen aus Mystrina" ist ein polnisches Volkslied. Bei ihr waren die Polen immer noch Untermenschen. Dabei gibt es ein weit verbreitetes Lied: "In einem Polenstädtchen . . . " In diesem Lied wählt ein Mädchen den Freitod, weil es geküsst, aber nicht geheiratet wurde. Gibt es eine höhere Moral? Am Ende des Liedes heißt es: "Drum küss ein deutsches Kind, das nicht beim ersten Kuss gleich sterben muss!" Also sind deutsche Mädchen leichfertiger als polnische. Da ich diese Vermutung äußerte, war unsere Bekanntschaft sogleich beendet.
In Bezug auf "Die Mode" hatte ich meine eigenen Gedanken. Ich war der Meinung, dass die Mode die Menschen uniformiert und sie der Kreativität entfernt. Wer sich der Mode unterwirft, entsagt der eigenen Originalität. Ich finde es lächerlich, wenn Leute sich - nur um modisch gekleidet zu sein - in Kleidungsstücke zwängen, in denen sie unvorteilhaft aussehen.
Irgendwann besaß ich einen grünen Lodenmantel, in welchem ich mich sehr wohl fühlte. Ich glaube, ich war da schon zwölf oder dreizehn Jahre alt.
Als ich dreizehn Jahre alt war, bekam ich von Grete L. einen braunen, wollenen Wickelrock geschenkt. Das war praktisch eine Riesenschürze; man wickelte sie sich um den Bauch, band eine Schleife und fertig. Ich fand das ja ganz lustig, aber für die Schule ungeeignet. Ich musste den Rock dennoch zur Schule anziehen. Natürlich haben sich meine Klassenkameraden darüber lustig gemacht und ihn mir beinahe ausgezogen. Ida reagierte auf meine Klagen: "Wenn se dir ärjan, denn musste dir weean." Ja gerne, aber wie? Sie hatte mir doch beigebracht, dass ein Mädchen nicht rauft! Außerdem war mir selber jegliche Gewaltanwendung zuwider. Und meine Argumente wurden von meinen Mitschülern verlacht. Doch jetzt hatte ich den Mut, gegen Ida anzutreten. Ich sagte ihr, dass ich diese Zumutung von einem Kleidungsstück nicht noch einmal tragen werde, und wenn sie sich kopfstellt. Daraufhin brauchte ich den Wickelrock nicht mehr anzuziehen.
Gerda spendierte mir mein Jugendweihekleid. Ich konnte mir denken, dass sie nicht gerade darauf erpicht war, ein kleines Vermögen für mein "Kleid für einen Tag" auszugeben. Bevor dieser Kauf getätigt wurde, hatte Ida sich des langen und breiten mit Grete L. darüber unterhalten, dass so ein Jugendweihekleid ebenso wie ein Hochzeitskleid nie wieder getragen wird: "Oda denkste etwa, die Jöre jeht uff n Ball oda int Tiata?" Wozu also viel Geld ausgeben für eine Eintagsfliege?
Aber ich hatte das Recht, an diesem bedeutsamen Tag das schönste Kleid zu tragen, welches ich jemals besaß. Ich ging an der verglasten Vitrine mit den prächtigen teuren Kleidern achtlos vorüber, ich hatte kein Interesse, ein Kleid anzuprobieren, welches ich nicht bekommen würde. Aber in der nächsten Preiskategorie war ich sehr wählerisch. Gerda empfahl mir dieses und jenes, vorwiegend helle Kleider, denn ich wurde ja nicht konfirmiert.
Mir schienen diese Kleider aber allesamt zu übertrieben, das eine war mit riesigen Blumen bemustert (darin wäre ich einem Sofa ähnlich), das andere war mit Schleifchen verziert, die ich affig fand, das nächste hatte ein sehr gewagtes Dekollete, ein weiteres eine "elegante" Schärpe, die meine schweren Hüften übermäßig betont hätte. Ich diskutierte nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Gerda blieb bemerkenswert ruhig. Sie ließ mich auswählen, es war mein Tag.
Endlich ging ich zur nächsten Preisklasse hinüber, wo ich ein dunkelblaues Kleid erblickte, welches mir außerordentlich gut gefiel. Während die vorherigen Kleider zumeist Einzelstücke waren, war hier ein ganzer Warenträger voll mit ein und demselben Modell. Ich fand es zauberhaft. Es hatte einen kleinen, runden Halsausschnitt, dem eine Bahn geraffter Stoff folgte (etwa 4cm breit und mit weißem Kräuselband eingefasst) und eine Gürtellinie auf Gummizug, was garantierte, dass ich das Kleid auch dann noch tragen kann, wenn ich an Umfang zunehme. Im nahezu knöchellangen Rock wiederholte sich die geraffte Stoffbahn, diesmal 40cm breit und ebenfalls weiß eingefasst. Ich fand das Kleid so schön, dass ich sogar den unangenehmen Dreiviertelärmel in Kauf nahm. Gerda bezahlte kopfschüttelnd, und ich freute mich, das schönste Kleid, welches nach meinem Geschmack im Angebot war, an meinem Festtag zu tragen.
