Kapitel 2 – Der Sohn vom Finkenkrug

Kapitel 2 – Der Sohn vom Finkenkrug

Familienfeiern sind für alle Beteiligten anstrengende Unternehmungen. Am Schlimmsten jedoch trifft es diejenige arme Seele, die solch eine Feier ausrichten muss. In der Familie Finkental traf dieses Schicksal alle drei Jahre Michael und seine Kinder. Sie lebten als Einzige noch immer in dem Dorf, dessen Namen sie seit etlichen Generationen einem Vorfahren verdankten, der einst der erste Vogt war. Der Rest der großen Familie lebte im ganzen Königreich verstreut. Umso mehr freuten sich vor allem die Alten, wenn sie in den Finkenkrug, Michaels Gasthaus, einkehren, das Wachstum der Kleinen bestaunen und langweilige Anekdoten zum Besten geben konnten.
Wenn man sich auf den langen Weg von, sagen wir, der Hauptstadt Balsephon, nach Finkental macht, wird man zuletzt durch Silfing kommen. Vom großen Hafen dort lief eine solide ausgebaute Straße die Küste entlang, bis sie hinunter in das Tal mit den ungewöhnlich vielen Vögeln abknickte. Einst, als das Dorf seinen Namen fand, waren es noch einige mehr, viele sind wegen der Bebauung durch den Menschen geflohen. Trotzdem blieb das Geflatter der kleinen Finken allgegenwärtig, ihr Zirpen und Zwitschern nicht zu überhören. Vom Meer wehte einem auf den letzten Metern oft eine kräftige, salzige Brise entgegen, bevor man sich in den kleinen Gassen wieder fand, die dem Ort seinen Charme verliehen. Viel Raum gab es nicht in Finkental, hohen Klippen säumten den Ort der sich schnell in Richtung der See schlängelte.
Wenige Schritte vor den Kais lag auf der rechten Seite der Hauptstraße der Finkenkrug. Das große, alte Gebäude war in gutem Zustand, da Michael viel Wert auf die Pflege seines Erbes legte, und lud zu Speis, Trank und Übernachtung ein. Gewöhnlich waren es durchreisende Händler, die hier einerseits viel Absatz für Getreide und Vieh fanden, andererseits durch einige günstig liegende Minen Metalle und Kohle einkaufen konnten, die im Finkenkrug übernachteten. Abends war der Schankraum normalerweise gefüllt mit den Einwohnern des Dorfes, die ihr Feierabendbier genossen und über die Ereignisse im Ort sprachen.
Nicht so in diesen Tagen, der ganze Finkenkrug würde bis unters Dach gefüllt sein mit den Mitgliedern der Familie.

Als ältester Sohn war es eigentlich Veyds Aufgabe sich um die eintreffenden Verwandten zu kümmern. Die Tanten und Großonkel, Cousinen und Großneffen waren ihm jedoch bald zuviel. Eben noch hatte er seine Nichte Eleonora begrüßt und sie und ihre Mutter zu ihrem Zimmer geführt, schon war er aus dem Blickfeld der Familie verschwunden. Zwei Straßen weiter, da war er sich sicher, wartete Sofie auf ihn. Die süße Tochter des Bäckers machte ihm schon länger schöne Augen, zu Techtelmechteln kam es auch, und sie schien zu glauben, Veyd würde ihr den Hof machen.
Das war nie seine Absicht. Aber solange sie ihn nicht fragten, konnte er die Stunden mit den Frauen genießen. Es war nicht so, dass er ein Geheimnis aus seinen Intentionen machte. Trotzdem glaubten sie immer aufs Neue, sie wären die Eine der er treu bliebe. Sein gutes Aussehen, seine Ruf als weitgereister Seefahrer, und sein natürlicher Charme ließen die Damenwelt seine Frauengeschichten allzu oft vergessen.
Sofie stand tatsächlich unter dem Erker hinter dem sich ihr Zimmer befand. Den Ausblick aus dem Bleifenster dort oben kannte er bereits gut. Heute jedoch schien Sofie nicht nach derlei Aktivitäten zu Mute zu sein.
„Warst Du bei dieser Dirne?“
Veyd müsste lügen, wenn er mit Sicherheit sagen sollte, welche Frau sie meinte. Beruflich war jedoch keine von ihnen Dirne.
„Nein, war ich nicht.“
„Und warum hat Dich mein Vetter vorgestern aus ihrem Haus kommen sehen?“
Sie sprach also von Annabell.
„Annabell ist Schneiderin.“
Sofie zog verächtlich die Oberlippe hoch.
„Was willst Du mir damit sagen?“
„Nichts, nur dass sie keine Hure ist.“
Jetzt wurde Sofie richtig sauer. Es stand ihr.
„Darum geht es überhaupt nicht! Du hast gesagt, Du würdest sie nicht mehr sehen! Und nun muss ich von meinem dümmlichen Vetter erfahren, dass Du Dich doch zu ihr legst. So kann ich Dir einfach nicht mehr vertrauen.“
Veyd ahnte, dass er heute keinen Spaß haben würde. Und mit Sofie wohl nie wieder. Aber vorzuwerfen hatte er sich nichts, denn er hatte lediglich versprochen, Annabell nicht mehr in seinem Zimmer zu empfangen.
„Das ist natürlich ein Jammer, Sofie.“, es schien sie zusätzlich aufzuregen, dass er so ruhig blieb. „Ich habe Dir nie gesagt, Du wärst die Einzige. Ich habe nichts versprochen, was ich nicht hielt, und hatte nie vor um Deine Hand anzuhalten. Wenn Du andere Ansprüche an unsere Beziehung hattest, dann tut mir das leid. Mach‘s gut.“
Veyd wand sich zum Gehen.
„Bist Du von Sinnen? Willst Du mich einfach stehen lassen?“
„Hast Du mir noch was zu sagen?“
„Sie hatten alle Recht! Alle die mir gesagt haben, Du nimmst Dir nur was Dir gefällt, verführst alle Frauen die Dir unter kommen. Ich hätte auf sie hören sollen.“
Leise fing Sofie an zu schluchzen, drehte sich von ihm weg. Für Veyd war das nicht das erste Mal, er wusste, dass sie nicht von ihm getröstet werden wollte. Also ging er.

Als Veyd wieder am Gasthof ankam, lief ihm sein jüngerer Bruder entgegen. Lukas war inzwischen 19 Jahre alt, und längst erwachsen. Trotzdem blieb er der Kleine.
„Wo zum Donnerwetter bist Du gewesen?“
„Aus.“, antwortete er teilnahmslos.
„Aus? Aus. Vater sucht Dich. Mutter sucht Dich. Und ich sollte eigentlich in der Küche alles im Griff haben, musste aber vier Leuten ihre Zimmer zeigen. Das war Deine Aufgabe!“
„Der Laden ist nicht abgebrannt, oder?“
Lukas packte seinen großen Bruder am Kragen. Es sah etwas merkwürdig aus, Lukas war gut einen Kopf kleiner und wesentlich schmächtiger als Veyd.
„Hörst Du mal mit Deinen dämlichen Witzen auf? Geh nach vorne und bring Großtante Merinda nach oben.“
„Zu Befehl, Vater.“, zwischen den sauber gestutzten Barthaaren begann sein Mund langsam zu grinsen, während er auf seinen kleinen Bruder hinabsah. Lukas ließ ihn los.
„Hey Veyd, muss das wirklich sein? Du bist mein älterer Bruder, aber Du benimmst Dich wie ein bockiges Kind. Warum übernimmst Du nicht endlich etwas Verantwortung? Du zwingst mich dazu, wie Vater zu reden.“
Für Veyd war es nicht das erste Gespräch dieser Art mit seinem Bruder. Trotzdem war heute etwas anders, Lukas wirkte nervös, nervöser als nötig. „Und gefällt es Dir nicht? Du hast Gefallen am Gasthof gefunden, an Vaters Arbeit hier und all dem was dazu gehört. Ich bin nicht wie Du, ich will das hier nicht und wollte es nie.“
„So wie Du nicht Kartograph sein wolltest. Und nicht Magier. Und auch nicht Seemann. Aber wir haben hier ein Problem: Vater will, dass Du endlich irgendwas machst. Also entscheide Dich, sonst tut er es Deiner statt.“
Veyd stutzte. „Hat… hat er Dir etwas gesagt.“
„Ach,“, Lukas winkte ab „lass mich einfach in Ruhe und kümmere Dich um Merinda. Ich habe noch genug andere Sorgen.“
Damit ließ er seinen großen Bruder im Flur stehen und ging wieder in Richtung Küche. Veyd behagte das nicht. Zwar war er mündig, aber ohne Geld und feste Anstellung, außer der Tätigkeit im Geschäft seines Vaters, war er noch immer auf dessen wohlwollen angewiesen. Schon länger nagte an ihm der Zweifel, wann sein Vater ihn zu Etwas solidem drängen würde, doch bisher konnten Spiel und Frauen diese Gedanken gut verdrängen. Es sähe dem alten Herrn ganz ähnlich derlei auf einem Familienfest verkünden zu wollen, und vorher die Rücksprache mit seinem Vorzeigejungen Lukas zu halten. Während Veyd zu seiner Großtante schlich, begann es in seinem Hinterstübchen zu rattern und zu knattern. Er musste aus der Geschichte als der Clevere herauskommen. Das gelang ihm sonst immer.
Die nächsten Stunden wollten aber fürs erste ein Hin und Her zwischen unzähligen Aufgaben werden, die kaum einen ruhigen Gedanken zuließen.

