Helene Persak
Mitglied
Mein Schlafraum?, erkennt sie nach wenigen Schritten, wohin ihr Weg sie führt. So selbstverständlich, als wäre es der seine, öffnet ein Wächter die Tür und tritt hinein.
Gabrialla stockt, Warum bringen sie mich in meinen Schlafraum?
Ein Schups und weiter geht es auch für sie in den Raum hinein. Durch die Dunkelheit, welche nur von einzelnen Kerzen notdürftig erhellt wird, folgt sie dem Wächter.
Warum wissen sie, wo ich schlafe?, fragt sie sich.
Wächter. Ein Stoß, zwischen ihre Schulterblätter und schon kniet sie halb auf ihrem Bett.
Aber, warum wissen sie, wo ich schlafe?, schreit sie in den Nebel, doch dieser bleibt stumm.
„Wähle.“
Wähle? Was? Wer mir mein Leben nehmen darf?
„Wwwas“, stottert sie. Hält inne und beginnt erneut. „Was wollt ihr von mir?“
„Wähle.“ Etwas fliegt aus dem Dunkel auf sie zu. Reflexhaft hebt sie ihre Arme zum Schutz und fällt zurück.
Eine Kerze entflammt neben ihr. Auf ihrem Schränkchen, das alles enthält, was nur ihr gehört.
Zwei Wächter sind zu sehen. Sie und die Dunkelheit um sie herum.
Nur zwei. Wenn die anderen draußen sind, könnte ich es wagen. Vorsichtig spannt sie ihre Muskeln an, wobei sie darauf bedacht ist, sich verängstigt umzusehen. Vier habe ich vorhin zu fall gebracht. Wenn ich es jetzt geschickt anstelle ...
„Das solltest du sein lassen.“ Verärgert schnellt ihr Blick zu dem Wächter, den sie nun als jenen, vom Podest erkennt. „Ein Versuch und du wirst verschnürt.“
Das ist nicht unser Ziel? Es geht weiter? Ich werde eine weitere Gelegenheit bekommen.
„Was soll ich wählen? Wer von euch mein Leben nehmen darf?“, provoziert sie ihn, in der Hoffnung mehr zu erfahren.
Statt einer Antwort, deutet er auf sie.
Nicht auf mich, auf das Ding, das geworfen wurde. Tastend lässt sie ihre Finger gleiten, findet etwas weiches und hebt es ins Licht. Eine Tasche?, ist es, was auf ihr gelandet ist. Verwundert sieht sie zum Wächter hinauf. Ein Nicken zu ihrem Schränkchen, löst das Rätzel.
Ich darf Erinnerungsstücke mitnehmen? Aber, .... überdenkt sie verwirrt, ... wenn mein Leben beendet ist, warum?
„Nicht Trödeln. Deine Zeit verrinnt.“
Eilig lässt sie sich zu Boden sinken und öffnet das Schränkchen.
Das Bändchen, das mir Michelle in unserem ersten Zyklus geschenkt hat. Sie war schon immer begabt im Basteln. Traurig, ob der Erinnerungen, die damit verbunden sind, streicht sie darüber, bevor sie es in die Tasche legt. Und hier, sie ergreift ein Blatt, das zerknittert und verdreckt zwischen den Dingen liegt, das Bild von Sven. Er hat es mir gemalt, als ich so lange krank hier unten gelegen bin und nicht raus durfte. Feuchtigkeit sammelt sich in ihren Augen, Ich werde sie nie wider sehen.
„Nicht trödeln“, erklingt es barsch hinter ihr und erinnert sie an ihre verrinnende Zeit. Vorsichtig faltet sie das Blatt zusammen und legt es in die Tasche.
Der Beutel ist schon fast voll. Eine Sache vielleicht noch, mehr passt nicht hinein.
Die Spange! Suchend gleiten ihre Finger durch den Schrank. Sie ist schon lange kaputt, doch sie wird mich immer an Marie erinnern. Wo ist sie nur? Hektisch nimmt sie nach und nach alles aus ihrem Schrank und verteilt es auf ihrem Bett. Hab sie. Eilig wird auch diese verstaut und der Sack verschwindet.
Was...?
„Gehen wir.“ Schwer legt sich erneut eine Hand auf ihre Schulter und hält sie fest.
Ich kann die Dinge nicht so liegen lassen.
„Nein.“
„Los, die Seile.“
„Nein.“ Gabrialla reist sich los und dreht sich um. „Ich kann diese Dinge nicht so zurücklassen. Lasst sie mich wenigstens verteilen.
„Grr“, erklingt es grollend vom Wächter und wird vom Nebel in ihr reflektiert.
