Kapitel 18: Der Bürgermeister und die Baugenehmigungssitzung

Der Chauffeur ließ ihn vor dem Verwaltungsgebäude aussteigen.
Herr Drahtzieher nickte seinem Chauffeur zu, und der Livrierte fuhr den Mercedes weiter.
Der Bürgermeister Fritz Schalk kam zu Fuß, das tat ihm gut. Er war ein runder Mensch. Immer zu einem Späßchen aufgelegt. Und kugelrund. Doch sein Weg, so gut er ihm bei seinem Übergewicht tat, war nicht weit. Um vom Rathaus zur Stadtverwaltung zukommen, musste er nur den Marktplatz überqueren.
Drahtzieher ging die drei Treppenstufen zur großen Schwingtür des Verwaltungsgebäudes hoch, als er eine Stimme hinter sich hörte.
„Ein Schalk kommt selten allein! Mensch, Dieter, beeil dich doch nicht so; ich bin doch kein D-Zug!“
Drahtzieher drehte sich um und wurde vom Bürgermeister in den Bauch geknufft.
„Fischers Fritzchen fielleicht fiel Fiät fachen foll.“, versuchte Drahtzieher einen Witz.
„Ha,ha, der ist gut, der ist neu, den kannte ich noch nicht“, das Bäuchlein des Bürgermeisters hob und senkte sich.
„Und wer kommt heute?“, fragte Drahtzieher jetzt wieder ganz sachlich.
„Wir haben Glück“, sagte Fritz Schalk, als sie schon auf dem Flur des Erdgeschosses waren, „diese Langweilerin aus der Verwaltung, ach, ich muss leiser reden, ihre Kollegen sitzen ja hier auf dem Gang, haha, also die kommt nicht, da haben wir noch mal Glück gehabt, gell?“, flüsterte er mit vorgehaltener Hand, um dann wieder loszuprusten.
„Also geht’s schnell heute“, fasste Drahtzieher zusammen.
„Ja, hoff ich doch, heute Abend ist doch unser Stammtischabend im Clubhaus.“
„Ach, richtig“, erinnerte sich Drahtzieher.
Die beiden Männer waren am Sitzungssaal angekommen. Schalk verzog das Gesicht zu einer leidenden Grimasse und öffnete seufzend die Saaltür.

„Einen schönen guten Tag“, wünschte der Bürgermeister den anderen schon anwesenden Ausschussmitgliedern.
Da waren sie wieder alle. Der örtliche Vertreter von Greenpeace, der natürlich gegen die Gewerbezone war, der Schriftführer und der Anwalt der Bauerngenossenschaft. Nur waren da noch zwei anderen Herren, die Schalk nicht kannte.
„Hiermit erkläre ich die letzte Sitzung zur Baugenehmigung des neuen Gewerbegebiets für eröffnet.“
Drahtzieher hatte neben ihm Platz genommen. „Wer ist das denn?“, zischte er jetzt Schalk zu.
„Wen vertreten Sie bitte, meine Herren?“, wandte der Bürgermeister sich an die unbekannten Herren.
Einer der beiden, einer älterer Herr mit schon weißem Schnauzbart, erhob sich langsam und meinte:
„Äh, wir kommen von der Stadtverwaltung. Wir vertreten Frau... äh... Frau Özkalan.“ Er setzte sich wieder.
Die Augen von Herrn Drahtzieher wurden zu schmalen Schlitzen. Vertreter von Frau Özkalan? Davon hatte Alwin Müller gar nichts gesagt. Das war seltsam.
„Schon gut“, wehrte Schalk ab, weil es ihn gar nicht interessierte, wen die Stadtverwaltung geschickt hatte.

„Auf der Tagesordnung steht der Expertenbericht über das Grundwasser“, sagte der Schriftführer roboterhaft.
„Die Bauernschaft lehnt es ab, dass ständig Panik gemacht wird wegen des Wassers...“, ereiferte sich sofort der Anwalt der Bauern.
„Es ist aber wahr“, beharrte der Greenpeace-Vertreter, „dass das Grundwasser in Gefahr ist!“
„Fängt das schon wieder an“, flüsterte der Bürgermeister Drahtzieher zu.
„Wir müssen etwas tun“, sagte jetzt der zweite ältere Herr, der eine Brille trug, „es ist schon jetzt zu trocken. Es fehlt Regen.“
„Aber die Bauern wollen nicht, dass sie immer für alle anderen zahlen sollen.“, erklärte der Anwalt der Bauern.
„Aber Sie haben doch Geld für das neue Bewässerungssystem von der Stadt bekommen“, warf der Greenpeace-Typ ein.
„Es ist wichtig, dass etwas für das Grundwasser getan werden muss; die neue Industriezone bedroht das Grundwasser“, beharrte der erste ältere Herr mit dem weißen Schnauzbart.