„Veeeyyyd…“ die hohe Kinderstimme klang traurig. Veyd wollte gerade, nachdem nun so gut wie alle Gäste eingetroffen waren, beginnen die Stühle in den Garten zu bringen, hielt nun aber inne um sich in Richtung Boden zu wenden.
„Veyd, kannst du mir helfen?“
Da stand Merva, die Urenkelin seiner Großtante Alba. Eine Nichte 3. Grades, wenn Veyd die verwirrenden Verwandschaftsverhältnisse richtig im Kopf hatte. Das kleine Mädchen war vielleicht 5 Jahre alt und trug ihre blonden Haare in zwei kleinen Zöpfen links und rechts vom Kopf. Das blaue Kleid das sie umspielte hatte einige Flecken und in der Hand die sie zu ihm hochhielt befand sich eine Art Stofffetzen.
„Was ist denn, Merva?“, Veyd kniete sich auf sein linkes Bein und war dem kleinen Gesicht so sehr nah gekommen. Schmutz hatte sie nicht nur auf dem Kleidchen sondern auch im Gesicht und zog die Mundwinkel herunter.
„Der dumme Pert hat meine Mimi kaputt gemacht.“
In ihrer anderen Hand kam eine kleine einfache Stoffpuppe mit fehlendem linken Bein und aufgemaltem Gesicht zu Vorschein. Sie hielt die dreckige Puppe an der kleinen Hüfte fest und das andere Bein in seine Richtung.
„Wie gemein von ihm. Aber deswegen darfst du ihn noch lange nicht dumm nennen. Das ist auch gemein.“
„Ich weiß…“, betroffen blickte die Kleine nach unten.
„Nun zeig mal her, da können wir bestimmt was machen.“, vorsichtig nahm Veyd Merva die Puppe und ihr Bein ab und betrachtete das Spielzeug. Die einfache Naht war schlicht abgerissen, etwas Wollfüllung quoll aus dem Arm.
„Oh, oh, oh, das sieht ernst aus.“
Merva riss die Augen auf. „Was? Aber wir können Mimi doch reparieren?“
„Nuuun… doch ich denke, da können wir was machen. Komm mal mit.“
Er stand auf und nahm seine Nichte bei der Hand. Zusammen gingen sie zum Hauswirtschaftszimmer seiner Mutter. Nachdem er nun die Puppe auf dem Tisch drapiert hatte, setzte er Merva liebevoll daneben.
„Sollen wir Mimi jetzt gesund machen?“
„Du redest Quatsch! Mimi ist doch nicht krank, sie ist kaputt.“
„Tja, da hast du natürlich Recht. Dann also reparieren, hm?“
Merva nickte kräftig. „Ja, schon besser.“
Veyd musste lachen. Aus den Schubladen kramte er Nadel und Faden heraus und machte sich ran, das kleine Bein wieder anzubringen. Kurze Zeit später rannte das dreckige kleine Mädchen hochzufrieden mit ihrer Mimi wieder nach draußen zum Spielen, während Veyd ihr hinterherblickte.
Zurück zu den Stühlen.

Am Nachmittag war das Getümmel an seinem Höhepunkt angekommen. Fast zwei Duzend Kinder aller Altersstufen tobten zwischen den Tischen hin und über die Bänke her, die älteren Damen saßen beim ersten gemeinsamen Kaffee und Veyd und seine Mutter kümmerten sich um den Grill für den Abend. Das riesige Gestell kam nur selten zum Einsatz, derartige Mengen konnten nur für die größten Feiertage und Feste sinnvoll gegrillt werden. Die Konstruktion war klobig und nicht leicht zusammenzusetzen.
„Kannst du hier festhalten, Mutter?“
„Für wie schwach hältst du mich eigentlich?“, sie grinste zu ihrem stattlichen Sohn hinauf.
„Muddel, du bist die Stärkste!“
Kurz zeigte er seiner Mutter, wie sie sich zu stellen hatte, damit sie das Gewicht abfedern konnte.
„Siehst du, ich sag’s doch, keine Herausforderung für dich.“
Veyd holte die nächsten zwei Stangen und setzte die Bolzenverbindung an. Während seine Mutter das Gewicht hielt, fummelte er die schweren Sicherungen in die kleinen Ösen. Plötzlich rannten drei der Kleinen zwischen ihren Beinen entlang, und Veyds Mutter verlor das Gleichgewicht. Das schwere Metallgestänge geriet in Schieflage und drohte umzufallen. Geistesgegenwärtig machte Veyd einen großen Ausfallschritt und griff nach der gegenüberliegenden Querstrebe um das ganze Gewicht zu halten. Breitbeinig und mit weit ausgestreckten Armen stand der junge Mann so zwischen den wankenden Metallstreben. Erschrocken und mit zitternden Händen stand seine Mutter vor ihm.
„Oh…“
„Ja…“, Veyds Stimme hatte einen gepressten Klang. „Oh… ist… richtig… Nimmst… du… mir… mal… die… Stange… ab?“
Hektisch stemmte sich seine Mutter gegen die Stangen ohne richtig Halt zu finden. Inzwischen kam auch ihr Bruder, Veyds Onkel Justus, zu Hilfe und nahm Veyd auf der anderen Seite Gewicht ab.
„Mensch Sandra, ihr müssts auch was sagen, lasster euch mal helfen.“
„Danke, Jus.“
„Geht schon, geht schon. Aber vielleicht könnte mal jemand die Kleinen von hier fernhalten…“, Veyd schnaufte schwer, aber erleichtert. Justus ließ sich nicht abwimmeln, und auch sein Sohn Johann kam herbei und mit ihnen gelangen die Handgriffe schnell und sicher, während Veyds Mutter sich um die spielenden Kinder kümmerte.

Zum Abendessen wurde natürlich groß aufgetischt. Michael ließ sich nicht lumpen und bewirtete seine Familie mit einer breiten Auswahl an rustikalen Klassikern und gutem starken Bier. Es gab Knödel und Bratkartoffeln, Bohnen und Rüben, geräucherten Fisch und köstliche Grillhähnchen. Die Luft duftete nach Kohle und Gaumenfreuden. Für die Kinder reichte man Apfelsaft, die Damen konnten sich kühlen Zider schmecken lassen. Das Bier für die Herren verschwand während des Essens auf nahezu magische Weise, wurde aber alsbald durch Apfelbrand ersetzt, so dass niemand lange auf dem Trockenen saß. Bei über 70 Gästen die sich zum Teil seit einem Jahr oder sogar länger nicht gesehen hatten, bedurfte es eigentlich keines Schnaps um für Stimmung zu sorgen. Aber es schadete auch nicht.
Veyd hatte ordentlich zugeschlagen, sowohl beim Geflügel als auch beim Bier, und trank den ersten Brand mit zweien seiner Cousins. Lukas hatte sich zwar beruhigt, Feierlaune verbreitete er dennoch nicht und nippte müde an seinem zweiten Bier.
Unvermittelt schlug jemand den Brüdern von hinten auf die Schultern. Beide zuckten zusammen und sahen sich erschrocken um.
„Naaa, was machen meine Lieblingsneffen?“
Der Mann, dessen tiefe Stimme einen angenehmen Nachhall hatte, war kräftig gebaut und trug abgewetzte Kleidung. Sein Gesicht war gebräunt und eine breite Narbe führte seine Schläfe hinab bis zum Hals. Die Augen des Mannes waren tiefgrau und blitzten vor Schläue, hatten jedoch auch etwas Müdes.
„Onkel Vit! Bist Du schon den ganzen Tag da?“, vor Freude sprang Veyd auf und umarmte seinen Oheim. Sie klopften sich herzlich ab. Beide begegneten sich auf Augenhöhe und waren damit höher gewachsen als der ganze Rest der Familie.
„Nein, nein, vor ein paar Minuten erst angekommen. Hab nur kurz meinen Bruder begrüßt, und bin dann gleich zu Euch rüber.“
„Dann ist wohl gerade die richtige Zeit für einen guten Gebrannten.“, Veyd griff hinter sich und schwenkte die Schnapsflasche vor der Nase seines Onkels.
„Haha, na, lass den alten Mann doch erst was Essen. Unter den Tisch da, kannst Du mich auch später noch saufen.“, er hielt kurz Inne und klopfte dem immer noch sitzenden Lukas nochmal auf die Schuler. „Was ist mit Dir, begrüßt Du Deinen Onkel nicht?“
„Doch, doch…“, träge stand er auf und hielt seine Hand hin.
„Nicht so!“, er schlug die Hand aus und nahm den jungen Burschen in den Arm, dass dessen Rückgrat knackte.
„Du warst auch mal besser gelaunt, Lukas.“
„Tut mir leid, ich freu mich, dass Du da bist. Aber der Tag war lang und anstrengend, und wenn hier alle fertig gefeiert haben, muss ich aufräumen. Da bin ich eben nicht das blühende Leben.“
„Och, Du pflichtbewusster Grießgram. Wie dem auch sei, ich besorg mir jetzt erstmal eines von diesen duftenden Hähnchen. Auf den Schnaps komm ich aber noch zurück!“, lachend hieb er Veyd auf die Seite und wand sich zum Gehen.
Für Veyd war sein Onkel Vit, der mit echtem Namen ebenfalls Veyd hieß, der einzige in der Familie, mit dem er wirklich auf Augenhöhe war. In seinen Augen war der jüngere Bruder seines Vaters ein Held, ein Mann der nicht nur clever und verwegen, sondern auch stark und selbstbewusst war, und dem er gerne nacheifern würde. Mit leichtem Wehmut sah er ihm nach, bewunderte die kräftige Statur und den erhabenen Schritt seines Oheims. Gerne hätte er diese klare Linie, diesen Sinn im Leben wie ihn sein Onkel gefunden zu haben schien.