„Beeil dich.“grollt er und zeigt das erste Mal eine Gefühlsregung.
Überrascht von dem Zugeständnis, dreht sie sich Hecktisch herum.
Sobald sie ihre restlichen Dinge, in drei Haufen geteilt hat. Erhebt sie sich unglaublich erschöpft.
Das war es nun. Das ist es, was von meinem Leben hier übrig bleibt.
„Jetzt aber los“, erklingt es ungeduldig hinter ihr.
„Ich muss die Dinge noch verteilen, oder?“, erwidert sie schnippisch und zuckt innerlich zusammen. Was? Das wollte ich nicht. „Ich. Ich meine, wenn ich sie nicht verteile, woher sollen sie wissen, wem ich was gebe?“
„Beeil dich“, knurrt der Podestwächter und lässt ihren Ausfall unkommentiert.
Zu überrascht davon, verharrt sie noch einen Herzschlag, bevor sie sich umdreht und ans Verteilen macht. Die Dinge für Michelle und Marie sind schnell auf deren Betten gebracht. Nur für Sven muss sie ein Zettel suchen und hektisch, mit zitternden Fingern, seinen Namen darauf notieren.
„Jetzt reicht es aber“, erklingt es hinter ihr, sobald sie den Stift abgelegt hat. Grob krallen sich Finger in ihre Schultern und zerren sie auf.
Es ist wohl Zeit zu gehen.
Ihr Weg führt sie zurück zu der Treppe.
Oben angekommen, zögert Gabrialla. Zu verlockend ist es, einfach wegzulaufen.
Ich kenne mich hier aus. Sicher würde ich ein Versteck, ein Weg finden, der mich in Sicherheit bringt. Doch, was ist mit den anderen? Laufe ich in die Kuppel, sind sie in Gefahr. Gabrialla riskiert einen Blick zur Kuppel, doch mehr als ein Stück des Ringes, kann sie nicht sehen. Laufe ich zur kleinen Tür hier, bremst sie mich. Ein Schups und sie setzt sich erneut in Bewegung. Nicht zur Kuppel, sondern zu der Tür, die sie, zwischen Treppe und ihrem Lehrraum gelegen, auf die Freifläche führt. Doch etwas stoppt sie.
Es ist so Dunkel. Der Mond muss noch hell scheinen, der volle Mond ist noch nicht weit dahin. Warum ist es so dunkel?
Ein weiterer Schups befördert sie schnell nach draußen und in die Dunkelheit.
Das ist es also. Das letzte Mal, das ich den Weg gehe. Doch, schluchzt sie, nicht auf dem Weg zu meiner Ernennung, sondern zu meinem Ende.
Die Kuppel hinter ihr, erhellt durch so viele Kerzen, spendet genug Licht, um alles zu erkennen.
Quer über die Grünfläche führt sie ihr Weg zu dem einen, der sie immer zu den Gärten geführt hat.
Flüssigkeit sammelt sich in ihren Augen, als sie in die Dunkelheit der Bäume eintaucht.
Lebt wohl meine Freunde. Ich wünsche euch ein langes Leben.
Weiter geht es, ein Stück nur neben der großen Fläche entlang, um dann zwischen den Gebäuden der Fertigung zu verschwinden.
Ich habe schon öfter darüber nachgedacht, dem allen hier zu entfliehen. Habe überlegt, wie ich am besten entkommen kann, ohne dass mich jemand sieht. Ohne das mich ein Wächter oder Jäger fasst. Warum es nicht jetzt wagen?
Ob ich nun mitgehe oder flüchte, es gibt keinen Unterschied.
Wie als Zeichen erhellt sich die Umgebung. Klar im kalten Schein des Mondes zeichnen sich die Gebäude um sie ab. Verschwinden Wege zwischen ihnen in die Dunkelheit.
Jetzt muss es sein. Als eine schmale Abzweigung kommt, macht Gabrialla einen Schritt zur Seite und dreht sich gleichzeitig von dem alten Weg weg.
Sie wartet nicht auf die Reaktion der Wächter, sondern fängt an zu rennen. Schon wenige Schritte später hört sie die Schritte der Wächter hinter sich. Sofort sucht sie nach verborgenen Kräften, sammelt sie und beschleunigt ihr Tempo.
Bald beginnt ihr Puls zu hämmern und ihr Herz droht zu zerspringen. Doch Gabrialla versucht, noch mehr Tempo zu bekommen.
Ich kenn mich hier aus. Ich weiß, wohin ich will. Hallen die Worte durch ihren Kopf. Sollen ihr Kraft und Mut geben für ihre Flucht.