„Schluss jetzt!“, fuhr der Bürgermeister dazwischen, „wir sind nicht zusammengekommen, um darüber zu beraten, ob es mehr regnen soll oder nicht.
Oder kann jemand - simselabim - Regen hervorzaubern? Das ist nicht der Fall“, der Bürgermeister musste sein Lachen über seinen eigenen Witz unterdrücken, „ich stelle fest, dass die Stadtverwaltung sich krank meldet, haha, sonst wäre ja Frau Özkalan da, und deshalb schlage ich als Bürgermeister vor, dass die Stadt Lappalia den Bau des neuen Gewerbegebiets genehmigt.“
Das saß wie ein Donnerschlag. Der Greenpeace-Vertreter sagte nichts mehr, auch den beiden Herren der Stadtverwaltung schien es die Sprache verschlagen zu haben.
Und bevor einer reagieren konnte, war der kugelrunde Bürgermeister schon wieder aufgesprungen und erklärte feierlich: „Hiermit ist die Sitzung beendet.“
„Aber das geht doch nicht“, rief der ältere Herr mit weißem Schnauzbart.
„Sie haben nicht das Recht“, rief der zweite, „die Stadtverwaltung hat auch etwas zu sagen!“
„Das ist ja Terror, das ist kriminell!“, entrüstete sich der Greenpeace-Vertreter.
Doch Schalk hatte sich schon ab- und dem Ausgang zugewandt.
„Bis heute Abend“, sagte Drahtzieher lächelnd den Bürgermeister, dem er die Saaltür aufhielt.
„Aber sicher, bis später!“ verabschiedete sich Fritz Schalk, ohne die beiden Stadtangestellten eines Blickes zu würdigen.
Der Greenpeace-Vertreter lief zeternd hinter den beiden Männern hinterher. Der Anwalt schien zufrieden und rief dem Greenpeace-Vertreter eine Provokation nach. Der Schriftführer packte still seine Sachen zusammen und verließ stumm den Saal.

Die beiden älteren Männer blieben alleine zurück.
„Das hat nicht geklappt“, sagte Beppo und riss sich den weißen Schnauzbart von den Lippen.
Ettore setzte die Brille ab und rieb sich die Augen. „Wir haben es wenigstens versucht“, meinte er müde. „Und das war das Einzige, was wir tun konnten.“
Beppo zog den Brief von neuem aus seiner Anzugstasche, öffnete ihn und las ihn zum mindestens zehnten Mal:

„Lieber Beppo Straßenkehrer!
Ich muss Dich um einen Dienst bitten.
Wir kennen uns nicht persönlich, aber Momo wird Dir von mir erzählt haben.
Ich brauche Deine Hilfe. Das wird Dir komisch erscheinen, aber ich habe keinen anderen, der mir helfen kann. Momo ist zu klein, und Gigi würde man zu schnell in einer Verkleidung erkennen.
Es geht um Folgendes:
Eine Stadtangestellte, Frau Özkalan, sollte den Bericht eines Experten vorlegen, in dem steht, dass das neue Gewerbegebiet eine Gefahr für das Grundwasser darstellt.
Leider haben die schwarzen Männer sie so sehr bedroht, dass sie Angst bekommen hat und krank geschrieben ist. Sie will nicht an der Baugenehmigungssitzung teilnehmen.
Kannst Du mit Onkel Ettore einspringen?
Verkleidet Euch und sagt, dass Ihr die Vertreter von Frau Özkalan seid. Versucht Euer Bestes, dass die Planung des Gewerbegebiets verzögert wird.
Es tut mir leid, Beppo, Dich da hineinzuziehen. Liebe Grüsse an alle, besonders an Momo.

Gezeichnet
Hochachtungsvoll Dein
Meister Sekundus Minutius Hora“

Mit hängenden Schultern verließen Onkel Ettore und Beppo das Gebäude der Stadtverwaltung.


In einiger Entfernung am Rande der Stadt stand an einem Fenster seines Nirgend-Hauses ein alter Mann. Obwohl: wenn man genau schaute, war er gar nicht so alt. Nur sah er jetzt sehr besorgt aus, und deshalb wirkte er wirklich alt.

„Das hat nicht geklappt“, sagte Meister Hora niedergeschlagen. „Es ist schon schlimm, mitanzusehen, was draußen passiert, ohne eingreifen zu können.“
Doch er bekam keine Antwort.
„Was sollen wir machen? Die Schwarzhemden machen sich bei den Bauern beliebt, sie fahren mit den Jugendlichen Motorrad, geben Freibier aus, prügeln Ausländern, und jetzt bekommt der Drahtzieher, was er will: nämlich sein Gewerbegebiet.“
Hora drehte sich um und schaute auf den Boden. Die Schildkröte hatte den Kopf gereckt und hörte ihm aufmerksam zu.
„Kannst du nicht unseren Freunden zur Hilfe kommen, Kassiopeia?“
Wieder bekam er keine Antwort.
Doch der Schildkrötenpanzer bewegte sich durch den immensen Uhrsaal lautlos zur großen Eingangstür und stupste sie auf.
Meister Hora nickte.
„Kassiopeia wird das schon machen“, sagte er zu sich selbst, um sich zu beruhigen. Er drehte sich wieder dem Fenster mit dem Ausblick auf unsere kleine Stadt zu.

Aber selbst Meister Hora hatte unterschätzt, wie gut die Schwarzhemden vorbereitet waren.
 



 
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