flammarion
Foren-Redakteur
Old Icke besucht den Kindergarten
„Oma, du musst die Christa in n Kindajaatn schickn“, sagte in bestimmendem Ton die Nachbarin zu meiner erziehungsberechtigten Tante Ida. „So, warum det denn? Wird se da jejossn, damit se schnella wäkst?“, fragte die humorige Alte zurück.
„Nee, det nich. Aba die Kleene kennt doch keene Kinda! Dadrum muss se dahin.“
„Ach, sind Waltraud, Doris und Mäcki schon awacksn?“, grinste Ida breit.
„Mensch, nu vaschteh mir doch ma richtich, Mensch. Ick meine natürlich jleichaltrije Kinda.“
„Ach, det is woll heute for die neue Zeit wichtich, wat?“, konterte Ida bissig.
„Nee“, Grete L. schüttelte den Kopf, „det wa schon imma wichtich. Wenn die Jöre neechstet Jah in ne Schuhle kommt, denn muss se mit die andern Kinda auskomm könn, dadrum muss se jetze in n Kindajaatn jehn. Außadem lernt se da ooch schon n bisschen wat for de Schuhle. Oda willst du dir villeicht hinsetzen und jedn Tach mit ihr bis zwanzich zeehln un wat weeß ick nich noch allet?“
Die Mühe wollte Ida sich nicht machen und ich wurde im Kindergarten angemeldet. Ich stiefelte auch recht brav neben Tante Irma her – Ida war der Weg zu beschwerlich. Und Tante Irma erzählte mir so viel Vergnügliches unterwegs, dass ich mir vor Begeisterung den Weg nicht merkte.
Die Kindergärtnerin war eine hübsche junge Frau. Sie begrüßte mich sehr freundlich und brachte auch die Kinder dazu, mich freundlich willkommen zu heißen. Ich freute mich sehr, mich in einem riesigen Spielzimmer zu befinden, wo alles so bunt und neu war.
Nachdem ein paar Lieder gesungen wurden, von denen ich fast alle kannte, durften wir spielen, was wir wollten. Die Mädchen zogen sich in die „Puppenecke“ zurück, die Jungen bildeten kleinere Grüppchen um mehrere Bausteinhaufen und einen Kaufmannsladen.
Ich war unschlüssig, wohin ich mich wenden könnte. Das Angebot war so groß! Wie in einem Spielzeugladen! Ich vergewisserte mich bei der Erzieherin, ob ich wirklich mit allem spielen könne, was an Spielzeug im Raum ist, denn es gab auch viel Jungsspielzeug, und die Puppenecke sah mir mit den vielen Mädchen darin sehr eng aus. Sie bejahte lächelnd und ich lief schnurstracks zu einem großen roten Auto und bewegte es auf dem Fußboden.
Leider gehörte dieses Auto einem Jungen, es war Privatbesitz. Er schoss auf mich zu und entwand mir das Gefährt. Ich brüllte auf und wies auf die Erlaubnis der Erzieherin hin. Sie stand mir bei und ich durfte weiter mit dem schönen Auto spielen.
Ich fuhr auf einen Bausteinhaufen zu. Die Jungen riefen: „Hier kannste nich lang, hier is Baustelle!“ und rasch wendete ich. Leider zu rasch, die Reifen stellten sich quer. Der Besitzer fürchtete um seinen Flitzer und nahm mir das Auto noch einmal weg. Die Erzieherin brachte die Räder wieder in Ordnung und stellte das Auto auf ein Regal, sodass es keiner von uns erreichen konnte. „So“, sagte sie. „Wenn du nach Hause gehst, dann bekommst du es wieder. Und ich möchte dich bitten, es in Zukunft zu Hause zu lassen. Es gibt hier genug Spielzeug.“
Mich aber führte sie in die Puppenecke zu den Mädchen. Da waren alle Puppen und Teddys schon in fester Hand einer Puppenmutti. Nur ein dünnes Stoffpüppchen war noch übrig, eine Figur aus dem Kaspertheater. Das sollte die Mutter sein und ich sollte ihre Rolle spielen. Ein Kind sagte: „Die Mutti muss jetzt zur Arbeit gehen. Die Fabrik ist da drüben bei den Jungs.“
Diese goldene Brücke betrat ich kleiner Idiot leider nicht. Meine Wahrheitsliebe schlug mir ein Schnippchen. Ich verkündete lauthals: „Nee, die Mutter sitzt!“ und setzte die Kasperfigur rigoros auf einen Stuhl in der Puppenstube.
Ja, meine Mutter „saß“. Das war alles, was ich von ihr wusste. Und meine erziehungsberechtigte Tante saß auch immer gern irgendwo auf einem Stuhl. Diese Erklärungen sprudelte ich hervor und bekam gar nicht mit, dass die Muttis aller hier anwesenden Kinder arbeiten gingen.
Wieder einmal hatte ich mich gründlich daneben benommen, keiner wollte jetzt noch mit mir spielen. Es wurde mir ein Bilderbuch in die Hand gedrückt und ich saß ganz allein am Tisch, bis ich endlich von Grete L. abgeholt wurde. Bevor ich mit ihr gehen durfte, führte die Erzieherin ein längeres Gespräch mit ihr über mich und mein Benehmen. Ich schämte mich in Grund und Boden. Das hielt Grete L. natürlich nicht davon ab, bei Ida Bericht zu erstatten. „Aba vahaun musste die Jöre nu nich jleich dafor, die weeß et doch man bloß nich bessa“, sagte sie am Schluss, so kam ich glimpflich davon.
Ich fürchtete, dass ich am nächsten Tag von vornherein mit einem Bilderbuch an den Tisch gesetzt werde. Das wollte ich nicht. Ich wollte mich auch nicht mit den anderen Kindern, deren Welt mir so völlig fremd war, streiten. Überhaupt wollte ich niiiiie wieder in den Kindergarten gehen. Am anderen Tag bettelte ich erst einmal, damit ich nicht dahin muss. Da es nicht half, warf ich mich zu Boden, strampelte und schrie und setzte so meinen Willen durch.
Heute überlege ich, ob es mir in der Schule genützt hätte, wenn ich weiterhin in den Kindergarten gegangen wäre. Und wenn ja, auf welche Weise.
Meine Einschulung
Nach meinem fünften Geburtstag bekam ich oft zu hören: "Na, waate, wenn de erscht ma in de Schuhle jeehst, denn wird dir der Leehra schon die Dußlichkeitn austreihm!"
Dann wandte ich mich ab, damit Oma mein Lachen nicht sieht. Ich lachte sie nicht aus, oh nein, ich wusste nur ganz genau, dass ich in der Schule keine Dußlichkeiten machen würde, denn ich ging ja zum Lernen dorthin!
