Wolfgang Urach
Mitglied
Meister Hora hatte an der Bettkante gestanden. Nun schlug Momo die Augen auf, und er lächelte sie an. Er hatte über ihren Schlaf gewacht.
„Hast du gut geschlafen, mein Kind?“, fragte er freundlich.
„Ja“, sagte sie noch ganz müde.
„Komm“, flüsterte er ruhig und öffnete seine Arme.
Momo ließ sich in die Arme des lieben alten Manns fallen, und Meister Hora hob sie aus dem Bett. Gemeinsam weckten die beiden Ann und Giacomo. Momo kitzelte Giacomo am Fuß, und Meister Hora strich Ann sacht mit dem Handrücken über die Wange. Die beiden Kinder kamen langsam zu sich.
„Momo, Deine Freunde und Du haben sicher großen Hunger!“, wandte sich Meister Hora an ihre Freunde. Der Zeitverwalter nahm Ann und Momo an der Hand und führte sie zu einem kleinen Tischchen neben ihren drei Betten, auf dem eine dickbauchige Kanne, mehrere Tassen, Teller, Löffelchen und Messer lagen. In einem Körbchen lagen goldbraune, knusprige Semmeln, in einem Schüsselchen befand sich goldgelbe Butter und in einem anderen Honig, der schlechthin wie flüssiges Gold aussah. Meister Hora schenkte aus der dickbauchigen Kanne in vier Tassen Schokolade und sagte mit einladender Gebärde: „Bitte, liebe Gäste, greift tüchtig zu!“
Das ließen sich die drei nicht zweimal sagen; sie tranken die Schokolade mit tiefen Zügen wie Halbverdurstete und schmausten mit vollen Backen die Honigbrötchen, die Meister Hora ihnen schmierte.
Der Zeitverwalter beobachtete lächelnd seine drei Gäste, nippte von Zeit zu Zeit an seiner Schokoladentasse und störte erst mal nicht die geräuschvolle Schmatzstille, die nur vom Ticken und Schnarren der Uhren energisch begleitet wurde.
„Lebst du hier ganz alleine?“, fragte Ann zwischen zwei Bissen.
„Ganz alleine, wenn man von Kassiopeia absieht.“
„Ich muss doch sehr bitten“, erschien auf dem Schildkrötenpanzer. Die Kinder lachten.
„Natürlich vergesse ich dich nicht, Kassiopeia“, bekräftigte Meister Hora.
„Warum sollten wir kommen?“, fragte Giacomo und schlürfte an seiner Schokolade.
„Weil ich eure Hilfe brauche“, erklärte Meister Hora ruhig.
„Echt?“, fragte Ann erstaunt.
„Ich verlasse niemals das Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse, deshalb könnt ihr mir wirklich helfen.“
„Klar, kein Problem!“, meinte Giacomo sofort.
„Aber wir haben noch etwas Zeit. Habt ihr Lust, ein wenig zu spielen, Kinder? Ich habe hier immer so wenig Gelegenheit, mit jemanden zu spielen.“
„Ja, bitte!“, rief Momo.
„Gut, dann hab ich ein Rätsel für euch, Kinder. Achtung! Es ist nicht besonders leicht!
Ich kenne kein gestern
und so auch kein morgen:
Ich lebe in unsrem
gemeinsamen Kreislauf.
Man kann mich benutzen,
verschwenden, verschütten,
vergessen, und doch!
Verloren geh ich nicht.
Mir gibt die Natur oft
so manch tolle Farben:
türkis, violett, braun:
In allem bin ich drin.
Meister Hora hatte geendet.
Ann kratzte sich am Kopf, Momo schaute Meister Hora mit großen Augen an, Giacomo pöbelte sich in der Nase.
„Vielleicht war es etwas zu schwer“, gab der alte Herr zu.
„Nein“, sagte Momo bestimmt, „wir finden das schon heraus.“
Meister Hora lächelte erleichtert.
„Warum ,verschütten‘ ?“, fragte Ann.
„Eine gute Frage“, ermunterte Hora sie.
„Es ist etwas Flüssiges“, rief Giacomo.
„Wenn’s alle Farben annehmen kann, ist es vielleicht durchsichtig“, schlug Giacomo vor.
„Wasser!“, rief Ann mit einem Male. „Selbst wenn man es verschüttet, geht es in den Boden und sammelt sich, oder es verdunstet und macht Wolken. Das ist ein ewiger Kreislauf.“
„Sehr schön“, sagte Meister Hora.
„Aber was ist mit den Farben?“ fragte Momo.
„Wasser ist überall drin!“, antwortete Hora. „Schaut mal, Giacomo, du hast kurze braune, glatte Haare, Momo hat krauselige schwarze Haare, Ann ist rothaarig, und doch besteht ihr fast nur aus Wasser. Im menschlichen Körper ist praktisch alles irgendwie aus Wasser. Deshalb kann man sagen, dass Wasser alle Farben annehmen kann. Versteht ihr das?“
Die Kinder nickten zustimmend.
„So, und jetzt habe ich noch eine Überraschung für euch!“, rief Meister Hora.
„Was? Oh ja, bitte! Was ist es denn?“, riefen die Kinder durcheinander.
„Es ist ein Ort, wohin man selten gelangt, ein etwas gruseliger Ort, könnte man denken, aber es ist wichtig, dass ihr diesen Ort kennt. Es ist eine Vorbereitung für euch, denn ich brauche ja eure Hilfe, dann müssen wir uns verabschieden.“
„Schon?“, fragte Momo traurig.
„Momo, du weißt doch, wir werden uns wiedersehen.“
„Aber sag schon: Wohin gehen wir, Meister Hora?“, fragte Ann.