Schneller immer schneller hasten ihre Füße über den Weg, tragen sie um Kurven und um Ecken. Gabrialla meint, die Wärme eines andern hinter sich zu fühlen. Sie dreht ihren Kopf, um hinter sich zu sehen, und ist überrascht, niemanden zu sehen. Doch dann entdeckt sie die Quelle. Die Wächter sind ihr nahe. Zu nahe. Gleich werden sie Gabrialla erreichen.
Trotz ihres Gefühles keinen Sauerstoff mehr zu bekommen versucht sie, ihre Geschwindigkeit zu steigern. Doch gelingt es nicht.
Noch einmal kann sie um eine Ecke biegen, dann erreicht sie der erste Wächter.
Seine Hand legt sich schwer auf ihre Schulter und versucht sie festzuhalten. Gabrialla stockt kurz. Ein Bein auf den Boden tritt sie mit dem anderen nach hinten aus und erwischt ihn.
Erfreut bemerkt sie, dass der Wächter zu Boden geht und schöpft neue Kraft.
Nur noch wenige Schritte. Gleich habe ich die Tür erreicht. Mit letzter Kraft, steigert sie wider ihr Tempo.
Die Tür ist jägersicher, dann muss sie auch wächtersicher sein. Sie werden sie nicht aufbekommen. Ich muss nur das Haus durchqueren, um es auf der anderen Seite zu verlassen. Dadurch werde ich meinen Vorsprung noch vergrößern.
Da sieht sie die Tür, sie ist so nahe. Gabrialla blickt noch einmal zurück und ihr Herz macht einen Sprung. Die Wächter sind ihr nicht näher gekommen.
Eilig läuft sie um die nächste Ecke erreicht die Tür und schlägt sie hinter sich zu.
Das Schloss rastet geräuschvoll ein. Gerade noch. Nur einen Herzschlag später hört sie, wie etwas gegen die Tür donnert. Doch sie nimmt sich keine Zeit.
Gabrialla hastet weiter.
Läuft durch den Raum und den dahinter, nur um am anderen Ende des Hauses wieder auf einen Weg zu kommen und ihre Flucht fort zu setzten. Gabrialla spürt kaum, wie ihre Beine zittern. Sie treibt sich voran, weiter immer weiter. Immer weiter der Freiheit entgegen.
Doch dann endet ihre Flucht.
Eine Ecke nur trennt sie von der Freiheit. Die letzte der Fertigung und die letzte ihrer Flucht.
Denn hinter dieser Ecke erwartet sie eine Gruppe von Wächtern und zwingt sie sich zurückzuziehen.
Woher kommen die den jetzt? Das kann doch nicht wahr sein.
Mit rasselndem Atem schiebt sie sich vorsichtig nach vorne und wagt einen weiteren Blick.
Sie haben mich nicht gesehen. Erleichtert wagt sie aufzuatmen.
Was mach ich jetzt? Vor mir Wächter und hinter mir Wächter. Damit habe ich nicht gerechnet! Schnell dreht sie sich um, hastet zurück und blickt um die vorherige Ecke.
Hier sind sie noch nicht zu sehen.
Hektisch, aber darauf bedacht leise zu sein, läuft sie zurück zur letzten Ecke.
Sind das die Gleichen wie vor der Lehranstalt? Ich weiß es nicht. Frustriert schlägt sie ihre Hand gegen die Stirn. Warum habe ich sie mir nicht besser angesehen? Dann wüsste ich jetzt, wie viele mich jagen. Was mach ich jetzt? In dem Versuch, sich zu beruhigen zwingt sich Gabrialla, mehrmals tief ein und aus zu atmen. Hektik hilft mir jetzt nicht. Ich muss klar nachdenken. Welchen Ausweg habe ich? Forschend lässt sie ihren Blick und ihre Finger über sich gleiten, doch sie findet nichts Hilfreiches.
Wo ist dieser seltsame Nebel, diese Stimme, wenn ich sie brauche? Enttäuscht lässt sie ihre Schultern hängen, doch dann fällt ihr etwas ein.
Schnell hat sie einen passenden Stein gefunden und blickt um die Ecke.
Die Wächter sind noch da. Gut, ich hoffe, es funktioniert.
Zwei Mal atmet sie tief ein, sammelt sich, bevor sie den Stein wirft. Angespannt beobachtet sie seinen Flug über die Häuser hinter ihr.
Weiter. Noch etwas weiter.
Sobald er ihrem Blick entschwunden ist, dreht sie sich um und sucht die Wächter auf der Grünfläche.
Wie zuvor stehen sie dort. Bewegungslos, wie Statuen.
Es hat nicht funktioniert, bemerkt sie enttäuscht.