Einige Zeit danach hatten sich die Reihen gelichtet. Die ganz Kleinen und die sehr Alten waren im Bett, die meisten Herren saßen in einer großen Runde und prosteten sich ein ums andere Mal zu, während die Frauen zu räumen begannen. Auch das ein oder andere junge Pärchen war nicht mehr zu sehen. An einem kleinen Tisch direkt vor dem großen Grill, in dem noch immer die Kohlen schwelten, saßen die älteren Kinder dicht gedrängt um „Onkel Vit“.
Veyd hatte irgendwann nach dem achten Kurzen aufgehört zu zählen und wankte geradezu majestätisch auf den Kreis zu. Vor seinem Onkel wollte er sich keine Blöße geben, und redete sich ein, er würde einen Fuß exakt vor den anderen setzen.
„…aber nach dem er das letzte Stück Brot verputzt hatte, sagte Wyrmthrax nur ´Wieso Feiglinge? Die waren standhaft bis zum Schluss!´ “
Alle Kinder lachten, Veyd schmunzelte. Er kannte die Geschichte, er kannte vermutlich alle Geschichten von seinem Onkel. Trotzdem wollte er jetzt noch eine hören, bevor er in den Schlaf fiel.
„Das waren jetzt aber genug Geschichten für einen Abend.“, die Aussage des Mannes wurde mit Quengeln, Nörgeln und Kopfschütteln quittiert.
„Nein, Onkel! Erzähl mehr.“ – „Das waren doch erst 2 Stück! Und die eine kannte ich schon!“ – „Letztes Jahr hast Du auch 3 erzählt.“ – „Ich will…“
„Also gut, also gut. Lasst mich überlegen.“, nachdenklich hob er den Kopf zum Himmel und betrachtete kurz die wenigen Sterne die zwischen den Wolken hervorlugten. Die Hand als Schirm nutzend hielt er das Licht des Feuers aus seinen Augen, um besser sehen zu können. Gleich erkannte er deutlich mehr funkelnde Sandkörner, und er musste lächeln.
„In Ordnung, die Geschichte von dem dümmsten Oger, dem euer Onkel je begegnet ist.“
Die Kinder rückten näher, während ihr Onkel leise zu erzählen begann. Veyd kannte die Geschichte gut, sie gehörte zwar nicht zu seinen Lieblingen, aber besser als die Tiraden seines Vaters war sie allemal.

Wie ihr sicher wisst, sind Oger ziemlich dumm. Gemeinhin wird ihnen eine Intelligenz knapp über Moos und unterhalb von Staudensellerie zugesprochen. Dummem Staudensellerie. Natürlich darf man sie trotz ihrer mangelnden Intelligenz nicht unterschätzen. Ein ausgewachsener Bulle ist etwa drei Schritt hoch, also fast doppelt so groß wie ein erwachsener Mann, und wiegt mehr als ein Stier. Wenn Dich so einer erwischt. Knack. Knirsch. Dann war‘s das für Dich. Da sie Menschenfleisch ziemlich lecker finden, hat man meist nicht einmal die Zeit zu diskutieren. Der Trick ist demnach, dem Oger zu entkommen, bevor er zupackt.
Als ich damals mit meinen Freunden Jasan, dem ranarischen Fallensteller, und Wyrmthrax Wyrmson, dem zwergischen Waffenschmied in der Gegend der Blutfußberge unterwegs war, stießen wir eines Abends auf ein kleines Menschendorf mit ungewöhnlich hohen Mauern. Als wir Eintritt verlangten, sagte man uns, Fremde seien nicht willkommen, wir sollten weiter ziehen. Erst als wir eindringlich auf die nahende Nacht und unsere gefüllten Geldbeutel hinwiesen, wollte man uns hinein lassen.
„Wo ist das Gasthaus? Wo das Bad?“, fragten wir.
„Keine Gäste, keine Bäder, hier gibt es nur das nackte Überleben.“, sagte die Wache
Gesprächig waren diese Leute nicht, aber durch ein paar gut platzierte Fragen stellte sich heraus: Es gab hier einen schlechtgelaunten Oger namens Zackpack, der das Dorf terrorisierte. Kinder und Frauen habe er gefressen, wenn ihm nicht täglich Wein und Fleisch gebracht würden, fräße er auch alle Andern. Und weil wir drei wandernde Abenteurer waren, und weil sich das so für gute wandernde Abenteurer gehört, erklärten wir uns bereit, den Oger beiseite zu räumen.
Wir erfuhren damals schnell von den wenigen Dorfbewohnern, dass Zackpack in einer Höhle in der Nähe hauste, und dass er nur eines lieber mochte als Menschenfleisch: Das Fleisch von Schweinen. Keiner weiß warum, aber Schwein hatte es ihm angetan.
Das brachte mich auf eine Idee.
Wir nahmen einige Bergrosen, und machten daraus eine rosa Farbe. Mit dieser Farbe bestrichen wir nun einige Felsen vor dem Dorf, die ungefähr so groß und rund waren wir ein Schwein. Als wir so bei den Felsen standen, sagte Jasan:
„Brillianta Idee, Veyd“, er hatte diesen typisch ranarischen Akzent „aber glaubst Du wiarklich dar Ogar ist so dämlich? Es musste schon ain extrem dummar Ogar sein.“
„Stimmt“, sagte ich daraufhin „wir sollten noch ein echtes Schwein aus dem Dorf holen, damit er das als erstes fressen kann, und den Rest für die Herde hält.“
Gesagt, getan. Wir gingen also wieder hinein in das Dorf und überredeten den Viehbauern uns eines seiner letzten Schweine anzuvertrauen. Als wir mit dem Schwein wieder aus dem Dorf gingen, trauten wir unseren Augen nicht.
Zackpack saß dort wo wir die Steine bemalt hatten, die jedoch alle verschwunden waren. Mehr noch, Zackpack heulte ganz jämmerlich und hielt sich den Bauch, der auf geradezu obszöne Weise angeschwollen war. Immer wieder jauchzte er:
„Bauch, Nein, Nein, Bauch, Schmerz!“
Wir konnten nicht umhin alle 3 in Lachen auszubrechen. Dieser Oger war nicht nur dämlich genug Felsen für Schweine zu halten, er brauchte nicht einmal eine Einladung sie hinunter zu schlingen und hatte sich erst dann gewundert, das kein Schwein schmeckte, als er bereits eine ganze Herde Steine verputzt hatte.
Wyrmthrax hatte natürlich keine Schwierigkeiten ihm mit seiner Axt den Kopf abzuschlagen, und ihn so von seinen Leiden zu befreien. Er bleibt auf ewig in Erinnerung als Zackpack, der dümmste Oger der Welt.