Ich war sehr begierig darauf, viel zu lernen, damit man mich nicht mehr "blödet Jör" schimpfen konnte. Ich freute mich riesig auf die Schule. Auch die Warnung meiner um sechs Jahre älteren Cousine: "Det is ja nich so einfach in de Schuhle!" konnte meine Freude nicht eindämmen.
Auf Omas Geburtstagsfeier im April 1950 fragte ich ebenso neugierig wie ungeduldig: "In welche Schule wer icke denn komm?" Onkel Alfred antwortete grinsend: "In ne Baumschule, hähähä!"
Oma erkundigte sich bei unserer Nachbarin Grete M., "welche Schule denn jetze in die neue Zeit ewentuell for so n blödet Jör zuschdändich is." Grete M. sagte abfällig: "Die jehn jetze alle in die selbe Schule, Jungs un Meechn durchnnanda. Schulkleidung is nich nötich un Schulbücha kriejen die Jörn ooch alle von de Schule, ooch Hefte. Du brauchst nur ne Schultüte koofn, ne Schulmappe, Schiefatafl un Jriffl."
Oma atmete auf. Die Einschulung würde viel weniger Geld kosten, als befürchtet. Nun fragte Grete M.: "Waaste denn schon zu n Schuulazt mit se?"
Oma wunderte sich: "Zu n Schuulaazt? Warum det denn?"
"Damit der die Schulfeehichkeit festschdelln kann, ob se übahaupt schon in de Schuhle jehn kann."
"Na, janz blöd isse ja nu ooch wieda nich", verteidigte die Oma mich zu meiner größten Verwunderung. Sie war es doch, die mir ständig vorwarf, zu allem zu blöd zu sein!
Tage später ging meine Tante Gerda mit mir zum Schularzt. Ich war schrecklich aufgeregt. Zu Hause hatte man noch einmal nachgemessen, ob ich schulfähig sei. Das lässt sich nämlich ganz leicht feststellen - wenn das Kind den rechten Arm über den Kopf legt und die Hand bedeckt das linke Ohr, ist das Kind schulfähig. Leider war es mir auch unter größter Anstrengung nicht möglich, das Ohr mit der Hand zu bedecken, ich erreichte es nur mit den Fingerspitzen. Aber alle hofften, dass ich bis zur Einschulung noch wachse.
Das Wartezimmer war fast leer, so freute sich Gerda: "Hier sin wa bald wieda raus!" Aber es dauerte einige Zeit, ehe wir aufgerufen wurden. Eine freundliche ältere Frau reichte mir ihre gepflegte Hand und strich mir übers Haar: "Du brauchst keine Angst zu haben, meine Kleine, von mir bekommst du keine Impfung, ich möchte nur sehen, wie groß du bist - dazu stellst du dich hier an die Meßlatte, so - schon fertig. Nun schaun wir mal, wie schwer du bist, dazu stellst du dich ohne Schuhe hier auf die Waage - nein, nicht an der Waage festhalten! Jetzt möchte ich wissen, ob du gut siehst.“
Ich platzte heraus: “Wie ick heute aussehe, seh ick nich imma aus, heute hab ick neemlich det jute Kleid an.”
Ich hatte “siehst” bisher nur gehört, wenn Oma, Tante Gerda oder meine Cousine Waltraud tadelten: “Kieck bloß ma, wie du wieder aussiehst!” Die andere Form: “Siehste, siehste!” (bei meinen Missgeschicken) war nur eine andere Form von “Ätsch, ätsch, ausgelacht!” Die Schulärztin erläuterte, dass “siehst” eine gebeugte Form von “sehen” ist und führte an: “Ich sehe, du siehst.” Ich war baff.
Der Test ging weiter: “Schau her zur Tafel. Auf welches Bild zeige ich?"
Ich antwortete spontan: "Na, uff ditte da.", und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Bild, welches sie mit dem Zeigestock berührte. Die Ärztin verzog keine Miene und fragte geduldig weiter: "Und was siehst du auf dem Bild?" Ich antwortete zu ihrer Zufriedenheit, bis sie feststellte: "Die Augen sind in Ordnung. Nun zum Gehör." Ich krähte: "Hörn kann ick ooch jut, Oma saacht imma, det ick aatich bin!"
Die Ärztin erklärte mir, dass "hören" und "gehorchen" zweierlei sind, setzte mir Kopfhörer auf und ließ mich ein unangenehmes Geräusch hören, mit der Anweisung, ihr zu sagen, wann ich es nicht mehr höre.
"So, das ist auch erledigt. Jetzt unterhalten wir uns ein wenig. Freust du dich auf die Schule?"
"Jaaa!", schrie ich begeistert.
"Ist ja gut, nicht so laut! Kannst du denn schon zählen?"
Nun kam ich in Verlegenheit. Ich plapperte rasch alle Zahlen heraus, die je an mein Ohr gedrungen waren. Man kann sich das Durcheinander vorstellen. Die Ärztin lachte und legte mir einige bunte Täfelchen vor: "Wie viele siehst du?"
Ich strahlte sie an und wusste keine Antwort. Sie nahm ein paar Täfelchen weg und stellte die Frage erneut. Ich wusste nicht einmal, wie viele Kärtchen für die Zahl 3 stehen!
Nun fragte sie nach den Farben. Ich erkannte nur rot und grün. Sie fand das sehr ungenügend. Ich rief: "Aba ick kenne doch noch schwaaz un weiß!", denn ich hatte große Angst, nicht eingeschult zu werden. Sie klärte mich auf, dass schwarz und weiß keine Farben sind und ich war todtraurig.
Da Tante Gerda versucht hatte, mir bei den Farben vorzusagen, wurde sie hinausgeschickt. Die Ärztin legte mir mehrere Abbildungen geometrischer Figuren vor und ich sollte sie benennen. Das Quadrat war bei mir eine Schachtel, das Rechteck eine Kiste, der Kreis ein Ball, das Dreieck erkannte ich einwandfrei als ein Verkehrszeichen, bei der Raute kicherte ich vertraulich: "Da fehlt der Schdrich in ne Mitte!" (damals „zierte“ eine Raute mit einem Strich in der Mitte fast jede Wand) und das Trapez deklarierte ich mit Beschimpfungen für den Zeichner als falsch gemalt.
Sie erklärte mir auf angenehm ruhige Art, was die Figuren darstellten und legte mir danach drei Zeichnungen vor, zu denen ich eine Geschichte erzählen sollte, die den Zusammenhang der Bilder erläutern.
