flammarion
Foren-Redakteur
Tante Gerda
Als ich sie kennen lernte, war sie schon Mitte zwanzig und hatte für ihre 150cm Scheitelhöhe genügend weiblich Rundes, dazu ein freundliches Gesicht, war meist fröhlich, besonders, wenn fremde Leute in unserer Wohnung waren. Ansonsten war sie sehr ruhig und hatte nur selten eine eigene Meinung. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie gierig an der Zigarette sog (Rauchen war bei ihr ein trotziger Ausdruck von Erwachsensein und Selbständigkeit), und mit der anderen Hand imaginäre Falten in ihre Kittelschürze hinein- und wieder herausdrückte. Ihre rechte Hand benötigte ständige Bewegung, und war sie auch noch so unsinnig.
Dem Alter nach hätte sie bequem meine Mutter sein können, und oft mag sie sich eingebildet haben, so etwas wie eine Mutter für mich zu sein, denn sie kaufte etliche Jahre lang die gleichen Kleider für ihre Tochter und mich, ihre Tochter dabei mitunter hintanstellend. Waltraud war es gar nicht recht, als Backfisch noch das gleiche Kleid wie ein kleines Mädchen zu tragen, und es dauerte einige Kämpfe, ehe die Mutter das Modebewusstsein der Tochter akzeptierte. Von da an kaufte sie nichts mehr für mich, nur noch zu Weihnachten, wofür ich durchaus Verständnis hatte. Sie hatte mir gegenüber keine Verpflichtungen, und ich wusste, dass ich nicht das Recht hatte, irgendwelche Ansprüche zu stellen. Nur, wenn ich irgend etwas sehr heiß begehrte, das - nach meinem Kenntnisstand - nur sie mir beschaffen konnte - wurde ich mit meinen Bitten aufdringlich. Das war dreimal der Fall, als ich Lackbilder, Murmeln und ein Spielzeugauto begehrte. Letzteres bekam ich nie, ein Mädchen spielt nicht mit Autos, das bleibt den Jungs vorbehalten.
In mein Poesie-Album schrieb sie mir: "Liebe das Mutterherz, solange es schlägt, wenn es gebrochen ist, ist es zu spät." Aber sie beteiligte sich meist lebhaft daran, wenn über meine Mutter schlecht geredet wurde. Ich konnte Gerda beim besten Willen nicht als meine Mutter betrachten. Ich hatte eine leibliche Mutter, die ich schon deshalb liebte, weil immer wieder behauptet wurde, dass ich genau so dämlich sei wie sie. Wenn ich von Gerda wenigstens irgendetwas gelernt hätte! Aber sie vertrat generell Idas Meinungen und Ansichten; und häufig neckte sie mich aus Spaß, bis ich weinte. Ich bemühte mich stets, diese Vorkommnisse schnell zu vergessen. Es war nur Spaß; und es war mein Fehler, dass es mir wehtat.
Aus bei Familienfeiern Mitgehörtem weiß ich, dass sie mich nicht in meinem Kinderwagen spazieren fuhr. Sie fürchtete, die Nachbarn könnten denken, sie habe nun schon das zweite uneheliche Kind.
Mit Sicherheit hat sie mit mir all die Kleinkinderspiele gespielt, die ihr bekannt waren, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Eben, weil sie alles Gute am selben Tag unbewusst durch die Neckereien wieder wettmachte. Sie war nicht in der Lage, ein kleines Kind bereits als einen Menschen anzusehen, eher als ein lebendiges Ding. Und weil sie häufig schlecht über meine Mutter sprach und mir vorwarf, so "dämlich" wie meine Mutter zu sein, stieß sie mich ja von sich. Aber ich glaube, dass ihr auch das nicht bewusst war. Durch die ständigen Neckereien und die üblen Nachreden konnte ich jedenfalls nie unterscheiden, was Ernst und was Spaß war. Ich fiel immer wieder herein und "ärgerte mir die Platze".
Wahrscheinlich konnte Gerda sich keine Vorstellung davon machen, was "Mutter" bedeutet. Von ihrer eigenen Mutter war sie zum Tode verurteilt worden, und Ida ist mit ihr höchstwahrscheinlich genauso umgegangen wie mit mir. Obendrein durfte sie sich noch von ihrem Ziehvater anhören: "Dich haben wir uns gekauft", als wäre sie ein Gegenstand. Als sie dann mit siebzehn Jahren Mutter wurde, war sie vielleicht sogar froh, dass Ida ihr die Sorge um die Tochter abnahm. Vermutlich war Gerda der Meinung, dass eine Mutter ihrer Pflichten zur Genüge nachkommt, wenn sie dafür sorgt, dass ihr Kind stets satt zu essen hat und sauber angezogen ist, doch das genügt nicht einmal für ein Baby, auch das benötigt die liebevolle Zuwendung, die jeder Mensch ein Leben lang ersehnt. Sie besuchte ihre Tochter nur selten. wie sollte sie bei fehlendem Verständnis für das eigene Kind Verständnis für mich aufbringen?
Dennoch fragte ich sie - in dem normalen Drang jedes Kindes - woher ich gekommen sei? Sie antwortete schmunzelnd: "Dich haben wir in der Regenrinne gefunden." Ich wusste, dass das nicht stimmt. Ich fragte meine Patentante Grete L., sie musste es wissen! Und sie antwortete mir, dass ich beim Bettenmachen gefunden wurde.
Ich erinnere mich nicht daran, ob Gerda mir irgendein Lied beigebracht hat, irgendein Spiel oder sonst etwas. Nur zwei ihrer Redensarten sind mir gegenwärtig: "Schtille biste, Schtulle kriste, Bette jehste, vaschtehste?" - "Siehste, siehste, der Kaktus schteht in ne Wüste!" und ein Lied, welches sie häufig bei Familienfeiern zu singen gebeten wurde. Ich versuchte vergeblich, mir den Text einzuprägen. Sie sang das Lied mit dem italienischen Originaltext, und es ist schwierig, sich Worte zu merken, die einem völlig unverständlich sind. Sie hatte dieses Lied von Waltrauds Vater gelernt, und Alfred - ihr Ehemann - blickte entsprechend sauer, wenn sie es mit ihrer zittrigen Stimme sang. Ich verdolmetschte mir den Liedanfang so: "Mama santa fanta lietsche, Mama santa fantala, leih mir ganz ohne Gequietsche dein ganzes Geld jedes Jahr." Ich ließ meine Variante niemals verlauten, denn ich spürte unbewusst, wie viel der Gerda dieses Lied bedeutete und dass mein Text - obwohl der pure Spaß - sie verletzen würde. Es handelte sich hierbei um das Lied "Mama", welches in den Fünfzigern von Bärbel Wachholz und in den Sechzigern von Heintje mit unterschiedlichem deutschen Text gesungen wurde.
In einigen wenigen Punkten war Gerda nachsichtiger als Ida, z.B. was den Bewegungsdrang von Kindern anging. Wo Ida mich längst angebrüllt hätte: "Wißte woll endlich schtille schtehn!", sagte sie immer noch: "Det Kind muss sich doch eenma am Tach bewejen könn!" So glaubte ich eines Tages, als ich - vierjährig - nach einem Besuch bei Gerda unbedingt bei ihr übernachten wollte, dass ich mich in ihrer Wohnung mal so richtig austoben könnte. Ich lief durch die Zimmer wie auf einer Rennbahn, tanzte in der Küche, hüpfte im Flur und vollführte danach eine Rolle rückwärts auf dem weichen Bettvorleger. Gerdas sanfte Ermahnungen ignorierte ich. Letztendlich drohte sie: "Wenn de jetz nich jleich aatich bist, schleefst de die Nacht in n Kohlnkasten!" Ich lachte, ich hielt diese Drohung für einen Witz.
Endlich hatte ich mich ausgetobt und sah mir ein Bilderbuch an, bis das Abendbrot auf dem Tisch stand. Ich wusch mir die Hände, aß so manierlich wie ich konnte und war begeistert, als Gerda mich bat, beim Tischabräumen zu helfen, denn das durfte ich bei Ida nicht. Gerda machte die Betten zurecht, gab mir ein Nachthemd, welches Waltraud zu klein geworden war, und schlug danach den Kohlenkasten mit etlichen Zeitungen aus. Ich fragte lachend: "Wat machst du denn da, Tante Jerda?" - "Na, du schleefst doch heut Nacht in n Kohlnkastn, ha ick dir doch vaschprochn, wenn de nich uffhörst zu tohm. Du hast weita rumjetobt, also schleefst de jetz in n Kohlnkastn. Zieh dir man det Nachthemde bloß so üba de Sachn, damit de nich friast." Ich konnte es nicht fassen - sie hatte das mit dem Kohlenkasten ernst gemeint! Sie faltete etliche Zeitungen zu einer Bettdecke zusammen und wartete darauf, dass ich mich in den schmutzigen Kohlenkasten legte! Für mich brach eine Welt zusammen. Gerda war nicht besser als Ida, auch bei ihr durfte ein Kind sich nicht frei bewegen. Ich weinte, bis sie mir das Versprechen abnahm, nie wieder so herumzutoben. Dann gestattete sie mir, wie schon mehrmals vorher, auf der "Besucherritze", auf den Mittelkanten der Ehebetten, zu schlafen. Ich wollte nie wieder bei ihr übernachten, aber nach Familienfeiern war es noch ein paar mal nötig.
Im Sommer 49 - ich war also fünfeinhalb Jahre alt - zog Gerda in eine größere Wohnung. Ich wollte unbedingt diesen Umzug nach Pankow miterleben und bot meine Hilfe an. "Wat du schon helfen kannst!" hieß es da. "Du schtehst doch höchstns bloß im Weech!" Aber ich bat solange, bis man mir doch gestattete, beim Umzug zu helfen. Es waren ja schließlich auch etliche kleine Dinge die Treppen hinauf und hinunter zu tragen. So packte ich also tüchtig mit an, bis nur noch die schweren Sachen zu tragen waren. Da wurde ich auf den Hof spielen geschickt: "Aba loof ja nich weg, wir kenn die Jejend hier noch nich so jenau. Wenn de wegloofst, findn wa dir nich wieda! Außadem jibt et jleich Mittach."
Ich ging also auf den Hof und wartete darauf, zum Essen nach oben gerufen zu werden. Ich ahnte, dass es einige Zeit dauern würde, denn wenn man eine neue Wohnung bezieht, hat man nicht gleich alles parat. Ich fasste mich in Geduld und hatte auch meinen Hunger längst beiseite geschoben. Ich sah mich auf dem Hof um. Da waren nicht viele Spielmöglichkeiten. Die Klopfstange stand so nahe an der Wand, dass ich es nicht wagen konnte, daran zu turnen. Auch war sie so verrostet, dass ich fürchtete, sie würde mein Gewicht nicht aushalten.
Außer der Klopfstange gab es nur noch die Mülltonnen, die mich nun wirklich nicht zum Spielen einluden. Ich hatte kein Spielzeug mitgenommen, ich war ja zum Arbeiten mitgefahren. So stand ich nun auf dem kleinen Hinterhof und wusste nicht, was ich beginnen sollte.
Ich suchte nach kleinen Steinchen oder Scherben, denn damit kann man immer etwas spielen. Aber auf diesem Hof fand sich nichts dergleichen. Was ich dann als "kleine Steine" aus dem Boden klaubte, war doch schon ein wenig größer. Doch unter den Steinen hatten Insekten ihre Eier abgelegt, die sich bereits zu Larven entwickelt hatten. Ich ließ die Maden über meine Hände krabbeln, bis mir einfiel, dass sie im nächsten Stadium Mistfliegen werden würden. Da zerquetschte ich sie alle mit den Steinchen und suchte unter weiteren Steinen nach den Maden. Ich wollte sie alle vernichten, damit Gerda nicht im Sommer unter der Fliegenplage zu leiden haben würde. Endlich hatte ich einen sinnvollen Zeitvertreib!
Doch bald waren keine Maden mehr zu finden, und die Langeweile zog wieder ein. Ich war schon drauf und dran, nach oben in die neue Wohnung zu gehen, aber ich wollte Gerda nicht durch vorzeitiges Erscheinen verärgern. Ich setzte mich auf die Haustürschwelle und rief eine meiner Phantastereien auf, die ich mir ansonsten vor dem Einschlafen gönnte. Ich war mir dessen nicht bewusst, dass Gerda mich in diesem Winkel nicht erblicken konnte, wenn sie aus dem Fenster sah. Entsprechend besorgt klang ihre Stimme, als sie mich endlich rief.
In der Wohnung angekommen, schickte sie mich sofort ins Badezimmer zum Händewaschen, meine Hände waren so schmutzig, wie ich sie schon seit langem nicht mehr "hinbekommen" hatte. Natürlich wollte Gerda wissen, wie ich das angestellt hatte, und ich erzählte ihr gewohnheitsmäßig die volle Wahrheit, ich verschwieg lediglich, dass und warum ich die Maden erschlagen hatte, denn eines der zehn Gebote lautet: Du sollst nicht töten. Sie keifte: "Wat? Du schpielst mit Madn? Biste denn völlich blöde? Mit sowat eklijet schpielt keen Schwein! Naja, du bist villeicht mal die jrößte Drecksau von janz Berlin!"
Wenn ich - sechs bis achtjährig - mit ihr zusammen eine Straßenbahn- oder Busfahrt zu unternehmen hatte, schärfte sie mir vorher ein: "Wenn dir eena fraacht, denn biste erst fümwe, klar? Ick hab nich soville Jeld for ne Faakate for dir." Man beachte, dass eine Kinderfahrkarte seinerzeit nur zehn Pfennige kostete.
Um uns Kinder zu unterhalten, setzte sie manchmal ihre Fingerspitzen auf den ersten Knöchel des nachfolgenden Fingers, also den Mittelfinger auf den Zeigefinger, den Ringfinger auf den Mittelfinger und den kleinen auf den Ringfinger. Das sah lustig aus. Dazu sagte sie: "Lieba Jott, lass Banaan wachsn!" Wir machten das gerne nach und amüsierten uns über die kleinen runden Fensterchen, die auf diese Weise zwischen unseren Fingern entstanden.
Wenn wir im Herbst bei einem Spaziergang an einem Ahornbaum vorbeikamen, hob Gerda die herab gefallenen Früchte auf, öffnete sie an ihrem dicken Ende und setzte sie sich auf die Nase. Auch das fanden wir sehr lustig und machten es nach, auch, wenn wir später alleine zu einem Ahornbaum kamen, der seine "Nasen" abgeworfen hatte. Für mich war dadurch - bis zu meinem 14. Lebensjahr - ein Ahornbaum stets nur ein "Nasenbaum".
Gerda hatte übrigens Schneiderin gelernt, hatte aber kaum Gelegenheit, in diesem Beruf zu arbeiten, denn damals (1940) hätte sie nur in einer Schneiderei für Militärmäntel Anstellung bekommen, und das war für die immer noch sehr zierliche kleine 19jährige körperlich zu schwer. Und mitten in die Lehrzeit fiel ihre Schwangerschaft, sodass sie es mit den Prüfungen nicht leicht hatte, aber mit der Note "Gut" bestand.
Da sie in keiner Damenschneiderei Anstellung finden konnte, ging sie zu DEGUFA. Ich entsinne mich nicht, dass Gerda jemals irgendetwas genäht hatte, außer den beiden Kleidern für die "Lotte-Puppen". Ich wusste zwar, dass sie eine Nähmaschine besaß, aber in unserer Wohnung stand auch eine "Singer" unbenutzt herum. Waltraud erzählte mir 1990, dass Gerda Kleider und Mäntel für uns genäht habe, jedoch ich erinnere mich nicht daran. Ich vermute, dass Gerda nur für Waltraud genäht hatte.
Nach dem Krieg, als die Fabrik kaputt wie ganz Deutschland war, hatte sie das Glück, in einer Gärtnerei Arbeit zu finden, wo nicht nur Blumen gezüchtet wurden, sondern auch Gemüse angebaut wurde. Weil Geld zu jener Zeit auch bei den kleinen Unternehmern sehr knapp war, bekam Gerda einen Teil des Lohnes in Naturalien. So hatten Ida und die Ihrigen regelmäßig frisches Gemüse und Kartoffeln, zu jener Zeit ein großer Segen. Dennoch fuhren Gerda und Irma des Öfteren auf die Felder zum "Stoppeln", wie ich häufig bei Familienfeiern aus trunkenheitsverworrenen Berichten heraushörte, wo diese gefährlichen Fahrten als lustiges Abenteuer geschildert wurden.