Nachdem Onkel Vit mit seiner Geschichte geendet hatte, hagelte es Stampfen und Lachen und Prusten und Kichern von den Kindern und auch Veyd konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren.
„Nun hattet ihr aber wirklich genug. Ich will noch einen mit euren Vätern und Onkeln trinken, und ihr macht euch langsam auf euren beschwerlichen Weg ins Bett.“
Tatsächlich waren die meisten müde genug um wenig bis keine Widerworte zu geben, und die beiden Veyds begaben sich zum Männertisch. Der Abend war frisch, darum hatten sich die meisten Herren Mäntel übergeworfen. Veyd war zu betrunken um sich kalt zu fühlen, also setzte er sich grazil wie eine Wildsau zwischen seinen älteren Cousin Bertwald und seinen Vater, der ihn leicht genervt anblickte.
„Zechen, das haben dir diese Seebären also beigebracht?“
Veyd konnte nur breit Grinsen, denn er befürchtete, ihm könnte das Essen aus dem Gesicht fallen, wenn er zu viel redete. Es war eine Feier, er brauchte sich nicht rechtfertigen. Aber die Blamage sich nun zu übergeben, die wollte er sich trotzdem sparen.
„Nun, Vit, nachdem du die ganzen Kinder lang genug unterhalten hast, wie geht es dir?“
Die Runde wurde still und während Veyd noch mit seinem schnapsschweren Geist nach dem Fragesteller forschte, schauten alle anderen zu seinem Onkel Vit.
„Oh, ja gut. Komme immer noch viel rum, lerne neue Leute, neue Städte, neue Landstriche kennen.“, entspannt lehnte er sich zurück und genoss die interessierten Blicke.
„Und hast Du was Besonderes zu erzählen?“
„Bei Barwag, wo soll ich da anfangen. Soll ich euch von den merkwürdigen Bräuchen der Ranari erzählen? Oder möchtet ihr von meiner Seereise über das Meer der neun Tiefen hören? Ich könnte die Geschichte von den sprechenden Säulen im Wald von Elphanur zum Besten geben, wenn ihr wollt?“
„Vit, bleib ernst. Dein Seemannsgarn kannst du anderswo spinnen, und deine Kindermärchen kennen wir inzwischen alle. Erzähl etwas, dass du wirklich erlebt hast.“, zustimmendes Raunen und Nicken von allen Seiten, während Veyd nur ungläubig zu seinem Großcousin Norbert starren konnte. Was hatte er da gesagt?
„In Ordnung, in Ordnung, lasst mich überlegen.“, grübelnd richtete er den Blick wieder gen Himmel. „Vielleicht erzähl ich den Herren lieber vom Bordell in Muhammesad? Da gab es ein Mädchen schöner als der Vollmond mit Lippen wie strahlende Rubine, die roch herrlich nach Jasmin.“
Nun begannen sich die Männer neugierig nach vorne zu beugen. Schmunzeln breitete sich auf den Gesichtern aus wie ein frischer Wind im Frühling.
„Wir waren fast 3 Wochen unterwegs, als wir…“
„Momentchen.“, laut und rüde wurde er von seinem eigenen Bruder unterbrochen. Veyd sah seinen Vater irritiert an.
„Du warst in einem Bordell? Was ist mit deiner Frau?“, fassungslos starrte Michael über den Tisch.
„Keine spektakuläre Geschichte. Ramona hat mich verlassen, schon vor einem halben Jahr.“
Das Schweigen am Tisch wurde schnell unangenehm. Vits Cousin Benjamin fühlte sich genötigt etwas zu sagen. Er klopfte Vit auf die Schulter.
„Sie wusste nicht, was sie an dir hatte.“
„Einen lausigen, hinterlistigen Fremdgeher, den hatte sie an ihm.“, im Vorbeigehen konnte Tante Josephin nicht umhin ihre Meinung kundzutun.
„Hör nischt auf ssie Onkel Vit.“, Veyd gab sich die größte Mühe nicht zu lallen. „Frauen haben doch keine Ahnung…“
„Ich glaube du hast langsam genug.“, der zornige Blick seines Vaters machte ihn wütend.
„Wieso? Was willst Du überhaupt von mir? Ich bin erwachsen, lang genug.“
„Erwachsen nennst Du Dein Verhalten?“
„Jetzt beruhigt euch lieber, ich kann auch eine andere Geschichte erzählen.“, Veyds Onkel hielt beschwichtigend die Hände in die Höhe. „Vielleicht erzähl ich vom Tag im Badehaus in Hanash. Da gab es ein unvergleichliches Essensbuffet, Feigen im Speckmantel, süßes Hühnchen mit Kuskus und einen sagenhaften Ananasschnaps.“
Michael warf seinem Sohn einen Blick voll Enttäuschung und Frust zu, den Veyd geschickt mit einem schnapsgeschwängerten Blick voller Wut konterte. Aber beide blieben still und alle wandten sich wieder der Erzählung von Onkel Vit zu.
„…natürlich war der Einlass nicht ganz billig, aber die Ranari wissen wirklich wie man ein Badehaus führt. Am Eingang bekommst du einen Mantel aus dreifachkardierter Vikunjawolle umgelegt, weicher als jeder Frauenbusen und kostbar wie ein kleines Juwel. Unglücklicherweise muss man dieses Prachtstück beim Verlassen wieder abgeben, aber für die Stunden im Badehaus ist es, als würden die Wolken höchstselbst deinen Hintern streicheln…“
Vit erzählte noch lange von dem Badehaus im Süden, der Schiffspassage über den Golf von Handarion, den seltsamen Baumbauten der Elfen und den Ogerangriffen auf die Händler im Westen. Irgendwann meldete sich die Natur und Veyd löste sich schweren Herzens von den Anekdoten seines Onkels um zum Abort zu gehen.
Während er sich erleichterte übermannte ihn die Müdigkeit, die nun bereits einige Zeit ihre Finger nach ihm ausgestreckt hatte, und trotz des unangenehmen Geruchs schlief er im Sitzen ein.