Da ich bisher so viele Fehler gemacht hatte, war meine Angst, die Prüfung nicht zu bestehen, ins Unermessliche gestiegen. Ich glaubte, es sei das Beste, gar nichts mehr zu sagen. Vor allem, weil ich zu Hause oft für meine Fantasie getadelt wurde, und hier sollte ich nun Proben davon ablegen! Es dauerte eine Weile, ehe die Ärztin mich wieder zum Reden bringen konnte. Die Geschichte, die ich dann zu den Bildern erzählte, gefiel ihr. Sie rief meine Tante wieder herein und sagte ihr, was alles mit mir geübt werden muss, wenn ich in diesem Jahr noch eingeschult werden soll. Wir bekamen einen neuen Termin und wurden entlassen.
Auf dem Heimweg schimpfte Gerda: "Mein Jott, det du doof bist, det wissn wa ja nu alle. Aba det du sooo doof bist, det hätt ick nie jedacht! Du weeßt ja buchschdeeblich nischt! Jar nischt! Blamierst een bis uff de Knochn! Wie kann een einzelnet Kind bloß sooo doof sein!"
Zu Hause gab sie mich dem allgemeinen Gelächter preis. Ich schlug die Augen nieder und hielt mühelos die Tränen zurück. Ich kannte ja den Satz: "Dummheit muss bestraft werden!" und nahm geduldig meine Strafe hin. Gerda zählte auf, was ich alles schnellstens lernen muss.
Dann stotterte sie: "Die Doktasche hat jesaacht, die Christa kann nich ab . . . abscha . . . abschahiean. Weeßt du, wat det is, Oma?"
Oma zog die Stirn kraus und machte eine Schnute. Ich warf ein: "Det heißt "abschdrahiern", so hat die Doktasche jesaacht."
Tante Gerda sagte verwundert: "Jenau! Mensch, det du dir det merkn konntst, wo de doch sonst so blöd bist!"
Oma vermutete, dass es das neue Wort für "Weniger" beim Rechnen sei.
Als Irma von der Arbeit kam, wurde sie nach der Bedeutung des Wortes gefragt, das Oma schon vergessen hatte. Ich durfte es noch einmal nennen. Irma sagte: "Det kommt von "abstrakt" und bedeutet, dass Christa nich abstrakt denken kann."
Oma schüttelte den Kopf: "So n Blödsinn brauchn die Jörn heutzudaare? Na, Christa hat sich det Wort jemerkt, da is et jut mööchlich, det se denn ooch den Rest kapiert." (In der Schule gab es soviel zu lernen und zu sehen, dass ich nie nach dem “abstrahieren” fragte.)
Waltraud wurde beauftragt, mir alles Erforderliche beizubringen. Mit aller Härte trichterte sie mir die Zahlen, die Farben und die wichtigsten geometrischen Figuren ein. In wenigen Tagen konnte ich bis zwanzig zählen und kannte alle Farben, selbst Farbtöne, nach denen die Ärztin nicht gefragt hatte.
Zu dem neuen Arzttermin ging die Nachbarin Grete M. mit mir. Tante Gerda hatte Protest eingelegt: "Ick blamier mir doch nich no maa mit die Jöre!"
Auf dem Weg sagte Grete M. zu mir: "Wenn de wieda so blöd bist, lass ick dir daa bei die Doktasche, denn nehm ick dir nich wieda mit zu Hause!"
Ich hoffte, dass das nicht geschehen würde, und betete inständig, dass Waltraud mir wirklich alles beigebracht hatte, was ich für den Nachweis der Schulfähigkeit benötigte. Sie ging ja schon lange zur Schule, sie MUSSTE wissen, was ich brauchte.
Die ersten Fragen der Ärztin konnte ich leicht beantworten und fühlte mich dadurch immer sicherer. Ich erzählte auch einiges, was sie gar nicht wissen wollte. Ich bestand alle Prüfungen mit Bravour und sie schenkte mir ein Bonbon. Nun wurde Grete M. gefragt, warum nicht meine Mutter mit mir diesen wichtigen Gang gemacht habe? Grete M. sagte verächtlich: "Die ihre Mutta sitzt."
Meine Eltern hatten damals Buntmetall im Westteil der Stadt verkauft, geschmuggelt, wie es hieß, und waren dabei erwischt und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden.
Ich erbleichte und wäre am liebsten in der Erde versunken. Jetzt würde es wieder so eine scheußliche Hetztirade gegen meine Mutter geben! Aber die Ärztin sah mich nur mitleidig an und strich mir über das Haar. Diese Frau war gnädiger mit mir als die Leute, die ständig in meiner Nähe waren. Sie sagte nur noch leise: "Ein klein wenig disziplinierter und ruhiger muss Christa noch werden, ansonsten erfüllt sie alle Voraussetzungen."
Grete M. gab zu bedenken, dass meine Hand noch immer nicht das Ohr bedeckt, wenn man meinen Arm über den Kopf legt. Die Ärztin entgegnete, dass solche Äußerlichkeiten nebensächlich sind, die Hauptsache sei die Auffassungsgabe, und die sei bei mir in ausreichendem Maße vorhanden. Fröhlich hüpfte ich neben Grete M. nach Hause.
Nun ich den Einschulungstermin fest in der Tasche hatte, übte Waltraud nicht mehr mit mir, so hatte ich einen großen Teil der Zahlen über den Sommer wieder vergessen.
Zur Einschulung hätte ich liebend gern das duftige weiße Spitzenkleid der kürzlich vergangenen Sommersonntage getragen, aber Oma sagte: "Det is dir doch schon ville zu kleene, Mensch! Wißt de villeicht aussehn wie n Schpringa?" ("Springer" wurden die Seiltänzer genannt. Sie trugen so knappe Gewänder, dass man die Körperform sah. Das galt als unanständig.) So wurde mir ein Kleid angezogen, welches Waltraud zu klein geworden war. Es war mir zu lang und zu weit.
Die "auf Zuwachs" gekauften weißen Kniestrümpfe waren das einzige, was an Bekleidung für meine Einschulung angeschafft worden war. Sie bildeten eine Ziehharmonika an meinen Beinen. Die an Fersen und Zehen abgeschnittenen Halbschuhe deklarierten mich endgültig als Armeleutekind. Oma sagte: "Armut schändet nich! Wir könn nich dafor, det wir nich mehr haam!"
So war ich es zufrieden, zumal das "Einschulungskleid" doch zu meiner großen Freude weiß war, mit roten Pünktchen.
Meine Schultüte war schon viele Wochen vorher gekauft worden. Sie wurde auf den Kleiderschrank gestellt, damit ich sie nicht etwa kaputt mache, bevor sie zum Einsatz kommt. Nicht, dass man mich für besonders wild hielt, nein, die Tüte hätte beim Spielen herunter fallen können. Dabei hätte die Spitze abbrechen können, wie bei Waltrauds Tüte. Sie war all die Jahre aufgehoben worden und Oma dachte, dass ich sie zur Einschulung bekäme. Aber mit der abgebrochenen Spitze ging das ja nun mal nicht.