Der Zeitverwalter schaute einen nach den anderen an: „Ihr werdet auch keine Angst haben?“
„Nicht wenn du bei uns bist!“, rief Momo.
„Gut“, erklärte der alte Herr zufrieden, „unter dem Nirgend-Haus ist kein Keller, sondern noch etwas viel größeres.“
„Was?“
„Die Höhle der Nacht aller Zeiten.“
Die Kinder und Kassiopeia folgten Meister Hora auf seinem Weg aus dem Uhrensaal hinaus in einen Nebenraum. Der Zeitverwalter nahm eine Lampe, die aussah wie eine Gaslampe, und strich über sie. Und sie fing an zu leuchten, so als ob er ein geheimes Gas angezündet hätte.
Dann beugte sich Hora nach unten, suchte etwas auf dem Boden und öffnete eine hölzerne Bodenluke.
„Ihr braucht keine Angst zu haben!“, sagte Meister Hora und stieg die Treppe unter der Luke hinunter. Die Holzstufen waren etwas glitschig und glänzten im Schein der Lampe.
Momo nahm die Hand von Giacomo, der vor ihr die Stufen herabging. Ann lief hinter ihr und hielt sich an Momos Jacke fest. Immer tiefer stiegen sie. Momo tastete sich mit ihrer zweiten Hand an der Wand voran. Die Wände waren kühl und aus Stein. Wasser floss über die Wände. Sie fühlte runde, etwas unförmige Steinsäulen. Im Schein von Meister Horas Lampe erschienen Felder von Steinzapfen, die von der Decke hingen, und Zapfen, die auf dem Höhlenboden in die Luft ragten. Einige Säulen waren durchgängig von der Decke bis auf den Höhlenboden durchgängig.
„Huch!“, erschrak sich Ann hinter ihr.
„Was ist?“, drehte sich Momo zu ihr um.
„Die Eule!“, rief Ann.
Meister Hora folgte dem Blick des erschrockenen Mädchens.
Seine kräftige, weiße Lampe flackerte in der Hand von Hora, der sie jetzt hochhob, das Licht fiel auf die Höhlenwand, in der zwei Gesteinsvertiefungen kreisrunde, mittige Mulden bildeten, die wie die Ringe von Eulenaugen aussahen.
„Keine Sorge, Ann, das sind nur Mulden in der Wand!“
Es flatterte über ihnen.
Die Kinder blieben wieder mit offenen Mündern stehen.
„Das sind Fledermäuse, es leben ein paar Tausende in dieser Höhle…“, erklärte der Zeitverwalter.
„Wie tief geht das?“, fragte Giacomo, und seine Stimme hallte im endlosen Raum.
„Ach, einige Hundert Meter“, meinte Meister Hora, „aber so tief wollen wir ja gar nicht.“
„Warum heißt diese Höhle die Höhle der Nacht aller Zeiten?“, fragte Ann.
„Das kann dir Momo sagen!“
„Ich?“, fragte Momo erstaunt, und ihre Stimme hallte in den Tiefen der Höhle.
„Erinnerst du dich an die drei Brüder?“, fragte Meister Hora nach.
Momo strahlte: „Ja richtig, da war der eine Bruder, der war die Zukunft, da war der mittlere Bruder, der war die Gegenwart, und da war der dritte Bruder, der war die Vergangenheit. Und wenn man sich die Gegenwart anschauen wollte, schaute man sich die Vergangenheit an. Und die Brüder konnten sich verwandeln. Aus der Zukunft wurde die Gegenwart, und aus der Gegenwart wurde die Vergangenheit. Und die drei Brüder herrschten über ein Königreich, das war die Zeit. Und sie lebten in einem Haus, das war die Welt.“
„Das hast du schön behalten, Momo“, gratulierte Meister Hora und ging weiter in den Berg hinein. „Meint ihr denn, dass der dritte Bruder, die Vergangenheit, verloren geht?“
„Äh“, die Kinder trabten hinter dem Zeitverwalter hinab und wussten keine Antwort.
„Nein“, sagte Momo schließlich, „sonst wäre ja der dritte Bruder tot.“
„Du hast recht, Momo“, lächelte Meister Hora, „aber viele Menschen vergessen, dass die Vergangenheit lebt. Sie kennen nur die Gegenwart und die Zukunft, und die Vergangenheit ist eine tote, vergessene Sache für sie.“
„Wie ist das denn wirklich mit der Vergangenheit?“, fragte Ann vorsichtig.
„Die Vergangenheit lebt im Dunkeln. Je älter sie ist, desto mehr vergessen die Menschen, wie sie aussieht. Und oft machen sich die Menschen ein falsches Bild von der Vergangenheit und verbreiten Lügen über sie. So wie das die Schwarzhemden tun.“
„Können wir die Vergangenheit besser kennen lernen?“, fragte Giacomo.
„Natürlich“, antwortete der Zeitverwalter, „das könnt ihr, und das müsst ihr sogar. Eins müsst ihr wissen: ihr könnt nicht die Zukunft leben, wenn ihr nicht versucht, die Vergangenheit zu verstehen.“
Meister Hora blieb vor einer Steinsäule am Boden stehen: „Die Vergangenheit versteckt sich; manchmal habe ich das Gefühl, dass sie nicht erkannt werden will. Denn die Menschen haben Angst, sie zu verstehen. Schaut mal hier die Steinsäule.“
Meister Hora hielt seine Lampe über die Bodensäule, die etwa so groß war wie Momo. In diesem Moment passierte etwas Lustiges. Ein Wassertropfen hatte sich von der Höhlendecke gelöst, flog durch den Schein der Lampe und landete spritzend auf der platten Spitze der Säule.