Als Veyd erwachte dauerte es einige Zeit bis seine Wahrnehmung und sein Verstand sich begrüßten. Bis dahin hatte er schon vermutet, er hätte sich in die Hose gemacht, er sei mit dem Kopf irgendwo aufgeschlagen und er könnte ein Spinnennetz verschluckt haben. Als die Orientierung nun endlich guten Morgen sagte, wusste er wieder wo er war, und Ursprung von ekligen Gestank und trockenem Mund wurden ihm klar. Für den Schmerz im Kopf brauchte er etwas länger, aber auch die Erinnerung an den Alkohol kam schnell zurück. Gerädert und verspannt krabbelte er die Holzwand hinauf um sich in eine mehr oder weniger stehende Position zu bringen. Vorsichtig schlich er aus dem kleinen Häuschen und erlangte tatsächlich mit jedem Schritt ein wenig mehr Sicherheit und Gleichgewicht zurück. Die Nacht war noch in vollem Gange, der Morgen noch nicht in Sicht. Offenbar hatte er nicht so lange geschlafen wie erst vermutet. Mit Bedacht legte er die Entfernung zum Grillplatz zurück, nur um diesen verwaist aufzufinden.
„Natürlich trifft dich die Schuld!“, die wütende Stimme seines Vaters durchschnitt die Einsamkeit. Er kam mit seinem Bruder aus dem Haus, die letzten arbeitenden Hände beim Aufräumen nach einem langen Abend.
„Völliger Unsinn, er wäre auch ohne mich nicht der Mann geworden, den du gerne aus ihm gemacht hättest. Veyd hat seinen eigenen Kopf.“
Veyd näherte sich langsam, das spärliche Licht vor dem Finkenkrug war noch entfernt.
„Hättest du nicht diese Geschichten erfunden, dieses Seemannsgarn gesponnen, er wäre nie auf die Idee gekommen seinen Fuß auf ein Bootsdeck zu setzen.“
Veyd überlegte, ob er die beiden belauschen sollte. Nein, das war nicht seine Art.
„Ihr redet also über mich?“
Leicht erschrocken hielten die älteren Männer inne, schauten zu ihm herüber, während Veyd langsam aus der Dunkelheit in den Lichtschein der Öllampen trat.
„Redet ruhig weiter, ich bin ja solch eine Enttäuschung für meinen alten Herrn.“
„Hast du heimlich gespitzelt?“, stirnrunzelnd begann Michael Gläser zusammenzustellen.
„Unsinn, ich bin…“
„Lass den Jungen, du kannst ihn nicht für alles verantwortlich machen.“, sein Onkel fuhr seinen Vater direkt an.
„Verantwortlich? Ihr wisst doch beide nicht was verantwortlich bedeutet.“
„Immerhin hab ich…“, doch weiter kam Veyd erneut nicht.
„Du treibst ihn doch fort! Mit deinen Nörgeleien, deiner pedantischen Art, wer könnte es lange bei dir aushalten? Was glaubst du warum ich damals fortging?“
„HEY! Wann genau hab ich mich in Luft aufgelöst?“
Nach dem kurzen Aufschrei von Veyd starrten die beiden älteren Herren erneut ungläubig in seine Richtung.
„Ihr redet über mich, als wäre ich ein ungezogenes Kind. Und ich muss mir jetzt weder anhören, dass ,ich mich endlich wie ein Erwachsener benehmen soll‘, noch muss man mir die Gründe aufzählen, warum ich es so schwierig finde, meinen Weg zu finden. Vielleicht habe ich nicht immer die besten Entscheidungen getroffen, vielleicht war ich nicht immer der beste Sohn, aber ich habe immer nach meinem Herzen gehandelt. Und das hat mir keiner von euch beiden beigebracht, sondern allein Mutter. Warum ihr der Meinung seid, jemanden beschuldigen zu müssen ist mir zwar ein Rätsel, aber wenn es schon sein muss: Ich treffe meine Entscheidungen selbst, keiner von euch.“
Während sein Onkel betreten den Blick senkte, wurde Michaels Miene hart und er machte einen bedrohlich wirkenden Schritt auf Veyd zu.
„Wie redest du eigentlich mit mir? Glaubst du deine unreifen Entscheidungen wären deine allein? Wann immer du wieder den Wind als Wegweiser benutzt hast, hatten wir hier den Stress und den Ärger. Deshalb hast du bisher nicht die Leitung des Finkenkrugs bekommen, und der heutige Tag hat mich wieder darin bestärkt. Ich kann dir den Krug nicht übergeben. Nie.“
Bei den letzten Worten schaute Michael ebenfalls betroffen zu Boden.
„Was… was soll das heißen Vater?“
„Was schon! Lukas weiß alles was nötig ist, und auf ihn kann ich mich verlassen. Das der Krug nicht in die Hände des ältesten Sohnes übergeht bricht mir das Herz, aber… wie sollte ich dir dies hier…“, seine Geste war ausladend und voller Wehmut, „dies alles überlassen. Ich kann doch auf nichts vertrauen.“
„Gut.“, in Veyds Stimme lag nicht nur Trotz, auch Angst und Wut brachten die nächsten Worte hervor. „Dann braucht ihr mich ja nicht länger, und ich kann endlich meinen Weg komplett alleine suchen.“
Sein Onkel blickte irritiert zwischen den beiden hin und her. Die Entwicklung des Streits machte ihn sprachlos.
„Wo soll der Unterschied zu jetzt sein?“, Michael konnte ein geringschätziges Lächeln nicht unterdrücken.
„Jetzt bin ich hier, aber ich werde nicht so bald wiederkommen. Und bevor du mir jetzt erzählst, dass ich keine Ahnung habe was mich erwartet, und das ich einem flüchtigen Traum nachjage oder nur meinen Onkel kopiere, mach dir klar: Ich weiß wovon ich rede. Nicht nur von Vit, in den Monaten auf See und in den Häfen entlang der Küste hab ich mehr als einen Abenteurer und Weltenbummler kennengelernt. So wie die Dinge stehen, wird es der einzige Weg sein, der mich zufrieden machen kann.“
Die Brüder starrten Veyd mit aufgerissenen Augen an.
„Du… meinst du gehst wieder auf See?“
„Ich meine, ich werde mir meine Sachen schnappen und gleich morgen nach Silfing gehen und mir andere Abenteuerlustige suchen, mit denen ich die Welt bereise. Nicht nur die Küste rauf und runter, sondern weit weg, richtig weit.“
„Aber… glaubst du… was wird deine Mutter dazu sagen?“
„Mutter hat sicher weniger Probleme mich zu verstehen als andere anwesende Personen. Mag sein, dass es nicht leicht wird, aber hier wird die Luft zu dünn und die Wände zu eng, es kann so nicht bleiben. Dieses Tal voller Finken hat mich lang genug an sich gebunden.“
„Was redest du denn da? Monatelang warst du weg, erst mit dem Kartographen, später mit den Fischern und dem Händler. Was redest du da von ‚gebunden‘?“
„Wen wundert es, dass du mich nicht verstehst… ich geh jetzt ins Bett, morgen wird ein anstrengender Tag, und viel Nacht ist nicht mehr übrig.“
Er ließ die beiden Männer zwischen den Tischen stehen, auf denen noch vor Stunden kräftig gefeiert wurde. Sie verstanden ihn wirklich nicht, weder wieviel ihm sein Heim eigentlich bedeutete, noch wie sehr er einen eigenen Weg brauchte.

Am nächsten Morgen wurde Veyd von einem leisen, aber beharrlichen Klopfen an seiner Tür geweckt. Sein Schlaf war die ganze Zeit nicht tief gewesen, zu viele Gedanken schossen durch seinen Kopf. Das stetige Klopfen ließ ihn langsam vom Dämmerschlaf in einen Halbwachzustand übergleiten, leider machte der Vorgang durch den Kater im Kopf sehr wenig Vergnügen. Schließlich raffte er sich auf und blieb an der Bettkante sitzen.
„Herein.“
Langsam öffnete sich die Tür und Sandra, seine Mutter, trat in den Raum.
„Guten Morgen mein Sohn.“
„Morgen, Mutter.“
„Stimmt es?“
„Das ich gehen werde? Ja.“
„Aber… wann? Wieso?“
„Vater war gestern eindeutig. Hier habe ich keine Zukunft, weder im Krug noch anders in diesem armseligen Dorf. Einfach wieder auf See, zu den Fischern und Händlern, darauf kann ich verzichten. Also suche ich meinen Weg in der Ferne, mit neuen Freunden, neuen Lieben.“
Sandra kannte Veyd gut und verstand ihn besser als jeder andere in der Familie. Während er sprach sah sie verträumt aus dem Fenster in Richtung des Meeres.
„Ich weiß, dass du mich nicht gehen lassen willst. Ich brauche eine Perspektive, einen neuen Horizont.“
„Weißt du, Veyd, ich habe schon länger geahnt, dass du nicht ewig hier bleiben würdest. Als du deine erste Freundin hattest, da hatte ich kurz Hoffnung du könntest sesshaft werden. Inzwischen sind Jahre vergangen und du hast Frauenherzen erobert wie andere Kriegsherren Dörfer einnehmen: Stürmisch und ohne Furcht. War ich immer einverstanden mit deiner Art Liebschaften zu führen? Nein, aber zumindest hast du die Frauen nicht respektlos behandelt, oder geschlagen oder dergleichen. Aber ich wusste, wenn dich die Frauen nicht halten, wird dich nichts halten. Wäre ein Vater nicht gewesen, ich wäre wohl ebenso wenig hier geblieben.“
Sie seufzte und senkte den Blick. Langsam sammelte sich Wasser an den unteren Lidern ihrer Augen.
„Natürlich will ich nicht, dass du gehst. Natürlich hätte eine Mutter ihren Sohn lieber in der Nähe, in Sicherheit. Enkel vielleicht. Aber du brauchst das Abenteuer, und zwar eigentlich schon seit langer Zeit. Wenn heute der Tag gekommen ist, dann versprich mir nur eines: Komm irgendwann wieder, und sei es nur zu unseren Familienfesten!“
Veyd stand auf und nahm seine Mutter wortlos in den Arm. Einige Momente standen die beiden in enger Umarmung, dann ging Sandra aus dem Zimmer und Veyd begann seine Sachen zu packen.

Eine Stunde später verließ Veyd gut gekleidet, mit frisch gestutztem Spitzbart und seinem Ziersäbel gewaffnet sein Zimmer.
„Das ist nicht dein Ernst?“, Lukas klang ernsthaft bestürzt und gleichsam verärgert. „Nicht nur, dass du wirklich hinfort willst, du hilfst nicht einmal beim restlichen Fest?“
„Ihr habt schon alles im Griff, da bin ich sicher.“
„Darum geht es nicht. Sogar an dem Tag an dem du fliehst, lässt du noch andere für dich schuften.“
„Lass den Jungen.“, Onkel Vit kam auch zur Verabschiedung vorbei. „Er braucht die Freiheit, das kannst du nicht verstehen.“
„Außerdem kommt es dir doch wohl recht, wenn du hier alleine für den Laden zuständig bist.“, lachend hieb Veyd seinem Bruder in die Seite. Scherzend und plaudernd wanderten die Drei nach draußen. Einige andere Familienmitglieder standen herum, auch Michael und Sandra waren dort und nacheinander verabschiedete sich Veyd von allen. Sein Vater gab ihm kräftig die Hand und sah ihn mit mehr Wehmut an, als beide vorher erwartet hatten.
„Wo ist Michaela?“
„Deine Schwester kommt bestimmt gleich.“
Veyd hatte seine jüngere Schwester wenig gesehen, sie war zuviel mit ihrem Mann beschäftigt, seinem Schwager Olaf. Die Michaela und Veyd hatten sich in Kindertagen innig geliebt, doch schon seit Jahren immer mehr aus den Augen verloren. Trotzdem wollte er jetzt nicht gehen, ohne ihr Lebwohl zu sagen.
„Lass dich nochmal drücken, du Riesenbär, siehst ja aus wie ein echter Gardeoffizier mit seinem Schmucksäbel und dem schicken Mantel.“, seine Tante Josephin gab ihm eine schwitzige Umarmung. „Pass auf dich auf. Und mach nicht alles den Geschichten deines Oheims nach.“
„Werd ich, mach ich nicht.“
„Vielleicht schickst du mal eine Meldung oder eine Brieftaube von wo auch immer.“
Während sie ihn verabschiedeten, bemerkte Veyd die Stimmen im Hintergrund. Verwandte die tuschelten, Blicke austauschten. „Der Nichtsnutz“, „So ein Trubel für nichts“, „Warum geht er nicht einfach?“, „Ist ihnen das nicht Peinlich?“ Es kümmerte ihn nicht. Lukas sprach nicht, aber er dachte womöglich Ähnliches.
„Nun wird mein großer Bruder also Held.“
Eine junge, dunkelhaarige Frau kam aus dem Haus und auf Veyds Gesicht zeichnete sich ein leichtes, aber bewusstes Lächeln ab.
„Schwesterherz.“
Michaela war eine hübsche Frau und trug lange, seidene Kleider, die ihren Babybauch würdevoll umrahmten. Hinter ihr kam Olaf in der typischen Kleidung eines Händlers. Mit der linken Hand führte er sie sanft an ihrem Rücken.
„Lass dich umarmen, großer Bruder. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, hast du einen Neffen oder eine Nichte.“
Beide umarmten sich lang und innig. Dann ging Veyd. Er winkte seiner Familie noch einmal, dann bog er auf die Hauptstraße und schlug den Weg Richtung Silfing ein.