Vermutlich hatte Tante Gerda selber die Spitze abgebrochen, weil die Tüte zur ewigen Erinnerung aufbewahrt werden sollte und sie befürchtete, dass sie kaputt geht, sowie ich sie berühre. Ich galt als tollpatschig und ungeschickt. Das endete erst, als das Laudanum, womit die Oma mich ruhig zu stellen versuchte, alle war und sie keins mehr zu kaufen bekam und der Hausarzt es auch nicht verschrieb.
So blickte ich mein herrliches Prachtstück – meine Tüte war größer als die von Waltraud und viel bunter - täglich ebenso bewundernd wie begehrlich an. Bewundernd, weil sie mit Abbildungen von Spielzeug und Schulutensilien bedruckt war, begehrlich, weil ich gehört hatte, dass sie mit Süßigkeiten gefüllt werden wird.
Die größte Menge an Bonbons, die ich bislang sah, war ein viertel Pfund gelber Brustkaramellen gegen Omas Erkältung. Das würde in der riesigen Schultüte hoffnungslos versaufen.
Ich versuchte mir vorzustellen, was alles in diese Tüte hineingehen könnte. Zuerst eine große Menge an Maiblättern und Himbeerbonbons. Ja, die waren lecker! Aber alle hätte ich gewiss niemals aufessen können. Vor meinem geistigen Auge war die Tüte zur Hälfte damit gefüllt. Es passten also bequem noch ein paar Riegel Pfefferminz-Fondant hinein. Die Bonbons hätte ich auf der Straße an irgendwelche Kinder verteilt, in der Hoffnung, Freunde zu gewinnen. Meine Cousine machte es auch immer so. Wenn sie mit ihrer Bonbontüte – die sie regelmäßig von ihrem verhassten Stiefvater bekam – auf die Straße trat, bildete sich flugs eine dicke Traube fremder Kinder um sie. Das Fondant hätte ich mit der Familie geteilt.
Ich sah, dass immer noch Platz in der Tüte war. Na, vielleicht bekomme ich ja auch noch ein paar Lutscher? Ich stellte mir den herrlich süß-sauren Geschmack eines Zitronenlutschers vor. Hhhmmm, lecker! Und wie lange es dauert, ehe er aufgelutscht ist! An den Lutschern hätte ich so lange zu tun, dass ich auf alle Maiblätter und Himbeerbonbons verzichten könnte.
Zwischen den Lutscherstielen ist noch Platz für einige Roxe. Diese bunten, aus unterschiedlichen Bonbonarten zusammen geschweißten Zylinder waren die Krönung der Bonbonherstellungskunst. Einmal erst hatte ich so ein Kunstwerk im Mund gehabt. Ein beinahe abendfüllendes Erlebnis! Von denen würden nur jene Familienmitglieder abbekommen, die ich wirklich sehr mochte.
Ich begann zu überlegen, wen ich wirklich sehr mochte. Die Oma natürlich. Und Waltraud? Sie war nicht immer lieb zu mir, aber immerhin die einzige, die mit mir spielte. Soll sie auch einen bekommen. Tante Gerda? Mit hängen und würgen. Die lustige Tante Irma schon eher. So, den Rest esse ich aber alleine!
Nun hatte ich mich so weit verstiegen, dass ich es wagte, auch noch von einer kleinen Tafel Schokolade zu träumen. Ein Täfelchen ganz für mich allein! Ich schloss die Augen und schmeckte die zart schmelzende Schokolade. Selig faltete ich die Hände vor der Brust.
Schokolade war für mich untrennbar mit Weihnachten verbunden. Sogleich hatte ich den mit Lametta reich geschmückten Lichterbaum vor Augen und roch Pfefferkuchenduft. Das Weihnachtslied „Ihr Kinderlein, kommet“ kam mir in den Sinn und ich lächelte, denn jetzt rief die Schule „Ihr Kinderlein, kommet“.
Endlich war der große Tag heran, an dem die Schultüte gefüllt werden sollte. Ich stand daneben und schaute gespannt zu. Auf dem Tisch lag zu meiner Verwunderung ein Stapel Zeitungen. Das erste Blatt wurde genommen, zusammen geknüllt und in die Spitze der Tüte gepresst. Sehr gut, dachte ich hochachtungsvoll, so kann die Spitze nicht so leicht abbrechen. Auch die zweite Zeitung sah ich als nützlich an. Die dritte – na ja, aller guten Dinge sind drei. Bei der vierten zog sich meine Stirn kraus, bei der fünften ballte ich die Fäuste und bei der sechsten bekam ich einen gewaltigen Wutanfall. Ich schrie und tobte und brüllte aus Leibeskräften.
Oma schimpfte mich ein "janz ausvascheemtet Jör", Tante Gerda tobte: "Wo solln wa denn det allet heerneehm?" und Onkel Alfred sagte: "Dadran würdeste doch zwee Jahre lang futtan; bis dahin is det meiste schlecht, Mensch!"
Tante Irma gab mir die gefüllte Tüte in den Arm und fragte: "Na, kannst de die jut traaren?"
Die Tüte war unhandlich und schwer. Sie fiel mir aus der Hand, weil ich nicht mit ihrer Kopflastigkeit gerechnet hatte. Irma fing sie rechtzeitig auf. "So", sagte sie, "und nu schtell dir ma vor, die Tüte weere bis oohmhin voll Bonbons und allet sowat. Denn könnte noch nich mal ICK die Tüte hochheem! Du musst nich denkn, det ooch nur eeen Kind uff de Welt jemals seine Schultüte richtich voll Süßichkeitn hatte, det is doch jar nich mööchlich."
Nun weinte ich nicht nur aus Enttäuschung über die Schwindeltüte, sondern auch darüber, dass sie mir beinahe runter gefallen wäre. Man verpasste mir eine saftige Maulschelle, damit ich wieder zu mir komme. Heulend und schluchzend verzog ich mich in eine Ecke, während weiterhin nur Zeitungspapier in die Tüte kam.
Nach einer Weile hatte ich mich innerlich gefestigt und trat wieder an den Tisch heran. Inzwischen war eine dünne Schicht Eukalyptus-Bonbons, die ich gar nicht so besonders mochte, auf den Zeitungen verteilt worden. Ein Fläschchen Liebesperlen verlor sich darin und eine Tafel Vitalade winkte mir zu. Vitalade war ein Schokoladenersatz, der mit Bonbonsplittern versetzt war. Mit diesem Zeug konnte ich mir weder auf der Straße Freunde gewinnen noch in der Familienachtung steigen. Jedoch tröstete mich eine kleine Schachtel Buntstifte, die der Onkel ganz obenauf gelegt hatte. Was soll s? Ich ging doch nicht wegen Bonbons zur Schule, sondern um zu lernen.