„Schaut mal, Kinder: das Wasser transportiert ganz kleine Mineralien, das heißt winzig kleine Steinchen mit sich. Wenn der Wassertropfen auf die Spitze der Säule fällt, bleiben diese winzig kleinen Steinchen auf der Säulenspitze liegen, und so wächst die Säule jedes Jahr ein wenig. Um wieviel ist sie denn in den letzten zehn Jahren gewachsen? Was glaubt ihr?“
„Einen Meter?“, fragte Giacomo.
„Nein, so viel wie die Dicke eurer Fingernägel.“
„So wenig?“, fragte Momo.
„Ja, das ist lustig, nicht? Diese Säule ist eine ehrwürdige ältere Dame und schon ein paar Tausend Jahre alt…“
„Ein paar Tausend Jahre…“, wiederholte Ann ungläubig.
Aber Meister Hora war noch nicht am Ende.
„Liebe Kinder, wenn Ihr die Schwarzhemden mal ärgern wollt – und das würde mich besonders freuen – müsst ihr ihnen folgende Fragen stellen:
Was ist ein leibhaftiger Lappalier?
Ist das ein Mensch, dessen Vorfahren vor 50 oder 500 Jahren in Lappalien wohnten?
Oder jemand, dessen Vorfahren vor 1000 oder 5000 Jahren in Lappalien wohnten? Übrigens damals ging die Steinsäule Momo schon zum Bauchnabel, so alt ist sie.
Aber kein Schwarzhemd und keiner aus dem Dorf kann euch sagen, wie das Dorf vor 10 000 oder 50 000 Jahren aussah, und keiner kann euch sagen, wer in diesem Dorf lebte.
Die Vergangenheit ist schwierig zu verstehen, sie versteckt sich und will nicht entdeckt werden, und selbst ich vergesse sie manchmal“, meinte Meister Hora und lächelte schelmisch.
Sie waren in einer Gangerweiterung angekommen.
Ganz leise fing Meister Hora an, eine einfache Melodie zu summen. Kannten die Kinder sie nicht?
Diese Melodie begann, sich durch das Echo zu verdoppeln, zu verdreifachen.
Sie verschwand und kam wieder.
Der Berg begann zu brummen und zu summen. Zu singen und flöten. Und Momo hatte Schwierigkeiten Meister Horas Melodie noch herauszuhören.
Die Stimmen und Melodien kamen ihr bekannt vor, so als hätte sie sie schon gehört. Sie versuchte mitzusummen; eine Melodie erkannte sie, und je länger sie sie summte, desto klarer und deutlicher wurde sie.
Die Musik wanderte durch den ganzen Berg und durch Momos Kopf, dann wurde sie wieder leiser. Schließlich verschwand sie im Dunkeln des Bergs.
Einen Moment sagte keiner etwas.
Sie gingen wortlos weiter.
Der Gang wurde noch größer, noch breiter, noch höher.
„Bor, ist das eine große Höhle“, stieß Giacomo vor Verwunderung aus.
„Da oben ist Licht“, meinte Ann. Sie hatte einen Lichtfleck an der Höhlendecke erkannt.
„Da ist die Erdoberfläche“, erklärte Meister Hora. „Willst du, dass ich dich hochhebe?“
„Ja“, rief Ann begeistert.
Der Zeitverwalter beugte sich, bis er mit seinen Schultern fast auf dem steinigen Boden angekommen war und Ann bequem aufsteigen konnte.
Und dann schwupp! Hoch ging die Fahrt! Ann lachte, ihre beiden Freunde sahen ganz klein aus auf dem Boden des hohen Tropfsteingewölbes.
„Huhu“, rief sie ihren Freunden zu.
„Huhu“, hallte das Echo.
„Siehst du uns?“, rief Momo.
„…du uns“, wiederholte das Echo.
„Ja“, rief Ann lachend.
„Kannst du aus dem Loch greifen?“, fragte Meister Hora.
„Na klar“, sagte Ann und streckte ihre Hand aus der Höhle ins Freie.
Schnell zog sie sie aber zurück.
„Was hast du gefühlt?“, fragte Meister Hora.
„Ganz frische kalte Luft!“, meinte Ann erschrocken.
„Greif noch mal nach draußen“, ermunterte sie der Zeitverwalter.
Vorsichtig griff Ann noch mal nach draußen.
Sie bekam etwas Matschiges zu fassen und lachte von neuem. Sie warf den Matsch nach unten.
„He, Ann, warum bewirfst du uns mit Lehm?“, rief Giacomo.
„Das macht Spaß“, rief Ann übermütig.
Und schwupp! machte sich Meister Hora wieder ganz klein, und Ann landete auf dem Steinboden.
„Und weißt du denn, wohin die Öffnung geht, Ann?“, fragte Meister Hora nach.
„Nee, keine Ahnung.“
„Du warst im Brunnen am Fluss. Erinnert ihr euch, als ihr am ersten Schultag am Fluss wart?“, fragte nun Meister Hora Ann und Momo.
„Ja sicher! Klar!“, erinnerten sich Momo und Ann.
„Wir haben nicht mehr so viel Zeit, denn ihr müsst losgehen“, drängte Meister Hora die Kinder nun zur Eile an. „Dann werde ich euch erklären, wie ihr ganz einfach die Nacht der Zeiten verlassen könnt; nur dürft ihr keine Angst haben.“ Das Gesicht von Meister Hora erleuchtete ganz weiß und ernst im Schein seiner Lampe.
Die Kinder sahen ihn erwartungsvoll an.
„Kommt!“, sprach Meister Hora. Lächelnd und nahm Momo an der Hand. Momo streckte ihre Hand aus, und Ann schlug ein. So liefen sie, mit Giacomo am Ende, los in einen Gang. Der Tunnel wurde abschüssig; die Luft wurde wärmer.