Durch die Tätigkeit in der Gärtnerei erfuhr Gerda so nebenbei auch die Namen der meisten Gartenblumen. Dieses Wissen gab sie an ihre Tochter weiter und die übermittelte es mir dann später zu meiner großen Freude.
Zu meiner Jugendweihe schenkte sie mir etwas für meine "Aussteuer". Darüber war ich direkt erschrocken, denn ich hatte nicht vor, jemals zu heiraten. Diese Geschenke machten mir regelrecht Angst. Ich fürchtete, Ida könnte eines Tages sagen: "Jetz haste ne Aussteua, nu heirate ooch!", und ich müsste dann - so wie es in ihrer Jugend häufig vorkam - einen Mann heiraten, den ich gar nicht liebe!
Diese "Aussteuer" bestand aus einem großen und einem kleinen Frotteetuch, einem Laken, welches Gerda nach Idas Tod wieder an sich nahm und einem lindgrünen BH, der mir um so viel zu groß war, dass er mir zeitlebens nicht gepasst hätte. Gerda erwartete, dass ich einen ähnlich stattlichen Busen wie meine Mutter bekommen würde. Meiner Mutter passte der BH, und sie hat ihn gern und lange getragen.
Gerda wurde 75 Jahre alt.
Old Icke und die Kirche
Vor dem Krieg ging Ida in die Kirche am Mirbachplatz. Der Mirbachplatz befindet sich in der Pistoriusstraße, etwa 400 m von unserem Wohnhaus entfernt. Aber diese Kirche wurde im Krieg so stark beschädigt, dass die Gläubigen sich ein anderes Gotteshaus suchen mussten. Ida ging nun in die Kapelle der Baptisten Gemeinde in der Friesickestraße. Sonntagvormittags gab es hier auch einen Kinder-Gottesdienst, den Waltraud und ich regelmäßig besuchten.
Ich ging sehr gern in die Kirche. Erstens, weil es ein besonderer Ort mit eigenen Regeln war, zweitens wegen der schönen Geschichten, drittens weil hier nur das von mir verlangt wurde, was ich schon gut konnte, nämlich stillsitzen, leise sein und nach Aufforderung mitsingen, und viertens wegen der Orgel und den harmonischen Gesängen, die so voller Menschenliebe waren. Es machte mich sehr glücklich, zu erfahren, dass es einen gütigen Gott gibt, der alle Menschen liebt und versteht und der die Menschen dazu anhält, es ihm gleich zu tun durch das Gebot: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!"
Die Vorstellung, nach meinem Tode im Chor der Engel mitsingen zu dürfen, hielt mich eher als alle Strafen und Verbote dazu an, stets brav und gehorsam zu sein. "Der liebe Gott sieht alles!", dieser Spruch hielt mich viele Jahre lang davon ab, ein eigenes Leben zu führen. Ich wollte gehorsam und gottesfürchtig sein. Ich wusste: Die Christen fürchten Gott, jedenfalls seine Strafe. Ich wollte niemals gestraft werden, nachdem ich Idas Hiebe empfangen hatte, denn Gottes Strafen fielen gewiss schlimmer aus!
Die Baptisten-Kirche ist ein fast quadratischer Bau, damals dunkelgrau verputzt. Der einzige Zierrat waren die hohen bunten Glasfenster, auf denen Szenen aus der biblischen Geschichte dargestellt waren. Durch diese Fenster drang wenig Licht in das Kircheninnere. Um 1960 wurden die bleigefassten Fenster entfernt und weiße, geriffelte Glasscheiben eingesetzt.
Mir Dreijährige schien der Kirchenraum riesig, obwohl er nur 15 Sitzreihen hatte. Oft saß Waltraud neben mir, aber wenn Doris mit uns kam, setzten sich die beiden Mädchen nach hinten zu den Jungs. Ich war sehr eifrig und lernte die Gesänge und Gebete rasch, obwohl ich häufig den Inhalt nicht völlig verstand.
Nach erstem Anhören der Bergpredigt sagte Waltraud zu mir: "Du bist eene von die Seelijen, du bist ja arm am Jeiste!" Ich freute mich riesig, selig zu sein und überhörte die Gemeinheit.
Zu Hause beteten wir stets vor den Mahlzeiten: "Lieber Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast." Vor dem Einschlafen beteten wir: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein." Oder: "Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen Dein über meinem Bette sein." Als ich dieses Gebet lernen sollte, verstand ich es zuerst einmal falsch, ich meinte, der Vater soll es bleiben lassen, mir beim Schlafen zuzusehen. Ich fragte Ida, ob in diesem Gebet vielleicht MEIN Vater gemeint sei? Sie lachte verächtlich: "Nee, Mensch, dein Vata lebt doch noch!"
Als Waltraud und Doris in das Flegelalter kamen, hörten sich ihre Gebete so an: "Lieba Jott, ick bete, mein Arsch, der is aus Kneete, mein Kopp, der is aus Holz, und dadruff bin ick schtolz!" oder: "Vata unsa, der du bist, unsre janzen Schrippn frisst, meine hast de ooch jefressn, det werd ick dir nie vajessen!" Für mich war es ein Spaß, aber ich wusste, dass Doris einen Vater hatte, der tatsächlich ihre Schrippen fraß.
Eines der zehn Gebote hörte sich bei Doris so an: "Vata un Mutta sollst de ehrn, wenn se dir schlaaren, denn sollste dir wehrn, un wenn se sich denn noch mucken, denn sollst de se in de Fresse spucken!" Nie hätte sie derartiges auch nur andeutungsweise gewagt, aber es war eine leichte Art, sich den Unmut über ihre häuslichen Verhältnisse von der Seele zu reden. Ich wusste, dass das alles nicht gar so ernst gemeint war und konnte auch mit ihr darüber lachen; aber wenn Grete L. sagte: "Wer Jott vatraut un Bretta klaut, hat bald ne billje Laube!", hatte ich das Gefühl, dass sie das durchaus ernst meinte und auch befürwortete. Auch hielt sie es für einen guten Witz, bei Regenwetter zu sagen: "Die Engel pinkeln."
Als Dreijährige erlebte ich mit Ida einen Ostergottesdienst. Der Geistliche musste entsetzlich lavieren, um nach der Trauer um Jesu Tod noch ein “Halleluja” anbringen zu können. Dann sagte er: “Lasst uns diesen Gottesdienst feiern.”
Innerlich dachte ich: “Prima, jetzt gibt es was zu trinken!”, und freute mich auf Limonade, während ich Ida gern den Genuss von Alkohol gönnte, der zu einer Feier gehört wie das “Amen” in der Kirche. Ich war völlig “aus dem Wind”, als ich sah, dass es für Ida nur einen winzigen Schluck Wein aus einem Pokal - aus welchem (Pfui!) alle tranken und einem trockenen, geschmacklosen Keks (den ich mir lieber selber in den Mund steckte, als ihn von den gnubbeligen Pfarrersfingern hineingesteckt zu bekommen) - nichts weiter gab. Auf dem Heimweg fragte ich Ida, warum der Pfarrer das eine Feier nannte? Die Antwort war unbefriedigend.
Wer während des Kindergottesdienstes brav war, bekam von der Aufsicht einen Zettel mit einem Bibelspruch. Ich sammelte meine Zettel und hatte bald einen ganzen Stapel. Da kam mir in den Sinn, ein gutes christliches Werk zu tun und verteilte die Sprüche an jene Kinder, von denen ich wusste, dass sie nicht zur Kirche gingen. Ich bekniete sie mit frommen Worten, wie ich sie in der Kirche gehört hatte und machte ihnen klar, dass sie nach ihrem Tode nicht in den Himmel kommen, sondern im Fegefeuer schmoren werden, wenn sie sich nicht bald besinnen, in die Kirche gehen und gute Diener Gottes werden. Es war ein tolles Gefühl, in einer Schar aufmerksamer Lauscher im Mittelpunkt zu stehen. Meine Wangen röteten sich vor Eifer. Doch beim Erläutern der zehn Gebote wurde mir bewusst, wie sehr mir diese Aufmerksamkeit schmeichelte. Das Wort Gottes ist nicht da zu da, dass sich eine dumme Göre schmeicheln lässt! Ich brach mit hochrotem Kopf meine Rede ab. Die von mir angesprochenen Kinder kamen auch weiterhin nicht zum Gottesdienst. Ich war damals sieben Jahre alt.
In der Sonntagsschule gab es eine kleine Hymne, die stets zu Beginn oder am Schluss des Gottesdienstes gesungen wurde: "Sonntagsschule, du sollst leben, wachsen, blühen und gedeihn, steter Jubel, stetes Leben soll in deinen Mauern sein . . ." (nach der Melodie des Weihnachtsliedes "Morgen, Kinder, wird s was geben")
An einem Sonntag verlief der Kindergottesdienst ganz anders als sonst. Es war ein sehr heißer Sommertag, wir gingen nach dem "Vaterunser" in den Kirchgarten, von dessen Existenz die meisten von uns bis dahin gar nichts wussten. Der Pfarrer und das Aufsichtspersonal spielten mit uns die Kreisspiele, die wir Kinder sonst auf der Straße spielten: "Laurentia", "25 Bauernjungfern", "Stolzer König, was suchst du hier", "Ziehet durch die goldne Brücke", "Der Plumpsack", "Rote Kirschen ess ich gern", "Der Sandmann ist da", "Es geht ein Bi-ba-butzemann", "Brüderchen, tanz mit mir" usw. Es war wunderschön und wiederholte sich nie.
Kurz darauf erzählte uns der Pfarrer eine Geschichte, mit der ich nicht einverstanden war. Sie handelte vom "Jüngsten Tag", wo sich herausstellen sollte, wer in den Himmel kommt und wer der ewigen Verdammnis anheim fällt. Der Pfarrer sprach: "Und da sie wandelten in der Finsternis, ging einigen das Öl aus in ihrer Glaubenslampe, und sie baten diejenigen, die mit ihnen gingen, ihnen etwas abzugeben von ihrem Glaubensöl. Doch niemand gab ihnen Öl, denn sie hatten im Leben genug Zeit, Glaubensöl zu sammeln, da es bei ihnen nun nicht reichte, fielen sie der ewigen Verdammnis anheim. Viele Tränen flossen bei ihren Angehörigen, aber es war zu spät."
Wo war denn in diesem Moment das Gebot geblieben "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst"? War dies nicht die höchste Stunde der Not, wo jeder ein Schuft war, der nicht half? Ich hätte von meinem Öl abgegeben. Sollte doch dann der Allwissende über mich richten! (Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, ist man dann auch handlungsfähig, so verstand ich es. Sollte man nicht handlungsfähig sein, ist ein Leben nach dem Tode völlig unnütz. Und solange man handeln kann, sollte man - gerade im Angesicht der endgültigen Entscheidung! - wie ein guter Christ handeln. Und helfen, wo man kann.)
In den Zehn Geboten steht „Du sollst nicht lügen“. So glaubte ich alles, was man mir erzählte. Man soll sich ja an die Gebote halten, wie konnte ich da je daran denken, dass ich von meinen nächsten Verwandten belogen werde? Und wenn ich auch noch so heftig ausgelacht wurde, ich wusste, dass ich mich auf dem rechten Weg befand.
Ida hatte auch Grete L. dazu angeregt, in die Kirche zu gehen. Oft gingen sie beide untergehakt zum Gottesdienst, etwa ein halbes Jahr lang. Dann erfand Grete L. Ausreden, denn der Kirchgang war für sie nichts weiter als verlorene Zeit. Auch am Sonntag hatte sie für ihre vielköpfige Familie zu sorgen.
Um 1952 lernte sie eine Frau kennen, die den "Zeugen Jehovas" angehörte. Diese Richtung gefiel ihr besser, auch weil die Sekte in der DDR verboten war. Grete L. ließ auch Ida (meiner Gegenwart nicht achtend) an ihrem neuen Wissen teilhaben und erzählte z.B., dass in einem selten gedruckten Buch der Bibel steht, dass die gesamte Menschheit eines Tages unter den Schatten einer Eiche passen wird. Also haben wir noch mindestens einen schrecklichen Krieg zu gewärtigen oder (hier machte sie eine Kunstpause und ein sensationslüsternes Gesicht) der Herrgott schickt uns noch einmal eine "Sündflut" (sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, in der Bibel zu lesen und wusste nicht, dass es "Sintflut" heißt). Dass das Ende der Menschheit auch völlig gewaltlos durch die ständig zunehmende Umweltverschmutzung oder in Form einer Krankheit wie AIDS auf uns zu kommen könnte, der Gedanke lag ihr fern. Denn Gott der Herr hat den Menschen die Erde übergeben, damit sie etwas daraus machen, und gegen Krankheiten gibt es Ärzte, auch wenn sie alle nur Kurpfuscher sind (sie hielt nicht viel von Ärzten und anderen Studierten. Solche Klugscheißer waren ihrer Gegenwart nicht würdig. Möglicherweise reagierte sie so ihren Frust darüber ab, dass ihr hochintelligenter Sohn Karlheinz nicht studiert hatte.).
Wenn ein Kind ungezogen war, schüttelte sie die Faust und keifte: "Dir werd ick schon noch Moses lern!" Durch die Freundin meiner Mutter erfuhr ich, dass hierbei nicht der Bibelmann gemeint war, sondern "mores", das lateinische Wort für Benehmen.
Ida las oft in der Bibel und hatte etliche Begriffe aus der biblischen Geschichte im täglichen Sprachgebrauch. Wenn es z.B. irgendwo unordentlich war, sagte sie: "Det sieht hier aus wie Sodom und Jemorra!" Wenn jemand erschrak, dann wurde er "zur Salzsäule wie Lots Weib". Wenn jemand von einem Gang zu einem Amt unverrichteter Dinge heimkehrte, war er "von Pontius zu Pilatus geschickt worden" (dadurch war ich der festen Überzeugung, dass es sich um zwei Personen handelt). Wenn jemand sehr bekümmert oder schwer krank war, sah er aus wie "das Leiden Christi". Oft "wusch sie ihre Hände in Unschuld", und oft beschuldigte sie mich, wie "die sieben Plagen" zu sein.
Sehr gern hörte ich die Geschichte, wie aus dem Saulus ein Paulus wurde, die von Johannes dem Täufer und die von David und Goliath. Diese Geschichten lernten wir auch im Religionsunterricht in der Schule. Einmal im Monat sollten wir eine Mark mitbringen. Dafür bekamen wir eine schmale rote Marke, ähnlich einer Briefmarke. Die wurde auf eine Karte geklebt, auf welche eine brennende Kerze abgebildet war. Wenn man die Marken ordentlich untereinander klebte, bekam die Kerze einen roten Stamm und sah recht hübsch aus. Diese Mark hatte Ida immer übrig, um 25 Pfennig für eine Kinderfilmvorstellung bat ich meist vergeblich.
Einmal sagte der Pfarrer, ein bereits recht ergrauter Herr, beim Kindergottesdienst: "Das Gute ist oft langweilig und man hat keinen Spaß daran, aber das Böse schillert und ist interessant! Es ist nicht recht, am Vormittag in der Kirche zu Gott zu beten und am frühen Nachmittag im Kino Teufelswerk anzusehen!" Wenn die größeren Kinder nicht sofort gekichert hätten, hätte ich sicher auch das für bare Münze genommen und lange Zeit dem Kinospaß entsagt, denn das Wort des Pfarrers war für mich Gesetz. Aber wo gekichert wird, da ist eine Lücke im Gesetz! Und außerdem waren die meisten der damaligen Kinderfilme fast ebenso moralisierend wie ein Kirchgang.
Eines meiner schönsten Erlebnisse in der Kirche war das Erntedankfest. Hier sah ich erstmalig das Korn, woraus "unser täglich Brot" gebacken wurde (und ich war bereit, es anzubeten) und auch die schönen Blüten der Kornblume; ich akzeptierte sie als Schädling und hätte dennoch heftig gegen ihre endgültige Ausrottung protestiert.