Nach der Einschulung tat ich die kostbaren Buntstifte in meinen Ranzen und legte die Süßigkeiten zum allgemeinen Verzehr auf den Tisch. Dabei kam ich mir sehr erwachsen vor.
Aus den Gesprächen der Erwachsenen wusste ich, dass die Einschulungsfeier in einer Aula stattfinden wird. Ich fragte Waltraud, was eine Aula ist. Sie antwortete: "Na, Aule is doch Schpucke, wa? Nu weeßte allet." (Als einmal die Rede von der Berliner Klosterstraße war, sagte sie angewidert: "Ih, ne Schdraße aus Klosetts!")
Freudig erregt schritt ich neben Oma zu meiner Einschulungsfeier und war sehr froh, dass es sich bei der Aula um einen festlich geschmückten Saal handelte, der mit vielen fröhlichen Menschen angefüllt war. Die Erstklässler waren leicht zu erkennen an ihren schönen Kleidern, an ihren leuchtenden, forschenden Augen und natürlich an den Schultüten.
Vom Verlauf der Feier weiß ich noch, dass der Direktor eine lange Rede hielt, welcher ich nicht folgen konnte und Oma gelangweilt lauschte, nach ihm noch eine Frau etwas mir unverständliches redete und der Schulchor sang. Der Gesang gefiel mir sehr. Bisher hatte ich nur vom Chor der Engel im Himmel gehört. Ebenso lieblich klangen mir nun diese hellen Kinderstimmen und ich wusste, ich sehe herrlichen Zeiten entgegen.
Danach wurden wir Kinder in unsere Klassenzimmer geführt, wo wir Bücher und Hefte erhielten. Ich zitterte vor Freude: Jetzt hat die Dummheit bald ein Ende, jetzt werde ich alles lernen, alles erfahren, was ich zu wissen begehre! Und so viele Kinder werden meine Kameraden sein! Wir werden zusammen lernen und spielen und miteinander reden! Es kam anders, denn ich war ein krasser Außenseiter.
Vor der Schulhaustür schoss Onkel Alfred das Einschulungsfoto. Ich besitze es noch. Man erkennt deutlich, dass meine Schultüte federleicht ist. Nachdem sie ausgeleert wurde, kam sie wieder auf den Schrank. Ich würdigte sie keines Blickes mehr.
Nach einigen Tagen schlug meine Cousine vor: „Wir könnten Einschulung schpieln. Ick wer einjeschuhlt un du bist die Lehrerin.“
Ich vergewisserte mich mehrmals, ob sie auch wirklich meint, was sie sagt und ließ dann zu, dass sie die Tüte vom Schrank herunter holt. Sie nahm den Besen und schlug nach der Tüte. Dabei bekam sie die erste Delle. Sie setzte sich brav mit der Tüte im Arm auf die „Schulbank“ und ich begann mit dem „Unterricht“. Als ich sie in meiner Funktion als Lehrerin dafür rügte, lieber aus der Schultüte Schnipsel heraus zu reißen anstatt dem Unterricht zu folgen, meinte sie leichthin: „Ick bin ehmt een bösaatijet Kind, so wat jibt s.“
Ja, das hatte ich schon am eigenen Leibe erfahren. Ich fuhr also mit dem Unterricht fort und ließ das „Kind“ gewähren, zumal es hin und wieder eine richtige Antwort gab. Am Ende des Schultages lag das teuere Stück in Fetzen am Boden. Ich sagte: „Nu kiek dir det an, wat du jemacht hast!“ Waltraud scherzte grinsend: „Hauptsache aatich, wenn ooch bösaatich.“
Oma schimpfte sehr mit uns, war aber andererseits froh, den „Staubfänger“ los zu sein. Obendrein diente er vorzüglich als Kohlenanzünder.
Nach zwei Jahren Schulbesuch freute ich mich, den Jargon ablegen zu können. Meine aus Süddeutschland stammende Mutter sprach nämlich hochdeutsch und ich wartete sehnsüchtig auf ihre Entlassung aus dem Gefängnis. Sie hatte in ihrer Kindheit ein Internat für Höhere Töchter besucht und ich wollte ihr wenigstens in meiner Sprechweise gefallen.
Beim Gedanken an meine Einschulung und vor allem an meine Schulzeit schaudert es mich heute noch.
Old Icke geht zur Schule
Vor der Schulhaustür schoss Alfred das Einschulungsfoto. Bei der Feier zu Hause war das Wichtigste das Essen und Trinken. In den Tischgesprächen wurde zum x.Male erwähnt, dass mein Bruder Manfred eine Hilfsschule besucht und mein Bruder Paul sehr schlechte Zensuren nach Hause bringt. Man befürchtete ähnliches auch bei mir.
Die Einschulung war an einem Sonnabend. Am Montag wusste ich nicht mehr genau, wie meine Klassenkameraden aussehen. Die Lehrerin hatte uns gezeigt, an welcher “1" an der Schulmauer wir uns wieder treffen. Ich merkte mir das “1a”. Waltraud ging in die selbe Schule wie ich, wir gingen oft zusammen zur Schule, auch an meinem ersten Schultag. Sie sicherte mir zu, stets für mich da zu sein, wenn ich eine Frage oder Schwierigkeiten hätte. Sie stellte mich zur 1a, weil ich ihr gesagt hatte, dass ich in diese Klasse gehörte. Ich begrüßte fröhlich die Kinder, die dort standen. Sie sagten, ich solle verschwinden, denn ich gehöre nicht zu ihnen. So begab ich mich zur 1b, wo ich ebenfalls weggeschickt wurde. Ich blieb allein auf dem Schulhof übrig, da ich mich keiner Gruppe anschließen durfte. Hilflos begann ich zu weinen, denn ich wusste nicht, in welches Klassenzimmer ich mich zu begeben hatte. Endlich führte mich eine junge Frau in den Raum der Klasse 1a, wo ich ob meines Zuspätkommens von der Lehrerin gerügt und von meinen Klassenkameraden ausgelacht wurde.