Zur Jugendweihe war auch die Parallelklasse anwesend. In dem von mir ausgesuchten Kleid erschienen insgesamt zehn Mädchen. Als ich auf der Bühne stand, hatten noch drei andere Mädchen "mein" Kleid an. Ich fand das so lächerlich, dass ich, anstatt mich bei der Gratulation zu verneigen, wie ich es mir fest vorgenommen hatte, einen Knicks machte. Aber ich war auch glücklich darüber, dass so viele Mädchen "mein" Kleid trugen, diese Tatsache zeigte mir, dass ich doch nicht so viel anders war als die anderen.
Ich trug dieses Kleid dann doch noch öfter, denn ich ging tatsächlich ins Theater. Und als es mir zu eng geworden war, trennte ich das Oberteil ab, trennte eine Seitennaht auf, nähte den Halsausschnitt mitsamt dem gekräuselten Stoffteil auf die Gürtellinie und hatte nun einen "Musketier-Mantel". Leider besuchte ich nur ein einziges mal ein Faschingsfest. So blieb mein Jugendweihekleid mir nicht nur Erinnerung an einen Höhepunkt in meinem Leben, sondern auch Gegenstand meiner Phantastereien.
Um 1973 aber trennte ich mich von diesem Gewand und gab es zum Altstoffhandel nebst anderen Kleidern, die mir und meinen Kindern nicht mehr passten. Ich hatte nun drei Kinder zu ernähren und brauchte jeden Pfennig. Ich hätte gern die Erstausstattung meiner Tochter aufbewahrt, aber ich reichte sie an die Tochter meines Bruders Paul weiter, weil er und seine Frau ja auch nicht über Reichtümer verfügten.
Als Waltraud und Doris Teenager waren, glaubte eine jede von ihnen, im Kleid der Freundin besser auszusehen. So tauschten die Mädchen auf der Treppe ihre Kleidung. Wenn Ida das bemerkte, dann schimpfte sie: "Ihr sollt nich imma kommune draren! Die Dooriß wird dir noch n Loch oda n Fleck in deine schöhn Kleida machn!" Irgendwann geschah das tatsächlich, und die Tauscherei hatte ein Ende.
Als Doris sechzehn Jahre alt war, hatte sie einen Verehrer, der viel Taschengeld hatte. Er kaufte der Doris alles, was sie wollte, und Doris schraubte ihre Ansprüche immer höher. Dann lernte sie einen anderen Jungen kennen, und Waltraud fragte: "Wat machste denn nu jetz mit N.?" Doris antwortete: "Von dem lass ick mir jetz noch det schöne Kleid koofen, weeßte, det, wat wa vorje Woche im Schaufensta jesehn ham, un denn schieb ick n ab." Sie bekam nicht das Kleid, sondern ein blaues Auge, denn er hatte sie mit dem anderen gesehen.
Von Kollegen und Bekannten wurde mir oft geraten, mich “sportlich” zu kleiden. Da ich absolut kein sportlicher Typ bin, erschien mir das als eine Aufforderung, zu lügen, und ich befolgte den guten Rat nicht.
Nach der Wende bekam ich maßgeschneiderte Dienstkleidung. Der Schneider stellte fest, dass meine Arme zehn Zentimeter zu kurz sind. Endlich wusste ich, warum mir langärmelige Konfektion so schlecht passte, und auch, weshalb mir viele Verrichtungen schwerer fielen als den meisten Menschen. Die mir so schlecht passenden Winterkleider wurden von Gerda und Grete L. seinerzeit als "DDR-Schundproduktion" bezeichnet. Ausnahmsweise waren sie mal nicht der Meinung, dass es mein Fehler sein könnte!
Nur ein einziges mal kaufte ich mir ein Kleid, in welchem ich jemandem gefallen wollte. Da war ich siebzehn. Und er fand das Kleid völlig geschmacklos . . .
Dabei war es mit so hübschen Blumen bedruckt!
Mein Spielzeug
Als ich noch sehr klein war, besaß ich eine große Menge von kleinem Spielzeug. Ich erinnere mich daran, dass ich gelangweilt am Daumen lutschend auf dem Küchenfußboden inmitten meines gesamten Spielzeugs lag und nicht mehr wusste, wonach ich jetzt wohl noch greifen sollte. Da erstand mein gesamter Bauernhof (er war aus Presspappe, bunt bemalt und lackiert, jedes Tier und jeder Baum oder Zaun festgemacht auf Pappe), Kuh an Kuh, Pferd an Pferd, Schwein an Schwein, vor meinem inneren Auge an der Decke der Küche, und ich begann mit ihnen ein Gespräch, d.h. ich resümierte die Gespräche der Erwachsenen: "Ach, hallo, Frau Dings, ist ihr Mann endlich aus der Kriegsgefangenschaft gekommen? Wie schön für Sie und ihre Kinder! Ich gratuliere Ihnen!" - "Guten Tag, Frau Dings, ja, es ist schrecklich in dieser Zeit! Nichts, buchstäblich nichts bekommt man für sein gutes Geld! Man kann sich anstellen wie man will, es ist alles nur zum Argen, nur zum Argen, Frau Dings, ja, dann bis auf Weiteres, Frau Dings, bis auf Weiteres!" Ich hörte derartige Gespräche so oft, dass ich mir die Namen der Ansprechpartner nicht merken konnte. Aus der Auswechselbarkeit der Namen hatte ich ersehen, dass es der Ida nicht allzu ernst war mit ihren Bemerkungen. Aber ich setzte ihre Dialoge fort: "Jetzt, wo der Herr des Hauses wieder da ist, wird Wohlstand einziehen. Die Kinder werden nicht mehr nach Brot und Liebe schreien, das wird alles da sein mit der Rückkunft des Hausherrn. Der Krieg ist zu Ende, alle trachten nach Harmonie und Wohlstand, auch der Heimkehrer, der vor allen Dingen." Onkel Bruno war so ein Heimkehrer, auf ihn setzte ich all meine Hoffnungen in Bezug auf Harmonie, ich glaubte allen Ernstes, dass er mein Leben zum Besseren wenden könnte.