Es war bei Leibe nicht die erste Reise die er unternahm, doch bisher gab es immer ein Ziel oder zumindest einen klaren Auftrag. Über Jahre hinweg war er immer wieder für kürzere oder längere Perioden zur See gefahren, bald mit Fischern, bald mit Händlern, und war auch davor schon als Jungblut einige Male aus dem Dorf gewesen. Auch wenn er seine Heimat hinter sich ließ, kam ihm der Weg doch nicht fremd oder neu vor. Er würde bis Silfing und darüber hinaus wandern müssen, bevor er sich wirklich ausgezogen fühlen würde. Selbst nach dem er das Dorf hinter sich gelassen hatte, war ihm alles vertraut. Sehr vertraut. Hier kannte er diesen Wegweiser, und jenen kleinen Fels. Dort vorn hatte er mit der blonden Penelope einen angenehmen Sommerabend verbracht. Teuren importierten Wein hatten sie getrunken und den Sternen beim Funkeln zugeschaut. Kaum hundert Schritt weiter erkannte er das Hopfenfeld auf dem er als knapp zwölfjähriger Pimpf von Meister Waldhelm verprügelt worden war, weil er die Übungskarte dreckig gemacht hatte. Es packte ihn gerade genug Wehmut für einen herzlichen Seufzer, dann wischte er die Gedanken an die Ausbildung zum Kartographen fort um sich wieder konzentriert seinem Weg zu widmen. Er würde erst gegen Abend in Silfing ankommen, wenn er jetzt trödelte mochten dort bereits alle Türen verschlossen sein.
Ohne Umschweife nahm er wieder einen strammen Schritt an und konzentrierte seinen Blick nach vorne. Wohin das Abenteuer ging, lag zwar noch in diesigem Nebel, doch zunächst mussten seine Schritte ihn in die Stadt bringen, und dieser Weg lag klar im Tageslicht. Obwohl sich am Horizont Wolken sammelten.
Ein Klimpern.
Da war plötzlich ein Klimpern, das da vorher noch nicht war. Veyd blieb stehen und befühlte seinen Mantel. In einer Seitentasche war etwas hartes, das nicht er hineingetan hatte. Er zog einen kleinen Beutel hervor, einfacher Leinen mit einem kleinen Zugband. Das Säckchen war schwer und klingelte sanft während Veyd es betrachtete. Neugierig löste er das Band und stürzte den Inhalt in seine Hand. Seine Augen weiteten sich, als er drei goldene Münzen aus dem Beutel kullern sah.
Natürlich hatte er Geld eingepackt, 14 Silber und 8 Kupfer befanden sich sicher verstaut in der Börse in der Innentasche seiner Weste, aber diese drei Münzen waren viermal so viel wert. Seine Mutter musste sie ihm heimlich beigesteckt haben, als sie ihn umarmt hatte. Wie sie das unbemerkt geschafft hatte, und wie ihm das zusätzliche Gewicht so lange hatte entgehen können, war ihm ein Rätsel. Stattlich bereichert packte er den Schatz zu seinem bisherigen Vermögen und setzte seinen Weg bestärkt fort.
Wirklich Sorge, dass es mit dem Geld knapp werden könnte hatte er ohnehin nicht gehabt, aber nun standen ihm ganz neue Möglichkeiten offen. Über ihm versammelten sich Wolken und in seinem Magen versammelte sich der Hunger. Dem nächsten Bauern kaufte er drei Birnen ab, ohne auf das Wechselgeld zu achten und genoss eine frische Zwischenmahlzeit. Der Himmel zog endgültig zu, und es begann zu regnen. Leichter Niesel durchnässte Mantel und Schuhe, aber diese Art der Kälte machte ihm wenig aus. Drei Stunden später hielt er bei einem kleinen Gasthof, speiste ausgiebig, lies Füße und Mantel am Feuer etwas trocknen und gab der hübschen Serviermaid ein gutes Trinkgeld. In der Ferne gab es ein Gewitter, landeinwärts, vor ihm klarte der Himmel zum Glück bald danach auf. Nun flogen die Stunden des Tages nur so dahin, während ihm das Angesicht des Landes immer weniger wie ein Bekannter und immer mehr wie ein Fremder vorkam. Als Silfing in Sicht kam war die Sonne noch eine Handbreit vom Horizont entfernt, er lag trotz Mittagspause gut in der Zeit.