In einem von Idas Gebeten war die Zeile enthalten: "Gebenedeiet seist du, Maria". Ich fragte, was das bedeutet? Sie antwortete: "Det is jenauso wie jesejenet." Nun wollte ich wissen, warum es dann durch gebenedeiet ersetzt wurde? Ida verzog das Gesicht und knurrte: "Woher soll ick denn det wissn, Mensch?" Ich hätte gern noch gewusst, ob die Formulierung etwas mit dem Heiligen Benedikt (er war mir achtjährigen in einem Roman begegnet) zu tun hatte, aber ich war mir nicht sicher, ob Ida ihn kennt und wollte auch nicht riskieren, dass sie ob meiner dämlichen Fragen in Rage geriet.
1951 wurde der Religionsunterricht an den DDR-Schulen abgeschafft. Das machte mir nichts aus, ich ging ja jeden Sonntag zum Kindergottesdienst. Doch am nächsten Reformationstag führte uns unsere Lehrerin (um den Heimatkunde-Unterricht anschaulicher zu gestalten) in die (leider) nächstgelegene Kirche der Baptisten-Gemeinde, wo ich den Fehler beging, meinen Mitschülern (mit einigem Stolz!) den Platz zu zeigen, wo ich sonntags immer saß. Ich ignorierte, dass Kirche "out" war, ich war in meinem Element. Wenn die Lehrerin uns hier herführte, wollte ich auch Leistung zeigen!
Spott und Schande gewöhnt, ertrug ich wochenlang die Behauptung meiner Klassenkameraden, dass es der größte Blödsinn sei, an Gott zu glauben und auch die Bezeichnung "doofe Betschwester".
Ich wüsste heute gern, in welche Kirche diejenigen meiner Klassenkameraden gegangen waren, die gleich mir den Religionsunterricht besucht hatten. Es war gewiss die Hälfte aller Schüler. Jedenfalls war keiner unter ihnen, der den Mut gehabt hätte, mir beizustehen. Ich ertrug Beschimpfungen und Schläge in der Gewissheit, dass auch diese - all diese mir negativ gesonnenen Kinder - Kinder Gottes sind und irgendwann zur Besinnung kommen werden. In dieser Meinung verharrte ich jahrzehntelang (niemand will Krieg, jeder will leben und niemandem Schaden zufügen! Niemandem! So hatte ich die Erwachsenen reden hören, und so wünschte ich mir die Welt).
Ida war nach meinem achten Geburtstag der Meinung, mich auf den rechten Weg gebracht zu haben und ließ in ihrer Aufsichtspflicht in jeder Beziehung nach. Da ich mit ihr nicht mehr reden konnte - sie wies alle meine Fragen ab - schloss ich mich der Schulmeinung an: "Kirche ist die Vergangenheit, Sozialismus ist die Gegenwart".
Auch ohne den Spott meiner Klassenkameraden war ich gewillt, der Kirche "Lebewohl" zu sagen, denn mir kamen allmählich selber einige Zweifel. Wenn der Herrgott nämlich als erstes Adam und Eva erschuf (Eva aus Adams Rippe), und sie waren beide weiß, woher kamen dann die Neger und die Chinesen? Außerdem hatten Adam und Eva dann nur zwei SÖHNE, Kain und Abel. Kain erschlug Abel, zog in ein anderes Land und nahm dort eine Frau. Ja, woher kam DIE denn? Wenn sie von einem anderen Gott erschaffen wurde, dann war der doch wohl genauso mächtig wie der Christengott und also ebenso anbetungswürdig!
Außerdem sah ich zu Hause, dass man durchaus ein eifriger Kirchgänger und Bibelleser sein konnte, ohne sich stracks an die zehn Gebote halten zu müssen. Und dann noch das Unglaublichste - in den zehn Geboten steht: "Du sollst nicht töten", aber wenn ein Land mit einem anderen Krieg führt, werden auf beiden Seiten die Waffen gesegnet!
All diese Ungereimtheiten entfremdeten mich der Kirche. So war es leicht für mich, zu lachen, wenn die Freundin meiner Mutter den Stoßseufzer aussandte: "Jott sei s jedankt, jelobt, jetrommelt und jepfiffen!" oder: "Ach du jroßer Jott aus Holz!"
Sie lehrte uns Geschwister auch ein frommes Gebet, welches sie auf einem Grabstein gelesen hatte: "Ich bin ein rechtes Rabenaas, ein alter Sündenknüppel, der seine Sünden in sich fraß als wie der Russ die Zwibbel. O, Jesus, nimm mich Hund beim Ohr, wirf mir den Gnadenknochen vor und führ mich Sündenlümmel in deinen Gnadenhimmel."
Den Weihnachtsbaum nannte sie übrigens respektlos "Hallelujastaude". Doch als ich eines Tages - 14jährig - scherzhaft einen Zusammenhang zwischen "Monstranz" und "monströs" zu finden suchte, wies sie ihn mit Empörung zurück: "Da is jenausoviel Zusammenhang wie zwischen konkav und konkret, Komplex und Komplott oder Pettenkofer und Patentkoffer!” Während einer unserer Unterhaltungen äußerte sie die Meinung: "Das Mittelalter ist noch lange nicht zu Ende, selbst hier in Europa nicht, das sich für so aufgeklärt hält. Solange es noch Menschen gibt, die einen Gott brauchen, um mit sich und der Natur in Frieden leben zu können, solange ist auch noch Raum in den Köpfen für Demagogie und Massenhysterie. Was die Nazis vollbracht haben, ist jederzeit wiederholbar, es werden sich immer genügend Glaubenswillige finden. Wie sagte Karl Marx? Ein Gedanke wird zur Macht, wenn er die Massen ergreift. Das wurde auf den Sozialismus gemünzt, ist aber auch im negativen Sinne wahr."
Ich konnte auch herzlich mit meinem Bruder lachen, wenn er sang: "Jott im Himmel hat keen Pimmel, dadrum ham wir jetz det Jebimmel. Da hilft nur - halt die Ohrn zu, Menschenskind, halt die Ohrn zu!" (nach der Melodie des Liedes "Weißt du, wie viel Sternlein stehen", welches ich übrigens sehr liebte.)
Da das Abtreibungsgeschäft recht einträglich war, wurde Doris als einziges Kind der Familie L. konfirmiert. Endlich hatte Grete L. genügend Geld, um eine Einsegnungsfeier ausstatten zu können. Doris musste nun regelmäßig am Konfirmationsunterricht teilnehmen. Einmal war Doris aber ausgerechnet an solch einem Unterrichtstag mit einem Jungen verabredet und bat mich, mir die Stunde anzuhören und ihr alles zu erzählen, damit sie keine Bildungslücke hat. Der Pfarrer sah sofort, dass ich nicht zur Gruppe gehörte - ich war ja viel jünger als die anderen Kinder - und fragte mich freundlich nach meinem Begehr. Ich war nicht imstande, in dieses abgeklärte Pfarrersgesicht hinein zu lügen und gestand alles so, wie es war. Der Pfarrer schickte mich nach Hause und nahm sich in der nächsten Woche die Doris vor. Er stauchte sie tüchtig zusammen, ohne sie bei ihren Eltern zu verraten, womit er sich ihre größte Hochachtung verdiente.
Obwohl Doris und Waltraud konfirmiert wurden, sangen sie doch auf der Straße: "Hallelulja" und glaubten mir nicht, dass das vierte "l" in diesem Wort überzählig ist.
Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte Ida mich zur Pfarrei, damit ich mich zum Konfirmationsunterricht anmelde. Der Pfarrer stammte aus Süddeutschland, bei ihm wurden die Kinder nicht eingesegnet, sondern "eingeseechnet". Ich wollte dem Spott meiner Klassenkameraden nicht noch mehr Nahrung bieten, sie sollten nicht sagen können: "Die Seechern wird einjeseechnet und wohnt in de Piß - toriusstraße!"
Ich ging also an jenem Tage zweimal um die Kirche am Mirbachplatz herum (gegenüber ihrem Eingangsportal steht das Wohnhaus des Pfarrers, eine kleine Villa von außergewöhnlichem Baustil), und überlegte hin und her, wie ich der Ida beibringen sollte, dass ich mich nicht einsegnen lassen wollte. Mir fiel das Dümmste ein: Ich sagte, dass der Pfarrer nicht zu Hause gewesen sei. Sie vergewisserte sich argwöhnisch, ob ich wirklich an der richtigen Tür geklingelt hatte und schickte mich am nächsten Tag wieder los. Nun sagte ich ihr auf den Kopf zu - die Chance eines Sonderspaziergangs vertuend - dass ich Jugendweihe haben möchte. Nach großem Gezeter und Geschimpfe gab sie dem statt. Auch, weil Grete L. bestätigte, dass es nur sehr wenige Kinder gab, die noch eingesegnet wurden.
Die Jugendweihestunden fand ich auch viel interessanter. Beim Konfirmationsunterricht wären wir doch bestimmt nicht mehrmals ins Theater gegangen oder hätten einer Gerichtsverhandlung beigewohnt oder eine Betriebsbesichtigung gemacht!
Ich wäre ganz gewiss nicht zum Konfirmationsunterricht gegangen, denn zu jenem Zeitpunkt hielt ich die Bibel für nichts weiter als ein schönes altes Märchenbuch. Aber ich hätte mir niemals angemaßt, einen Menschen wegen seines Glaubens zu verachten. Auch hätte ich niemals dem Abriss einer Kirche zugestimmt, denn Kirchen wurden nur von den hervorragendsten Baumeistern errichtet, sind also Kulturdenkmäler und als solche zu achten und zu schützen.
Old Icke und das Jüdische
Es begegneten mir in meinen ersten Lebensjahren viele jiddische Vokabeln. Einige gehörten zur Umgangssprache, andere wurden später als Fremdwort abgestoßen. Ganz natürlich war: "Es zieht wie Hechtsuppe" (zurückzuführen auf "Hechta Supa", schnelle Luft, aber das wusste niemand von uns, wir bezogen den Ausspruch auf ein leckeres Fischgericht), wer "beschickert" war, war noch lange nicht besoffen; wer in den "Masseltopp" (eine Mischung aus dem jiddischen "mazel tov" und irgendeinem Topf) griff, hatte großes und unverdientes Glück, "meschugge" (so hörte ich es 1949, 1994 hörte ich auch "meschigge" für denselben Begriff) war die ganze Welt, nur manche Menschen waren blöd, bescheuert oder saudoof ("doof" ist übrigens vom hebräischen "dov" - der Bär - hergeleitet). Das Schimpfwortverzeichnis der Familie L. war schier unerschöpflich. Niemand registrierte, aus welcher Sprache die Worte stammten. Jedenfalls hörte ich von Grete L. die meisten jiddischen Vokabeln, wie ich im nachhinein feststelle.
Sie erzählte in meiner Gegenwart u.a., dass sie in ihrer frühen Jugend von einem Mann umworben wurde, der etwas älter war als sie und lange Schläfenlocken ("Schabbeslocken" von Grete L. genannt) trug. Sie berichtete mit großen Kulleraugen: "Der meente (sagte) zu mir, er hat mir in ne Schumme! Ick jeh doch nich mit so n Kerl int Schummrije, wer weeß, wat denn passiert!" Sie hat vielleicht nie erfahren, daß "neschome" im jiddischen "Seele" heißt oder wollte es nicht wissen.
Wenn sie vorhatte, einer Bekannten etwas heimzuzahlen, sagte sie mit scharfem Unterton: "Man ieberseht sich!" Ich hoffte, es sei so gemeint, dass sie die Betreffende in Zukunft übersehen, also ignorieren würde, damit beiden kein Leid geschieht. Jedenfalls wollte ich diese Worte, die ich Jahrzehnte später als jiddische Grußformel (abi me sejt sich) kennen lernte, so verstanden wissen.
Als ich etwa vier Jahre alt war, hörte ich ein Gespräch zwischen Ida und Grete L. mit an, welches die verfügbaren Männer zum Thema: "menschlicher Beistand mit Rat und Tat" sondierte, über einen Mann, den ich nicht kannte, von Grete L. in verächtlichem Ton die Meinung: "Der hat doch keen Koiach (jidd. kojech) nich!" Somit hatte für mich "keen Koiach", wer kraft- und herzlos war. Hier hatte Grete L. einmal ein jiddisches Wort richtig angewandt.
Wenn der Grete L. irgendeine Überlegung unsinnig erschien, sagte sie verweisend: "Det sin Kutschajedankn!" (im jiddischen sind "kutscherne Gedanken" solche, die zu nichts führen). Über einen ihr unredlich erscheinenden Menschen sagte sie: "Der is nich kooscher!"
Dieses Wort begegnete mir 1977 wieder, als ich mit einem Mann zusammenlebte. Da unser Geld recht knapp war, kaufte ich regelmäßig Fleisch und Wurst von der "Freibank". Er warf mir vor, ihm "koscheres Fleisch" vorzusetzen. Ich wusste, dass ein Rabbiner die koschere Schlachtung auf dem Berliner Schlachthof überwachte, aber er wusste nicht, dass koscher "rein" bedeutet. Für ihn war es "jüdisch", also schlecht.
1948 bat Grete L. wieder einmal sehr wortreich um irgendetwas, das ich ob der vielen nie gehörten Worte vergessen habe. Ich weiß nur noch, dass Ida sie freundlich nickend unter-brach: "Nu lass ma deine Mameloschen, mit mir kannste schon deutsch redn."
Grete L. verstummte offenen Mundes, dann kicherte sie und sagte geradeheraus, was sie wollte. Bei mir blieb nur ein "Erwachsenenwort" hängen: "Mameloschen". Ich fragte Ida nach der Bedeutung und sie antwortete unwirsch, dass "Mameloschen" so etwas ähnliches sei wie "Babylatein". Daraufhin verdrängte ich alle mir fremd erscheinenden Worte, die ich aus Grete L.s Munde hörte. Aber mein Gedächtnis hat einige gespeichert.
Die Lieder von Karsten Troyke, Mark Aizikovitch u.a. erwecken sie in mir und ich erinnere mich an meine Kindheit.
Unter "Schlammassel" (jidd. "Schlimazel", Unglück) verstand Grete L. übrigens ein heilloses Durcheinander.
Wenn irgendwo Kindergruppen laut waren, ohne zu randalieren, musste ein Erwachsener nur rufen: "Det jeht hier zu wie in ne Judnschule!" und schon waren alle still. Keiner wollte Jude sein. Die Juden waren aus dem deutschen Volk verstoßen worden. Derartiges wollte keiner am eigenen Leibe erfahren. So fragte auch niemand: "Warum?", und keiner konnte antworten, dass die Juden hohen Wert auf die Äußerung der eigenen Meinung legen, und daher die Stimmbildung fördern, damit sie sich auch in großen Menschenmassen Gehör verschaffen können, ohne die anderen niederzuschreien.
Einmal spielten Waltraud und Doris in unserer Küche und begannen aus irgendeinem Kindergrund einen lautstarken Streit. Ida hatte mich Vierjährige auf den Küchentisch gesetzt, um mir die Schuhe zuzubinden, so hatte ich den besten Überblick über die streitenden Mädchen. Plötzlich riss Ida die Hände auf ihre Ohren, wandte sich um und keifte: "Kennt ihr eich nich iebabeten?"
Wir lachten über das Fremdwort. Die Mädchen falteten die Hände gegenseitig über den Köpfen und der Streit war vergessen. Für uns war es nur ein Witz, wir forschten nicht nach dem Ursprung des Wortes. Erst als ich 45 Jahre später Mark Aizikovitch ein Lied mit dem Titel: "Lomir sich iberbetn" singen hörte, erfuhr ich, dass es aus dem Jiddischen stammt und "sich vertragen" bedeutet.
Meine Mutter sah angeblich wie eine Jüdin aus. Zur Nazizeit wurde sie mehrfach auf der Straße verhaftet, weil sie den gelben Stern nicht trug. Ihr Ehemann musste sie auf dem Revier als seine Frau und Arierin identifizieren. Nicht nur mein Vater, auch meine Mutter konnte den Arier-Nachweis über mehr als die geforderten zehn Generationen zurück erbringen. Meine Eltern verstanden die Welt nicht mehr: Man durfte nur noch mit gültigen Ausweispapieren auf den Straßen wandeln! Innerlich kopfschüttelnd wies Elly künftig ihre Papiere vor, um nicht immer wieder verhaftet zu werden.
Wenn ich mich an das Gesicht meiner Mutter erinnere, begreife ich nicht, was die Nazis hassten. Was sollte da jüdisch sein? Die grauen Augen vielleicht. Sie ähnelten denen von Rosa Luxemburg. Arier haben blaue Augen. Oder war es die Arglosigkeit, die sich in den Augen spiegelte? War es Mamas Vertrauen in die Menschheit? Ihre Unfähigkeit, einem anderen Menschen weh zu tun? Wenn das jüdisch ist, dann wünsche ich mir, dass es ausschließlich Juden auf dieser Welt geben möge!