Ich hatte wirklich viel Spielzeug, viele kleine Dinge; Ida war der Meinung, dass kleine Kinder auch nur kleines Spielzeug haben müssen. Da waren Bilderbücher aus Pappe, besagter Bauernhof mit Häusern, Zäunen und allem, was sonst noch zu einem Dorf gehört. Auch alle Tiere, die man auf einem Bauernhof hält, waren vertreten. Diese Teile waren zwischen einem und zehn Zentimetern groß. Durch unsachgemäße Lagerung gingen sie der Reihe nach entzwei, worüber ich sehr traurig war, denn ich spielte sehr gern mit ihnen. Manchmal reparierte Irma mir die zerbrochenen Teile.
Zu meinem Spielzeug gehörte auch eine Unzahl von Spielkarten aller Art und Größe, u.a. zwei komplette Skatblätter, ein deutsches und ein französisches. Ich gab den Buben, Damen und Königen Namen und ließ sie sich miteinander unterhalten. Die Asse waren Generale, die Luschen waren Bauern und Soldaten. Ich dachte mir viele Geschichten aus, die ich mit den Karten nachspielte. Dennoch gab ich ohne zu murren die Skatblätter ab, als zuerst Alfred und dann auch Herr L. mich darum baten. Alfred benötigte die Karten zum Spielen, Walter L. hoffte auf einen Nebenverdienst.
Des weiteren besaß ich sehr viele glitzernde Perlen, aus denen ich Ketten zusammenlegte. Ida gab mir keinen Faden zum Auffädeln, das hielt sie für Verschwendung. Auch legte ich die Perlen zu hübschen Mustern auf einem unserer Stubenstühle aus. Dieser Stuhl hatte nämlich eine aus dünnem Rohr geflochtene Sitzfläche, wobei sich ein symmetrisches Lochmuster ergab. Ida betrachtete meine Werke mit verächtlichem Kopfschütteln. In ihren Augen war das kein Spiel, sondern der pure Blödsinn. Als meine Tochter später ganz von allein ebenfalls ihre Murmeln auf einem Stuhl zu bunten Mustern auslegte, dachte ich voller Glück: "Also war ich DOCH ein ganz normales Kind!"
Unter meinem Spielzeug befanden sich auch viele aus Illustrierten ausgeschnittene Damen und Herren und Kinder und Häuser und Autos. Logischerweise waren sie bald arg zerknittert, was mich aber nicht im Geringsten störte. Ich spielte immer wieder gern mit ihnen, indem ich ihnen diverse Dialoge unterlegte.
Auch einen Pferdewagen besaß ich, ein etwa 15cm langes Gefährt aus dünnem Holz, wo man zwei kleine Pferdchen anschirren konnte. Das Zaumzeug war sehr fein, und ich musste gut aufpassen, dass es sich nicht verhedderte. Das geschah jedoch immer wieder, so wurde der Pferdewagen samt allem Zubehör in den Ofen gesteckt.
Ich hatte noch anderes Spielzeug auf Rädern - ein Entenpärchen, das beim Fahren abwechselnd mit dem Kopf nickte. Aber da war ich schon zu alt, um diesen "Nachläufer" als Spielgefährten zu akzeptieren.
Ein weiteres geliebtes Spielzeug war ein aus sehr dünnem, buntem Papier zusammengeklebter Fächer, bestehend aus drei unterschiedlich breiten, girlandenförmigen Teilen. Sie waren zwischen zwei feste Pappen geklebt, und wenn man diese Pappen gegeneinander legte, dann verdrehte sich der Fächer zu farbenfrohen Ornamenten.
Fast ebensoviel Spaß hatte ich an einem etwa 30cm großen Hampelmann. Ich zog ganz vorsichtig an seiner Schnur, ich wollte nicht, dass er die Arme über dem Kopf zusammenschlug, aber Waltraud und die L.-Kinder ließen ihn so arg tanzen, dass seine Schnur riss. Dreimal hat Irma mir die Schnur geflickt, dann wurde der Hampelmann in den Ofen gesteckt. Ein ähnliches Schicksal erlitt der metallene Kletteraffe. Wenn man an seiner Schnur zog, dann kletterte er jeweils etwa 30cm hoch, bis er am oberen Ende der Schnur angekommen war. Ließ man die Schnur los, rutschte er lustig zappelnd zum unteren Ende. Als die Schnur riss, kam er in den Mülleimer.
Diese beiden Spielzeuge waren damals an der Küchenwand befestigt, neben meinem Sitzplatz. Alles andere wurde in einer großen Spielzeugkiste aufbewahrt (ein Persilkarton). Im Winter 1950 beschloss Ida, die Spielzeugkiste abzuschaffen. Sie sagte: "Du kommst jetze bald in ne Schule, da brauchst de det Beebischpielzeuch nich mehr!" Ich freute mich auf die Schule und betrachtete die Vernichtung meines Spielzeugs als ersten Schritt zur Klugheit. Ich hieb selber kräftig mit dem Feuerhaken auf den großen Karton ein, um ihn zu zerstören. Dabei holte ich leider auch einen Kochtopf vom Herd. Ich fürchtete, dass ich Dresche bekommen würde, aber der Kochtopf war leer und er war auch heil geblieben, so lachte Ida nur und schimpfte mich einen entsetzlichen Trampel, eben "janz die Elli".