Sein letzter Besuch in der Stadt war sechs Monate her. Diesmal würde er nicht wieder den gleichen Weg zurücknehmen, soviel stand fest. Auch am Abend war die Hafenstadt noch voller Menschen, durchmischt mit einigen spitzohrigen Halblinge und stinkenden Zwergen. Er kannte die Lokale hier, der Ruf der „Teufelskeule“ kam ihm gelegen. Gute Chancen hier jemanden zu finden, der vielleicht seinen Weg anreichern konnte. Alleine war man schließlich kein Abenteurer. Geradewegs steuerte auf die Kaschemme zu, die mit ihren vernagelten Fenstern und abblätternden Farbtupfen wirklich nicht einladend aussah. Neben dem Eingang lag ein Betrunkener, eine kurze Musterung ließ ihn als Weggefährten ausscheiden. Hinein also.
Das Licht im Schankraum war schwach und diffus. Veyd öffnete den Mantel weit und ließ seine Augen über den Raum gleiten. Schnell und gleichzeitig wachsam musterte er jeden und bewertete. Zwei Huren mit ihren Kunden an der Bar, nutzlos. Ein Duzend Halblinge, vermutlich Artisten am großen Tisch, niemals. Händler, keine Chance. Drei Zwerge, unbrauchbar. Ein Halbork, vielleicht. Eine einzelne Gestalt in der Ecke, möglich. Vier Söldner, zwei davon Zwerge, naja. Die Letzten waren am Wahrscheinlichsten unterwegs, aber sie wirkten nicht wirklich einladend. Zwerge waren zudem nicht seine erste Wahl.
Sein Blick glitt wieder zurück zu der Gestalt in der Ecke. Sie war schlank, eher klein und trug eine Kapuze tief über dem Gesicht. Sehr schwer einzuschätzen was sich dort verbarg, vielleicht ein elfischer Diplomat oder eine junge Ausreißerin.
Er ließ seine Augen weiterziehen und zu dem Halbork zurückkommen. Er war jung, womöglich jünger als Veyd, aber sehr kräftig und von Kampfnarben gezeichnet. Der Kinnbart, der sein Gesicht rahmte war zottelig, fast borstig. Seine Kleidung war einfach und zerschunden, aber er hatte einen Krug vor sich stehen, war wohl vermutlich kein Gossenschläfer. Der Halbmensch musterte auch Veyd, was ihm gefiel. Er beschloss zuerst zu ihm Kontakt zu suchen und durchmaß den Raum.
Zu seiner Verwunderung wirkte sein Gegenüber plötzlich angespannt. Kampfreflexe, vermutlich, wahrscheinlich ist er älter als er wirkt und tatsächlich ein Abenteurer.
Als Veyd vor dem Tisch des Halborks stand, lächelte er ihn an und sprach:
„Guten Abend. Jemanden wie Euch habe ich gesucht. Darf ich mich setzen?“
Sein Gegenüber antwortete nicht, aber Veyd wähnte ein kurzes Nicken und nahm sich daher den Stuhl. Nachdem er sich gesetzt hatte, drehte er sich zum Tresen und rief:
„Hey da, bring zwei Bier her, für mich und meinen neuen Freund!“
Wieder zurückgewandt begann Veyd das Gespräch so offen wie möglich.
„Darf ich nach Eurem Namen fragen?“
„Rafael?“, die Antwort des Halborks klang tatsächlich wie eine Frage. Vielleicht verstand er ihn schlecht, die Sprache der Menschen war zwar allgegenwärtig, aber dieser junge Bursche mochte sonst wo her kommen. Die Heimat fast aller Orkstämme war Übersee.
„Mein. Name. Ist. Veyd. Finkental.“, er bemühte sich deutlich zu sprechen und seine Lippen klar zu bewegen.
„Ich bin nicht dumm.“, diese Antwort war keine Frage mehr. Verärgert schaute Rafael Veyd in die Augen.
„Entschuldigt, ich dachte ihr sprecht unsere Sprache vielleicht nicht so gut.“
„Was willst du?“, keine Zeit verlieren, das gefiel Veyd.
„Ich bin auf der Suche nach Gefährten, neuen Freunden die mit mir eine Reise antreten wollen, aufbrechen in Abenteuer und die Ferne entdecken. Ich suche jemanden, der sich zu wehren weiß und eine Bereicherung für meinen Weg darstellt.“
Verständnislos sah ihn der Ork an. Scheinbar hatte er etwas anderes erwartet. Bevor er antworten konnte, meldete sich der Dritte am Tisch. Vom Rafaels Schoß sprang ein Wiesel auf den Tisch offenbar erfreut Veyd zu sehen. Der Wirt, der gerade das Bier brachte, fluchte auf. „Wat soll det, oi? Nejm det dreksch Dier vomei Disch!“
Rafael versuchte das Wiesel zu packen, das nun flink seinen Arm hinauf auf seine Schulter schnellte. „Tschuldigung.“
„Det Dier blieb ava niet inne Schlafsaal!“
„Sondern?“
„Krisse din Jeld zurück. Schläfse wo anas.“
Der Wirt stellte das Bier auf den Tisch und zählte zwei Kupferstücke aus einem Beutel.
„Doa. Son Viechzeuch will ik hia nit.“
Der Halbork wirkte sofort niedergeschlagen. „Ich habe aber vier Kupfer bezahlt.“
„Unet Bia kütt zwei, feddich.“, grantig ging der Wirt zu seinem Tresen zurück, ließ den Halbork mit offenem Mund sitzen.
„Macht euch keine Gedanken, ich habe euch eingeladen, ich zahle euch das Bier“, während Veyd in seine Westentasche griff, musterte er das Wiesel. Es war niedlich. „Ich hätte nicht erwartet, dass ihr ein Haustier habt.“
„Ich. AUA!“, den Moment fand das wilde Tier wohl passend seinem Herrn ins Ohr zu beißen.
„Mist, ich blute.“
Tatsächlich hatte das Wiesel so tief gebissen, dass Blut floss. Doch zum Erstaunen der beiden Männer, fing es ein wenig des Blutes auf und hüpfte damit Rafaels Arm hinab. Mit der blutigen Pfote begann es Bewegungen auf dem Stoff des Ärmels auszuführen. Veyd und Rafael beobachteten das Tier mit ungläubigen Augen. Nach einiger Zeit schien das Wiesel fertig zu sein und ging zur Seite. Weder er selbst, noch der Herr des Tieres traute seinen Augen, als sie auf dem Ärmel in blutigen Lettern lesen konnten:
„Elisander; verzaubert; KEIN Tier; Halbelf“
Offen standen die Münder beider Männer als ihre Blicke zum Schreiber zurückglitten. Der kleine Kerl, der scheinbar kein Wiesel war, schien sehr mit sich zufrieden.
„Euer Wiesel… kann schreiben.“
„Er ist ein Nerz. Oder auch nicht. Und hör auf mich so ehrerbietig anzureden, ich bin nur ein…“, er zögerte lange bevor er den Satz beendete. „Halbork.“
„Ganz wie du meinst. Wie lange hast du ihn schon?“, Veyd gestikulierte unsicher in Richtung des Nerzes.
„Er ist mir erst vor ein paar Stunden zugelaufen. Er kam mir von Anfang an sehr verständig vor, aber Tiere neigen ohnehin oft dazu meinen Befehlen zu folgen.“
Veyd hob die linke Augenbraue. Vielleicht ein Tierbegabter, aber falls er das war, wusste er es offenbar nicht.
„Weißt du was Elisander bedeutet?“, Rafael schaute Veyd erwartungsvoll an, er war eindeutig überfordert.
„Vermutlich sein Name. Wir müssen ihn zu einem Magier bringen, der ihn wieder zurück verwandeln kann. Ich kenne hier jemand.“
Bei diesen Worten leuchteten die Augen des Tieres auf. Es sprang vor und zog mit Pfote an Veyds Ärmel.
„Willst du mich aufhalten?“
Der kleine Kerl schüttelte den Kopf und zog nochmals am Ärmel.
„Sollen wir direkt los zum Meister Amethyst?“
Unsicher wog der Nerz den Kopf hin und her und machte eine schwankende Bewegung mit der Pfote. Veyd kam sich vor wie in einem Spiel mit den Kindern seiner Familie.
„Brauchst du was zum Anziehen?“, Rafael stieg mit ins Spiel ein. Das Tier wand sich um, nickte und zeigte mit der Pfote auf Rafaels Kopf.
„Bist du… nackt?“, wieder gab es ein Nicken.
„In Ordnung, wir sollten uns dennoch beeilen. Du besorgst einfache Kleidung für einen Halbelf, ich kann dir einen kleinen Laden hier in der Nähe weisen, und ich bringe das Tier zum Magier.“
Rafael schien die Situation nicht geheuer. „Du kennst dich wohl aus. Warum müssen wir uns beeilen, er sieht nicht krank oder schwach aus.“
„Das wohl nicht, aber derlei Verzauberungen sind umso schwerer zu brechen umso länger sie anhalten.“, ihr pelziger Freund starrte kurz ungläubig zu Veyd hinauf, sprang dann geschmeidig an ihm hoch und begann an seinem Kragen zu zerren.
„Ich kann ihm keine Kleidung kaufen, soviel Geld habe ich nicht.“
„Hier nimm.“, Veyd warf ihm eines der Goldstücke zu. Die Art wie der Halbork das funkelnde Kleinod in seiner Pranke betrachtete, verriet Veyd, dass er doch nicht so erfahren und weltgewandt sein konnte, wie er gedacht hatte. „Komm jetzt, ich weise dir den Weg.“
Hektisch stürzte der Orkling den größeren Teil des Bieres runter und eilte dann hinter ihm her zum Ausgang.
Die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden, Silfing war aber noch nicht müde und die Straßen weiterhin gefüllt. Veyd erklärte seinem neuen Kumpan den Weg zum Schneider und wie er von dort aus zum Magier kommen konnte.
„Wenn du den Weg vergisst oder dich verirrst, frag nach Meister Amethyst.“
„Wird schon. Pass auf Kalamnar gut auf… ich meine Elisander. Oder was auch immer.“
Veyd lächelte Rafael an. Er war es gewöhnt der größere Mann zu sein, aber hier stand ein Kerl der eine Handbreit größer und dazu noch muskulöser war. So trennten sich kaum fünfzehn Minuten nach ihrem Kennenlernen schon wieder.