„Hört ihr es?“, fragte Meister Hora.
Zuerst war es ein Rauschen, dann wurde es lauter, brodelnd, zischend, und dann stand Meister Hora vor einer rauschenden Wand und hielt die Lampe hoch. Es war ein Wasserfall, der weiß schäumend in den Boden sich ergoss und so den Tunnel zu einer Seite abschloss.
In das Rauschen sprach Meister Hora sehr nachdenklich: „Momo, du erinnerst dich, als du das letzte Mal hier warst. Ich habe dir eine Stundenblume anvertraut, damit du gegen die grauen Herren kämpfst und sie zwingst, ihre Zeitvorräte zu benutzen. Ich hatte die Zeit unterbrochen, damit du gegen sie gewinnen kannst. Jetzt schlage ich euch etwas anderes vor.“
Die drei Kinder ließen sich nicht durch den rauschenden Wasserfall ablenken.
„Die Schwarzhemden haben nicht die gleiche Macht wie die grauen Herren.“, erklärte Hora. „Alles, was sie können, ist, große Reden machen und Leute verprügeln. Aber das gefällt mir nicht, denn sie machen Unterschiede, wo es keine Unterschiede gibt. Sie benutzen falsche Namen, um zu lügen und die Leute zu beeindrucken.“
Der Wasserfall rauschte und Meister Hora redete sich in Wut: „Sie benutzen Namen, um ihre verrückten Ideen zu erklären. Sie verdrehen den Sinn der Dinge, weil es ihnen so in den Kram passt. Und sie erzählen Lügen über die Nacht aller Zeiten. Deshalb brauche ich eure Hilfe.“
Die drei Kinder nickten.
„Ich werde also jedem von euch“, fuhr Meister Hora fort, „eine Stundenblume geben. Jedem seine eigene; ihr werdet merken, dass sie euch helfen können. Doch nach einer Stunde werden die Blumen verblüht sein, und ihr habt keine Unterstützung mehr durch die Blumen. Also versucht die Schwarzhemden zu überlisten in dieser Stunde, damit wieder Ruhe einkehrt in unserer Stadt. Seid ihr bereit dazu?“
„Ja Meister Hora! Mach dir keine Sorgen! Es wird schon klappen!“ sagten die Kinder durcheinander.
„Lebt wohl, meine lieben Freunde, es war mir eine große Freude, dass wir so viel zusammen erleben konnten und ihr mir so fleißig zugehört habt.“
„Und wie kommen wir wieder in die Stadt, Meister Hora?“ schaute Ann den alten Mann fragend an.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“, sagte Meister Hora. „Ich begleite euch.“
Er nahm Momo auf seinen Arm, setzte sie auf seine Schultern, die ihr davor noch so zerbrechlich erschienen waren. Er nahm Ann in den rechten Arm, so als sie leicht wie ein kleines Baby wär, und pflückte Giacomo vom Boden, als ob er nichts wiegen würde, und ließ ihn auf seinem linken Arm sitzen. Momo war, als ob Meister Hora so kräftig war wie eine jahrhundertalte Eiche.
„Seid nicht erstaunt, Kinder!“ sagte Meister Hora mit einer ruhigen Stimme, die Momo plötzlich sehr alt erschien und doch so nah und lebendig war.
Er setzte sich so leicht in Bewegung, als ob er überhaupt kein Gewicht tragen würde.
„Nur sprechen dürft ihr jetzt nicht mehr.“ Und der alte Mann lächelte spitzbübisch wie ein kleiner Junge, der sich einen Streich ausgedacht hat.
Die Kinder waren auch zu verwirrt, um irgendetwas zu sagen.
„Ich würde euch sogar vorschlagen, einen Moment lang die Augen zu schließen, dann wackelt ihr nicht zu viel und erschreckt nicht zu sehr“, flüsterte Hora. Momo wusste nicht, was die beiden anderen taten, aber sie folgte Horas Rat.
Und als sie die Augen schließ, legte sich ein feiner kühler Schleier auf ihre Augen. Momo wurde sogar etwas müde durch die sanften Gehbewegungen von Meister Hora unter ihr.
Und Hora erzählte weiter: „Es sind nicht viele Menschen hier hin gekommen, obwohl sie alle diesen Ort kennen müssten. Ihr werdet sehen...“
Momo hörte ihm nicht mehr zu. Sie lauschte dem Wasserfall nach, der noch zu hören war. Aber sie entfernten sich langsam von ihm. Horas Schritte und seine warme, nahe Stimme hallten im Gang wieder, und Momo erinnerte sich, vor langer Zeit schon einmal so auf den Schultern eines Manns getragen worden zu sein. Wann war das? Wer war das gewesen?
Es war ein schöner Moment gewesen, genau wie jetzt, und sie wollte nicht, dass er vorbeiging. Sie fühlte sich getragen, geborgen, frei...
Es war ihr Vater gewesen. Und da erinnerte sie sich auch an die Stimme ihres Vaters, der irgendetwas Lustiges erzählte. Nur wusste Momo nicht mehr, was er gesagt hatte.
Hora war stehen geblieben.
„Versprecht mir, ab jetzt nichts mehr zu sagen.“
Die Kinder nickten, und Hora ging federleicht und langsam durch einen dunklen Gang. Schließlich fühlte Momo, dass sie in eine große Halle kamen. Kein Laut war zu hören. Meister Hora nahm sie von seinen Schultern und setzte sie ab. Momo machte die Augen auf und entdeckte Ann und Giacomo, die neben ihr standen. Sie drehte sich um und erkannte Meister Hora, der doch etwas müde vom Tragen war, denn er schwitzte sich mit einem Tuch die Stirn ab. Er lächelte ihr aufmunternd zu.