Für ein paar Monate besaß ich - dreijährig - ein Schaukelpferd. Es machte mir sehr großen Spaß, darauf zu reiten. Es ging mir kaum wild genug, häufig schaukelte ich so heftig, dass das Pferd nahezu senkrecht stand. Ida schimpfte dann mit mir, auch, weil das Pferd bei seinen Bewegungen knarrte. Letztendlich verschenkte sie es an die L.-Kinder, wo ich dann beobachten konnte, dass ihm so nach und nach der Schwanz, die Ohren und das Zaumzeug abgerissen wurde.
Kurzzeitig besaß ich - ebenfalls Dreijährig - auch ein Dreirad. Mein Vater hatte es zum Verschrotten bekommen. Ida sagte: "Dreirad is Jungsschpielzeuch, det brauchst de nich!" und verschenkte es an die L.-Kinder. In Wahrheit stand es ihr im Weg. Unsere Wohnung war nicht so groß, dass man ein Dreirad im Flur zu stehen haben konnte. Ganz anders verhielt es sich mit den Puppenwagen. Die waren zwar größer als das Dreirad, hatten aber bequem Platz im Flur.
Zu jedem Mädchen gehörte nach Idas Meinung ein Puppenwagen. Der eine Wagen war aus Holz und Pappmache zusammengefügt und hatte ein Verdeck aus Wachstuch, welches sich sehr schwer bewegen ließ, man hätte drei Hände gebraucht, um es zusammen- bzw. auseinander zu falten, denn die Falten ergaben sich nicht von selbst, man musste sie mit den Händen formen. Der Wagen war pastellrosa gefärbt und trug weiße Verzierungen. Der andere war ein so genannter "Sportwagen" mit kleiner Rückenlehne und sehr hohem Lenker. Ich weiß nicht mehr genau, welcher davon mir gehörte und welcher Waltraud, das war völlig unwichtig für mich, denn wir tauschten unser Spielzeug nach Bedarf hin und her. Der Sportwagen war genauso schwer wie der andere, ließ sich aber noch viel schwerer lenken, seine Räder waren starr, im Ganzen wirkte der Wagen recht klobig.
Ebenso kurzzeitig wie das Dreirad besaß ich einen kleinen Rummel. Auch ihn hatte mein Vater zum Verschrotten bekommen. Da war eine etwa 20cm große Losbude, ein etwa 50cm hohes Kettenkarussell und eine zweischiffige Luftschaukel, beides der Realität getreu nachgebildet. Nur zweimal durfte ich damit spielen, dann wurde alles an einen mir unbekannten Nachbarsjungen verkauft. Ida stoppte meine Tränen mit einigen Bonbons, die sie - nach ihrer Darstellung - nicht hätte kaufen können, wenn wir den Rummel behalten hätten. Die Bonbons haben mir nicht geschmeckt. Ich hätte lieber mit dem Rummel gespielt. Aber ich war ja nur ein Kind und hatte zu gehorchen.
Ein weiteres Spielzeug, mit dem ich nur ein einziges mal und unter strenger Aufsicht spielen durfte, war ein Puppenkochherd. Man konnte ihn mit Petroleum oder mit kleinen Kerzen betreiben. Da ich nicht alleine mit dem Herd spielen durfte (Messer, Gabel, Schere, Licht dürfen kleine Kinder nicht!), verlor ich jegliches Interesse an ihm. Es war mir gleichgültig, als er eines Tages - ich weiß nicht, an wen - verschenkt oder verkauft wurde.
Ebenso wenig kümmerte es mich, dass die kleine Lokomotive - sie war etwa 50cm lang und ebenfalls von meinem Vater als "Müll" mitgebracht worden - nur einen Tag lang in meinem Besitz war. Sie hatte einen naturgetreu nachgebildeten Antriebsmotor, konnte also wie eine richtige Dampflok fahren, benötigte dazu aber keine Schienen. Sie konnte sogar wie eine Dampflok pfeifen, wie Walter L. uns begeistert demonstrierte. Sie wurde auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ich war stolz, durch den Verzicht auf Spielzeug zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen zu haben, zumal ich mit diesem Jungsspielzeug "naturgemäß" ohnehin nicht RICHTIG hätte spielen können.
Bei all diesem Metallspielzeug sagte Ida: "Wat der Otto det allet hier herschleppt! Warum jibt er det denn nich seine Söhne? Naja, der Manfred und der Paul sin ja noch dußlicha als die Christa . . ."
Als ich im Winter 48 mit einer leichten Lungenentzündung tagelang das Bett hüten musste, bettelte ich mit aller Inbrunst um Bausteine. Ida tobte: "Det is Jungsschpielzeuch! Wat willst DU damit?!" Aber ich weinte und bat, bis sie sich erweichen ließ. Sie brachte mir einen Kasten mit bedruckten Würfeln mit, aus denen sich Märchenbilder zusammensetzen ließen. Zuerst plärrte ich in großer Enttäuschung, dass das keine Bausteine seien, dann machte Irma mir die hübschen Märchenbilder schmackhaft und sagte abschließend: "Wenn de die Bilda nachher üba hast, kannste imma noch Türme aus die Steine baun!"