Dann sehen sie zur Seite, sprechen miteinander und laufen weg.
Gut, es hat doch funktioniert, jauchzt sie. Jetzt aber los. Gabrialla tastet sich an der Hauswand entlang, bis sie an der Ecke angekommen ist, an der sie verschwunden sind. Ein Blick zeigt ihr, dass die Wächter einige Schritte dahinter stehen.
Was tun sie da?
Warten ist gefährlich. Ich muss los.
Gabrialla weicht zurück, holt noch einmal Atem, stößt sich von der Hauswand ab und läuft los.
Sie bekommt nicht genau mit, wann die Wächter sie bemerkt haben, doch schon bald hört sie ihre Schritte hinter sich. Laute Rufe ertönen um sie und schon wenige Schritte später greifen mehrere Hände nach ihr.
„Stopp. Das ist weit genug.“ Es ist nicht die Stimme des Podestwächters, doch auch sie ist tief und verlangt nach gehorsam. Gehorsam den Gabrialla nicht geben will. Sie will frei sein und ist bereit dafür zu kämpfen.
Noch nie hat sie richtig gekämpft.
Streitereien unter den Lehrlingen wurden sofort von den Erziehern und Lehrern vernichtet. Wie viele Gespräche sie deswegen gehabt hat. Immer wenn sie jemanden falsch angesehen oder nur ein falsches Wort gesagt hat. Doch nicht jetzt. Jetzt muss sie Kämpfen.
Ihr Fuß trifft jemand hinter sich ihre Hand jemanden anderen. Jemand greift nach ihr, doch sie währt die Hand ab, schlägt sie auf die Seite und greift nach dem Arm um den anderen nach unten zu ziehen. Plötzlich umfangen sie Arme und heben sie nach oben.
Gabrialla tritt und trifft, doch die Arme lösen sich nicht. Ein Grollen ist alles, was kommt, dann greifen weitere Arme nach ihren Beinen.
„Aufhören.“ Etwas trifft ihre Wange und lässt ihren Kopf auf die Seite schnellen. „Aufhören habe ich gesagt. Wenn du nicht gleich aufhörst, werde ich dich bewusstlos schlagen müssen.“ Noch einmal versucht Gabrialla, sich zu befreien, doch dann sackt sie zusammen.
Wütend sieht sie den Podestwächter an, doch er erwidert ihren Blick kühl.
„So ist es besser. Wenn du dich fügst, darfst du laufen. Ansonsten werden wir dich doch noch verschnüren und tragen. Wie ist deine Wahl?“
Schon wieder diese Drohung. Ob du sie wirklich umsetzen wirst? Soll ich es riskieren? Welche Möglichkeit hätte ich jetzt? Bei so vielen Wächtern? Gabrialla lässt sich mutlos hängen.
Dies scheinen die Wächter als Zustimmung anzusehen.
Grob wird sie auf den Boden aufgestellt und ihre Arme auf den Rücken geführt.
Dieses Mal halten sie keine Hände fest. Stattdessen wird ein grobes Seil um ihre Handgelenke gewunden. Schmerzhaft schnürt es sich in ihre Haut, als jemand daran zieht.
Erneut fragt sich Gabrialla: Was soll ich nur machen?
Ich bin nicht schnell genug, um vor ihnen davon zu laufen. Kämpfen kann ich auch nicht, sie sind besser als ich.
Wo ist die Stimme? Warum lässt sie mich jetzt alleine?
Ich will nicht mit ihnen gehen! Doch alles bleibt still. Kein Hall, kein Rufen dringt aus ihrem Innern.
Wenn mir keiner hilft, dann muss ich mir selber helfen, beschließt sie, nicht bereit aufzugeben. Doch wie?
Mit gesenktem Kopf folgt sie den Wächtern.
Sie müssen noch einmal an den Häusern vorbei, schlängeln sich durch ihre Gänge. Für sie viel zu bald, haben sie diese hinter sich gelassen und folgen einem kleinen Weg durch den Wald.
Als die Bäume um sie herum zurückweichen und in der Ferne verschwinden, stellt Gabrialla, die sich immer wieder umblickt, fest: Zehn. Ich sehe zehn von ihnen. Das heißt nicht, dass da keine anderen sind. Ich dachte vorhin, dass ich alle gesehen habe. Das war falsch. Ich muss vorsichtiger sein, mahnt sie sich.
Dann realisiert sie: Wie soll ich bei so vielen entkommen können? Bei acht ist es mir schon nicht gelungen. Wie soll es mir bei zehn gelingen? Betrübt und geschlagen lässt sie nun endgültig ihren Kopf hängen und folgt den Wächtern widerstandslos.