Dann entdeckte Momo die Lichtsäule und den schwarzen Teich, der sich vor ihnen ausbreitete.
„Hast du gut geschlafen, mein Kind?“, fragte er freundlich.
„Ja“, sagte sie noch ganz müde.
„Komm“, flüsterte er ruhig und öffnete seine Arme.
Momo ließ sich in die Arme des lieben alten Manns fallen, und Meister Hora hob sie aus dem Bett. Gemeinsam weckten die beiden Ann und Giacomo. Momo kitzelte Giacomo am Fuß, und Meister Hora strich Ann sacht mit dem Handrücken über die Wange. Die beiden Kinder kamen langsam zu sich.
„Momo, Deine Freunde und Du haben sicher großen Hunger!“, wandte sich Meister Hora an ihre Freunde. Der Zeitverwalter nahm Ann und Momo an der Hand und führte sie zu einem kleinen Tischchen neben ihren drei Betten, auf dem eine dickbauchige Kanne, mehrere Tassen, Teller, Löffelchen und Messer lagen. In einem Körbchen lagen goldbraune, knusprige Semmeln, in einem Schüsselchen befand sich goldgelbe Butter und in einem anderen Honig, der schlechthin wie flüssiges Gold aussah. Meister Hora schenkte aus der dickbauchigen Kanne in vier Tassen Schokolade und sagte mit einladender Gebärde: „Bitte, liebe Gäste, greift tüchtig zu!“
Das ließen sich die drei nicht zweimal sagen; sie tranken die Schokolade mit tiefen Zügen wie Halbverdurstete und schmausten mit vollen Backen die Honigbrötchen, die Meister Hora ihnen schmierte.
Der Zeitverwalter beobachtete lächelnd seine drei Gäste, nippte von Zeit zu Zeit an seiner Schokoladentasse und störte erst mal nicht die geräuschvolle Schmatzstille, die nur vom Ticken und Schnarren der Uhren energisch begleitet wurde.
„Lebst du hier ganz alleine?“, fragte Ann zwischen zwei Bissen.
„Ganz alleine, wenn man von Kassiopeia absieht.“
„Ich muss doch sehr bitten“, erschien auf dem Schildkrötenpanzer. Die Kinder lachten.
„Natürlich vergesse ich dich nicht, Kassiopeia“, bekräftigte Meister Hora.
„Warum sollten wir kommen?“, fragte Giacomo und schlürfte an seiner Schokolade.
„Weil ich eure Hilfe brauche“, erklärte Meister Hora ruhig.
„Echt?“, fragte Ann erstaunt.
„Ich verlasse niemals das Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse, deshalb könnt ihr mir wirklich helfen.“
„Klar, kein Problem!“, meinte Giacomo sofort.
„Aber wir haben noch etwas Zeit. Habt ihr Lust, ein wenig zu spielen, Kinder? Ich habe hier immer so wenig Gelegenheit, mit jemanden zu spielen.“
„Ja, bitte!“, rief Momo.
„Gut, dann hab ich ein Rätsel für euch, Kinder. Achtung! Es ist nicht besonders leicht!
Ich kenne kein gestern
und so auch kein morgen:
Ich lebe in unsrem
gemeinsamen Kreislauf.
Man kann mich benutzen,
verschwenden, verschütten,
vergessen, und doch!
Verloren geh ich nicht.
Mir gibt die Natur oft
so manch tolle Farben:
türkis, violett, braun:
In allem bin ich drin.
Meister Hora hatte geendet.
Ann kratzte sich am Kopf, Momo schaute Meister Hora mit großen Augen an, Giacomo pöbelte sich in der Nase.
„Vielleicht war es etwas zu schwer“, gab der alte Herr zu.
„Nein“, sagte Momo bestimmt, „wir finden das schon heraus.“
Meister Hora lächelte erleichtert.
„Warum ,verschütten‘ ?“, fragte Ann.
„Eine gute Frage“, ermunterte Hora sie.
„Es ist etwas Flüssiges“, rief Giacomo.
„Wenn’s alle Farben annehmen kann, ist es vielleicht durchsichtig“, schlug Giacomo vor.
„Wasser!“, rief Ann mit einem Male. „Selbst wenn man es verschüttet, geht es in den Boden und sammelt sich, oder es verdunstet und macht Wolken. Das ist ein ewiger Kreislauf.“
„Sehr schön“, sagte Meister Hora.
„Aber was ist mit den Farben?“ fragte Momo.
„Wasser ist überall drin!“, antwortete Hora. „Schaut mal, Giacomo, du hast kurze braune, glatte Haare, Momo hat krauselige schwarze Haare, Ann ist rothaarig, und doch besteht ihr fast nur aus Wasser. Im menschlichen Körper ist praktisch alles irgendwie aus Wasser. Deshalb kann man sagen, dass Wasser alle Farben annehmen kann. Versteht ihr das?“
Die Kinder nickten zustimmend.
„So, und jetzt habe ich noch eine Überraschung für euch!“, rief Meister Hora.
„Was? Oh ja, bitte! Was ist es denn?“, riefen die Kinder durcheinander.
„Es ist ein Ort, wohin man selten gelangt, ein etwas gruseliger Ort, könnte man denken, aber es ist wichtig, dass ihr diesen Ort kennt. Es ist eine Vorbereitung für euch, denn ich brauche ja eure Hilfe, dann müssen wir uns verabschieden.“
„Schon?“, fragte Momo traurig.
„Momo, du weißt doch, wir werden uns wiedersehen.“
„Aber sag schon: Wohin gehen wir, Meister Hora?“, fragte Ann.
Der Zeitverwalter schaute einen nach den anderen an: „Ihr werdet auch keine Angst haben?“
„Nicht wenn du bei uns bist!“, rief Momo.