Ich setzte also die Märchenbilder zusammen und hatte sogar viel Freude daran. Ich war beschäftigt und musste nicht mehr Daumen lutschend an die Zimmerdecke starren. Als Waltraud aus der Schule kam, beschäftigte sie sich fünf Minuten mit dem Mosaik und sagte dann: "Mensch, is det piepeleinfach! Kiek ma, wenn de die Reihe umdrehst, denn haste schon den Anfang von t neechste Bild, un denn drehste die neechste Reihe um un imma so weita, denn is det Bild fertich! Un wenn de die lange Reihe nimmst, denn brauchste die ooch bloß umzudrehn, un schon fängt det neechste Bild an!" Nun brauchte ich nicht mehr nach den passenden Steinen zu suchen, ich brauchte nur noch die Steine reihenweise umzudrehen. Was mich den ganzen Vormittag erfreut hatte, langweilte mich jetzt schon nach fünf Minuten. Nun baute ich Türme aus den Würfeln.
Zu Weihnachten bekam ich einen richtigen Baukasten. Ein sauber gearbeitetes kleines Kästchen mit Schiebedeckel, in welchem etwa 50 zierliche Holzbausteine verstaut waren. Da gab es rot bzw. grün gemusterte Ziersteine, größere und kleinere Dreiecksteine für Ziergiebel, Fenster mit roten Kunststoffscheiben und sogar vier gedrechselte Säulen von paarweise unterschiedlicher Größe. Natürlich gab es auch unterschiedlich lange einfache Vierkantsteine, aber aus alledem ließen sich zwar fantastische Schlossfronten errichten, doch keine Häuser. Dennoch spielte ich fast täglich mit den Bausteinen, bis sie im nächsten Winter den üblichen Weg all meines Spielzeugs nahmen.
Irgendwoher bekam ich einen Kaufmannsladen. Die Verkaufstheke reichte mir bis an die Brust. Sie hatte vorn und hinten viele Fächer, wo man das Verkaufsgut lagern konnte. Zu diesem Kaufmannsladen gehörten allerlei Nachbildungen von Lebensmitteln, und man konnte auch bereits vorhandenes Spielzeug in die Auslagen tun. Ich dekorierte den Kaufmannsladen, so schön ich konnte, und das war es dann auch schon, denn niemand spielte mit mir. Unberührt lag das Spielgeld in der Ladenkasse. Es war mir streng verboten, fremde Kinder in unsere Wohnung mitzubringen.
Eines Tages klingelte es wiederholt an der Wohnungstür. Ich glaubte, Ida hätte vielleicht den Schlüssel nicht dabei und öffnete die Tür. Da stand eine Frau, von der ich wusste, dass sie meine Mutter war, aber mir war eingeschärft worden, sie wie jede andere Frau "Tante" zu nennen, Tante Elly in diesem Fall.
Ich jubelte: "Tante Elly, schön, det du kommst, Oma is nich da, aba vielleicht spielst de n bisschen mit mir?" Unschlüssig trat meine Mutter ein und wir spielten mit dem Kaufmannsladen. Es wurde einer der schönsten Tage in meinem Leben. Erstmals durfte auch ich meine Spielwünsche äußern! Mama ging auf alles ein und wir amüsierten uns köstlich über die vielen nicht vorhandenen Artikel, die ich an sie verkaufen wollte oder von ihr zu kaufen wünschte. Was für herrliche Ausreden hatte sie parat, um mir zu erklären, dass der geforderte Artikel nicht zu haben war! Z.B. sagte sie: "Der Könich von Latifundien hat wat dajejen, dass in einem Krämerladen Goldbarren verkauft werden!" Ich bat sie inständig, bald wiederzukommen, als sie dann doch gehen musste.
Natürlich erzählte ich Ida von unserem lieben Besuch. Sie tobte: "Wat, du lässt fremde Leute in de Wohnung? Hab ick dir nich dausendmal jesaacht, det de die Düre nich uffzumachn hast, wenn ick nich da bin?"
Zum Weihnachtsfest 1950 hatte Irma mir einen Satz Kasperlepuppen geschenkt. Da war der Kaspar, seine Grete, der Teufel, ein König, eine Prinzessin und ein Prinz. Das Krokodil besaß ich schon länger, Waltraud hatte es oft in der Hand und drohte mir: "Wenn de nich aatich bist, beißt dir det Krokodil die Neese ab!"
Nun konnte ich meine selbst erdachten Märchen mit den Puppen nachspielen. Aber bald war es mir zu mühselig, ständig die Puppen für die einzelnen Rollen mitten im spannendsten Text wechseln zu müssen. Ich sehnte mich nach einem Spielpartner und sprach - da Waltraud nicht greifbar war - als erstes Ida an. Sie lachte mich aus: "Mit so n Blödkram schpiel ick nich!" Dann kam Waltraud vom Weihnachtsurlaub bei ihren Eltern zurück und ich offerierte ihr eine Hauptrolle in meinem Kaspertheater. Sie hörte sich meine Texte an und sagte danach: "Det schdimmt ja allet nich! So wat doowet schpiel ick nich mit dir!" Als ob Märchen je dem wahren Leben entsprochen hätten!