Wenn jemand der Ida etwas aufdrängen wollte, was sie nur sehr selten oder vielleicht gar nicht benutzen würde und dabei dennoch behauptete: "Das brauchst du!", erwiderte sie giftig: "Zu Kapoores brauch ick det!"
Ich freute mich damals, dass meine Oma die aufdringlichen Geschäftemacher abweisen konnte, aber was "Kapores" bedeutet, erklärte sie mir nicht. Bis 1996 war ich nicht sicher, ob es sich um einen Feiertag (wir sagten "zu Ostern" bzw. "zu Weihnachten") oder um eine Speisenzutat (Ida sagte "zu Katoffilsuppe brauchste . . .") handelte. Ich erfuhr die Bedeutung erst 96, als ein Jude im Hackeschen Hof-Theater jiddische Geschichten und Witze erzählte und dabei erläuterte, dass "Kapores" ein jüdisches Ritual ist, welches selbst von den meisten Juden als unsinnig betrachtet wird. Hier wird zum Feiertag Jom Kippur ein Huhn oder ein Hahn geschlachtet und über den Häuptern der Familie geschwenkt, damit das Tier alle Sünden der Anwesenden auf sich zieht. In jenem Witz handelte es sich dabei statt des Federviehs um ein Pferd.
Einmal - ich mochte ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein - saß ich ungeduldig in der Küche. Aus irgendeinem Grunde war das Mittagessen nicht rechtzeitig fertig geworden. Ich murrte: "Wann jibt et denn nu endlich Mittach? Ick hab solchn Hunga!"
Gerade rechtzeitig, um die letzten Worte zu hören, kam Irma in die Küche und fuhr mich an: "Du weeßt doch jar nich, wat Hunga is! Du hast doch noch nie Kartoffelschaaln essn müssn!" und verließ die Küche wieder, ohne dass ersichtlich wurde, was sie eigentlich wollte. Ich fragte Ida, wie man solch ein Benehmen erklärt, und sie antwortete: "Die Irma hat ma wieda de Morrescheue (vom hebräischen "more schchoyre")." Das war wieder so ein Wort, dessen Herkunft und Bedeutung für mich im Dunkeln blieb, bis ich - 50jährig - jiddische Lieder hörte.
Irgendwann einmal - ich glaube gar, es war bei einer meiner Geburtstagsfeiern - wurde Grete L. animiert, etwas aus ihren jiddisch-Kenntnissen kund zu tun. Sie berichtete, dass die Juden einen Oberbegriff für Feiertagsfrieden haben: "Schulriehm" (so sprach sie "Scholem" aus). Ich hatte am Vortag beim Geschichtsunterricht in der Schule gehört, dass es früher keine Schultaschen gab, sondern dass die Schulbücher mit einem Riemen zusammengeschnürt wurden. So wurde "Schulriehm" für mich ein ganz natürliches Wort: Man lernt in Frieden.
Des weiteren sagte sie, dass die Juden all ihre jungen Männer nur "Hosen" nennen. Nun lästerte Ida: "Un die altn nenn se woll "alte Hosn", wat?" (Im jiddischen wird der Bräutigam "Chusn" genannt).
Grete L. behauptete danach: "Die Judn schickn ihre Jörn nich in ne Schule, sondan in de Heide." (Im Jiddischen wird das Schulhaus "chejde" genannt).
Wenn ein Kind einen unbedachten Ausspruch tat, kommentierte Grete L.: "Wie bei die Judn - Seeche im Kopp!" Sie hatte das jiddische Wort "sejchel" (Verstand) falsch interpretiert. Dennoch lehrte sie ihre Kinder u.a. auch das Lied von den zehn Brüdern: "Zen Brider sennen mir gewesen, haben mir gehandelet mit . . ."
Doris L. sang das Lied eines Tages Waltraud und mir vor. Ich weiß noch, dass alle Brüder gestorben sind, verstand aber nicht, woran - - und womit sie gehandelt hatten. Doris sagte, dass durch dieses Lied kleine Kinder Zählen lernen. Aber Waltraud kannte ein anderes Lied, wo ich zählen lernen konnte, ohne mir Fremdworte merken zu müssen: "Zehn kleine Negerlein - - -". Das wurde dann mit mir gesungen. Da waren die beiden Großen doch echt lieb zu mir, nicht wahr? Sie ersparten mir die vielen Fremdwörter, deren Bedeutung sie selbst auch nicht so recht kannten und brachten mir das Zählen bei anhand von "Negerlein", die der Reihe nach tödliche Unfälle erlitten.
An jenem Tag aber, als Grete L. jiddisches Wortgut von sich geben sollte, erwähnte sie auch, dass die Juden nirgendwo Miete zahlen. Ida reagierte erbost: "Wat? Det kann doch woll nich sein!" Grete lächelte: "Det heeßt bei denen Türgeld (diregeld, aus dem Mittelhoch-deutschen stammend)!" Nun wurde darüber gescherzt, dass die Miete wohl höher ist, wenn die Wohnung viele Türen hat.
Grete L. erzählte auch auf einer Familienfeier von einem jüdischen Nachbarn, der fast immer mit zwei Mädchen untergehakt ging, sodass man die "Kalte nich von die Warme" unterscheiden konnte (die Braut von der Freundin). Verwirrt konstatierte ich Fünfjährige im weiteren Verlauf der Geschichte: Die "Kalte" wird geheiratet, die "Warme" wird zur Erinnerung. Die "Kalle" ist im Jiddischen die Braut. Aber bei mir blieb es so haften, dass man nur Ehefrau werden kann, wenn man kaltherzig ist.
Ich weiß nicht mehr genau, ob es Weihnachten oder Sylvester 1948 war, jedenfalls waren Grete und Walter L. bei uns zu Gast. Zu fortgeschrittener Stunde begann Walter mit innigem Blick auf seine Frau zu singen: "Ich hob dich zuviel lieb . . ." Ich war total verblüfft über die Tatsache, dass dieser brutale Kerl ein so zärtliches Liebeslied singen konnte! Ich konnte mir den weiteren Text nicht merken, wegen der vielen mir unbekannten Worte, aber die zu dem Liedanfang gehörenden Töne behielt ich im Gedächtnis, so konnte ich das Lied 1990 als jiddisches Liebeslied wieder erkennen.
Wenn etwas weit über das Übliche hinaus ging, hieß es im Nazijargon: "bis zum TZ". Bei Grete L. ging es in diesem Falle "bis zum Suff" ("ssof" heißt auf hebräisch "Ende").
Das Wort "Sabbat" benutzte sie nur in Form von "Hexensabbat". Und da es Judas war, der Jesus um 8 Silberlinge (sie vermengte hier großzügig die 30 Silberlinge mit den 8-Groschen-Jungs) verriet, waren alle Juden Verräter.
Wenn Grete L. von "Müschboche" sprach, dann meinte sie nicht nur das jiddische Wort mischpoche (Familie), sondern auch katastrophale Zustände in dieser Familie.
Ich sah meiner Mutter ähnlich, zumindest, was das "jüdische" betraf. Einmal wurde ich - dreizehnjährig - in der Straßenbahn von einer Frau angesprochen, die felsenfest davon überzeugt war, dass ich Jüdin sei. Sie redete mir gut zu, dass ich es jetzt doch zugeben könne, mir würde gewiss nichts geschehen. Sie war sehr enttäuscht, als ich dabei blieb, auch nicht einen einzigen Juden in meiner Verwandtschaft zu haben.
Meine Mutter erzählte mir eine Begebenheit, die sie 1936 erlebte, als sie gerade nach Berlin umgezogen war: Auf dem Weg zu ihrer neuen Wohnung liefen zwei etwa achtjährige Knaben vor ihr, und sie hörte ungewollt ihr Gespräch: "Wo waast n du am Sonnaamd? Wir wolltn uns doch jedn Tach treffn!" - "Zu Schabbes muss ick imma mit Vaddern in de Synagoge. Un du - wo waast n du am Sonntach?" - "Da hat mir meine Mutta in ne Kirche mitjezerrt." - "In welche Kirche seid n ihr?" - "Na in die da an de Ecke." - "Nee, ick wollte wissn, ob ihr evangelsch oda katholsch seid." - "Woher soll ick denn det wissn? Un iebahaupt, ick fraach dir doch ooch nich, ob du n echta Jude bist!"
Auch die Freundin meiner Mutter befand, dass wir wie Jüdinnen aussahen. Manchmal packte sie mich zärtlich bei den Haaren und sagte: "Schudnschunge" zu mir. Dann fühlte ich mich meiner Mutter verbunden und fühlte mich gleichzeitig als eine glückliche "Tochter Zion".
Wenn Onkel Erich mit mir Schach spielte und ich ihn zu dem nächsten Zug drängte, sagte er: Nur keine jüdische Hast. Er als Kommunist hatte nicht begriffen, dass die Juden vor dem Inferno flohen. Er benutzte Nazijargon, wie mir Jahre später klar wurde. Wenn er es wüsste, würde er sich im Grabe umdrehen!
Der Regulator
Zu unserem Mobiliar gehörte auch eine Standuhr. Ein fast zwei Meter hoher, schwarzer Schrein, in den die Zeit eingesargt war. Ich habe diese Uhr gehasst und geliebt. Gehasst, weil sie neben meinem Bett stand und ich sie unter Androhung schlimmster Strafe nicht berühren durfte, und ich habe sie geliebt für ihre Zuverlässigkeit, für ihren harmonischen Klang, wenn sie die Stunde schlug und für ihre schnörkelreichen Verzierungen.
Sie stand auf kleinen gedrechselten Säulenbeinen, es sah aus, als wären zwei dicke schwarze Perlen zwischen zwei dicke schwarze Würfel geklemmt worden. Darüber folgte das Glasteil, in welchem man die gleichförmigen Bewegungen des goldenen Pendels verfolgen konnte, und man sah auch die Gewichte, die den Gang der Uhr regelten. Ihre Bewegungen waren erst nach Stunden festzustellen.
Als ich in die romantische Phase des Backfischalters eintrat, waren diese Gewichte für mich Sinnbilder des Lebens: Wer hoch steigt, kann tief fallen, nur wer die tiefsten Tiefen durchmessen hat, weiß Freude und Glück zu schätzen, Freud und Leid halten sich oft die Waage, was dich drückt, kann dich einst erheben, usw.
In für mich Ehrfurcht gebietender Höhe leuchtete das Zifferblatt mit seinen reich verzierten römischen Zahlen und den filigranen Zeigern. Wie unerbittliche Augen wirkten die zwei Öffnungen, durch welche man mit einem Spezialschlüssel die Uhr aufziehen konnte, damit sie alle Viertelstunden schlug. Bei einem Viertel tat sie ein Bing, bei zwei Vierteln zwei Bing, bei drei Vierteln drei Bing und bei der vollen Stunde tat sie zuerst vier Bing und dann so viele Bong, wie der kleine Zeiger bestimmte. Häufig hielt ich in meiner Beschäftigung inne, um diesem Klang zu lauschen. Jeder Gast unterbrach seine Rede, wenn unsere Uhr schlug.
Auf dem Gehäuse saßen zwischen hölzernen Ranken und Rosetten zwei kleine pausbackige Englein mit erhobenem Zeigefinger. Daher war ich als Dreijährige fest überzeugt, dass sie diese Harmonie von Schönheit, Zeit und Wohlklang erzeugten. Meine diesbezügliche Bemerkung wurde mit schallendem Gelächter honoriert. Aber das verletzte mich nicht. Ich freute mich, die Oma zum Lachen gebracht zu haben, denn nichts war schöner für mich, als frohe Menschen um mich zu haben.
Im zweiten Schuljahr lernten wir, die Uhrzeit zu erkennen. D.h., bei mir mühte sich die Lehrerin vergeblich. Ich begriff ihre Rede nicht. Ida fragte, warum ich eine 5 bekommen hatte und ich antwortete: "Ick weeß die Uhrzeit nich." Sie eilte in die Stube und sagte: "Det is zehn nach einzen, aba wat soll det deine Lehrerin jetz nützn?"
Ich erklärte nun, dass in unserem Rechenbuch Uhren abgebildet sind und wir die Zeit auf diesen Uhren angeben sollten. Zufällig war Tante Gerda gerade bei uns zu Besuch. Sie sah in das Buch und sagte: "Na, Mensch, det is doch janz einfach! Un det kannst de nich?" - "Nee", erwiderte ich traurig. Sie sagte: "Na, ick muß jetz leida jehn. Du lernst det schon. Tschüß."
Mein Lehrbuch blieb offen auf dem Küchentisch liegen. Ida versuchte, mir die Uhr zu erklären, aber ihre Rede glich der der Lehrerin, ich verstand gar nichts.
Grete L. kam, um etwas zu borgen. Ida erzählte ihr von dem neuen "Kumma mit die Jöre, die zu blöd is, det Einfachste zu bejreifn". Grete L. kam zu mir in die Stube und bemitleidete mich, dass ich die Uhr an einem römischen Zifferblatt lernen musste und brachte mir erst einmal bei, dass die drei Striche eben eine drei bedeuten und dass es dann viertel ist. Das war alles, was ich von ihrer wortreichen Erklärung begriff. Ich wurde schon selber ganz wütend darüber, dass ich die Uhr nicht lesen konnte. Für meine Mitschüler war es keine Kunst, die meisten von ihnen gingen selbständig zur Schule und wussten genau, zu welcher Uhrzeit sie von zu Hause losgehen mussten.
Endlich überließ Grete L. mich wieder mir selber. Ich stand vor der Uhr und blickte sie hasserfüllt an. Wie oft hatte ich schon begeistert zugesehen, wie der große Zeiger langsam von Ziffer zu Ziffer glitt! Ich wusste, dass die Uhrzeiger über hundert unterschiedliche Stellungen einnehmen konnten. Über hundert! Das war eine so große Zahl, dass ich mich außerstande fühlte, diese Stellungen jemals unterscheiden und verstehen zu können.
Irma kam nach Hause, begrüßte Ida in der Küche und wunderte sich, dass mein Lehrbuch aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Grete L. sagte: "Die doowe Krille bejreift die Uhr nich!"
Irma kam zu mir, legte einen Arm um mich und sagte: "Det gloob ick einfach nich, det du dazu zu deemlich sein sollst. Wir schtelln uns jetz ma hier hin un sehn der Uhr zu, denn wern wa schon dahintakomm, wat se uns saacht."
Endlich rückte der große Zeiger einen Strich weiter. "Siehste", sagte Irma, "nu is eene Minute um." Ich nickte. "Der Abschtand von eem Schtrich zum andan is eene Minute", erklärte sie. "Jede Schtunde hat sechzich Minutn. Det heißt, det der jroße Zeija an eem Tach zwölfmal um det janze Ziffablatt muss, weil der Tach zwölf Schtundn hat. Wenn a eenma rum is, is eene Schtunde um. Janz oohm schteht die zwölf, danehm is die eins. Det macht nischt, dass det hier römische Zahln sind. Du kannst doch von eins bis zwölf zeehln, also weeßte ooch, uff welche Zahl der kleene Zeija jetz schteht." - "Uff jakeene!" - "Richtich, jetz schteht a zwischen zwee Zahln." So erklärte sie mir geduldig alles, und am nächsten Tag konnte ich die schlechte Zensur ausbügeln.
Als ich älter war, fragte ich Ida, warum sie die Uhr "Rejelata" nennt, sie regelt doch die Zeit nicht, sondern zeigt sie nur an? Da sagte sie unwirsch: "Du weeßt aba ooch allet bessa!"
Eines Tages tat es in der Uhr einen lauten Knacks, begleitet von einem disharmonischen Singen. Dem hundertjährigen Uhrwerk war eine Feder gebrochen, und niemand konnte sie ersetzen. So wurde das Familienerbstück zu Brennholz zerspellt. Die Metallteile kamen in den Müll.
Gern wollte ich einen Zeiger als Andenken aufbewahren, aber Ida verbot es mit dem Bibelzitat: "Du sollst dein Herz nicht an eitlen Tand hängen!" Mit wehem Herzen sah ich aus dem Fenster zu, wie die Nachbarskinder die Zeiger aus der Mülltonne holten und mit ihnen spielten, bis die kleinen filigranen Kunstwerke nur noch unansehnliches Metall waren.