„Gut“, erklärte der alte Herr zufrieden, „unter dem Nirgend-Haus ist kein Keller, sondern noch etwas viel größeres.“
„Was?“
„Die Höhle der Nacht aller Zeiten.“
Die Kinder und Kassiopeia folgten Meister Hora auf seinem Weg aus dem Uhrensaal hinaus in einen Nebenraum. Der Zeitverwalter nahm eine Lampe, die aussah wie eine Gaslampe, und strich über sie. Und sie fing an zu leuchten, so als ob er ein geheimes Gas angezündet hätte.
Dann beugte sich Hora nach unten, suchte etwas auf dem Boden und öffnete eine hölzerne Bodenluke.
„Ihr braucht keine Angst zu haben!“, sagte Meister Hora und stieg die Treppe unter der Luke hinunter. Die Holzstufen waren etwas glitschig und glänzten im Schein der Lampe.
Momo nahm die Hand von Giacomo, der vor ihr die Stufen herabging. Ann lief hinter ihr und hielt sich an Momos Jacke fest. Immer tiefer stiegen sie. Momo tastete sich mit ihrer zweiten Hand an der Wand voran. Die Wände waren kühl und aus Stein. Wasser floss über die Wände. Sie fühlte runde, etwas unförmige Steinsäulen. Im Schein von Meister Horas Lampe erschienen Felder von Steinzapfen, die von der Decke hingen, und Zapfen, die auf dem Höhlenboden in die Luft ragten. Einige Säulen waren durchgängig von der Decke bis auf den Höhlenboden durchgängig.
„Huch!“, erschrak sich Ann hinter ihr.
„Was ist?“, drehte sich Momo zu ihr um.
„Die Eule!“, rief Ann.
Meister Hora folgte dem Blick des erschrockenen Mädchens.
Seine kräftige, weiße Lampe flackerte in der Hand von Hora, der sie jetzt hochhob, das Licht fiel auf die Höhlenwand, in der zwei Gesteinsvertiefungen kreisrunde, mittige Mulden bildeten, die wie die Ringe von Eulenaugen aussahen.
„Keine Sorge, Ann, das sind nur Mulden in der Wand!“
Es flatterte über ihnen.
Die Kinder blieben wieder mit offenen Mündern stehen.
„Das sind Fledermäuse, es leben ein paar Tausende in dieser Höhle…“, erklärte der Zeitverwalter.
„Wie tief geht das?“, fragte Giacomo, und seine Stimme hallte im endlosen Raum.
„Ach, einige Hundert Meter“, meinte Meister Hora, „aber so tief wollen wir ja gar nicht.“
„Warum heißt diese Höhle die Höhle der Nacht aller Zeiten?“, fragte Ann.
„Das kann dir Momo sagen!“
„Ich?“, fragte Momo erstaunt, und ihre Stimme hallte in den Tiefen der Höhle.
„Erinnerst du dich an die drei Brüder?“, fragte Meister Hora nach.
Momo strahlte: „Ja richtig, da war der eine Bruder, der war die Zukunft, da war der mittlere Bruder, der war die Gegenwart, und da war der dritte Bruder, der war die Vergangenheit. Und wenn man sich die Gegenwart anschauen wollte, schaute man sich die Vergangenheit an. Und die Brüder konnten sich verwandeln. Aus der Zukunft wurde die Gegenwart, und aus der Gegenwart wurde die Vergangenheit. Und die drei Brüder herrschten über ein Königreich, das war die Zeit. Und sie lebten in einem Haus, das war die Welt.“
„Das hast du schön behalten, Momo“, gratulierte Meister Hora und ging weiter in den Berg hinein. „Meint ihr denn, dass der dritte Bruder, die Vergangenheit, verloren geht?“
„Äh“, die Kinder trabten hinter dem Zeitverwalter hinab und wussten keine Antwort.
„Nein“, sagte Momo schließlich, „sonst wäre ja der dritte Bruder tot.“
„Du hast recht, Momo“, lächelte Meister Hora, „aber viele Menschen vergessen, dass die Vergangenheit lebt. Sie kennen nur die Gegenwart und die Zukunft, und die Vergangenheit ist eine tote, vergessene Sache für sie.“
„Wie ist das denn wirklich mit der Vergangenheit?“, fragte Ann vorsichtig.
„Die Vergangenheit lebt im Dunkeln. Je älter sie ist, desto mehr vergessen die Menschen, wie sie aussieht. Und oft machen sich die Menschen ein falsches Bild von der Vergangenheit und verbreiten Lügen über sie. So wie das die Schwarzhemden tun.“
„Können wir die Vergangenheit besser kennen lernen?“, fragte Giacomo.
„Natürlich“, antwortete der Zeitverwalter, „das könnt ihr, und das müsst ihr sogar. Eins müsst ihr wissen: ihr könnt nicht die Zukunft leben, wenn ihr nicht versucht, die Vergangenheit zu verstehen.“
Meister Hora blieb vor einer Steinsäule am Boden stehen: „Die Vergangenheit versteckt sich; manchmal habe ich das Gefühl, dass sie nicht erkannt werden will. Denn die Menschen haben Angst, sie zu verstehen. Schaut mal hier die Steinsäule.“
Meister Hora hielt seine Lampe über die Bodensäule, die etwa so groß war wie Momo. In diesem Moment passierte etwas Lustiges. Ein Wassertropfen hatte sich von der Höhlendecke gelöst, flog durch den Schein der Lampe und landete spritzend auf der platten Spitze der Säule.