Bei Gerda hatte ich ebenfalls Pech, sie gab vor, keine Zeit zu haben. Nun wandte ich mich nochmals an Ida, bettelte und bat. Sie lief aufgebracht zu Irma: "Du hast die Jöre die blödn Puppn jeschenkt, nu schpiel ooch mit se!" Aber Irma hatte eine Verabredung, die sie nicht verpassen wollte. So wurden die Puppen letztendlich an die "Moabiter" verschenkt.
Zu meinem siebenten Geburtstag schenkte Gerda mir eine Kinder-Post. Ida lachte: "Wat soll denn die blöde Jöre damit?" Gerda meinte: "Na, die jeht doch jetz in ne Schule, da kann se denn denn doch ooch ma Briefe schreim." Ida lachte: "An wem denn?" und verbot mir, irgendwelche Briefe zu schreiben. Das Briefpapier und die Umschläge wurden weiterverschenkt, ebenso Stempel und Stempelkissen. Ich hätte ja Tintenflecke damit machen können, wie Ida fürchtete. Nur die Briefmarken waren mir geblieben. Aus Zorn darüber, dass Ida schon so viel von meinem Spielzeug verschenkt bzw. verkauft hatte, klebte ich die unnützen Briefmarken an unseren Kleiderschrank. Als Ida das ein paar Tage später sah, verpasste sie mir eine saftige Tracht Prügel. Die Marken ließen sich zwar mit Wasser und Seife entfernen, aber es blieben hässliche Flecke zurück. Da bekam ich dann die zweite Tracht Prügel für ein und dieselbe Aufsässigkeit.
Nachdem die Spielzeugkiste verheizt war, besaß ich nur noch die Puppen. Sie saßen tagsüber auf meinem Bett. Die Art, wie Ida mit ihnen umging, gab mir das Gefühl, dass ihr diese Puppen lieber waren als ich, so zärtlich behandelte sie sie. Wenn ich mit den Puppen spielte, überwachte sie mich gewöhnlich streng, damit ihnen ja nichts zustieß.
Da war als erstes die Bettpuppe, ein unaussprechlich hässliches, etwa 30cm langes Monstrum aus Stoff. Sie war dunkelblau gekleidet und hatte Hände und Füße aus rosa Plüsch. Ihr Gesicht war mit bunter Wolle aufgestickt. Ich fand das Ding zum Fürchten, bekam es aber lange Zeit zum Schlafen ins Bett. Wo ich nun nicht mehr so viel ablenkendes Spielzeug hatte, begann ich, dieses verhasste Ding zu zerstören. Unauffällig löste ich Tag für Tag einige Fäden aus dem Gesicht, bis Ida sagte: "Na, die is ja nu so hässlich jewordn, du hast sicha nischt dajejen, wenn ick se in n Ofn stecke." Endlich war ich sie los! Übrigens war dies das einzige mal, dass sie fragte, bevor sie ein Spielzeug verschwinden ließ.
Der bunte Harlekin gefiel mir viel besser. Er hatte ein lustiges Gesicht, war rot-weiß gekleidet und ebenso groß wie die Bettpuppe. Aber nach ein paar Tagen verlor er die Schelle von der Zipfelmütze. Das war für Ida ein Grund, ihn in den Ofen zu stecken. Oder tat sie es, weil er mir von meiner Mutter geschenkt worden war? Ich weiß es nicht.
Dann waren da die Lotte-Puppen. Es waren so genannte Schildkrot-Puppen, aus einem empfindlichen Material gearbeitet. Sie hatten zarte, sehr hübsche Gesichter, ihre Haare waren nur aufgemalt, aber erhaben aus dem selben Material gepresst wie der ganze Puppenkopf. Genau genommen war der Puppenkopf - ebenso wie der Körper und die Extremitäten - nur eine Kunststoffblase. Diese Puppen hatten herrlich blaue Augen, einen hübschen Mund und einen engelsgleichen Gesichtsausdruck. Das waren meine Lieblingspuppen. Zuerst gehörte Waltraud die kleinere der beiden Puppen, weil sie ein klein wenig hübscher war als die größere, vor allem aber hatte sie ein hübscheres Kleid an als die große. Sie nannte ihre Puppe Liese und ich nannte meine Puppe der Moabiter-Tante Lotte zu Ehren Lotte (genau genommen Onkel Bruno zu Ehren, denn Lotte war ja seine Frau). Auf die Namen Liese und Lotte war Waltraud durch das Buch "Das doppelte Lottchen" von Erich Kästner gekommen, wie ich später erfuhr. Ich hatte meine Puppe nach ihrem Willen "Lotte" zu nennen und dachte mir meine eigene Begründung aus.