Als ich sie kennen lernte, war sie schon Mitte zwanzig und hatte für ihre 150cm Scheitelhöhe genügend weiblich Rundes, dazu ein freundliches Gesicht, war meist fröhlich, besonders, wenn fremde Leute in unserer Wohnung waren. Ansonsten war sie sehr ruhig und hatte nur selten eine eigene Meinung. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie gierig an der Zigarette sog (Rauchen war bei ihr ein trotziger Ausdruck von Erwachsensein und Selbständigkeit), und mit der anderen Hand imaginäre Falten in ihre Kittelschürze hinein- und wieder herausdrückte. Ihre rechte Hand benötigte ständige Bewegung, und war sie auch noch so unsinnig.
Dem Alter nach hätte sie bequem meine Mutter sein können, und oft mag sie sich eingebildet haben, so etwas wie eine Mutter für mich zu sein, denn sie kaufte etliche Jahre lang die gleichen Kleider für ihre Tochter und mich, ihre Tochter dabei mitunter hintanstellend. Waltraud war es gar nicht recht, als Backfisch noch das gleiche Kleid wie ein kleines Mädchen zu tragen, und es dauerte einige Kämpfe, ehe die Mutter das Modebewusstsein der Tochter akzeptierte. Von da an kaufte sie nichts mehr für mich, nur noch zu Weihnachten, wofür ich durchaus Verständnis hatte. Sie hatte mir gegenüber keine Verpflichtungen, und ich wusste, dass ich nicht das Recht hatte, irgendwelche Ansprüche zu stellen. Nur, wenn ich irgend etwas sehr heiß begehrte, das - nach meinem Kenntnisstand - nur sie mir beschaffen konnte - wurde ich mit meinen Bitten aufdringlich. Das war dreimal der Fall, als ich Lackbilder, Murmeln und ein Spielzeugauto begehrte. Letzteres bekam ich nie, ein Mädchen spielt nicht mit Autos, das bleibt den Jungs vorbehalten.
In mein Poesie-Album schrieb sie mir: "Liebe das Mutterherz, solange es schlägt, wenn es gebrochen ist, ist es zu spät." Aber sie beteiligte sich meist lebhaft daran, wenn über meine Mutter schlecht geredet wurde. Ich konnte Gerda beim besten Willen nicht als meine Mutter betrachten. Ich hatte eine leibliche Mutter, die ich schon deshalb liebte, weil immer wieder behauptet wurde, dass ich genau so dämlich sei wie sie. Wenn ich von Gerda wenigstens irgendetwas gelernt hätte! Aber sie vertrat generell Idas Meinungen und Ansichten; und häufig neckte sie mich aus Spaß, bis ich weinte. Ich bemühte mich stets, diese Vorkommnisse schnell zu vergessen. Es war nur Spaß; und es war mein Fehler, dass es mir wehtat.
Aus bei Familienfeiern Mitgehörtem weiß ich, dass sie mich nicht in meinem Kinderwagen spazieren fuhr. Sie fürchtete, die Nachbarn könnten denken, sie habe nun schon das zweite uneheliche Kind.
Mit Sicherheit hat sie mit mir all die Kleinkinderspiele gespielt, die ihr bekannt waren, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Eben, weil sie alles Gute am selben Tag unbewusst durch die Neckereien wieder wettmachte. Sie war nicht in der Lage, ein kleines Kind bereits als einen Menschen anzusehen, eher als ein lebendiges Ding. Und weil sie häufig schlecht über meine Mutter sprach und mir vorwarf, so "dämlich" wie meine Mutter zu sein, stieß sie mich ja von sich. Aber ich glaube, dass ihr auch das nicht bewusst war. Durch die ständigen Neckereien und die üblen Nachreden konnte ich jedenfalls nie unterscheiden, was Ernst und was Spaß war. Ich fiel immer wieder herein und "ärgerte mir die Platze".
Wahrscheinlich konnte Gerda sich keine Vorstellung davon machen, was "Mutter" bedeutet. Von ihrer eigenen Mutter war sie zum Tode verurteilt worden, und Ida ist mit ihr höchstwahrscheinlich genauso umgegangen wie mit mir. Obendrein durfte sie sich noch von ihrem Ziehvater anhören: "Dich haben wir uns gekauft", als wäre sie ein Gegenstand. Als sie dann mit siebzehn Jahren Mutter wurde, war sie vielleicht sogar froh, dass Ida ihr die Sorge um die Tochter abnahm. Vermutlich war Gerda der Meinung, dass eine Mutter ihrer Pflichten zur Genüge nachkommt, wenn sie dafür sorgt, dass ihr Kind stets satt zu essen hat und sauber angezogen ist, doch das genügt nicht einmal für ein Baby, auch das benötigt die liebevolle Zuwendung, die jeder Mensch ein Leben lang ersehnt. Sie besuchte ihre Tochter nur selten. wie sollte sie bei fehlendem Verständnis für das eigene Kind Verständnis für mich aufbringen?
Dennoch fragte ich sie - in dem normalen Drang jedes Kindes - woher ich gekommen sei? Sie antwortete schmunzelnd: "Dich haben wir in der Regenrinne gefunden." Ich wusste, dass das nicht stimmt. Ich fragte meine Patentante Grete L., sie musste es wissen! Und sie antwortete mir, dass ich beim Bettenmachen gefunden wurde.
Ich erinnere mich nicht daran, ob Gerda mir irgendein Lied beigebracht hat, irgendein Spiel oder sonst etwas. Nur zwei ihrer Redensarten sind mir gegenwärtig: "Schtille biste, Schtulle kriste, Bette jehste, vaschtehste?" - "Siehste, siehste, der Kaktus schteht in ne Wüste!" und ein Lied, welches sie häufig bei Familienfeiern zu singen gebeten wurde. Ich versuchte vergeblich, mir den Text einzuprägen. Sie sang das Lied mit dem italienischen Originaltext, und es ist schwierig, sich Worte zu merken, die einem völlig unverständlich sind. Sie hatte dieses Lied von Waltrauds Vater gelernt, und Alfred - ihr Ehemann - blickte entsprechend sauer, wenn sie es mit ihrer zittrigen Stimme sang. Ich verdolmetschte mir den Liedanfang so: "Mama santa fanta lietsche, Mama santa fantala, leih mir ganz ohne Gequietsche dein ganzes Geld jedes Jahr." Ich ließ meine Variante niemals verlauten, denn ich spürte unbewusst, wie viel der Gerda dieses Lied bedeutete und dass mein Text - obwohl der pure Spaß - sie verletzen würde. Es handelte sich hierbei um das Lied "Mama", welches in den Fünfzigern von Bärbel Wachholz und in den Sechzigern von Heintje mit unterschiedlichem deutschen Text gesungen wurde.
In einigen wenigen Punkten war Gerda nachsichtiger als Ida, z.B. was den Bewegungsdrang von Kindern anging. Wo Ida mich längst angebrüllt hätte: "Wißte woll endlich schtille schtehn!", sagte sie immer noch: "Det Kind muss sich doch eenma am Tach bewejen könn!" So glaubte ich eines Tages, als ich - vierjährig - nach einem Besuch bei Gerda unbedingt bei ihr übernachten wollte, dass ich mich in ihrer Wohnung mal so richtig austoben könnte. Ich lief durch die Zimmer wie auf einer Rennbahn, tanzte in der Küche, hüpfte im Flur und vollführte danach eine Rolle rückwärts auf dem weichen Bettvorleger. Gerdas sanfte Ermahnungen ignorierte ich. Letztendlich drohte sie: "Wenn de jetz nich jleich aatich bist, schleefst de die Nacht in n Kohlnkasten!" Ich lachte, ich hielt diese Drohung für einen Witz.
Endlich hatte ich mich ausgetobt und sah mir ein Bilderbuch an, bis das Abendbrot auf dem Tisch stand. Ich wusch mir die Hände, aß so manierlich wie ich konnte und war begeistert, als Gerda mich bat, beim Tischabräumen zu helfen, denn das durfte ich bei Ida nicht. Gerda machte die Betten zurecht, gab mir ein Nachthemd, welches Waltraud zu klein geworden war, und schlug danach den Kohlenkasten mit etlichen Zeitungen aus. Ich fragte lachend: "Wat machst du denn da, Tante Jerda?" - "Na, du schleefst doch heut Nacht in n Kohlnkastn, ha ick dir doch vaschprochn, wenn de nich uffhörst zu tohm. Du hast weita rumjetobt, also schleefst de jetz in n Kohlnkastn. Zieh dir man det Nachthemde bloß so üba de Sachn, damit de nich friast." Ich konnte es nicht fassen - sie hatte das mit dem Kohlenkasten ernst gemeint! Sie faltete etliche Zeitungen zu einer Bettdecke zusammen und wartete darauf, dass ich mich in den schmutzigen Kohlenkasten legte! Für mich brach eine Welt zusammen. Gerda war nicht besser als Ida, auch bei ihr durfte ein Kind sich nicht frei bewegen. Ich weinte, bis sie mir das Versprechen abnahm, nie wieder so herumzutoben. Dann gestattete sie mir, wie schon mehrmals vorher, auf der "Besucherritze", auf den Mittelkanten der Ehebetten, zu schlafen. Ich wollte nie wieder bei ihr übernachten, aber nach Familienfeiern war es noch ein paar mal nötig.
Im Sommer 49 - ich war also fünfeinhalb Jahre alt - zog Gerda in eine größere Wohnung. Ich wollte unbedingt diesen Umzug nach Pankow miterleben und bot meine Hilfe an. "Wat du schon helfen kannst!" hieß es da. "Du schtehst doch höchstns bloß im Weech!" Aber ich bat solange, bis man mir doch gestattete, beim Umzug zu helfen. Es waren ja schließlich auch etliche kleine Dinge die Treppen hinauf und hinunter zu tragen. So packte ich also tüchtig mit an, bis nur noch die schweren Sachen zu tragen waren. Da wurde ich auf den Hof spielen geschickt: "Aba loof ja nich weg, wir kenn die Jejend hier noch nich so jenau. Wenn de wegloofst, findn wa dir nich wieda! Außadem jibt et jleich Mittach."
Ich ging also auf den Hof und wartete darauf, zum Essen nach oben gerufen zu werden. Ich ahnte, dass es einige Zeit dauern würde, denn wenn man eine neue Wohnung bezieht, hat man nicht gleich alles parat. Ich fasste mich in Geduld und hatte auch meinen Hunger längst beiseite geschoben. Ich sah mich auf dem Hof um. Da waren nicht viele Spielmöglichkeiten. Die Klopfstange stand so nahe an der Wand, dass ich es nicht wagen konnte, daran zu turnen. Auch war sie so verrostet, dass ich fürchtete, sie würde mein Gewicht nicht aushalten.
Außer der Klopfstange gab es nur noch die Mülltonnen, die mich nun wirklich nicht zum Spielen einluden. Ich hatte kein Spielzeug mitgenommen, ich war ja zum Arbeiten mitgefahren. So stand ich nun auf dem kleinen Hinterhof und wusste nicht, was ich beginnen sollte.
Ich suchte nach kleinen Steinchen oder Scherben, denn damit kann man immer etwas spielen. Aber auf diesem Hof fand sich nichts dergleichen. Was ich dann als "kleine Steine" aus dem Boden klaubte, war doch schon ein wenig größer. Doch unter den Steinen hatten Insekten ihre Eier abgelegt, die sich bereits zu Larven entwickelt hatten. Ich ließ die Maden über meine Hände krabbeln, bis mir einfiel, dass sie im nächsten Stadium Mistfliegen werden würden. Da zerquetschte ich sie alle mit den Steinchen und suchte unter weiteren Steinen nach den Maden. Ich wollte sie alle vernichten, damit Gerda nicht im Sommer unter der Fliegenplage zu leiden haben würde. Endlich hatte ich einen sinnvollen Zeitvertreib!
Doch bald waren keine Maden mehr zu finden, und die Langeweile zog wieder ein. Ich war schon drauf und dran, nach oben in die neue Wohnung zu gehen, aber ich wollte Gerda nicht durch vorzeitiges Erscheinen verärgern. Ich setzte mich auf die Haustürschwelle und rief eine meiner Phantastereien auf, die ich mir ansonsten vor dem Einschlafen gönnte. Ich war mir dessen nicht bewusst, dass Gerda mich in diesem Winkel nicht erblicken konnte, wenn sie aus dem Fenster sah. Entsprechend besorgt klang ihre Stimme, als sie mich endlich rief.
In der Wohnung angekommen, schickte sie mich sofort ins Badezimmer zum Händewaschen, meine Hände waren so schmutzig, wie ich sie schon seit langem nicht mehr "hinbekommen" hatte. Natürlich wollte Gerda wissen, wie ich das angestellt hatte, und ich erzählte ihr gewohnheitsmäßig die volle Wahrheit, ich verschwieg lediglich, dass und warum ich die Maden erschlagen hatte, denn eines der zehn Gebote lautet: Du sollst nicht töten. Sie keifte: "Wat? Du schpielst mit Madn? Biste denn völlich blöde? Mit sowat eklijet schpielt keen Schwein! Naja, du bist villeicht mal die jrößte Drecksau von janz Berlin!"
Wenn ich - sechs bis achtjährig - mit ihr zusammen eine Straßenbahn- oder Busfahrt zu unternehmen hatte, schärfte sie mir vorher ein: "Wenn dir eena fraacht, denn biste erst fümwe, klar? Ick hab nich soville Jeld for ne Faakate for dir." Man beachte, dass eine Kinderfahrkarte seinerzeit nur zehn Pfennige kostete.
Um uns Kinder zu unterhalten, setzte sie manchmal ihre Fingerspitzen auf den ersten Knöchel des nachfolgenden Fingers, also den Mittelfinger auf den Zeigefinger, den Ringfinger auf den Mittelfinger und den kleinen auf den Ringfinger. Das sah lustig aus. Dazu sagte sie: "Lieba Jott, lass Banaan wachsn!" Wir machten das gerne nach und amüsierten uns über die kleinen runden Fensterchen, die auf diese Weise zwischen unseren Fingern entstanden.
Wenn wir im Herbst bei einem Spaziergang an einem Ahornbaum vorbeikamen, hob Gerda die herab gefallenen Früchte auf, öffnete sie an ihrem dicken Ende und setzte sie sich auf die Nase. Auch das fanden wir sehr lustig und machten es nach, auch, wenn wir später alleine zu einem Ahornbaum kamen, der seine "Nasen" abgeworfen hatte. Für mich war dadurch - bis zu meinem 14. Lebensjahr - ein Ahornbaum stets nur ein "Nasenbaum".
Gerda hatte übrigens Schneiderin gelernt, hatte aber kaum Gelegenheit, in diesem Beruf zu arbeiten, denn damals (1940) hätte sie nur in einer Schneiderei für Militärmäntel Anstellung bekommen, und das war für die immer noch sehr zierliche kleine 19jährige körperlich zu schwer. Und mitten in die Lehrzeit fiel ihre Schwangerschaft, sodass sie es mit den Prüfungen nicht leicht hatte, aber mit der Note "Gut" bestand.
Da sie in keiner Damenschneiderei Anstellung finden konnte, ging sie zu DEGUFA. Ich entsinne mich nicht, dass Gerda jemals irgendetwas genäht hatte, außer den beiden Kleidern für die "Lotte-Puppen". Ich wusste zwar, dass sie eine Nähmaschine besaß, aber in unserer Wohnung stand auch eine "Singer" unbenutzt herum. Waltraud erzählte mir 1990, dass Gerda Kleider und Mäntel für uns genäht habe, jedoch ich erinnere mich nicht daran. Ich vermute, dass Gerda nur für Waltraud genäht hatte.
Nach dem Krieg, als die Fabrik kaputt wie ganz Deutschland war, hatte sie das Glück, in einer Gärtnerei Arbeit zu finden, wo nicht nur Blumen gezüchtet wurden, sondern auch Gemüse angebaut wurde. Weil Geld zu jener Zeit auch bei den kleinen Unternehmern sehr knapp war, bekam Gerda einen Teil des Lohnes in Naturalien. So hatten Ida und die Ihrigen regelmäßig frisches Gemüse und Kartoffeln, zu jener Zeit ein großer Segen. Dennoch fuhren Gerda und Irma des Öfteren auf die Felder zum "Stoppeln", wie ich häufig bei Familienfeiern aus trunkenheitsverworrenen Berichten heraushörte, wo diese gefährlichen Fahrten als lustiges Abenteuer geschildert wurden.