Da in der Schule, in die ich eigentlich zu gehen hatte, die Heizung repariert werden musste, erlebte ich das Winterhalbjahr des ersten Schuljahres in einer etwas weiter entfernten Schule. Der lange Schulweg störte mich nicht. Ich rannte, um ja pünktlich zu sein. Ich wollte lernen. Direkt neben der eisgrauen Schule stand das rote Gemäuer einer katholischen Kirche. Ich war nicht neugierig genug, um einen Blick in ihr Inneres zu tun, soviel Ruhe hatte ich nicht. Ich habe die Schönheit des Kirchenbaus nur im Vorübereilen zur Kenntnis genommen. Morgens war ich vom Wissensdurst gehetzt, am Schulschluss davon, das Mittagessen warm nach Hause zu bringen. Ida hatte mich für zwei Personen zur Schulspeisung eintragen lassen.
Ich trug an einem Riemchen ein Essgeschirr, wo das Essen eingefüllt wurde. Um den Schulhof zu verlassen, musste man die Kirchentreppe hinab. Hohe Granitstufen, nur für Langbeinige. Ich Kurzbeinige musste vorsichtig gehen. Da wurde ich oft von den Flinkeren geschubst. Eine Treppe von der Länge eines Hauses, zwanzig Kinder darauf und eines ist im Weg. Wie schaffte ich das nur? Es bleibt mir ein Rätsel. Jedenfalls hatte ich den Inhalt des Essgeschirrs am Mantel. Mein Zetern: "Jetz muss meine Oma hungan!" löste Gelächter aus. Ich begann, zu trödeln. Ich wollte als letzte den Hof verlassen, um den Attacken meiner Klassenkameraden zu entgehen. Da erwischten mich die Schüler der höheren Klassen. Auch ihnen war es ein Spaß, mich die Treppe hinunterzuschubsen. Zu Hause wurde ich gerügt, weil ich mit leerem Kanister ankam, weil meine Kleidung beschmutzt war und das bezahlte Essen nicht vorhanden war.
Nach den Sommerferien hatten Waltraud und ich den selben Schulweg. Nun konnte mir nichts mehr passieren. Außer, dass ihr Kinder begegneten, deren Gesellschaft sie sehr genoss. Dann schickte sie mich voraus. Ich wehrte mich nicht, denn Waltraud war klug - sie war sechs Jahre älter als ich und sagte oft, dass ich dumm sei. Ich ging also allein auf den Schulhof und suchte meine Mitschüler. Ich konnte mich nur an den Zahlen an der Wand orientieren: Klasse 2a. Ich war im ersten Schuljahr begierig, zu lernen und schenkte meinen Mitschülern wenig Beachtung. Nun fiel es mir schwer, die Kinder zu erkennen, zu denen ich während der Ferien keinen Kontakt hatte. Ich ging von Gruppe zu Gruppe, wurde überall fortgejagt und letztendlich namentlich aufgerufen.
Einige meiner Klassenkameraden kannten sich vom Kindergarten her, andere, weil sie benachbart waren. Ich kannte keinen. Jedes Gespräch war von vornherein unmöglich, denn wir hatten kein gemeinsames Thema, wie ich bald schmerzlich feststellte. Nicht einmal über die Schule konnte ich mit ihnen reden! Egal, an wen ich mich wandte, keiner war bereit, sich mit mir zu unterhalten.
Ich war aber auch ein zickiges Gör! Anstatt mich darüber zu freuen, wenn jemand mein Tintenfass umwarf, schrie ich ihn an. Ich war nicht der Meinung, dass man auf diese Weise Beziehungen knüpft. Auch liebte ich es nicht, wenn jemand meine Schreibgeräte stibitzte, selbst dann nicht, wenn sie mir kurz darauf zurückgegeben wurden. Ich wusste, wie viel Geld das alles kostet und dass ich auf meine Sachen aufzupassen hatte. Ein Griffel bzw. ein Bleistift wurde solange benutzt, bis er wirklich abgeschrieben war. Solche Dinge zerstört man nicht mutwillig! Und ich durfte erleben, wie Griffel und Bleistifte zerbrochen wurden. Ich wollte mein Eigentum um jeden Preis beschützen. Bald ging ich voller Furcht in die Schule. Ich sprach meine Klassenkameraden nicht mehr an, sondern nahm mich vor ihnen in Acht. Ich ging ihnen aus dem Weg, so gut es ging.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich mir in der Schule ausgerechnet durch ein Lied den Spott meiner Klassenkameraden zuziehen würde. Es handelte sich um ein Lied, welches DDR-Kinder im Kindergarten lernten:
Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land,
allen Menschen, groß und kleinen, bist du wohlbekannt.
Fliege übers große Wasser, über Berg und Tal,
bringe allen Menschen Frieden, grüß sie tausendmal.
Und wir wünschen für die Reise Freude und viel Glück,
kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück.
So etwas wurde bei Ida nicht gesungen. Nachdem ich den Text verstanden hatte, begriff ich, dass die Kommunisten dasselbe wollten wie die Christen, nämlich Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Mir war wie Weihnachten ob dieser Erkenntnis - der neue deutsche Staat, in dem ich aufwachsen würde, wollte Frieden, wollte Völkerfreundschaft, es wird keinen Krieg mehr geben, sondern für alle Menschen Glück und Wohlstand! Unbewusst faltete ich andächtig die Hände vor der Brust. Die Lehrerin nahm den Zeigestock von der Tafel, brach das Lied ab, drückte mit dem Stock meine Hände nach unten und sagte: "Du bist hier nicht in der Kirche, hier wird nicht gebetet." Meine Mitschüler lachten schallend, und ich stand mit hochrotem Kopf da, unfähig, mich zu verteidigen.
Für die Eintragung ins Klassenbuch mussten wir unsere Personalien angeben. Ich wusste von meinem Geburtstag nur, dass er mitten im Winter ist. So erntete ich erneut Gelächter. Bei der Adresse wurde es noch schlimmer. Als ich sagte, dass ich in der Pistoriusstr. 103 b wohne, grölten meine Mitschüler, denn sie kannten diese Straße nicht und bezweifelten ihre Existenz ebenso wie eine Hausnummer über 100. Wenn ich gesagt hätte: "Ich wohne in der Schokoladenstraße, Ecke abgebissen!", hätte man mich für witzig gehalten, so aber wurde ich verachtet: "Die Seechern wohnt in de Piß - toriusstraße! Na, da jehört se ja ooch hin!"
Ich folgte dem Unterricht mit größter Aufmerksamkeit. Ich fand es aufregend, die Form der Buchstaben und Zahlen zu erfahren. Noch schöner war es, sie selber auf die Schiefertafel zu schreiben! Und gar erst die Wonne, als wir in Hefte schrieben! Rechnen liebte ich weniger, lernte aber mit Eifer, denn man muss rechnen können, wenn man im Leben vorwärts kommen will, und das wollte ich.