Werde mich nicht fügen.
- Fortsetzung folgt -
Gabrialla stockt, Warum bringen sie mich in meinen Schlafraum?
Ein Schups und weiter geht es auch für sie in den Raum hinein. Durch die Dunkelheit, welche nur von einzelnen Kerzen notdürftig erhellt wird, folgt sie dem Wächter.
Warum wissen sie, wo ich schlafe?, fragt sie sich.
Wächter. Ein Stoß, zwischen ihre Schulterblätter und schon kniet sie halb auf ihrem Bett.
Aber, warum wissen sie, wo ich schlafe?, schreit sie in den Nebel, doch dieser bleibt stumm.
„Wähle.“
Wähle? Was? Wer mir mein Leben nehmen darf?
„Wwwas“, stottert sie. Hält inne und beginnt erneut. „Was wollt ihr von mir?“
„Wähle.“ Etwas fliegt aus dem Dunkel auf sie zu. Reflexhaft hebt sie ihre Arme zum Schutz und fällt zurück.
Eine Kerze entflammt neben ihr. Auf ihrem Schränkchen, das alles enthält, was nur ihr gehört.
Zwei Wächter sind zu sehen. Sie und die Dunkelheit um sie herum.
Nur zwei. Wenn die anderen draußen sind, könnte ich es wagen. Vorsichtig spannt sie ihre Muskeln an, wobei sie darauf bedacht ist, sich verängstigt umzusehen. Vier habe ich vorhin zu fall gebracht. Wenn ich es jetzt geschickt anstelle ...
„Das solltest du sein lassen.“ Verärgert schnellt ihr Blick zu dem Wächter, den sie nun als jenen, vom Podest erkennt. „Ein Versuch und du wirst verschnürt.“
Das ist nicht unser Ziel? Es geht weiter? Ich werde eine weitere Gelegenheit bekommen.
„Was soll ich wählen? Wer von euch mein Leben nehmen darf?“, provoziert sie ihn, in der Hoffnung mehr zu erfahren.
Statt einer Antwort, deutet er auf sie.
Nicht auf mich, auf das Ding, das geworfen wurde. Tastend lässt sie ihre Finger gleiten, findet etwas weiches und hebt es ins Licht. Eine Tasche?, ist es, was auf ihr gelandet ist. Verwundert sieht sie zum Wächter hinauf. Ein Nicken zu ihrem Schränkchen, löst das Rätzel.
Ich darf Erinnerungsstücke mitnehmen? Aber, .... überdenkt sie verwirrt, ... wenn mein Leben beendet ist, warum?
„Nicht Trödeln. Deine Zeit verrinnt.“
Eilig lässt sie sich zu Boden sinken und öffnet das Schränkchen.
Das Bändchen, das mir Michelle in unserem ersten Zyklus geschenkt hat. Sie war schon immer begabt im Basteln. Traurig, ob der Erinnerungen, die damit verbunden sind, streicht sie darüber, bevor sie es in die Tasche legt. Und hier, sie ergreift ein Blatt, das zerknittert und verdreckt zwischen den Dingen liegt, das Bild von Sven. Er hat es mir gemalt, als ich so lange krank hier unten gelegen bin und nicht raus durfte. Feuchtigkeit sammelt sich in ihren Augen, Ich werde sie nie wider sehen.
„Nicht trödeln“, erklingt es barsch hinter ihr und erinnert sie an ihre verrinnende Zeit. Vorsichtig faltet sie das Blatt zusammen und legt es in die Tasche.
Der Beutel ist schon fast voll. Eine Sache vielleicht noch, mehr passt nicht hinein.
Die Spange! Suchend gleiten ihre Finger durch den Schrank. Sie ist schon lange kaputt, doch sie wird mich immer an Marie erinnern. Wo ist sie nur? Hektisch nimmt sie nach und nach alles aus ihrem Schrank und verteilt es auf ihrem Bett. Hab sie. Eilig wird auch diese verstaut und der Sack verschwindet.
Was...?
„Gehen wir.“ Schwer legt sich erneut eine Hand auf ihre Schulter und hält sie fest.
Ich kann die Dinge nicht so liegen lassen.
„Nein.“
„Los, die Seile.“
„Nein.“ Gabrialla reist sich los und dreht sich um. „Ich kann diese Dinge nicht so zurücklassen. Lasst sie mich wenigstens verteilen.
„Grr“, erklingt es grollend vom Wächter und wird vom Nebel in ihr reflektiert.
„Beeil dich.“grollt er und zeigt das erste Mal eine Gefühlsregung.