Es dauerte einige Zeit, bis sich die Türe zu des Magiers Räumlichkeiten öffnete. Veyd hatte laut rufen und mehrfach gegen das Holz hämmern müssen, bis sich etwas tat.
„Wer zu den neuen Tiefen stört mich um diese Zeit?“
„Ich bin es, Veyd Finkental. Meister Amethyst ihr erinnert euch sicher?“
Der Magier stand in einfacher Leinenkleidung vor ihm und man konnte fast das Rattern in seinem Hinterstübchen hören, als er versuchte die Person und den Namen zuzuordnen.
„Finkental. Sagt mir nichts.“
Zu alt war Amethyst nicht, kaum fünfzig Jahre alt mit zwar grauem aber vollem Haar und einem kunstvoll gestutzten Backenbart. Veyd hatte sich einfach zu stark verändert.
„Ich war Lehrling bei Meister Kalvinox, vor etwa 11 Jahren.“
„Ahh, jetzt weiß ich. Du bist der Abbrecher, nicht wahr? Wie lang hattest du durchgehalten? 18 Monate?“
„Es waren fast 2 Jahre, aber das tut nichts zur Sache. Kann ich hineinkommen?“
„Meinethalben.“, der Magier ließ ihn vorbei und schloss die Türe hinter ihm.
„Was gibt es nun, was so dringlich ist, dass du mich nach Sonnenuntergang störst?“
„Ihn.“, Veyd hielt seinen verzauberten Begleiter am ausgestreckten Arm in Richtung des Meisters.
„Ein Frettchen? Ich bin kein Tierarzt.“
„Er ist ein Halbelf, heißt vermutlich Elisander und wurde in diese Gestalt verzaubert.“
„Vermutlich Elisander?“, nachdenklich strich sich Amethyst durch die Haare.
„Nun, er kann nicht reden. Er hat den Namen mit Blut auf einen Ärmel geschrieben.“
Amethyst schmunzelte. „Soso. Da kann ich natürlich erstmal schauen, ob ein Zauber, ein Fluch oder irgendwelche anderen Effekte auf ihm liegen. Setz ihn hier ab.“
Veyd brachte den Nerz zu einem großen Holztisch mit vielerlei Flecken, Branntmalen und tiefen Kerben. Der Meister ging in einen anderen Raum, man konnte ihn Wühlen und Klappern hören und er kam mit drei Säckchen und zwei Fläschchen zurück.
„Verstehst du mich?“, Amethyst beugte sich zum Tier hinunter und betrachtete ihn interessiert. Der Nerz nickte.
„Wunderbar. Schließe die Augen, es passiert dir nichts.“
Er tat wie ihm befohlen und der Magier nahm etwas Pulver aus einem der Beutel und verstreute es großzügig über seinem Patienten. Er begann Gesten mit den Händen auszuführen und Worte zu murmeln die Veyd an alte Zeiten erinnerten. Die Handzeichen waren ihm bekannt, und auch die Worte waren ihm nicht fremd. „Einsicht in die Dinge, Essenz durchfließe diese Augen, lege die echte Wahrheit offen.“, zumindest grob übersetzt aus der alten Sprache der Magier.
„Ich sehe was, was ihr nicht seht und es ist… blau.“, grinsend schaute Amethyst Veyd an. „Weißt du noch was das bedeutet?“
„Blaue Aura heißt, es ist durch Essenzströme gewirkte Magie.“, eine der ersten Lektionen.
„Richtig, wenigstens bist du kein Totalausfall. Nun, Magie ist gut, Magie kann ich beheben. Wäre hier ein Fluch oder Naturmagie oder dämonische Macht im Spiel, hätten wir Schwierigkeiten. Allerdings kann ich das nicht umsonst tun. Die Reagenzien kosten…“, lautes Klopfen an der Tür.
„Noch einer? Kein Anstand mehr in den Leuten. Hier ist niemand, komm morgen wieder!“, den letzten Satz rief er laut in Richtung des Eingangs.
„Das wird Rafael sein, er sollte Kleidung für Elisander besorgen.“
„Dann mach ihm halt auf. Wenn er es nicht ist, schick die Person fort.“
Veyd öffnete, und Rafael betrat den Raum. In seinem Arm war ein Bündel Stoff und sein Gesicht zeugte von Ärger.
„Hier.“, er gab Veyd Münzen. Zwölf Silber. „Ich glaube der Schneider hat mich übers Ohr gehauen. Es tut mir Leid.“
Acht Silberkronen für ein paar Kleider waren teuer, aber akzeptabel. „Nicht dafür mein Freund, Hauptsache wir haben nachher keinen nackten Halbelf im Schlepptau.“, er klopfte Rafael auf die Schulter und der große Halbork lächelte erleichtert.
„Wie läuft es mit unserem Pelz?“, Rafael blickte zum Tisch hinüber und sah nun auch Meister Amethyst. Seine Augen weiteten sich.
„Hallo junger Mann. Sag, kenn ich dich?“, der Magier musterte Rafael von Kopf bis Fuß.
„Ich… ich denke nicht, nein, nein. Ich war noch nie hier.“
Veyd war sich sicher, dass hier eine Geschichte im Verborgenen lag. Aber der Meister erinnerte sich nicht komplett, und für ihn gab es gerade Wichtigeres.
„Meister Amethyst wollte gerade sagen, was uns die Entzauberung kosten wird.“
„Oh, ja, genau. Also die Reagenzien alleine kosten mich fünfundzwanzig Silberkronen und für den Aufwand und die späte Stunde muss ich nochmal fünf verlangen.“
„Was haltet ihr davon: Ihr bekommt eine Goldkrone und wir drei stehen auf Ewig in eurer Schuld.“
Wieder fuhr sich der Mann nachdenklich durch die Haare.
„Ewig ist ziemlich lange. Abgemacht.“
Während der Magier die Entzauberung vorbereitete, legte Veyd die Kleider auf einen Sessel und Veyd holte die versprochene Bezahlung hervor. Ohne das zusätzliche Geld wäre nichts hiervon gelungen, er dankte seiner Mutter in Gedanken dafür.
Von dem folgenden Ritual verstand Veyd deutlich weniger. Einige Gesten kamen ihm bekannt vor, einzelne Wörter der Beschwörungsformel kannte er auch, aber das war die Arbeit eines Profis, er hatte nicht das zweite Lehrjahr abgeschlossen. Abgesehen von Gemurmel und Fuchteln in der Luft, sowie gelegentliches verstreuen von Pulvern und ausgießen von Flüssigkeiten gab es nichts zu sehen oder zu hören, bis nach einigen Minuten der Nerz blaugrau zu Leuchten begann. Rafael und Veyd beugten sich vor, bestaunten den Effekt genauer. Das Leuchten weitete sich zu einer Aura, einer Kugel um ihren Freund aus. Plötzlich, mit einem irritierenden „Plong“-Laut, schoss aus der linken Hinterpfote ein Frauenbein und ersetzte die Pfote. Im nächsten Augenblick gab es ein ähnliches Geräusch, und die rechte Vorderpfote wurde durch einen anmutigen, filigranen Arm ersetzt. Plong.
Veyd neigte seinen Kopf etwas zu Rafael hinüber und flüsterte gepresst: „Hast du Herren oder Frauenkleider besorgt.“
Der Torso sprang auf. Plong. Es war eine haarlose Jünglingsbrust, sehr schmal mit sich abzeichnenden Bauchmuskeln. Die nächsten Schritte, Plong, Plong, Plong, kamen sehr schnell hintereinander und das Leuchten verschwand. Auf dem Tisch saß ein männlicher Halbelf von sehr schlankem Wuchs mit hübschem, fast weiblichem Gesicht und leicht spitzen Ohren. Sein Haar war schwarz und auch seine Lenden bewiesen, dass es sich um einen Mann handelte, auch wenn Hände, Kinn und Beine dies nicht taten. Offenbar war er noch sehr desorientiert. Er schüttelte den Kopf und sprach dann mit melodischer, graziler Stimme.
„Endlich. Was für ein Tag. Danke euch.“, er sah zum Magier, „Und auch euch.“, er sah zu den jungen Männern. „Ich darf mich kurz in Gänze vorstellen.“, er hüpfte gekonnt vom Tisch und drehte sich zu dabei komplett zu Veyd und Rafael, wodurch Amethyst hinter ihm stand. „Elisander Mandelbaum ist mein Name, ich bin meines Zeichens Schlosser auf Wanderschaft.“, dabei verbeugte er sich, was Meister Amethyst zu einem „Ürgh“-Stöhnen und dem Abschirmen seiner Augen animierte.
„Zieh dir erstmal etwas an, Kleiner.“, tatsächlich war der Halbelf nicht gerade hoch gewachsen, gut einen Kopf kleiner als Veyd und vermutlich halb so schwer wie Rafael.
„Gewiss, habt auch dafür meinen Dank.“, er glitt fast lautlos zu den Kleidern und zog sie geschwind an.
„Was ist mit dir geschehen, Elisander?“, nicht nur Veyd, auch Rafael wollte die Geschichte des Halbelfen hören. Der Meister schien weniger interessiert, er schickte sich an seine Reagenzien wegzuräumen.
„Gerne will ich euch meine Geschichte erzählen. Aber in Anbetracht unserer aktuellen Lage“, dabei schaute er Rafael eindringlich an, „und in Anbetracht unserer Ziele“, hier schwebte sein Blick zu Veyd, „würde ich vorschlagen, wir gehen zum Hafen um ein Schiff zu finden, dass vielleicht heute Abend noch mit uns fortsegelt. Auf dem Weg will ich euch die Geschehnisse schildern.“
Veyd gefiel die Idee. Rafael machte einen deutlich unsichereren Eindruck, aber er gab auch keine Widerworte.
„Gut, dann machen wir uns direkt auf den Weg zum Hafen.“
„Denkt an euer Versprechen. Ewige Schuld, und so!“, Meister Amethyst schaute den Dreien hinterher als sie seine Räume verließen. Er grübelte noch lange, wo er den Halbork schonmal gesehen hatte und holte sich zum Nachdenken einen saftigen Apfel aus der Küche.

Draußen lief das ungleiche Gespann die Straße entlang, und Elisander begann eine Geschichte zu erzählen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
prima.

geht spannend weiter, gut erzählt.
hoffentlich erklärst du den tollen fluch "in neuen Tiefen", dessen herkunft würde mich sehr interessieren.
lg
 



 
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