Nahezu atemlos folgte ich dem Heimatkunde-Unterricht. Was ich hier erfuhr, war faszinierender als jeder Märchenfilm. In diesem von Ida als "unwichtig" eingestuften Fach hatte ich gute Zensuren, ebenso in den noch "unwichtigeren" Fächern Musik und Zeichnen.
Ida übte im ersten Schuljahr täglich mit mir lesen und schreiben. Darüber freute ich mich, denn so festigte sich mein Wissen. An dem Tag, wo wir das "x" lernten, entwendete ein Mitschüler meine Buntstifte. Ich war furchtbar wütend darüber, denn diese Buntstifte wurden von Ida als blanker Luxus angesehen; verlöre ich sie, bekäme ich keine neuen. So verpasste ich an diesem Tage teilweise den Unterricht und jagte - wie es oft vorkam - meinem Eigentum hinterher.
Als ich der Ida den Text mit dem "x" vorlesen sollte, war mir der Buchstabe nicht gleich geläufig und sie schlug mir - just in jenem Moment, als ich das Wort endlich wusste - wütend ins Gesicht, wobei ihr Ehering mir die Lippe aufriss. Ich weinte weniger über den Schmerz als über Idas Ungeduld und die Heimtücke meiner Klassenkameraden. Wenn ich nicht meinen über die ganze Klasse verteilten Stiften hätte nachforschen müssen, hätte ich dem Unterricht besser folgen können. Und am Jahresende schrieb die Lehrerin in mein Zeugnis: "Christa lässt sich zu leicht ablenken. Bei etwas mehr Fleiß könnte sie bessere Leistungen erzielen." Das war der blanke Hohn. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren, sondern musste obendrein noch Idas Beschimpfungen hinnehmen.
Es gab für mich zwei Möglichkeiten, zum Schulhaus zu gelangen: Entweder durch die Friesickestraße (hier standen auf der einen Seite schmucklose graue Wohnhäuser, auf der anderen Seite war ein stinkendes Farbfässer-Lager und ein beräumtes Ruinengrundstück), dann durch die trostlose Charlottenburger (hier standen auf beiden Seiten schmucklose graue Wohnhäuser mit einigen hohläugigen Ruinen dazwischen), von wo aus ich in die Gustav-Adolf-Straße (hier standen kleine Häuser mit hellem, mehrfarbigen Anstrich und klassizistischer Fassade) einbiegen konnte, oder durch die freundliche Pistoriusstraße mit dem Schusterladen und dem Spirituosengeschäft, die ich oft im Auftrag der Familie besuchte.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Friedhof, der mit vielen hohen Bäumen bestanden war, die ihre grünen Zweige weit über die Straße reckten bis zum Hamburger Platz. Hier standen etliche Silberpappeln, die ich bewunderte und liebte, weil sie so gerade und schlank gewachsen waren und ihre zweifarbigen Blätter eine schöne Form hatten. Fast in der Mitte des kreisrunden Platzes war eine Wiese mit einem Buddelkasten darin; dahinter begann eine blühende Laubenkolonie.
Bis zum Hamburger Platz war die Pistoriusstr. mit Linden bepflanzt, dahinter mit Kastanien. Mir war untersagt, zum Buddelkasten bzw. zu den Kastanien zu gehen, denn dazu hätte ich den Fahrdamm überqueren müssen, der damals schon genauso dicht befahren wurde wie heute, sogar eine Buslinie verkehrt dort (vor dem Krieg fuhr auch eine Straßenbahn durch unsere Straße, ich habe die Schienen noch zu sehen bekommen. Ida erzählte, dass genau vor unserer Haustür eine Haltestelle gewesen sei), wo ich ebenfalls in die Gustav-Adolf-Str. einbiegen konnte. Dieser Weg war auch der kürzere. Ich tanzte förmlich zur Schule hin.
Aber auf dem Rückweg wurde ich von Kindern überholt, die zwei bis drei Jahre älter waren als ich. Sie schubsten mich und rissen an meiner Schultasche, bis ich auf das Pflaster stürzte. Dann entwendeten sie meine ABC-Zeitung und verlangten, dass ich daraus vorlesen sollte. Ich las ihnen vor und ich konnte gut lesen; so ließen sie mich gehen. Nachdem mir solches mehrmals geschah, mied ich den farbenfrohen Weg über den Hamburger Platz. Es war, als hätte ich in den ersten Schuljahren ein Schild auf dem Rücken mit der Aufschrift: "Mit mir kann jeder machen, was er will."
Wenn Ida zu den Elternversammlungen ging (sie tat es nur im ersten Schuljahr), nahm sie mich mit. Zu der protestierenden Lehrerin sagte sie: "Ick kann die Jöre nich alleene lassn, die macht sonst Dußlichkeiten."
Da ich einmal tatsächlich aus lauter Langeweile Unfug getrieben hatte, war das noch nicht einmal gelogen. Ich hätte auch nicht gewagt, die Lehrerin darüber aufzuklären, wie oft und wie lange Ida mich sonst allein ließ. Nach der ersten Elternversammlung unterhielt Ida sich mit der Lehrerin noch über Privates. Zum Schluss sagte sie: "Christa ihre Eltan sin int Jefängnis, nu hab ick die Plare mit die Jöre. Wenn se nich follscht (gehorcht), könn Se ihr ruhich eene tachteln." Die Lehrerin wehrte ab: "Es ist nicht gestattet, die Kinder zu schlagen, ein Lehrer, der seine Schüler schlägt, wird fristlos entlassen." Ida war sehr erstaunt und meinte, dann wäre es jetzt wohl sehr schwer, den Kindern etwas beizubringen.
In der zweiten Klasse schrieben wir einen Schulaufsatz mit dem Thema "Mein Zuhause". Darin sollten alle Möbel mit ihrem Standort aufgeschrieben werden. Da war für mich nicht viel nachzudenken! Ich schrieb also (hier gekürzt): "In der Küche steht ein Küchenspinnt, eine Anrichte, ein Tisch mit zwei Stühle, der Kolnkasten, die Kochmaschiene und der Jaskocha. In der Stube stehen zwei Betten, Oma ihrs und meins, ein Ofen, ein Tisch, zwei Stühle, ein Kleiderspinnt, ein Wertiko und der Rejelata. In Tante Irmas Stube darf ich nicht, aber da steht ein Bett, ein Kleiderspinnt, ein Scheeselonk mit zwei Sessel, ein Tisch zum dran sitzen, ein Tisch, wo das Radjo draufsteht und ein schöner Schreibschrank."