Überrascht von dem Zugeständnis, dreht sie sich Hecktisch herum.
Sobald sie ihre restlichen Dinge, in drei Haufen geteilt hat. Erhebt sie sich unglaublich erschöpft.
Das war es nun. Das ist es, was von meinem Leben hier übrig bleibt.
„Jetzt aber los“, erklingt es ungeduldig hinter ihr.
„Ich muss die Dinge noch verteilen, oder?“, erwidert sie schnippisch und zuckt innerlich zusammen. Was? Das wollte ich nicht. „Ich. Ich meine, wenn ich sie nicht verteile, woher sollen sie wissen, wem ich was gebe?“
„Beeil dich“, knurrt der Podestwächter und lässt ihren Ausfall unkommentiert.
Zu überrascht davon, verharrt sie noch einen Herzschlag, bevor sie sich umdreht und ans Verteilen macht. Die Dinge für Michelle und Marie sind schnell auf deren Betten gebracht. Nur für Sven muss sie ein Zettel suchen und hektisch, mit zitternden Fingern, seinen Namen darauf notieren.
„Jetzt reicht es aber“, erklingt es hinter ihr, sobald sie den Stift abgelegt hat. Grob krallen sich Finger in ihre Schultern und zerren sie auf.
Es ist wohl Zeit zu gehen.
Ihr Weg führt sie zurück zu der Treppe.
Oben angekommen, zögert Gabrialla. Zu verlockend ist es, einfach wegzulaufen.
Ich kenne mich hier aus. Sicher würde ich ein Versteck, ein Weg finden, der mich in Sicherheit bringt. Doch, was ist mit den anderen? Laufe ich in die Kuppel, sind sie in Gefahr. Gabrialla riskiert einen Blick zur Kuppel, doch mehr als ein Stück des Ringes, kann sie nicht sehen. Laufe ich zur kleinen Tür hier, bremst sie mich. Ein Schups und sie setzt sich erneut in Bewegung. Nicht zur Kuppel, sondern zu der Tür, die sie, zwischen Treppe und ihrem Lehrraum gelegen, auf die Freifläche führt. Doch etwas stoppt sie.
Es ist so Dunkel. Der Mond muss noch hell scheinen, der volle Mond ist noch nicht weit dahin. Warum ist es so dunkel?
Ein weiterer Schups befördert sie schnell nach draußen und in die Dunkelheit.
Das ist es also. Das letzte Mal, das ich den Weg gehe. Doch, schluchzt sie, nicht auf dem Weg zu meiner Ernennung, sondern zu meinem Ende.
Die Kuppel hinter ihr, erhellt durch so viele Kerzen, spendet genug Licht, um alles zu erkennen.
Quer über die Grünfläche führt sie ihr Weg zu dem einen, der sie immer zu den Gärten geführt hat.
Flüssigkeit sammelt sich in ihren Augen, als sie in die Dunkelheit der Bäume eintaucht.
Lebt wohl meine Freunde. Ich wünsche euch ein langes Leben.
Weiter geht es, ein Stück nur neben der großen Fläche entlang, um dann zwischen den Gebäuden der Fertigung zu verschwinden.
Ich habe schon öfter darüber nachgedacht, dem allen hier zu entfliehen. Habe überlegt, wie ich am besten entkommen kann, ohne dass mich jemand sieht. Ohne das mich ein Wächter oder Jäger fasst. Warum es nicht jetzt wagen?
Ob ich nun mitgehe oder flüchte, es gibt keinen Unterschied.
Wie als Zeichen erhellt sich die Umgebung. Klar im kalten Schein des Mondes zeichnen sich die Gebäude um sie ab. Verschwinden Wege zwischen ihnen in die Dunkelheit.
Jetzt muss es sein. Als eine schmale Abzweigung kommt, macht Gabrialla einen Schritt zur Seite und dreht sich gleichzeitig von dem alten Weg weg.
Sie wartet nicht auf die Reaktion der Wächter, sondern fängt an zu rennen. Schon wenige Schritte später hört sie die Schritte der Wächter hinter sich. Sofort sucht sie nach verborgenen Kräften, sammelt sie und beschleunigt ihr Tempo.
Bald beginnt ihr Puls zu hämmern und ihr Herz droht zu zerspringen. Doch Gabrialla versucht, noch mehr Tempo zu bekommen.
Ich kenn mich hier aus. Ich weiß, wohin ich will. Hallen die Worte durch ihren Kopf. Sollen ihr Kraft und Mut geben für ihre Flucht.