„Schaut mal, Kinder: das Wasser transportiert ganz kleine Mineralien, das heißt winzig kleine Steinchen mit sich. Wenn der Wassertropfen auf die Spitze der Säule fällt, bleiben diese winzig kleinen Steinchen auf der Säulenspitze liegen, und so wächst die Säule jedes Jahr ein wenig. Um wieviel ist sie denn in den letzten zehn Jahren gewachsen? Was glaubt ihr?“
„Einen Meter?“, fragte Giacomo.
„Nein, so viel wie die Dicke eurer Fingernägel.“
„So wenig?“, fragte Momo.
„Ja, das ist lustig, nicht? Diese Säule ist eine ehrwürdige ältere Dame und schon ein paar Tausend Jahre alt…“
„Ein paar Tausend Jahre…“, wiederholte Ann ungläubig.
Aber Meister Hora war noch nicht am Ende.
„Liebe Kinder, wenn Ihr die Schwarzhemden mal ärgern wollt – und das würde mich besonders freuen – müsst ihr ihnen folgende Fragen stellen:
Was ist ein leibhaftiger Lappalier?
Ist das ein Mensch, dessen Vorfahren vor 50 oder 500 Jahren in Lappalien wohnten?
Oder jemand, dessen Vorfahren vor 1000 oder 5000 Jahren in Lappalien wohnten? Übrigens damals ging die Steinsäule Momo schon zum Bauchnabel, so alt ist sie.
Aber kein Schwarzhemd und keiner aus dem Dorf kann euch sagen, wie das Dorf vor 10 000 oder 50 000 Jahren aussah, und keiner kann euch sagen, wer in diesem Dorf lebte.
Die Vergangenheit ist schwierig zu verstehen, sie versteckt sich und will nicht entdeckt werden, und selbst ich vergesse sie manchmal“, meinte Meister Hora und lächelte schelmisch.
Sie waren in einer Gangerweiterung angekommen.
Ganz leise fing Meister Hora an, eine einfache Melodie zu summen. Kannten die Kinder sie nicht?
Diese Melodie begann, sich durch das Echo zu verdoppeln, zu verdreifachen.
Sie verschwand und kam wieder.
Der Berg begann zu brummen und zu summen. Zu singen und flöten. Und Momo hatte Schwierigkeiten Meister Horas Melodie noch herauszuhören.
Die Stimmen und Melodien kamen ihr bekannt vor, so als hätte sie sie schon gehört. Sie versuchte mitzusummen; eine Melodie erkannte sie, und je länger sie sie summte, desto klarer und deutlicher wurde sie.
Die Musik wanderte durch den ganzen Berg und durch Momos Kopf, dann wurde sie wieder leiser. Schließlich verschwand sie im Dunkeln des Bergs.
Einen Moment sagte keiner etwas.
Sie gingen wortlos weiter.
Der Gang wurde noch größer, noch breiter, noch höher.
„Bor, ist das eine große Höhle“, stieß Giacomo vor Verwunderung aus.
„Da oben ist Licht“, meinte Ann. Sie hatte einen Lichtfleck an der Höhlendecke erkannt.
„Da ist die Erdoberfläche“, erklärte Meister Hora. „Willst du, dass ich dich hochhebe?“
„Ja“, rief Ann begeistert.
Der Zeitverwalter beugte sich, bis er mit seinen Schultern fast auf dem steinigen Boden angekommen war und Ann bequem aufsteigen konnte.
Und dann schwupp! Hoch ging die Fahrt! Ann lachte, ihre beiden Freunde sahen ganz klein aus auf dem Boden des hohen Tropfsteingewölbes.
„Huhu“, rief sie ihren Freunden zu.
„Huhu“, hallte das Echo.
„Siehst du uns?“, rief Momo.
„…du uns“, wiederholte das Echo.
„Ja“, rief Ann lachend.
„Kannst du aus dem Loch greifen?“, fragte Meister Hora.
„Na klar“, sagte Ann und streckte ihre Hand aus der Höhle ins Freie.
Schnell zog sie sie aber zurück.
„Was hast du gefühlt?“, fragte Meister Hora.
„Ganz frische kalte Luft!“, meinte Ann erschrocken.
„Greif noch mal nach draußen“, ermunterte sie der Zeitverwalter.
Vorsichtig griff Ann noch mal nach draußen.
Sie bekam etwas Matschiges zu fassen und lachte von neuem. Sie warf den Matsch nach unten.
„He, Ann, warum bewirfst du uns mit Lehm?“, rief Giacomo.
„Das macht Spaß“, rief Ann übermütig.
Und schwupp! machte sich Meister Hora wieder ganz klein, und Ann landete auf dem Steinboden.
„Und weißt du denn, wohin die Öffnung geht, Ann?“, fragte Meister Hora nach.
„Nee, keine Ahnung.“
„Du warst im Brunnen am Fluss. Erinnert ihr euch, als ihr am ersten Schultag am Fluss wart?“, fragte nun Meister Hora Ann und Momo.
„Ja sicher! Klar!“, erinnerten sich Momo und Ann.
„Wir haben nicht mehr so viel Zeit, denn ihr müsst losgehen“, drängte Meister Hora die Kinder nun zur Eile an. „Dann werde ich euch erklären, wie ihr ganz einfach die Nacht der Zeiten verlassen könnt; nur dürft ihr keine Angst haben.“ Das Gesicht von Meister Hora erleuchtete ganz weiß und ernst im Schein seiner Lampe.
Die Kinder sahen ihn erwartungsvoll an.
„Kommt!“, sprach Meister Hora. Lächelnd und nahm Momo an der Hand. Momo streckte ihre Hand aus, und Ann schlug ein. So liefen sie, mit Giacomo am Ende, los in einen Gang. Der Tunnel wurde abschüssig; die Luft wurde wärmer.
„Hört ihr es?“, fragte Meister Hora.
