Kapitel 16: Frau Özkalan bekommt einen Anruf

Frau Özkalan arbeitete in der Stadtverwaltung Lappalias.
Sie schaute aus dem Fenster und sah den Marktplatz unter sich liegen. Die Markthändler packten die letzten, nicht verkauften Warenreste zusammen. Frau Özkalan liebte den Blick aus ihrem Fenster genauso, wie sie die Stadt liebte.
Frau Özkalan kannte sicher besser als viele andere Einwohner Lappalias in der Stadt und in der Gegend um die Stadt aus.
Mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter Selma machte sie gerne und oft Spaziergänge am Fluss entlang vor der Stadt, wo der alte Brunnen war, in den Weinbergen, die auf den Hügeln um die Stadt lagen, über die Getreidefelder, die sich im Wind wiegten, und durch das Pinienwäldchen ins Amphitheater, wo die Bäume und Steine etwas Schatten spendeten und die Möglichkeit gaben, sich auszuruhen.
Frau Özkalan war niemals umgezogen und hatte Lappalia nie verlassen, seitdem ihre Eltern vor gut 30 Jahren hier angekommen waren. Sie hatte hier ihren Mann kennen gelernt, Selma zur Welt gebracht. Sie war hier zuhause.

Es war 15 Uhr, und wie das bei der Stadtverwaltung so üblich war, in gut anderthalb Stunden sollte ihr Dienst vorbei sein. Sie hatte also noch etwas Zeit, um die wichtige Baugenehmigungssitzung von nächster Woche vorzubereiten.
Sie holte sich die schwere Akte aus dem abschließbaren Schrank und setzte sie auf der Tischplatte ab.
Auf ihrem Schreibtisch standen ein Bild von ihrer Tochter, die im Fluss badete, und eins von ihrem Mann bei ihrer Hochzeit. Sie musste die eingerahmten Bilder etwas wegräumen, um die Akte zu öffnen und die wichtigsten Schriftstücke herauszuholen.
Es ging also wieder um die neue Gewerbezone nächste Woche. Wo war denn der Bericht des Geologen? Die Stadt hatte diesen Experten beauftragt, zu untersuchen, was passieren würde, wenn man ein neues Industriegebiet auf den Weizenfeldern errichten würde. Leider hatte der geologische Experte bei diesem Projekt große Probleme entdeckt.
Frau Özkalan wollte noch einmal in seinem Bericht lesen.
Da war er ja schon.
Die Frage nach dem Grundwasserspiegel. Über zehn Seiten hatte der Geologe darüber geschrieben. Die neue Industriezone würde durch den Teil des Tals gehen, woher wichtige Grundwasserreserven für die Stadt kamen. Man konnte den Grundwasserspiegel durch Abpumpen und Drainagen absenken. Aber das würde bedeuten, dass im ganzen Tal der Grundwasserspiegel sinken würde. Heute wusste man noch nicht, ob das Probleme für die Trinkwasserversorgung geben würde oder für die Landwirtschaft. Frau Özkalan verstand nur die Hälfte von dem wissenschaftlichen Kauderwelsch des Experten.
Eines war aber sicher. Es gab schon jetzt eher zu wenig Wasser im Tal. Den Grundwasserspiegel abzusenken, würde die Situation noch gefährlicher machen.

In dem Moment klingelte das Telefon. Dunjazade Özkalan schaute auf, schob die Akte zurück und nahm ab.
„Ja, bitte.“
„Frau Özkalan?“
„Am Apparat.“
„Entschuldigen Sie bitte, Alwin Schmied ist mein Name.“, meldete sich der Anrufer.
„Was kann ich für Sie tun, Herr Schmied?“
„Es tut mir leid, dass ich Sie im Büro anrufe. Ich bin der Vater von einem Erstklässler; ich glaube, Ihre Tochter heißt Selma. Und mein Sohn geht in dieselbe Klasse wie ihre Tochter.“
„Das ist schön; es tut mir leid, aber ich kenne noch nicht alle Eltern in der Klasse meiner Tochter.“, räumte Frau Özkalan ein.
„Das macht nichts“, meinte der Anrufer. „ich glaube, meine Frau kennt sogar Ihren Mann. Er arbeitet bei den Farlucello-Drehmaschinen, nicht?“
„Ja, das ist richtig, welch netter Zufall“, sagte Frau Özkalan fröhlich.
„Und da sagt meine Frau“, fuhr der Anrufer fort, „da sagt die doch: ‚Laden wir doch die Özkalans ein, das wäre doch lustig, oder?’ Was meinen Sie, Frau Özkalan?“
„Ja, warum nicht“, versicherte Dunjazade Özkalan; sie freute sich wirklich über diesen unerwarteten Anruf.
„Da wird sich meine Frau freuen“, erklärte der Anrufer. „Ich sag’s ihr direkt heute Abend.
Aber ich wollte noch eine kleine Frage stellen. Freunde haben mir gesagt, dass bei Ihnen im Büro ein ganz großes Projekt läuft...Sie wissen schon...“

Frau Özkalan schaute auf die Akte vor ihr. Selbst in der Lokalpresse hatte man über das neue Gewerbegebiet gesprochen. Bisher hatte allerdings keiner von dem Grundwasserproblem gesprochen.
„Das ist richtig. Es gibt dieses Projekt hier über die Industriezone.“
„Das ist ja interessant. Und wie geht das denn jetzt weiter?“
„Nächste Woche ist die Baugenehmigungssitzung, und wenn alles glatt geht, können dann bald die Bauarbeiten begonnen werden.“, erklärte Frau Özkalan.
„Und? Gibt es Probleme?“ fragte der Anrufer neugierig.
„Also“, Frau Özkalan wusste nicht, ob sie Details erzählen durfte, „na ja, da gibt es eben ein Problem mit dem Grundwasser, das für unsere Trinkwasserversorgung wichtig ist. Wenn wir das Gewerbegebiet bauen, kann es sein, dass der Grundwasserspiegel abgesenkt werden muss.“
„Soso, und das ist ein wirkliches Problem?“, fragte der Anrufer.
„Das sagt der Experte“, fügte Frau Özkalan wahrheitsgemäß an.
„Ich hoffe, Sie finden eine gute Lösung. Wir brauchen ja viel Industrie in unseren armen Stadt...“
„Mmh.“ Dunjazade Özkalan wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

„Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Frau Özkalan?“, wechselte der Anrufer das Thema.
Frau Özkalan zögerte einen Moment, dann sagte sie: „Ja, bitte, Herr Schmied!“
„Sie sprechen ja Deutsch ohne Akzent.“
„Ja, aber das...ist doch normal“, wollte die Stadtbeamtin sagen, wurde aber schon nach drei Worten unterbrochen.
„Das finde ich ganz toll. Wirklich. Sie müssen ja unglaubliche Probleme haben. Die ganze Zeit sprechen Sie türkisch überall in Ihrer Familie und mit Ihren Freunden, und dann müssen Sie deutsch sprechen...“
„Das ist nicht wahr... ich spreche auch mit Freunden und meinen Kindern deutsch“, wollte Frau Özkalan sagen, aber der Anrufer ließ ihr keine Zeit für Erklärungen, sondern fuhr fort: „Ich wäre froh, wenn ich in der Türkei Ferien verbringen würde und so sprechen gut türkisch würde wie Sie deutsch...“
„Aber ich mache keine Ferien hier“, brach es auf einmal aus Frau Özkalan hervor.
„Entschuldigen Sie bitte, Frau Özkalan, ein dummer Vergleich. Natürlich! Ich wollte nur sagen, wie toll Sie das machen. Schließlich sind Sie Ausländerin in Lappalien und werden auch immer Ausländerin hier bleiben. Und Sie sprechen trotzdem unsere Sprache einwandfrei, wirklich toll!“, fügte der Anrufer lobend an.
Frau Özkalan hatte das Gefühl, als ob die Erde sich unter ihr auftun würde. Sie fühlte sich plötzlich schwach und zerschlagen, so als ob sie einen Marathonlauf gemacht hätte und doch vor dem Ziel aus Erschöpfung aufgeben musste.
„Frau Özkalan, ich möchte, dass Sie eine Sache wissen: Ich bin stolz, Lappalier zu sein, weil ich weiß, dass wir so gute Freunde wie Sie haben, die als Ausländer hier leben und die so gut unsere Sprache sprechen. Dafür möchte ich Ihnen als Lappalier danken.“
Jedes Wort, das der Anrufer sagte, war ein Schlag für sie. Und jedes Wort mehr, ein Schlag mehr. Dunjazade Özkalan hatte nur einen Wunsch, nämlich den, dass der Anrufer aufhörte, ihr zu danken. Aber dieser fuhr in seinem Redeschwall fort: „Noch eine kleine Bitte, Frau Özkalan, um noch einmal auf das neue Gewerbegebiet zurückzukommen. Ein Rat von mir. Ich kenn doch meine Pappenheimer: Halten Sie sich da raus, wir Lappalier sind immer so jähzornig. Kürzlich hat sogar eine Schlägerei in einer Kneipe wegen diesem neuen Gewerbegebiet stattgefunden. Die Leute hier sind schrecklich aggressiv.
Und wenn Sie da als Ausländerin reinfunken würden..., ich will gar nicht daran denken, wie die reagieren würden.
Ach, und dann gibt es telefonische Drohanrufe, und es gibt böse Drohbriefe in Ihrem Briefkasten, und selbst wenn Sie es nur gut gemeint haben, davon bin ich überzeugt, Frau Özkalan.“
„Mmh“, sagte Dunjazade Özkalan. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.
„Und stellen Sie sich vor, Ihre süße Tochter und Ihr Mann werden da reingerissen. Das wird doch ’ne Schlammschlacht geben. Die werden nicht freundlich mit Ihnen umgehen, das sag ich Ihnen.
Denken Sie doch noch mal drüber nach. Vielleicht fehlen Sie einfach in der Baugenehmigungssitzung, haha“, der Anrufer lachte über seinen eigenen Vorschlag.
„Sie haben sicher recht“, sagte die Verwaltungsangestellte.
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nur warnen. - Also einen ganzen lieben Gruß an Ihren Mann und Ihre Tochter, wir müssen noch mal wegen einem Termin für das Grillen sprechen...“
„Ja, ja, sicher“, sagte Dunjazade Özkalan. Dann klickte es in der Leitung, und der Anrufer hatte aufgelegt.
Sie legte zitternd den Hörer auf die Gabel und blieb schwer atmend sitzen. Dann stand sie etwas wackelig auf, nahm ihren Mantel vom Haken, öffnete die Bürotür und ging unsicheren Schrittes den Gang hinunter.
Im Nebenbüro arbeitete ihre Freundin Monika. Monika sah sie an der offenen Tür vorbeigehen.
„Haust du schon ab, Dunja? Aber es ist doch erst halb vier.“
Frau Özkalan antwortete nicht. Sie ging weiter, Schritt für Schritt, langsam, ganz langsam, so als ob jeder Schritt ihr schon zuviel war.
Monika trat auf den Gang. „Warte doch! Was hast Du, Dunja? Hörst du mich nicht?“
Aber Dunja hatte schon die Schwingtür zum Treppenhaus aufgedrückt und hörte sie nicht mehr.
Sie hatte nur eine Angst.
Dass nicht mehr die Kraft haben würde, nach Hause zu kommen.
 



 
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