Schneller immer schneller hasten ihre Füße über den Weg, tragen sie um Kurven und um Ecken. Gabrialla meint, die Wärme eines andern hinter sich zu fühlen. Sie dreht ihren Kopf, um hinter sich zu sehen, und ist überrascht, niemanden zu sehen. Doch dann entdeckt sie die Quelle. Die Wächter sind ihr nahe. Zu nahe. Gleich werden sie Gabrialla erreichen.
Trotz ihres Gefühles keinen Sauerstoff mehr zu bekommen versucht sie, ihre Geschwindigkeit zu steigern. Doch gelingt es nicht.
Noch einmal kann sie um eine Ecke biegen, dann erreicht sie der erste Wächter.
Seine Hand legt sich schwer auf ihre Schulter und versucht sie festzuhalten. Gabrialla stockt kurz. Ein Bein auf den Boden tritt sie mit dem anderen nach hinten aus und erwischt ihn.
Erfreut bemerkt sie, dass der Wächter zu Boden geht und schöpft neue Kraft.
Nur noch wenige Schritte. Gleich habe ich die Tür erreicht. Mit letzter Kraft, steigert sie wider ihr Tempo.
Die Tür ist jägersicher, dann muss sie auch wächtersicher sein. Sie werden sie nicht aufbekommen. Ich muss nur das Haus durchqueren, um es auf der anderen Seite zu verlassen. Dadurch werde ich meinen Vorsprung noch vergrößern.
Da sieht sie die Tür, sie ist so nahe. Gabrialla blickt noch einmal zurück und ihr Herz macht einen Sprung. Die Wächter sind ihr nicht näher gekommen.
Eilig läuft sie um die nächste Ecke erreicht die Tür und schlägt sie hinter sich zu.
Das Schloss rastet geräuschvoll ein. Gerade noch. Nur einen Herzschlag später hört sie, wie etwas gegen die Tür donnert. Doch sie nimmt sich keine Zeit.
Gabrialla hastet weiter.
Läuft durch den Raum und den dahinter, nur um am anderen Ende des Hauses wieder auf einen Weg zu kommen und ihre Flucht fort zu setzten. Gabrialla spürt kaum, wie ihre Beine zittern. Sie treibt sich voran, weiter immer weiter. Immer weiter der Freiheit entgegen.
Doch dann endet ihre Flucht.
Eine Ecke nur trennt sie von der Freiheit. Die letzte der Fertigung und die letzte ihrer Flucht.
Denn hinter dieser Ecke erwartet sie eine Gruppe von Wächtern und zwingt sie sich zurückzuziehen.
Woher kommen die den jetzt? Das kann doch nicht wahr sein.
Mit rasselndem Atem schiebt sie sich vorsichtig nach vorne und wagt einen weiteren Blick.
Sie haben mich nicht gesehen. Erleichtert wagt sie aufzuatmen.
Was mach ich jetzt? Vor mir Wächter und hinter mir Wächter. Damit habe ich nicht gerechnet! Schnell dreht sie sich um, hastet zurück und blickt um die vorherige Ecke.
Hier sind sie noch nicht zu sehen.
Hektisch, aber darauf bedacht leise zu sein, läuft sie zurück zur letzten Ecke.
Sind das die Gleichen wie vor der Lehranstalt? Ich weiß es nicht. Frustriert schlägt sie ihre Hand gegen die Stirn. Warum habe ich sie mir nicht besser angesehen? Dann wüsste ich jetzt, wie viele mich jagen. Was mach ich jetzt? In dem Versuch, sich zu beruhigen zwingt sich Gabrialla, mehrmals tief ein und aus zu atmen. Hektik hilft mir jetzt nicht. Ich muss klar nachdenken. Welchen Ausweg habe ich? Forschend lässt sie ihren Blick und ihre Finger über sich gleiten, doch sie findet nichts Hilfreiches.
Wo ist dieser seltsame Nebel, diese Stimme, wenn ich sie brauche? Enttäuscht lässt sie ihre Schultern hängen, doch dann fällt ihr etwas ein.
Schnell hat sie einen passenden Stein gefunden und blickt um die Ecke.
Die Wächter sind noch da. Gut, ich hoffe, es funktioniert.
Zwei Mal atmet sie tief ein, sammelt sich, bevor sie den Stein wirft. Angespannt beobachtet sie seinen Flug über die Häuser hinter ihr.
Weiter. Noch etwas weiter.
Sobald er ihrem Blick entschwunden ist, dreht sie sich um und sucht die Wächter auf der Grünfläche.
Wie zuvor stehen sie dort. Bewegungslos, wie Statuen.
Es hat nicht funktioniert, bemerkt sie enttäuscht.
Dann sehen sie zur Seite, sprechen miteinander und laufen weg.