Nachdem Waltraud und Doris ein Jahr lang mit diesen Puppen gespielt hatten ("Du hast ja noch n pa andre Puppn, Krille, borch uns ma die Lotte-Puppe!"), bekam die kleine Puppe anlässlich eines Streites ein kleines Loch in den Kopf. Es wurde mit einem Pflaster überklebt. Die Puppe war nun nicht mehr so niedlich wie vorher, darum überredete Waltraud mich, die Puppen zu tauschen. Mir war es gleich, ob mir nun die große oder die kleine Puppe gehörte. Die hübschen Kleider waren längst zerschlissen, beide trugen nun das gleiche von Gerda genähte Kleid. Auch das Loch im Kopf machte mir nichts aus. Ich hatte "den Invaliden" (so bezeichnete Waltraud sie) dafür um so lieber. Nun hieß die kleine Puppe Lotte. Waltraud taufte die große um. Ich habe mir den neuen Namen nicht gemerkt. Wieder spielten Waltraud und Doris mit den Puppen, bis auch die große bei einem Streit ein Loch in den Kopf bekam, an der selben Stelle! Es stellte sich heraus, dass die Mädchen sich gegenseitig die Puppen über den Schädel geschlagen hatten, daher die Löcher. Nun gehörten mir beide Puppen, und sie hießen beide Lotte.
Des Weiteren hatte ich eine Puppe mit echten schwarzen Haaren. Sie waren in 20 cm lange Zöpfe geflochten, und es war mir verboten, die Zöpfe zu lösen. Ihre Gelenke waren sehr starr, es kostete einige Kraftanstrengung, sie zu bewegen. Aber sie hatte hübsche braune Schlafaugen. Diese Puppe saß mit ausgestreckten Armen immer nur herum. Zu einem Weihnachtsfest bekam ich ein "Rotkäppchen", damit konnte ich noch weniger anfangen. Das rote Käppchen war auf den superfeinen strohblonden Haaren festgeklebt und löste sich schon nach kurzer Zeit ab, wobei sichtbar wurde, dass nicht der gesamte Puppenkopf mit Haaren bedeckt war. Auch die schwarzen Lackschuhe lösten sich auf, das Körbchen ebenfalls. Aber diese Puppe wurde sonderbarerweise nicht von Ida weggeworfen, ebenso wenig wie die glotzäugige Babypuppe, zu der mir überhaupt keine Spielidee kam. Der Strampelanzug war auf ihrem Körper festgenäht, ebenso die Zipfelmütze auf dem Kopf. So konnte man sie weder an- noch ausziehen, oder Trockenlegen, von waschen oder frisieren ganz zu schweigen. Einzig ihr quäkendes "Mama" war für mich von Bedeutung. Man hatte mich auf "Puppenmutti" getrimmt, und nun hatte ich eine Puppe, die "Mama" zu mir sagte. Doch schon nach kurzer Zeit ertrug man es nicht, dass ich die Puppe „ständig“ plärren ließ. Es war meine einzige Möglichkeit, mit meinem neuen Puppenkind zu spielen, und es wurde mir verboten. So montierte ich die Stimme heraus. Das war natürlich sehr ungezogen von mir, ich hatte die teure Puppe kaputt gemacht. Da sie nun keine Stimme mehr hatte, wurde sie weggeworfen.
Als ich neun Jahre alt war, hatte ich eine sehr hübsche und auch preiswerte Negerpuppe in einem Spielzeugladen gesehen, das war die einzige Puppe, die ich mir jemals wirklich wünschte. Sie sah aus wie ein ganz normales einjähriges Kind und war auch so gekleidet. Ich hätte mir denken können, dass ich sie nicht bekommen würde. Ich bekam stattdessen eine lediglich mit einer grellroten kurzen Hose bekleideten Negerpuppe aus Stoff, ein hässliches Ding mit breitem rotem Mund, riesigen Händen, schwarzen, krausen, strohigen Haaren und angeklebten großen goldenen Papp-Ohrringen.
Na, das war ein Weihnachten! Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten und wurde wieder einmal für äußerst undankbar gehalten, weil ich es wagte, zu sagen, dass die Puppe nicht meinen Erwartungen entsprach. Da hatte man mir nun schon eine Negerpuppe geschenkt - "Wie kann man sich nur eine Negerpuppe zu Weihnachten wünschen!" - und es war obendrein nicht die Rechte!
Da ich nur die Puppen zum Spielen hatte, musste ich mir auch einfallen lassen, was ich denn überhaupt mit ihnen spielen konnte. An- und ausziehen durfte ich sie nicht, geschweige denn waschen oder kämmen. Also setzte ich sie eines Tages hoch oben auf die Schränke. Ida kam ins Zimmer und fragte erschrocken: "Wat machn denn die Puppn da uff n Schrank?" Ich antwortete wahrheitsgemäß: "Die machn ne Feerjenreise int Jebirje." Kopfschüttelnd meinte sie: "Du hast aba ooch wirklich nur Blödsinn im Kopp! Je älta det du wirst, desto dußlicha wirste!"
Dann kam die Zeit der Anzieh-Puppen. Sie waren aus sehr dünnem Karton geschnitten, und zu jeder gehörten mehrere unterschiedliche Kleidungsstücke aus demselben Material. Man konnte die Puppen je nach Geschmack und Laune einkleiden. Waltraud und Doris bastelten ihnen zu meinem großen Vergnügen noch zusätzliche Kleider und andere Assessoirs aus Papier, um noch weitere, nicht vorgegebene Situationen nachempfinden zu können. Auch diese Puppen überließ ich auf Verlangen der Doris. Glücklicherweise machte sie sich nicht allzu viel aus diesem Spiel, so blieben meine Puppen heil und Waltraud schenkte mir obendrein auch noch die ihrigen. Bis zur nächsten Heizperiode konnte ich mich ungestört an ihnen erfreuen. Ging etwas an ihnen entzwei (was ja bei so dünnem Karton sehr leicht geschehen konnte), bat ich Irma, es mir zu flicken, denn nur sie besaß Klebstoff.
