Kapitel 15: Etwas Aufwind nach einem schlimmen Tag

Bruno war von der Bauernversammlung zurückgekehrt und hatte erzählt, was vorgefallen war. Die Erwachsenen Toni, Elsa und Wendeline hatten ernste Gesichter gemacht; das war das Zeichen für die Kinder nicht noch überflüssige Fragen zu stellen. Kurz: es war schlechte Stimmung.
Da saßen die Kinder, verschwitzt und müde. Die Zikaden ärgerten sie mit ihrem ewig gleichen Gefiepe. Es war heiß, sehr heiß, die Luft lag drückend über dem Amphitheater, und kein Lüftchen ging. Kein noch so leichter Wind regte sich.

Es war so heiß, dass die Kinder selbst keine Lust hatten, an der Lehmburg zu bauen. Der kleine Bach hinter dem Amphitheater war fast ausgetrocknet, und man konnte sich kaum die Füße kühlen.
Außerdem hatte Elsa ihnen verboten, dass Wasser zu vergeuden, weil es das einzige Wasser zum Trinken und Waschen für die zwei Familien und Momo im Amphitheater war.

Da kamen Alexandra und Gigi zu ihnen, um sich dazu zu setzen. Eine Zeitlang sagte keiner etwas, dann brach Gigi (wie so oft) das Eis.
„Habt ihr Lust, eine neue Geschichte zu hören?“, fragte er und schaute in den Kreis der Kinder.
„Jaja, Gigi! Erzähl! Das ist eine gute Idee!“, riefen die Kinder, froh an etwas anderes denken zu können.
„Es war einmal ein alter, freundlicher Mann; der hieß Amam“, fing Gigi an, „er war Gewürzhändler und lebte in Persien. Er war ein reicher Mann, aber lebte ganz allein. Er war der erste fliegende Händler, nein, nicht auf einem Teppich, das gibt es ja nur in Märchen. Er hatte ein Flügelflugzeug entwickelt. Kennt ihr nicht die bekannten Flüflux?“
Ann, Franco und Momo schüttelten den Kopf. Nur Paolo war sich nicht sicher, ob er das schon mal gehört hatte.
„Ich glaube, Paolo hat schon mal davon gehört“, fuhr Gigi fort, „ also ein Flüflux ist ein kleines Flugzeug, das an den Piloten montiert wird. Der Pilot muss sich durch Flügelbewegung vorwärtsbewegen.“
„Das hab ich schon mal im Fernsehen gesehen“, bestätigte Paolo.
„Nach Amam haben es natürlich noch andere probiert: Leonardo da Vinci, die Brüder Wright, Otto Lilienthal. Aber der erste, der das versucht hat, war dieser alte persische Gewürzhändler.“
„Was ist ein Gewürzhändler?“, wollte Ann wissen.
„Das ist eine sehr gute Frage“, nickte Gigi zustimmend. „Wenn ihr heute im Supermarkt die Gewürze in kleinen Dosen kauft, dann wisst ihr vielleicht gar nicht, wo diese Gewürze herkommen.“
Momo schüttelte mit dem Kopf.
„Also viele Gewürze sind Gräser, die man auch im eigenen Garten wachsen lassen kann, Thymian, Rosmarin, Estragon usw. Dann werden sie getrocknet und in die Speisen beim Kochen oder kurz vor dem Abschmecken dazugegeben.
Viele Gewürze kommen aber von weither. Man kannte sie in Europa vor 1000 Jahren gar nicht: der Pfeffer, der Curry, das Paprika.
Diese und andere Gewürze kommen aus Asien, und Herr Amam kannte sie schon und verkaufte sie in Dörfern, auf Marktplätzen, am Meer, in der Wüste, auf dem Land. Seine Arbeit war es, die Gewürze, die er bei sich trug, überall dort zu verkaufen, wo er hinkam. Da half ihm natürlich ein Flüflux sehr. Das hatte er sich in seinem Schuppen gebaut, und es funktionierte prächtig.
Er setzte sich auf das kleine Gestell, verstaute seinen Rucksack mit den Gewürzen, betätigte mit seinen Armen die Flügel und fing an, sich in die Höhe zu heben. Das ging natürlich nur, wenn etwas Wind war. An einem solchen Tag wie heute wäre das nicht gegangen. Und er begann zu fliegen, über das Amphitheater hinweg, über die Pinien hinweg, an unserer kleinen Stadt...“
„Wieso? Wohnte Herr Amam hier in unserer Stadt?“, fragte Franco erstaunt.
„Ach, das spielt keine Rolle, glaube ich, eine Stadt wie unsere, die gibt es tausend Mal in der Welt... wenn ich es mir richtig überlege, ist es tatsächlich möglich, dass er in unserer Stadt gelebt hat...“
Momo grinste Ann an: „Das wäre klasse.“
„Amam bewegte seine Flügel“, Gigi breitete seine Flügel aus und bewegte sie leicht auf und ab, „und er konnte über das Land schauen, und er sah kleine schwarze Punkte, das waren wohl die schwarzen Männer, und er hatte keine Angst mehr vor ihnen, denn er war so weit über ihnen. Er betrachtete seine kleine Stadt, sah seine Freunde und Nachbarn auf den Strassen und in den Häusern. Er stieg noch weiter in den Himmel.“