Gut, es hat doch funktioniert, jauchzt sie. Jetzt aber los. Gabrialla tastet sich an der Hauswand entlang, bis sie an der Ecke angekommen ist, an der sie verschwunden sind. Ein Blick zeigt ihr, dass die Wächter einige Schritte dahinter stehen.
Was tun sie da?
Warten ist gefährlich. Ich muss los.
Gabrialla weicht zurück, holt noch einmal Atem, stößt sich von der Hauswand ab und läuft los.
Sie bekommt nicht genau mit, wann die Wächter sie bemerkt haben, doch schon bald hört sie ihre Schritte hinter sich. Laute Rufe ertönen um sie und schon wenige Schritte später greifen mehrere Hände nach ihr.
„Stopp. Das ist weit genug.“ Es ist nicht die Stimme des Podestwächters, doch auch sie ist tief und verlangt nach gehorsam. Gehorsam den Gabrialla nicht geben will. Sie will frei sein und ist bereit dafür zu kämpfen.
Noch nie hat sie richtig gekämpft.
Streitereien unter den Lehrlingen wurden sofort von den Erziehern und Lehrern vernichtet. Wie viele Gespräche sie deswegen gehabt hat. Immer wenn sie jemanden falsch angesehen oder nur ein falsches Wort gesagt hat. Doch nicht jetzt. Jetzt muss sie Kämpfen.
Ihr Fuß trifft jemand hinter sich ihre Hand jemanden anderen. Jemand greift nach ihr, doch sie währt die Hand ab, schlägt sie auf die Seite und greift nach dem Arm um den anderen nach unten zu ziehen. Plötzlich umfangen sie Arme und heben sie nach oben.
Gabrialla tritt und trifft, doch die Arme lösen sich nicht. Ein Grollen ist alles, was kommt, dann greifen weitere Arme nach ihren Beinen.
„Aufhören.“ Etwas trifft ihre Wange und lässt ihren Kopf auf die Seite schnellen. „Aufhören habe ich gesagt. Wenn du nicht gleich aufhörst, werde ich dich bewusstlos schlagen müssen.“ Noch einmal versucht Gabrialla, sich zu befreien, doch dann sackt sie zusammen.
Wütend sieht sie den Podestwächter an, doch er erwidert ihren Blick kühl.
„So ist es besser. Wenn du dich fügst, darfst du laufen. Ansonsten werden wir dich doch noch verschnüren und tragen. Wie ist deine Wahl?“
Schon wieder diese Drohung. Ob du sie wirklich umsetzen wirst? Soll ich es riskieren? Welche Möglichkeit hätte ich jetzt? Bei so vielen Wächtern? Gabrialla lässt sich mutlos hängen.
Dies scheinen die Wächter als Zustimmung anzusehen.
Grob wird sie auf den Boden aufgestellt und ihre Arme auf den Rücken geführt.
Dieses Mal halten sie keine Hände fest. Stattdessen wird ein grobes Seil um ihre Handgelenke gewunden. Schmerzhaft schnürt es sich in ihre Haut, als jemand daran zieht.
Erneut fragt sich Gabrialla: Was soll ich nur machen?
Ich bin nicht schnell genug, um vor ihnen davon zu laufen. Kämpfen kann ich auch nicht, sie sind besser als ich.
Wo ist die Stimme? Warum lässt sie mich jetzt alleine?
Ich will nicht mit ihnen gehen! Doch alles bleibt still. Kein Hall, kein Rufen dringt aus ihrem Innern.
Wenn mir keiner hilft, dann muss ich mir selber helfen, beschließt sie, nicht bereit aufzugeben. Doch wie?
Mit gesenktem Kopf folgt sie den Wächtern.
Sie müssen noch einmal an den Häusern vorbei, schlängeln sich durch ihre Gänge. Für sie viel zu bald, haben sie diese hinter sich gelassen und folgen einem kleinen Weg durch den Wald.
Als die Bäume um sie herum zurückweichen und in der Ferne verschwinden, stellt Gabrialla, die sich immer wieder umblickt, fest: Zehn. Ich sehe zehn von ihnen. Das heißt nicht, dass da keine anderen sind. Ich dachte vorhin, dass ich alle gesehen habe. Das war falsch. Ich muss vorsichtiger sein, mahnt sie sich.
Dann realisiert sie: Wie soll ich bei so vielen entkommen können? Bei acht ist es mir schon nicht gelungen. Wie soll es mir bei zehn gelingen? Betrübt und geschlagen lässt sie nun endgültig ihren Kopf hängen und folgt den Wächtern widerstandslos.
Werde mich nicht fügen.
- Fortsetzung folgt -