Durch die Tätigkeit in der Gärtnerei erfuhr Gerda so nebenbei auch die Namen der meisten Gartenblumen. Dieses Wissen gab sie an ihre Tochter weiter und die übermittelte es mir dann später zu meiner großen Freude.
Zu meiner Jugendweihe schenkte sie mir etwas für meine "Aussteuer". Darüber war ich direkt erschrocken, denn ich hatte nicht vor, jemals zu heiraten. Diese Geschenke machten mir regelrecht Angst. Ich fürchtete, Ida könnte eines Tages sagen: "Jetz haste ne Aussteua, nu heirate ooch!", und ich müsste dann - so wie es in ihrer Jugend häufig vorkam - einen Mann heiraten, den ich gar nicht liebe!
Diese "Aussteuer" bestand aus einem großen und einem kleinen Frotteetuch, einem Laken, welches Gerda nach Idas Tod wieder an sich nahm und einem lindgrünen BH, der mir um so viel zu groß war, dass er mir zeitlebens nicht gepasst hätte. Gerda erwartete, dass ich einen ähnlich stattlichen Busen wie meine Mutter bekommen würde. Meiner Mutter passte der BH, und sie hat ihn gern und lange getragen.
Gerda wurde 75 Jahre alt.
Old Icke und die Kirche
Vor dem Krieg ging Ida in die Kirche am Mirbachplatz. Der Mirbachplatz befindet sich in der Pistoriusstraße, etwa 400 m von unserem Wohnhaus entfernt. Aber diese Kirche wurde im Krieg so stark beschädigt, dass die Gläubigen sich ein anderes Gotteshaus suchen mussten. Ida ging nun in die Kapelle der Baptisten Gemeinde in der Friesickestraße. Sonntagvormittags gab es hier auch einen Kinder-Gottesdienst, den Waltraud und ich regelmäßig besuchten.
Ich ging sehr gern in die Kirche. Erstens, weil es ein besonderer Ort mit eigenen Regeln war, zweitens wegen der schönen Geschichten, drittens weil hier nur das von mir verlangt wurde, was ich schon gut konnte, nämlich stillsitzen, leise sein und nach Aufforderung mitsingen, und viertens wegen der Orgel und den harmonischen Gesängen, die so voller Menschenliebe waren. Es machte mich sehr glücklich, zu erfahren, dass es einen gütigen Gott gibt, der alle Menschen liebt und versteht und der die Menschen dazu anhält, es ihm gleich zu tun durch das Gebot: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!"
Die Vorstellung, nach meinem Tode im Chor der Engel mitsingen zu dürfen, hielt mich eher als alle Strafen und Verbote dazu an, stets brav und gehorsam zu sein. "Der liebe Gott sieht alles!", dieser Spruch hielt mich viele Jahre lang davon ab, ein eigenes Leben zu führen. Ich wollte gehorsam und gottesfürchtig sein. Ich wusste: Die Christen fürchten Gott, jedenfalls seine Strafe. Ich wollte niemals gestraft werden, nachdem ich Idas Hiebe empfangen hatte, denn Gottes Strafen fielen gewiss schlimmer aus!
Die Baptisten-Kirche ist ein fast quadratischer Bau, damals dunkelgrau verputzt. Der einzige Zierrat waren die hohen bunten Glasfenster, auf denen Szenen aus der biblischen Geschichte dargestellt waren. Durch diese Fenster drang wenig Licht in das Kircheninnere. Um 1960 wurden die bleigefassten Fenster entfernt und weiße, geriffelte Glasscheiben eingesetzt.
Mir Dreijährige schien der Kirchenraum riesig, obwohl er nur 15 Sitzreihen hatte. Oft saß Waltraud neben mir, aber wenn Doris mit uns kam, setzten sich die beiden Mädchen nach hinten zu den Jungs. Ich war sehr eifrig und lernte die Gesänge und Gebete rasch, obwohl ich häufig den Inhalt nicht völlig verstand.
Nach erstem Anhören der Bergpredigt sagte Waltraud zu mir: "Du bist eene von die Seelijen, du bist ja arm am Jeiste!" Ich freute mich riesig, selig zu sein und überhörte die Gemeinheit.
Zu Hause beteten wir stets vor den Mahlzeiten: "Lieber Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast." Vor dem Einschlafen beteten wir: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein." Oder: "Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen Dein über meinem Bette sein." Als ich dieses Gebet lernen sollte, verstand ich es zuerst einmal falsch, ich meinte, der Vater soll es bleiben lassen, mir beim Schlafen zuzusehen. Ich fragte Ida, ob in diesem Gebet vielleicht MEIN Vater gemeint sei? Sie lachte verächtlich: "Nee, Mensch, dein Vata lebt doch noch!"
Als Waltraud und Doris in das Flegelalter kamen, hörten sich ihre Gebete so an: "Lieba Jott, ick bete, mein Arsch, der is aus Kneete, mein Kopp, der is aus Holz, und dadruff bin ick schtolz!" oder: "Vata unsa, der du bist, unsre janzen Schrippn frisst, meine hast de ooch jefressn, det werd ick dir nie vajessen!" Für mich war es ein Spaß, aber ich wusste, dass Doris einen Vater hatte, der tatsächlich ihre Schrippen fraß.
Eines der zehn Gebote hörte sich bei Doris so an: "Vata un Mutta sollst de ehrn, wenn se dir schlaaren, denn sollste dir wehrn, un wenn se sich denn noch mucken, denn sollst de se in de Fresse spucken!" Nie hätte sie derartiges auch nur andeutungsweise gewagt, aber es war eine leichte Art, sich den Unmut über ihre häuslichen Verhältnisse von der Seele zu reden. Ich wusste, dass das alles nicht gar so ernst gemeint war und konnte auch mit ihr darüber lachen; aber wenn Grete L. sagte: "Wer Jott vatraut un Bretta klaut, hat bald ne billje Laube!", hatte ich das Gefühl, dass sie das durchaus ernst meinte und auch befürwortete. Auch hielt sie es für einen guten Witz, bei Regenwetter zu sagen: "Die Engel pinkeln."
Als Dreijährige erlebte ich mit Ida einen Ostergottesdienst. Der Geistliche musste entsetzlich lavieren, um nach der Trauer um Jesu Tod noch ein “Halleluja” anbringen zu können. Dann sagte er: “Lasst uns diesen Gottesdienst feiern.”
Innerlich dachte ich: “Prima, jetzt gibt es was zu trinken!”, und freute mich auf Limonade, während ich Ida gern den Genuss von Alkohol gönnte, der zu einer Feier gehört wie das “Amen” in der Kirche. Ich war völlig “aus dem Wind”, als ich sah, dass es für Ida nur einen winzigen Schluck Wein aus einem Pokal - aus welchem (Pfui!) alle tranken und einem trockenen, geschmacklosen Keks (den ich mir lieber selber in den Mund steckte, als ihn von den gnubbeligen Pfarrersfingern hineingesteckt zu bekommen) - nichts weiter gab. Auf dem Heimweg fragte ich Ida, warum der Pfarrer das eine Feier nannte? Die Antwort war unbefriedigend.
Wer während des Kindergottesdienstes brav war, bekam von der Aufsicht einen Zettel mit einem Bibelspruch. Ich sammelte meine Zettel und hatte bald einen ganzen Stapel. Da kam mir in den Sinn, ein gutes christliches Werk zu tun und verteilte die Sprüche an jene Kinder, von denen ich wusste, dass sie nicht zur Kirche gingen. Ich bekniete sie mit frommen Worten, wie ich sie in der Kirche gehört hatte und machte ihnen klar, dass sie nach ihrem Tode nicht in den Himmel kommen, sondern im Fegefeuer schmoren werden, wenn sie sich nicht bald besinnen, in die Kirche gehen und gute Diener Gottes werden. Es war ein tolles Gefühl, in einer Schar aufmerksamer Lauscher im Mittelpunkt zu stehen. Meine Wangen röteten sich vor Eifer. Doch beim Erläutern der zehn Gebote wurde mir bewusst, wie sehr mir diese Aufmerksamkeit schmeichelte. Das Wort Gottes ist nicht da zu da, dass sich eine dumme Göre schmeicheln lässt! Ich brach mit hochrotem Kopf meine Rede ab. Die von mir angesprochenen Kinder kamen auch weiterhin nicht zum Gottesdienst. Ich war damals sieben Jahre alt.
In der Sonntagsschule gab es eine kleine Hymne, die stets zu Beginn oder am Schluss des Gottesdienstes gesungen wurde: "Sonntagsschule, du sollst leben, wachsen, blühen und gedeihn, steter Jubel, stetes Leben soll in deinen Mauern sein . . ." (nach der Melodie des Weihnachtsliedes "Morgen, Kinder, wird s was geben")
An einem Sonntag verlief der Kindergottesdienst ganz anders als sonst. Es war ein sehr heißer Sommertag, wir gingen nach dem "Vaterunser" in den Kirchgarten, von dessen Existenz die meisten von uns bis dahin gar nichts wussten. Der Pfarrer und das Aufsichtspersonal spielten mit uns die Kreisspiele, die wir Kinder sonst auf der Straße spielten: "Laurentia", "25 Bauernjungfern", "Stolzer König, was suchst du hier", "Ziehet durch die goldne Brücke", "Der Plumpsack", "Rote Kirschen ess ich gern", "Der Sandmann ist da", "Es geht ein Bi-ba-butzemann", "Brüderchen, tanz mit mir" usw. Es war wunderschön und wiederholte sich nie.
Kurz darauf erzählte uns der Pfarrer eine Geschichte, mit der ich nicht einverstanden war. Sie handelte vom "Jüngsten Tag", wo sich herausstellen sollte, wer in den Himmel kommt und wer der ewigen Verdammnis anheim fällt. Der Pfarrer sprach: "Und da sie wandelten in der Finsternis, ging einigen das Öl aus in ihrer Glaubenslampe, und sie baten diejenigen, die mit ihnen gingen, ihnen etwas abzugeben von ihrem Glaubensöl. Doch niemand gab ihnen Öl, denn sie hatten im Leben genug Zeit, Glaubensöl zu sammeln, da es bei ihnen nun nicht reichte, fielen sie der ewigen Verdammnis anheim. Viele Tränen flossen bei ihren Angehörigen, aber es war zu spät."
Wo war denn in diesem Moment das Gebot geblieben "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst"? War dies nicht die höchste Stunde der Not, wo jeder ein Schuft war, der nicht half? Ich hätte von meinem Öl abgegeben. Sollte doch dann der Allwissende über mich richten! (Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, ist man dann auch handlungsfähig, so verstand ich es. Sollte man nicht handlungsfähig sein, ist ein Leben nach dem Tode völlig unnütz. Und solange man handeln kann, sollte man - gerade im Angesicht der endgültigen Entscheidung! - wie ein guter Christ handeln. Und helfen, wo man kann.)
In den Zehn Geboten steht „Du sollst nicht lügen“. So glaubte ich alles, was man mir erzählte. Man soll sich ja an die Gebote halten, wie konnte ich da je daran denken, dass ich von meinen nächsten Verwandten belogen werde? Und wenn ich auch noch so heftig ausgelacht wurde, ich wusste, dass ich mich auf dem rechten Weg befand.
Ida hatte auch Grete L. dazu angeregt, in die Kirche zu gehen. Oft gingen sie beide untergehakt zum Gottesdienst, etwa ein halbes Jahr lang. Dann erfand Grete L. Ausreden, denn der Kirchgang war für sie nichts weiter als verlorene Zeit. Auch am Sonntag hatte sie für ihre vielköpfige Familie zu sorgen.
Um 1952 lernte sie eine Frau kennen, die den "Zeugen Jehovas" angehörte. Diese Richtung gefiel ihr besser, auch weil die Sekte in der DDR verboten war. Grete L. ließ auch Ida (meiner Gegenwart nicht achtend) an ihrem neuen Wissen teilhaben und erzählte z.B., dass in einem selten gedruckten Buch der Bibel steht, dass die gesamte Menschheit eines Tages unter den Schatten einer Eiche passen wird. Also haben wir noch mindestens einen schrecklichen Krieg zu gewärtigen oder (hier machte sie eine Kunstpause und ein sensationslüsternes Gesicht) der Herrgott schickt uns noch einmal eine "Sündflut" (sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, in der Bibel zu lesen und wusste nicht, dass es "Sintflut" heißt). Dass das Ende der Menschheit auch völlig gewaltlos durch die ständig zunehmende Umweltverschmutzung oder in Form einer Krankheit wie AIDS auf uns zu kommen könnte, der Gedanke lag ihr fern. Denn Gott der Herr hat den Menschen die Erde übergeben, damit sie etwas daraus machen, und gegen Krankheiten gibt es Ärzte, auch wenn sie alle nur Kurpfuscher sind (sie hielt nicht viel von Ärzten und anderen Studierten. Solche Klugscheißer waren ihrer Gegenwart nicht würdig. Möglicherweise reagierte sie so ihren Frust darüber ab, dass ihr hochintelligenter Sohn Karlheinz nicht studiert hatte.).
Wenn ein Kind ungezogen war, schüttelte sie die Faust und keifte: "Dir werd ick schon noch Moses lern!" Durch die Freundin meiner Mutter erfuhr ich, dass hierbei nicht der Bibelmann gemeint war, sondern "mores", das lateinische Wort für Benehmen.
Ida las oft in der Bibel und hatte etliche Begriffe aus der biblischen Geschichte im täglichen Sprachgebrauch. Wenn es z.B. irgendwo unordentlich war, sagte sie: "Det sieht hier aus wie Sodom und Jemorra!" Wenn jemand erschrak, dann wurde er "zur Salzsäule wie Lots Weib". Wenn jemand von einem Gang zu einem Amt unverrichteter Dinge heimkehrte, war er "von Pontius zu Pilatus geschickt worden" (dadurch war ich der festen Überzeugung, dass es sich um zwei Personen handelt). Wenn jemand sehr bekümmert oder schwer krank war, sah er aus wie "das Leiden Christi". Oft "wusch sie ihre Hände in Unschuld", und oft beschuldigte sie mich, wie "die sieben Plagen" zu sein.
Sehr gern hörte ich die Geschichte, wie aus dem Saulus ein Paulus wurde, die von Johannes dem Täufer und die von David und Goliath. Diese Geschichten lernten wir auch im Religionsunterricht in der Schule. Einmal im Monat sollten wir eine Mark mitbringen. Dafür bekamen wir eine schmale rote Marke, ähnlich einer Briefmarke. Die wurde auf eine Karte geklebt, auf welche eine brennende Kerze abgebildet war. Wenn man die Marken ordentlich untereinander klebte, bekam die Kerze einen roten Stamm und sah recht hübsch aus. Diese Mark hatte Ida immer übrig, um 25 Pfennig für eine Kinderfilmvorstellung bat ich meist vergeblich.
Einmal sagte der Pfarrer, ein bereits recht ergrauter Herr, beim Kindergottesdienst: "Das Gute ist oft langweilig und man hat keinen Spaß daran, aber das Böse schillert und ist interessant! Es ist nicht recht, am Vormittag in der Kirche zu Gott zu beten und am frühen Nachmittag im Kino Teufelswerk anzusehen!" Wenn die größeren Kinder nicht sofort gekichert hätten, hätte ich sicher auch das für bare Münze genommen und lange Zeit dem Kinospaß entsagt, denn das Wort des Pfarrers war für mich Gesetz. Aber wo gekichert wird, da ist eine Lücke im Gesetz! Und außerdem waren die meisten der damaligen Kinderfilme fast ebenso moralisierend wie ein Kirchgang.
Eines meiner schönsten Erlebnisse in der Kirche war das Erntedankfest. Hier sah ich erstmalig das Korn, woraus "unser täglich Brot" gebacken wurde (und ich war bereit, es anzubeten) und auch die schönen Blüten der Kornblume; ich akzeptierte sie als Schädling und hätte dennoch heftig gegen ihre endgültige Ausrottung protestiert.
In einem von Idas Gebeten war die Zeile enthalten: "Gebenedeiet seist du, Maria". Ich fragte, was das bedeutet? Sie antwortete: "Det is jenauso wie jesejenet." Nun wollte ich wissen, warum es dann durch gebenedeiet ersetzt wurde? Ida verzog das Gesicht und knurrte: "Woher soll ick denn det wissn, Mensch?" Ich hätte gern noch gewusst, ob die Formulierung etwas mit dem Heiligen Benedikt (er war mir achtjährigen in einem Roman begegnet) zu tun hatte, aber ich war mir nicht sicher, ob Ida ihn kennt und wollte auch nicht riskieren, dass sie ob meiner dämlichen Fragen in Rage geriet.