Gigi machte kräftige Flügelbewegungen: „Denn heute wollte er noch weit fliegen. Er durchstach die Wolken, und über ihm brannte die Sonne, heiß und unerbittlich. Da entschloss er sich etwas tiefer zu fliegen, denn wenn man der Sonne zu nahe kommt, holt man sich schnell einen Sonnenbrand.
Deshalb flog er in den Wolken, die ihn kühlten; er betrachtete das Land unter ihm, die Wälder, Felder, Weinberge, Seen, Meere, Städte, Dörfer, Wüsten, Flüsse, Berge.
Amam fand es schön zu fliegen, denn so verstand er besser, was in der Welt passierte. Er beobachtete Nachbarn, die sich über den Gartenzaun hinweg stritten, Kinder, die Fußball spielten, Arbeiter, die in der Hitze schwitzten, Bäuerinnen und Bauern, die Getreide schnitten und Kühe melkten, Polizisten, die den Verkehr regelten...So verging der Tag, bis es Abend wurde. Und dann fiel ihm wieder ein, was er vergessen hatte.“
„Was hatte er vergessen?“, fragte Ann wissbegierig.
„Wie er landen konnte.“
„Er wusste nicht, wie er landen sollte?“, Franco schüttelte mit dem Kopf. Das war wieder so eine Geschichte von Gigi, die ganz komisch war.
„Und wie war er bisher gelandet?“, fragte Momo.
„Er war langsamer geflogen“, Gigi machte jetzt langsame Flügelbewegungen, „und wenn er kurz vor dem Erdboden war, ließ er sich fallen. Aber das tat natürlich sehr weh, und er hatte schon jede Menge blaue Flecken.“
„Oh Mann!“, Franco konnte sich gut vorstellen, wie Amam jedes Mal auf seinen Hintern fiel.
„Zu allem Überfluss fing der Wind noch stärker an zu wehen.“, Gigi pustete seine Backen auf und blies den Kindern Luft ins Gesicht.
„Klasse, du bist eine gute Windmaschine“, meinte Ann sofort.
„Aber das ist schön, ein bisschen Wind“, rief Paolo.
„Für Amam war es aber zu viel Wind, der Wind hob in hoch, drückte ihn runter und zerrte an ihm herum. Amam kontrollierte seinen Flüflux nicht mehr. Und was noch schlimmer war: er war über der Stadt angekommen, in der er seine Gewürze verkaufen wollte. Er wollte landen und konnte es nicht.“
„Und was hat er gemacht?“
„Amam bewegte seine Flügel langsamer und wollte auf einem Rübenacker neben der Stadt landen. Auf dem Feld arbeitete eine junge Frau, und Amam wollte ihr ausweichen, sonst würde es einen kräftigen Zusammenstoss geben.“
„Wer war das auf dem Feld?“, fragte Ann, die fühlte, dass diese Frau in der Geschichte wichtig werden würde.
„Eine Feldarbeiterin ... mit dem Namen Marillana...“
„Und was ist passiert?“, wollte Paolo ungeduldig wissen.
„Amam bewegte die Flügel langsamer, aber der Wind nahm an Kraft zu. Dann hatte der Gewürzhändler die Idee, zu beschleunigen und die Flügel schneller zu bewegen. Aber es war wie verhext.
In diesem Moment wurde der Wind schwächer, und das Flüflux bewegte sich nicht schneller. Der Gewürzhändler flog geradewegs auf Marillana wie eine Kanonenkugel zu, und er wusste nicht, was er tun sollte, um einen Zusammenstoss zu vermeiden.
Da entdeckte Marillana die Gefahr aus der Luft, und erschrocken hob sie die Arme seitlich am Kopf hoch.
Amam sah sie und tat es erschrocken ihr nach. Er hob die Flügel senkrecht neben dem Kopf hoch und bewegte sie leicht zurück.“
Gigi hob seine Arme hoch und bewegte sie nach hinten. „Und da geschah das Wunder. Amam, der so schnell wie eine Kanonenkugel auf Marillana zuflog, konnte jetzt seine Geschwindigkeit vermindern und näherte sich dem Acker ganz langsam. Er blieb fast in der Luft stehen und setzte sanft vor Marillana auf, und seine Flügel fielen nach vorn auf Marillanas Schultern. Der Wind pustete noch kräftig um sie herum, aber Amam war sicher gelandet. Marillana war ganz verdutzt, aber nach einer Schrecksekunde fing sie an zu lachen.“
Auch die Kinder lachten erleichtert.
„Und was ist dann passiert?“, stocherte Paolo nach.
„Amam schaute Marillana ins Gesicht und sah eine schöne Frau, so schön wie eine Prinzessin und so gut wie eine Fee, und da wusste Amam, dass er sein ganzes Leben durch die Länder geflogen war auf der Suche nach dieser Frau und dass seine Reise zuende war...“
„Verliebt, verlobt, verheiratet!“, rief Ann.
„Genau!“, rief Gigi.
„Nicht schlecht dein Märchen“, sagte Franco und klatschte in die Hände.
„Und wenn sie nicht gestorben sind, fliegen sie immer noch gemeinsam über unseren Köpfen in den Wolken.“, ergänzte Paolo.
Gigi lachte.
Momo sagte nichts, aber sie lächelte über das ganze Gesicht, und ihr Lächeln bedeutete Gigi mehr als alles Lob.
 



 
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