Zuerst war es ein Rauschen, dann wurde es lauter, brodelnd, zischend, und dann stand Meister Hora vor einer rauschenden Wand und hielt die Lampe hoch. Es war ein Wasserfall, der weiß schäumend in den Boden sich ergoss und so den Tunnel zu einer Seite abschloss.
In das Rauschen sprach Meister Hora sehr nachdenklich: „Momo, du erinnerst dich, als du das letzte Mal hier warst. Ich habe dir eine Stundenblume anvertraut, damit du gegen die grauen Herren kämpfst und sie zwingst, ihre Zeitvorräte zu benutzen. Ich hatte die Zeit unterbrochen, damit du gegen sie gewinnen kannst. Jetzt schlage ich euch etwas anderes vor.“
Die drei Kinder ließen sich nicht durch den rauschenden Wasserfall ablenken.
„Die Schwarzhemden haben nicht die gleiche Macht wie die grauen Herren.“, erklärte Hora. „Alles, was sie können, ist, große Reden machen und Leute verprügeln. Aber das gefällt mir nicht, denn sie machen Unterschiede, wo es keine Unterschiede gibt. Sie benutzen falsche Namen, um zu lügen und die Leute zu beeindrucken.“
Der Wasserfall rauschte und Meister Hora redete sich in Wut: „Sie benutzen Namen, um ihre verrückten Ideen zu erklären. Sie verdrehen den Sinn der Dinge, weil es ihnen so in den Kram passt. Und sie erzählen Lügen über die Nacht aller Zeiten. Deshalb brauche ich eure Hilfe.“
Die drei Kinder nickten.
„Ich werde also jedem von euch“, fuhr Meister Hora fort, „eine Stundenblume geben. Jedem seine eigene; ihr werdet merken, dass sie euch helfen können. Doch nach einer Stunde werden die Blumen verblüht sein, und ihr habt keine Unterstützung mehr durch die Blumen. Also versucht die Schwarzhemden zu überlisten in dieser Stunde, damit wieder Ruhe einkehrt in unserer Stadt. Seid ihr bereit dazu?“
„Ja Meister Hora! Mach dir keine Sorgen! Es wird schon klappen!“ sagten die Kinder durcheinander.
„Lebt wohl, meine lieben Freunde, es war mir eine große Freude, dass wir so viel zusammen erleben konnten und ihr mir so fleißig zugehört habt.“
„Und wie kommen wir wieder in die Stadt, Meister Hora?“ schaute Ann den alten Mann fragend an.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“, sagte Meister Hora. „Ich begleite euch.“
Er nahm Momo auf seinen Arm, setzte sie auf seine Schultern, die ihr davor noch so zerbrechlich erschienen waren. Er nahm Ann in den rechten Arm, so als sie leicht wie ein kleines Baby wär, und pflückte Giacomo vom Boden, als ob er nichts wiegen würde, und ließ ihn auf seinem linken Arm sitzen. Momo war, als ob Meister Hora so kräftig war wie eine jahrhundertalte Eiche.
„Seid nicht erstaunt, Kinder!“ sagte Meister Hora mit einer ruhigen Stimme, die Momo plötzlich sehr alt erschien und doch so nah und lebendig war.
Er setzte sich so leicht in Bewegung, als ob er überhaupt kein Gewicht tragen würde.
„Nur sprechen dürft ihr jetzt nicht mehr.“ Und der alte Mann lächelte spitzbübisch wie ein kleiner Junge, der sich einen Streich ausgedacht hat.
Die Kinder waren auch zu verwirrt, um irgendetwas zu sagen.
„Ich würde euch sogar vorschlagen, einen Moment lang die Augen zu schließen, dann wackelt ihr nicht zu viel und erschreckt nicht zu sehr“, flüsterte Hora. Momo wusste nicht, was die beiden anderen taten, aber sie folgte Horas Rat.
Und als sie die Augen schließ, legte sich ein feiner kühler Schleier auf ihre Augen. Momo wurde sogar etwas müde durch die sanften Gehbewegungen von Meister Hora unter ihr.
Und Hora erzählte weiter: „Es sind nicht viele Menschen hier hin gekommen, obwohl sie alle diesen Ort kennen müssten. Ihr werdet sehen...“
Momo hörte ihm nicht mehr zu. Sie lauschte dem Wasserfall nach, der noch zu hören war. Aber sie entfernten sich langsam von ihm. Horas Schritte und seine warme, nahe Stimme hallten im Gang wieder, und Momo erinnerte sich, vor langer Zeit schon einmal so auf den Schultern eines Manns getragen worden zu sein. Wann war das? Wer war das gewesen?
Es war ein schöner Moment gewesen, genau wie jetzt, und sie wollte nicht, dass er vorbeiging. Sie fühlte sich getragen, geborgen, frei...
Es war ihr Vater gewesen. Und da erinnerte sie sich auch an die Stimme ihres Vaters, der irgendetwas Lustiges erzählte. Nur wusste Momo nicht mehr, was er gesagt hatte.
Hora war stehen geblieben.
„Versprecht mir, ab jetzt nichts mehr zu sagen.“
Die Kinder nickten, und Hora ging federleicht und langsam durch einen dunklen Gang. Schließlich fühlte Momo, dass sie in eine große Halle kamen. Kein Laut war zu hören. Meister Hora nahm sie von seinen Schultern und setzte sie ab. Momo machte die Augen auf und entdeckte Ann und Giacomo, die neben ihr standen. Sie drehte sich um und erkannte Meister Hora, der doch etwas müde vom Tragen war, denn er schwitzte sich mit einem Tuch die Stirn ab. Er lächelte ihr aufmunternd zu.
Dann entdeckte Momo die Lichtsäule und den schwarzen Teich, der sich vor ihnen ausbreitete.