1951 wurde der Religionsunterricht an den DDR-Schulen abgeschafft. Das machte mir nichts aus, ich ging ja jeden Sonntag zum Kindergottesdienst. Doch am nächsten Reformationstag führte uns unsere Lehrerin (um den Heimatkunde-Unterricht anschaulicher zu gestalten) in die (leider) nächstgelegene Kirche der Baptisten-Gemeinde, wo ich den Fehler beging, meinen Mitschülern (mit einigem Stolz!) den Platz zu zeigen, wo ich sonntags immer saß. Ich ignorierte, dass Kirche "out" war, ich war in meinem Element. Wenn die Lehrerin uns hier herführte, wollte ich auch Leistung zeigen!
Spott und Schande gewöhnt, ertrug ich wochenlang die Behauptung meiner Klassenkameraden, dass es der größte Blödsinn sei, an Gott zu glauben und auch die Bezeichnung "doofe Betschwester".
Ich wüsste heute gern, in welche Kirche diejenigen meiner Klassenkameraden gegangen waren, die gleich mir den Religionsunterricht besucht hatten. Es war gewiss die Hälfte aller Schüler. Jedenfalls war keiner unter ihnen, der den Mut gehabt hätte, mir beizustehen. Ich ertrug Beschimpfungen und Schläge in der Gewissheit, dass auch diese - all diese mir negativ gesonnenen Kinder - Kinder Gottes sind und irgendwann zur Besinnung kommen werden. In dieser Meinung verharrte ich jahrzehntelang (niemand will Krieg, jeder will leben und niemandem Schaden zufügen! Niemandem! So hatte ich die Erwachsenen reden hören, und so wünschte ich mir die Welt).
Ida war nach meinem achten Geburtstag der Meinung, mich auf den rechten Weg gebracht zu haben und ließ in ihrer Aufsichtspflicht in jeder Beziehung nach. Da ich mit ihr nicht mehr reden konnte - sie wies alle meine Fragen ab - schloss ich mich der Schulmeinung an: "Kirche ist die Vergangenheit, Sozialismus ist die Gegenwart".
Auch ohne den Spott meiner Klassenkameraden war ich gewillt, der Kirche "Lebewohl" zu sagen, denn mir kamen allmählich selber einige Zweifel. Wenn der Herrgott nämlich als erstes Adam und Eva erschuf (Eva aus Adams Rippe), und sie waren beide weiß, woher kamen dann die Neger und die Chinesen? Außerdem hatten Adam und Eva dann nur zwei SÖHNE, Kain und Abel. Kain erschlug Abel, zog in ein anderes Land und nahm dort eine Frau. Ja, woher kam DIE denn? Wenn sie von einem anderen Gott erschaffen wurde, dann war der doch wohl genauso mächtig wie der Christengott und also ebenso anbetungswürdig!
Außerdem sah ich zu Hause, dass man durchaus ein eifriger Kirchgänger und Bibelleser sein konnte, ohne sich stracks an die zehn Gebote halten zu müssen. Und dann noch das Unglaublichste - in den zehn Geboten steht: "Du sollst nicht töten", aber wenn ein Land mit einem anderen Krieg führt, werden auf beiden Seiten die Waffen gesegnet!
All diese Ungereimtheiten entfremdeten mich der Kirche. So war es leicht für mich, zu lachen, wenn die Freundin meiner Mutter den Stoßseufzer aussandte: "Jott sei s jedankt, jelobt, jetrommelt und jepfiffen!" oder: "Ach du jroßer Jott aus Holz!"
Sie lehrte uns Geschwister auch ein frommes Gebet, welches sie auf einem Grabstein gelesen hatte: "Ich bin ein rechtes Rabenaas, ein alter Sündenknüppel, der seine Sünden in sich fraß als wie der Russ die Zwibbel. O, Jesus, nimm mich Hund beim Ohr, wirf mir den Gnadenknochen vor und führ mich Sündenlümmel in deinen Gnadenhimmel."
Den Weihnachtsbaum nannte sie übrigens respektlos "Hallelujastaude". Doch als ich eines Tages - 14jährig - scherzhaft einen Zusammenhang zwischen "Monstranz" und "monströs" zu finden suchte, wies sie ihn mit Empörung zurück: "Da is jenausoviel Zusammenhang wie zwischen konkav und konkret, Komplex und Komplott oder Pettenkofer und Patentkoffer!” Während einer unserer Unterhaltungen äußerte sie die Meinung: "Das Mittelalter ist noch lange nicht zu Ende, selbst hier in Europa nicht, das sich für so aufgeklärt hält. Solange es noch Menschen gibt, die einen Gott brauchen, um mit sich und der Natur in Frieden leben zu können, solange ist auch noch Raum in den Köpfen für Demagogie und Massenhysterie. Was die Nazis vollbracht haben, ist jederzeit wiederholbar, es werden sich immer genügend Glaubenswillige finden. Wie sagte Karl Marx? Ein Gedanke wird zur Macht, wenn er die Massen ergreift. Das wurde auf den Sozialismus gemünzt, ist aber auch im negativen Sinne wahr."
Ich konnte auch herzlich mit meinem Bruder lachen, wenn er sang: "Jott im Himmel hat keen Pimmel, dadrum ham wir jetz det Jebimmel. Da hilft nur - halt die Ohrn zu, Menschenskind, halt die Ohrn zu!" (nach der Melodie des Liedes "Weißt du, wie viel Sternlein stehen", welches ich übrigens sehr liebte.)
Da das Abtreibungsgeschäft recht einträglich war, wurde Doris als einziges Kind der Familie L. konfirmiert. Endlich hatte Grete L. genügend Geld, um eine Einsegnungsfeier ausstatten zu können. Doris musste nun regelmäßig am Konfirmationsunterricht teilnehmen. Einmal war Doris aber ausgerechnet an solch einem Unterrichtstag mit einem Jungen verabredet und bat mich, mir die Stunde anzuhören und ihr alles zu erzählen, damit sie keine Bildungslücke hat. Der Pfarrer sah sofort, dass ich nicht zur Gruppe gehörte - ich war ja viel jünger als die anderen Kinder - und fragte mich freundlich nach meinem Begehr. Ich war nicht imstande, in dieses abgeklärte Pfarrersgesicht hinein zu lügen und gestand alles so, wie es war. Der Pfarrer schickte mich nach Hause und nahm sich in der nächsten Woche die Doris vor. Er stauchte sie tüchtig zusammen, ohne sie bei ihren Eltern zu verraten, womit er sich ihre größte Hochachtung verdiente.
Obwohl Doris und Waltraud konfirmiert wurden, sangen sie doch auf der Straße: "Hallelulja" und glaubten mir nicht, dass das vierte "l" in diesem Wort überzählig ist.
Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte Ida mich zur Pfarrei, damit ich mich zum Konfirmationsunterricht anmelde. Der Pfarrer stammte aus Süddeutschland, bei ihm wurden die Kinder nicht eingesegnet, sondern "eingeseechnet". Ich wollte dem Spott meiner Klassenkameraden nicht noch mehr Nahrung bieten, sie sollten nicht sagen können: "Die Seechern wird einjeseechnet und wohnt in de Piß - toriusstraße!"
Ich ging also an jenem Tage zweimal um die Kirche am Mirbachplatz herum (gegenüber ihrem Eingangsportal steht das Wohnhaus des Pfarrers, eine kleine Villa von außergewöhnlichem Baustil), und überlegte hin und her, wie ich der Ida beibringen sollte, dass ich mich nicht einsegnen lassen wollte. Mir fiel das Dümmste ein: Ich sagte, dass der Pfarrer nicht zu Hause gewesen sei. Sie vergewisserte sich argwöhnisch, ob ich wirklich an der richtigen Tür geklingelt hatte und schickte mich am nächsten Tag wieder los. Nun sagte ich ihr auf den Kopf zu - die Chance eines Sonderspaziergangs vertuend - dass ich Jugendweihe haben möchte. Nach großem Gezeter und Geschimpfe gab sie dem statt. Auch, weil Grete L. bestätigte, dass es nur sehr wenige Kinder gab, die noch eingesegnet wurden.
Die Jugendweihestunden fand ich auch viel interessanter. Beim Konfirmationsunterricht wären wir doch bestimmt nicht mehrmals ins Theater gegangen oder hätten einer Gerichtsverhandlung beigewohnt oder eine Betriebsbesichtigung gemacht!
Ich wäre ganz gewiss nicht zum Konfirmationsunterricht gegangen, denn zu jenem Zeitpunkt hielt ich die Bibel für nichts weiter als ein schönes altes Märchenbuch. Aber ich hätte mir niemals angemaßt, einen Menschen wegen seines Glaubens zu verachten. Auch hätte ich niemals dem Abriss einer Kirche zugestimmt, denn Kirchen wurden nur von den hervorragendsten Baumeistern errichtet, sind also Kulturdenkmäler und als solche zu achten und zu schützen.
Old Icke und das Jüdische
Es begegneten mir in meinen ersten Lebensjahren viele jiddische Vokabeln. Einige gehörten zur Umgangssprache, andere wurden später als Fremdwort abgestoßen. Ganz natürlich war: "Es zieht wie Hechtsuppe" (zurückzuführen auf "Hechta Supa", schnelle Luft, aber das wusste niemand von uns, wir bezogen den Ausspruch auf ein leckeres Fischgericht), wer "beschickert" war, war noch lange nicht besoffen; wer in den "Masseltopp" (eine Mischung aus dem jiddischen "mazel tov" und irgendeinem Topf) griff, hatte großes und unverdientes Glück, "meschugge" (so hörte ich es 1949, 1994 hörte ich auch "meschigge" für denselben Begriff) war die ganze Welt, nur manche Menschen waren blöd, bescheuert oder saudoof ("doof" ist übrigens vom hebräischen "dov" - der Bär - hergeleitet). Das Schimpfwortverzeichnis der Familie L. war schier unerschöpflich. Niemand registrierte, aus welcher Sprache die Worte stammten. Jedenfalls hörte ich von Grete L. die meisten jiddischen Vokabeln, wie ich im nachhinein feststelle.
Sie erzählte in meiner Gegenwart u.a., dass sie in ihrer frühen Jugend von einem Mann umworben wurde, der etwas älter war als sie und lange Schläfenlocken ("Schabbeslocken" von Grete L. genannt) trug. Sie berichtete mit großen Kulleraugen: "Der meente (sagte) zu mir, er hat mir in ne Schumme! Ick jeh doch nich mit so n Kerl int Schummrije, wer weeß, wat denn passiert!" Sie hat vielleicht nie erfahren, daß "neschome" im jiddischen "Seele" heißt oder wollte es nicht wissen.
Wenn sie vorhatte, einer Bekannten etwas heimzuzahlen, sagte sie mit scharfem Unterton: "Man ieberseht sich!" Ich hoffte, es sei so gemeint, dass sie die Betreffende in Zukunft übersehen, also ignorieren würde, damit beiden kein Leid geschieht. Jedenfalls wollte ich diese Worte, die ich Jahrzehnte später als jiddische Grußformel (abi me sejt sich) kennen lernte, so verstanden wissen.
Als ich etwa vier Jahre alt war, hörte ich ein Gespräch zwischen Ida und Grete L. mit an, welches die verfügbaren Männer zum Thema: "menschlicher Beistand mit Rat und Tat" sondierte, über einen Mann, den ich nicht kannte, von Grete L. in verächtlichem Ton die Meinung: "Der hat doch keen Koiach (jidd. kojech) nich!" Somit hatte für mich "keen Koiach", wer kraft- und herzlos war. Hier hatte Grete L. einmal ein jiddisches Wort richtig angewandt.
Wenn der Grete L. irgendeine Überlegung unsinnig erschien, sagte sie verweisend: "Det sin Kutschajedankn!" (im jiddischen sind "kutscherne Gedanken" solche, die zu nichts führen). Über einen ihr unredlich erscheinenden Menschen sagte sie: "Der is nich kooscher!"
Dieses Wort begegnete mir 1977 wieder, als ich mit einem Mann zusammenlebte. Da unser Geld recht knapp war, kaufte ich regelmäßig Fleisch und Wurst von der "Freibank". Er warf mir vor, ihm "koscheres Fleisch" vorzusetzen. Ich wusste, dass ein Rabbiner die koschere Schlachtung auf dem Berliner Schlachthof überwachte, aber er wusste nicht, dass koscher "rein" bedeutet. Für ihn war es "jüdisch", also schlecht.
1948 bat Grete L. wieder einmal sehr wortreich um irgendetwas, das ich ob der vielen nie gehörten Worte vergessen habe. Ich weiß nur noch, dass Ida sie freundlich nickend unter-brach: "Nu lass ma deine Mameloschen, mit mir kannste schon deutsch redn."
Grete L. verstummte offenen Mundes, dann kicherte sie und sagte geradeheraus, was sie wollte. Bei mir blieb nur ein "Erwachsenenwort" hängen: "Mameloschen". Ich fragte Ida nach der Bedeutung und sie antwortete unwirsch, dass "Mameloschen" so etwas ähnliches sei wie "Babylatein". Daraufhin verdrängte ich alle mir fremd erscheinenden Worte, die ich aus Grete L.s Munde hörte. Aber mein Gedächtnis hat einige gespeichert.
Die Lieder von Karsten Troyke, Mark Aizikovitch u.a. erwecken sie in mir und ich erinnere mich an meine Kindheit.
Unter "Schlammassel" (jidd. "Schlimazel", Unglück) verstand Grete L. übrigens ein heilloses Durcheinander.
Wenn irgendwo Kindergruppen laut waren, ohne zu randalieren, musste ein Erwachsener nur rufen: "Det jeht hier zu wie in ne Judnschule!" und schon waren alle still. Keiner wollte Jude sein. Die Juden waren aus dem deutschen Volk verstoßen worden. Derartiges wollte keiner am eigenen Leibe erfahren. So fragte auch niemand: "Warum?", und keiner konnte antworten, dass die Juden hohen Wert auf die Äußerung der eigenen Meinung legen, und daher die Stimmbildung fördern, damit sie sich auch in großen Menschenmassen Gehör verschaffen können, ohne die anderen niederzuschreien.
Einmal spielten Waltraud und Doris in unserer Küche und begannen aus irgendeinem Kindergrund einen lautstarken Streit. Ida hatte mich Vierjährige auf den Küchentisch gesetzt, um mir die Schuhe zuzubinden, so hatte ich den besten Überblick über die streitenden Mädchen. Plötzlich riss Ida die Hände auf ihre Ohren, wandte sich um und keifte: "Kennt ihr eich nich iebabeten?"
Wir lachten über das Fremdwort. Die Mädchen falteten die Hände gegenseitig über den Köpfen und der Streit war vergessen. Für uns war es nur ein Witz, wir forschten nicht nach dem Ursprung des Wortes. Erst als ich 45 Jahre später Mark Aizikovitch ein Lied mit dem Titel: "Lomir sich iberbetn" singen hörte, erfuhr ich, dass es aus dem Jiddischen stammt und "sich vertragen" bedeutet.
Meine Mutter sah angeblich wie eine Jüdin aus. Zur Nazizeit wurde sie mehrfach auf der Straße verhaftet, weil sie den gelben Stern nicht trug. Ihr Ehemann musste sie auf dem Revier als seine Frau und Arierin identifizieren. Nicht nur mein Vater, auch meine Mutter konnte den Arier-Nachweis über mehr als die geforderten zehn Generationen zurück erbringen. Meine Eltern verstanden die Welt nicht mehr: Man durfte nur noch mit gültigen Ausweispapieren auf den Straßen wandeln! Innerlich kopfschüttelnd wies Elly künftig ihre Papiere vor, um nicht immer wieder verhaftet zu werden.
Wenn ich mich an das Gesicht meiner Mutter erinnere, begreife ich nicht, was die Nazis hassten. Was sollte da jüdisch sein? Die grauen Augen vielleicht. Sie ähnelten denen von Rosa Luxemburg. Arier haben blaue Augen. Oder war es die Arglosigkeit, die sich in den Augen spiegelte? War es Mamas Vertrauen in die Menschheit? Ihre Unfähigkeit, einem anderen Menschen weh zu tun? Wenn das jüdisch ist, dann wünsche ich mir, dass es ausschließlich Juden auf dieser Welt geben möge!