Von meinem zehnten Geburtstag an wünschte ich mir nur noch Bücher zu Weihnachten und zum Geburtstag und bekam auch welche. Anfangs so genannte "Mädchenbücher", deren Titel ich heute nicht mehr weiß und deren Inhalte mich nicht fesselten, dann aber auch "Die Kinder des Kapitän Grant" von Jules Verne und eine von Afrika handelnde Reisebeschreibung von Hans Schomburgk. Die "Mädchenbücher" benutzte ich als Pressmaterial für Trockenblumen.
Einiges von Waltrauds Spielzeug war bei Ida geblieben, als sie - inzwischen dreizehnjährig - endlich wieder bei ihrer Mutter leben durfte. So z.B. ein Spielemagazin, bestehend aus Dame, Mühle, Halma und Puff. Letzteres hatte sie oft und gern mit Doris gespielt. Aber Dame und Mühle hat Waltraud oft mit mir gespielt. Wenn sie gewann, lachte sie mich aus: "Hast valoorn, Valiiiera! Valiiiera!", bis ich weinte. Dann warf sie mir vor, ein schlechter Verlierer zu sein. Entgegnete ich: "Un du bist n olla Schdenka!", wies sie mich zurecht: "Zieh nich imma von dir uff andre!"
Ich war mir zwar keiner Schuld bewusst und habe auch nie einen Spielgefährten zum Weinen gebracht, aber durch ihre Zurechtweisung - wenn auch ungerechtfertigt - lernte ich, für andere mitzudenken. Da ich allerorts abgelehnt wurde, wusste ich, dass ich anders bin als andere, und versuchte, mich nicht nur anzupassen, sondern auch die Handlungen der anderen voraus zu sehen (was mir häufig nur schlecht gelang).
Nun waren diese Spiele mein, und ich spielte stundenlang mit wachsender Begeisterung Halma zu sechst mit mir alleine. Ich ordnete die einzelnen Farben nicht existierenden Personen zu. Der blaue war der Unglücksrabe, ich sorgte dafür, dass er fast immer verlor. Er war ich.
Kam Onkel Erich im Winter zu Besuch, brachte er sein Schachspiel mit. Ich hatte größtes Vergnügen an diesem Spiel. Irma besaß auch ein Schachspiel, so forderte ich sie einmal zu einer Partie heraus. Sie fragte mitleidig: "Und wenn de valierst?" Sie hatte oft genug meine Streitereien mit Waltraud durch die Wand hindurch angehört. Ich versicherte: "Beim Schach jibt et keene Valiera. Wenn die Partie zu Ende is, hahm beede Spiela wat jelernt, un von dir kann ick janz beschdimmt ne Menge lern!"
Nun setzten wir uns an das Brett, und Irma freute sich, dass ich schon mehrere Eröffnungen kannte und auch das Schäfer-Matt beherrschte. Dennoch gewann sie jede Partie, sie war entschieden der stärkere Spieler. Nun wusste wenigstens sie, dass ich es durchaus ertragen konnte, ein Spiel zu verlieren und dass Waltraud mich absichtlich zum Weinen brachte.
Zum nächsten Weihnachten schenkte Irma mir ein eigenes Schachspiel. Jetzt konnte ich auch mit meinem großen Bruder Schach spielen, wenn er mich besuchen kam. Er gab anfangs die Dame vor, wenn wir ein Spiel begannen, damit ich eine Chance hatte, zu siegen. Ich hatte nie zuvor und niemals wieder einen so geduldigen, liebenswerten, humorvollen und freundlichen Spielgefährten wie meinen Bruder Manfred.
Manchmal spielte ich mit den Figuren auch ohne Brett. Dann dachte ich mir Geschichten aus, gab den Figuren Namen wie seinerzeit den Spielkarten und spielte Bauernkrieg und anderes.
Als ich dreizehn Jahre alt war, fühlte ich mich oft sehr einsam und verlassen. Da nahm ich - zu Idas großem Gelächter - manchmal die kleine Lotte-Puppe mit ins Bett. Ich rieb ihr den Saft aus meiner Scheide zwischen die Beine und stellte mir vor, sie würde dadurch ein richtiges kleines Mädchen werden, an dem ich dann den Leuten in meiner nächsten Umgebung demonstrieren könnte, wie man mit einem Kind umgeht. Eines Nachts hatte ich mich im Schlaf auf sie gelegt und sie dabei zerdrückt. Das tat mir sehr leid, und ich nahm nie wieder eine Puppe mit ins Bett. Puppen sind ohnehin hartkantig.
Ida kannte den Begriff "Kuscheltier" noch nicht, er erstand erst viele Jahre nach ihrem Tod. Zu ihrer Zeit hieß das noch "Bettpuppe" für Mädchen und "Teddy" für Jungs. Es war mein Fehler, dass ich mich vor der Bettpuppe fürchtete und sie überhaupt nicht kuschelig fand.
Außerdem ist eine Puppe kein Ersatz für mütterliche Fürsorge. Ida gab mir eine Puppe und nahm mir die Mutter. Sie war ja so stark! Was hatte sie nicht alles vollbracht! Sie hatte Bruno aufgezogen, Gerda vom nahen Tode befreit, Irma aus dem Waisenhaus erlöst . . . Das erkenne ich alles an. Aber an mir hat sie gesündigt!