Wenn jemand der Ida etwas aufdrängen wollte, was sie nur sehr selten oder vielleicht gar nicht benutzen würde und dabei dennoch behauptete: "Das brauchst du!", erwiderte sie giftig: "Zu Kapoores brauch ick det!"
Ich freute mich damals, dass meine Oma die aufdringlichen Geschäftemacher abweisen konnte, aber was "Kapores" bedeutet, erklärte sie mir nicht. Bis 1996 war ich nicht sicher, ob es sich um einen Feiertag (wir sagten "zu Ostern" bzw. "zu Weihnachten") oder um eine Speisenzutat (Ida sagte "zu Katoffilsuppe brauchste . . .") handelte. Ich erfuhr die Bedeutung erst 96, als ein Jude im Hackeschen Hof-Theater jiddische Geschichten und Witze erzählte und dabei erläuterte, dass "Kapores" ein jüdisches Ritual ist, welches selbst von den meisten Juden als unsinnig betrachtet wird. Hier wird zum Feiertag Jom Kippur ein Huhn oder ein Hahn geschlachtet und über den Häuptern der Familie geschwenkt, damit das Tier alle Sünden der Anwesenden auf sich zieht. In jenem Witz handelte es sich dabei statt des Federviehs um ein Pferd.
Einmal - ich mochte ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein - saß ich ungeduldig in der Küche. Aus irgendeinem Grunde war das Mittagessen nicht rechtzeitig fertig geworden. Ich murrte: "Wann jibt et denn nu endlich Mittach? Ick hab solchn Hunga!"
Gerade rechtzeitig, um die letzten Worte zu hören, kam Irma in die Küche und fuhr mich an: "Du weeßt doch jar nich, wat Hunga is! Du hast doch noch nie Kartoffelschaaln essn müssn!" und verließ die Küche wieder, ohne dass ersichtlich wurde, was sie eigentlich wollte. Ich fragte Ida, wie man solch ein Benehmen erklärt, und sie antwortete: "Die Irma hat ma wieda de Morrescheue (vom hebräischen "more schchoyre")." Das war wieder so ein Wort, dessen Herkunft und Bedeutung für mich im Dunkeln blieb, bis ich - 50jährig - jiddische Lieder hörte.
Irgendwann einmal - ich glaube gar, es war bei einer meiner Geburtstagsfeiern - wurde Grete L. animiert, etwas aus ihren jiddisch-Kenntnissen kund zu tun. Sie berichtete, dass die Juden einen Oberbegriff für Feiertagsfrieden haben: "Schulriehm" (so sprach sie "Scholem" aus). Ich hatte am Vortag beim Geschichtsunterricht in der Schule gehört, dass es früher keine Schultaschen gab, sondern dass die Schulbücher mit einem Riemen zusammengeschnürt wurden. So wurde "Schulriehm" für mich ein ganz natürliches Wort: Man lernt in Frieden.
Des weiteren sagte sie, dass die Juden all ihre jungen Männer nur "Hosen" nennen. Nun lästerte Ida: "Un die altn nenn se woll "alte Hosn", wat?" (Im jiddischen wird der Bräutigam "Chusn" genannt).
Grete L. behauptete danach: "Die Judn schickn ihre Jörn nich in ne Schule, sondan in de Heide." (Im Jiddischen wird das Schulhaus "chejde" genannt).
Wenn ein Kind einen unbedachten Ausspruch tat, kommentierte Grete L.: "Wie bei die Judn - Seeche im Kopp!" Sie hatte das jiddische Wort "sejchel" (Verstand) falsch interpretiert. Dennoch lehrte sie ihre Kinder u.a. auch das Lied von den zehn Brüdern: "Zen Brider sennen mir gewesen, haben mir gehandelet mit . . ."
Doris L. sang das Lied eines Tages Waltraud und mir vor. Ich weiß noch, dass alle Brüder gestorben sind, verstand aber nicht, woran - - und womit sie gehandelt hatten. Doris sagte, dass durch dieses Lied kleine Kinder Zählen lernen. Aber Waltraud kannte ein anderes Lied, wo ich zählen lernen konnte, ohne mir Fremdworte merken zu müssen: "Zehn kleine Negerlein - - -". Das wurde dann mit mir gesungen. Da waren die beiden Großen doch echt lieb zu mir, nicht wahr? Sie ersparten mir die vielen Fremdwörter, deren Bedeutung sie selbst auch nicht so recht kannten und brachten mir das Zählen bei anhand von "Negerlein", die der Reihe nach tödliche Unfälle erlitten.
An jenem Tag aber, als Grete L. jiddisches Wortgut von sich geben sollte, erwähnte sie auch, dass die Juden nirgendwo Miete zahlen. Ida reagierte erbost: "Wat? Det kann doch woll nich sein!" Grete lächelte: "Det heeßt bei denen Türgeld (diregeld, aus dem Mittelhoch-deutschen stammend)!" Nun wurde darüber gescherzt, dass die Miete wohl höher ist, wenn die Wohnung viele Türen hat.
Grete L. erzählte auch auf einer Familienfeier von einem jüdischen Nachbarn, der fast immer mit zwei Mädchen untergehakt ging, sodass man die "Kalte nich von die Warme" unterscheiden konnte (die Braut von der Freundin). Verwirrt konstatierte ich Fünfjährige im weiteren Verlauf der Geschichte: Die "Kalte" wird geheiratet, die "Warme" wird zur Erinnerung. Die "Kalle" ist im Jiddischen die Braut. Aber bei mir blieb es so haften, dass man nur Ehefrau werden kann, wenn man kaltherzig ist.
Ich weiß nicht mehr genau, ob es Weihnachten oder Sylvester 1948 war, jedenfalls waren Grete und Walter L. bei uns zu Gast. Zu fortgeschrittener Stunde begann Walter mit innigem Blick auf seine Frau zu singen: "Ich hob dich zuviel lieb . . ." Ich war total verblüfft über die Tatsache, dass dieser brutale Kerl ein so zärtliches Liebeslied singen konnte! Ich konnte mir den weiteren Text nicht merken, wegen der vielen mir unbekannten Worte, aber die zu dem Liedanfang gehörenden Töne behielt ich im Gedächtnis, so konnte ich das Lied 1990 als jiddisches Liebeslied wieder erkennen.
Wenn etwas weit über das Übliche hinaus ging, hieß es im Nazijargon: "bis zum TZ". Bei Grete L. ging es in diesem Falle "bis zum Suff" ("ssof" heißt auf hebräisch "Ende").
Das Wort "Sabbat" benutzte sie nur in Form von "Hexensabbat". Und da es Judas war, der Jesus um 8 Silberlinge (sie vermengte hier großzügig die 30 Silberlinge mit den 8-Groschen-Jungs) verriet, waren alle Juden Verräter.
Wenn Grete L. von "Müschboche" sprach, dann meinte sie nicht nur das jiddische Wort mischpoche (Familie), sondern auch katastrophale Zustände in dieser Familie.
Ich sah meiner Mutter ähnlich, zumindest, was das "jüdische" betraf. Einmal wurde ich - dreizehnjährig - in der Straßenbahn von einer Frau angesprochen, die felsenfest davon überzeugt war, dass ich Jüdin sei. Sie redete mir gut zu, dass ich es jetzt doch zugeben könne, mir würde gewiss nichts geschehen. Sie war sehr enttäuscht, als ich dabei blieb, auch nicht einen einzigen Juden in meiner Verwandtschaft zu haben.
Meine Mutter erzählte mir eine Begebenheit, die sie 1936 erlebte, als sie gerade nach Berlin umgezogen war: Auf dem Weg zu ihrer neuen Wohnung liefen zwei etwa achtjährige Knaben vor ihr, und sie hörte ungewollt ihr Gespräch: "Wo waast n du am Sonnaamd? Wir wolltn uns doch jedn Tach treffn!" - "Zu Schabbes muss ick imma mit Vaddern in de Synagoge. Un du - wo waast n du am Sonntach?" - "Da hat mir meine Mutta in ne Kirche mitjezerrt." - "In welche Kirche seid n ihr?" - "Na in die da an de Ecke." - "Nee, ick wollte wissn, ob ihr evangelsch oda katholsch seid." - "Woher soll ick denn det wissn? Un iebahaupt, ick fraach dir doch ooch nich, ob du n echta Jude bist!"
Auch die Freundin meiner Mutter befand, dass wir wie Jüdinnen aussahen. Manchmal packte sie mich zärtlich bei den Haaren und sagte: "Schudnschunge" zu mir. Dann fühlte ich mich meiner Mutter verbunden und fühlte mich gleichzeitig als eine glückliche "Tochter Zion".
Wenn Onkel Erich mit mir Schach spielte und ich ihn zu dem nächsten Zug drängte, sagte er: Nur keine jüdische Hast. Er als Kommunist hatte nicht begriffen, dass die Juden vor dem Inferno flohen. Er benutzte Nazijargon, wie mir Jahre später klar wurde. Wenn er es wüsste, würde er sich im Grabe umdrehen!
Der Regulator
Zu unserem Mobiliar gehörte auch eine Standuhr. Ein fast zwei Meter hoher, schwarzer Schrein, in den die Zeit eingesargt war. Ich habe diese Uhr gehasst und geliebt. Gehasst, weil sie neben meinem Bett stand und ich sie unter Androhung schlimmster Strafe nicht berühren durfte, und ich habe sie geliebt für ihre Zuverlässigkeit, für ihren harmonischen Klang, wenn sie die Stunde schlug und für ihre schnörkelreichen Verzierungen.
Sie stand auf kleinen gedrechselten Säulenbeinen, es sah aus, als wären zwei dicke schwarze Perlen zwischen zwei dicke schwarze Würfel geklemmt worden. Darüber folgte das Glasteil, in welchem man die gleichförmigen Bewegungen des goldenen Pendels verfolgen konnte, und man sah auch die Gewichte, die den Gang der Uhr regelten. Ihre Bewegungen waren erst nach Stunden festzustellen.
Als ich in die romantische Phase des Backfischalters eintrat, waren diese Gewichte für mich Sinnbilder des Lebens: Wer hoch steigt, kann tief fallen, nur wer die tiefsten Tiefen durchmessen hat, weiß Freude und Glück zu schätzen, Freud und Leid halten sich oft die Waage, was dich drückt, kann dich einst erheben, usw.
In für mich Ehrfurcht gebietender Höhe leuchtete das Zifferblatt mit seinen reich verzierten römischen Zahlen und den filigranen Zeigern. Wie unerbittliche Augen wirkten die zwei Öffnungen, durch welche man mit einem Spezialschlüssel die Uhr aufziehen konnte, damit sie alle Viertelstunden schlug. Bei einem Viertel tat sie ein Bing, bei zwei Vierteln zwei Bing, bei drei Vierteln drei Bing und bei der vollen Stunde tat sie zuerst vier Bing und dann so viele Bong, wie der kleine Zeiger bestimmte. Häufig hielt ich in meiner Beschäftigung inne, um diesem Klang zu lauschen. Jeder Gast unterbrach seine Rede, wenn unsere Uhr schlug.
Auf dem Gehäuse saßen zwischen hölzernen Ranken und Rosetten zwei kleine pausbackige Englein mit erhobenem Zeigefinger. Daher war ich als Dreijährige fest überzeugt, dass sie diese Harmonie von Schönheit, Zeit und Wohlklang erzeugten. Meine diesbezügliche Bemerkung wurde mit schallendem Gelächter honoriert. Aber das verletzte mich nicht. Ich freute mich, die Oma zum Lachen gebracht zu haben, denn nichts war schöner für mich, als frohe Menschen um mich zu haben.
Im zweiten Schuljahr lernten wir, die Uhrzeit zu erkennen. D.h., bei mir mühte sich die Lehrerin vergeblich. Ich begriff ihre Rede nicht. Ida fragte, warum ich eine 5 bekommen hatte und ich antwortete: "Ick weeß die Uhrzeit nich." Sie eilte in die Stube und sagte: "Det is zehn nach einzen, aba wat soll det deine Lehrerin jetz nützn?"
Ich erklärte nun, dass in unserem Rechenbuch Uhren abgebildet sind und wir die Zeit auf diesen Uhren angeben sollten. Zufällig war Tante Gerda gerade bei uns zu Besuch. Sie sah in das Buch und sagte: "Na, Mensch, det is doch janz einfach! Un det kannst de nich?" - "Nee", erwiderte ich traurig. Sie sagte: "Na, ick muß jetz leida jehn. Du lernst det schon. Tschüß."
Mein Lehrbuch blieb offen auf dem Küchentisch liegen. Ida versuchte, mir die Uhr zu erklären, aber ihre Rede glich der der Lehrerin, ich verstand gar nichts.
Grete L. kam, um etwas zu borgen. Ida erzählte ihr von dem neuen "Kumma mit die Jöre, die zu blöd is, det Einfachste zu bejreifn". Grete L. kam zu mir in die Stube und bemitleidete mich, dass ich die Uhr an einem römischen Zifferblatt lernen musste und brachte mir erst einmal bei, dass die drei Striche eben eine drei bedeuten und dass es dann viertel ist. Das war alles, was ich von ihrer wortreichen Erklärung begriff. Ich wurde schon selber ganz wütend darüber, dass ich die Uhr nicht lesen konnte. Für meine Mitschüler war es keine Kunst, die meisten von ihnen gingen selbständig zur Schule und wussten genau, zu welcher Uhrzeit sie von zu Hause losgehen mussten.
Endlich überließ Grete L. mich wieder mir selber. Ich stand vor der Uhr und blickte sie hasserfüllt an. Wie oft hatte ich schon begeistert zugesehen, wie der große Zeiger langsam von Ziffer zu Ziffer glitt! Ich wusste, dass die Uhrzeiger über hundert unterschiedliche Stellungen einnehmen konnten. Über hundert! Das war eine so große Zahl, dass ich mich außerstande fühlte, diese Stellungen jemals unterscheiden und verstehen zu können.
Irma kam nach Hause, begrüßte Ida in der Küche und wunderte sich, dass mein Lehrbuch aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Grete L. sagte: "Die doowe Krille bejreift die Uhr nich!"
Irma kam zu mir, legte einen Arm um mich und sagte: "Det gloob ick einfach nich, det du dazu zu deemlich sein sollst. Wir schtelln uns jetz ma hier hin un sehn der Uhr zu, denn wern wa schon dahintakomm, wat se uns saacht."
Endlich rückte der große Zeiger einen Strich weiter. "Siehste", sagte Irma, "nu is eene Minute um." Ich nickte. "Der Abschtand von eem Schtrich zum andan is eene Minute", erklärte sie. "Jede Schtunde hat sechzich Minutn. Det heißt, det der jroße Zeija an eem Tach zwölfmal um det janze Ziffablatt muss, weil der Tach zwölf Schtundn hat. Wenn a eenma rum is, is eene Schtunde um. Janz oohm schteht die zwölf, danehm is die eins. Det macht nischt, dass det hier römische Zahln sind. Du kannst doch von eins bis zwölf zeehln, also weeßte ooch, uff welche Zahl der kleene Zeija jetz schteht." - "Uff jakeene!" - "Richtich, jetz schteht a zwischen zwee Zahln." So erklärte sie mir geduldig alles, und am nächsten Tag konnte ich die schlechte Zensur ausbügeln.
Als ich älter war, fragte ich Ida, warum sie die Uhr "Rejelata" nennt, sie regelt doch die Zeit nicht, sondern zeigt sie nur an? Da sagte sie unwirsch: "Du weeßt aba ooch allet bessa!"
Eines Tages tat es in der Uhr einen lauten Knacks, begleitet von einem disharmonischen Singen. Dem hundertjährigen Uhrwerk war eine Feder gebrochen, und niemand konnte sie ersetzen. So wurde das Familienerbstück zu Brennholz zerspellt. Die Metallteile kamen in den Müll.
Gern wollte ich einen Zeiger als Andenken aufbewahren, aber Ida verbot es mit dem Bibelzitat: "Du sollst dein Herz nicht an eitlen Tand hängen!" Mit wehem Herzen sah ich aus dem Fenster zu, wie die Nachbarskinder die Zeiger aus der Mülltonne holten und mit ihnen spielten, bis die kleinen filigranen Kunstwerke nur noch unansehnliches Metall waren.