Ich war sehr stolz darauf, so rasch vier Seiten geschrieben zu haben, es war fast das doppelte von dem, was die meisten anderen geschrieben hatten und gab meinen Aufsatz in der festen Überzeugung ab, kaum Fehler gemacht zu haben. Ich hoffte auf eine gute Zensur, denn ich hatte getreulich alles so aufgeschrieben, wie es von Ida und allen anderen in unserer Wohnung benannt wurde und hatte außerdem noch die Worte der Lehrerin beherzigt, dass man am Wortende das ungesprochene "e" mitschreibt. Man kann sich denken, dass ich mich in Bezug auf meine erhoffte gute Zensur irrte, aber es kam noch schlimmer.
Als die Lehrerin die Aufsätze zurückgab - wie immer die Arbeiten mit den guten Noten zuerst - glaubte ich, dass sie mein Heft vergessen hätte. Nachdem der schlechteste Schüler sein Heft eingesteckt hatte, sagte die Lehrerin: "Kommen wir nun zu einem ganz besonderen Aufsatz." - "Huch", dachte ich, "so gut ist er ja nun auch wieder nicht!", und errötete vor Stolz.
Indessen sprach die Lehrerin weiter: "Hier hat jemand eine ganz ausgefallene Wohnungseinrichtung. Erkläre mir doch einmal, Seeger, was eine Anrichte ist?" Ich erklärte. "Ahaa,", triumphierte sie, "es handelt sich also um einen kleinen Küchenschrank. Du hast soviel geschrieben, aber diese Formulierung war dir wohl zu lang? Dann heißt es "Koh-len-ka-sten", und nicht so, wie du das Wort verstümmelt hast. Auch heißt es "Gaskocher", das schreibst du zehnmal, ebenso das Wort "Radio", das schreibt man doch nicht mit j, man hört doch das i, oder bist du taub? Nun erkläre mir bitte noch, was eine Kochmaschine ist." Ich sagte, dass die Oma den gemauerten Herd so nennt. "Siehst du," sagte sie heiter, "so hättest du schreiben müssen. Es gibt keine Maschine, die kochen kann. Und nun komm nach vorn und schreibe das Wort "Kleiderspind" an die Tafel, "Spind" kommt ja in deinem Aufsatz mehrmals vor."
Ich schrieb das Wort so an, wie ich es für richtig hielt. Mit großer Befriedigung in der Stimme sagte sie: "Du hast dich tatsächlich nicht verschrieben. Das Wort heißt "Spind", es kommt nicht von "spinnen". Und außerdem bedeutet es Schrank, ihr habt Schränke, nicht Spinde. Und "Vertiko" wird mit "v" geschrieben. Fremdwörter solltest DU lieber vermeiden. "Chaiselongue" enthält gleich mehrere Fehler, deshalb musst du das Wort auch nicht berichtigen, du hast an den anderen Fehlern wirklich genug zu tun. Nun noch das, was mich in die größte Verlegenheit gebracht hat: Was, bitte, ist ein "Rejelata"?"
Mein Gesicht glühte vor Scham. Was konnte ich dafür, dass Ida so sprach? Leise antwortete ich: "Det is die jroße Uhr." - "Aha, also eine Uhr, ein Re-gu-la-tor! Eine Uhr ist ebenso wenig ein Möbelstück wie der Ofen, den du ja auch angeführt hast."
Ich erklärte, dass ich die Uhr für ein Möbel ansah, weil sie aus Holz und fast zwei Meter hoch war. Die Lehrerin schüttelte unduldsam den Kopf: "Uhr bleibt Uhr und ist kein Möbel. So muss ich dir für Inhalt und Ausdruck die Note 4 geben, ebenso für die Schrift."
Nun wollte ich erklären, dass am Vortag ein Mitschüler meinen Federhalter aufgestaucht hatte, die Feder daher verbogen war und ich beim besten Willen nicht sauberer schreiben konnte. Mit honigsüßem Lächeln fragte sie: "Du bist immer unschuldig, nicht wahr?" Mit einiger Schärfe in der Stimme fuhr sie fort: "Steh auf, wenn ich mit dir rede!" Solange durfte ich sitzen bleiben, jetzt sollte ich plötzlich aufstehen! Am liebsten hätte ich gesagt: "Jetzt versuche ich mit Ihnen zu reden, und ich weiß nicht, warum meine Klassenkameraden mich nicht mögen!" Stattdessen erhob ich mich langsam aus der Bank, senkte den Kopf und schwieg. Sie gab mir mein Heft und sagte überlegen: "Setz dich bloß wieder hin, du lahme Ente!"
Die Klasse johlte. Tagelang hieß es noch: "Die Seechern spinnt!"
Die Lehrerin hatte "Scheeselonk" im Ganzen unterstrichen, und ich wusste nicht, welche Buchstaben darin falsch waren. Sie hatte zwar gesagt, dass ich das Wort nicht berichtigen muss, aber ich erkundigte mich bei Irma nach der Schreibweise und schrieb es mit zu den berichtigenden Worten, zehnmal, wie die anderen.
Ein paar Tage später sagte die Lehrerin: "Ich habe mir gestern Eure Berichtigungen angesehen. Ihr habt das alle sehr gut gemacht. Seeger, komm doch mal an die Tafel und schreibe das französische Wort für "Sofa" an die Tafel." Stolz schrieb ich es fehlerfrei an. Wieder hatten meine Klassenkameraden etwas zu lachen. Für sie hieß das "scheiße lang", und auf dem Heimweg hatte ich ihren Spottgesang: "Seecha, Seecha, scheiße lang!" zu ertragen.
Warum hatte die Lehrerin mich vor den anderen so lächerlich gemacht?
Jahre später las ich in einem Roman, dass nichts eine Gemeinschaft so fest zusammenhält, wie gemeinsame Ziele, besonders, wenn sie sich gegen etwas oder Jemanden richten. Ich hatte also für den Zusammenhalt des Klassenkollektivs gesorgt. Befremdlich ist nur die Tatsache, dass die Lehrerin sich zu diesem Zwecke das sozial schwächste Kind ausgesucht hatte. Niemals vergesse ich das hämische Grinsen in ihrem Gesicht ob ihres Erfolges. Jahrzehntelang sah ich meinen Gesprächspartnern nicht ins Gesicht, aus Furcht, abermals solch einem niederträchtigen Lächeln zu begegnen.
Damals wusste ich - laut Ida - dass alles richtig ist, was Erwachsene tun. Ich maßte mir kein Urteil über meine Lehrerin an. Ich habe sie nicht gehasst oder verachtet. Ich war nur immer wieder verletzt durch ihr Verhalten. Es tat mir sehr leid, ihren Erwartungen nicht zu entsprechen, obwohl ich mir stets die größte Mühe gab. Sie gehörte zu den Menschen, deren Gesicht ich vergaß, sobald sie mir den Rücken zuwandten. So kann ich heute beim besten Willen nicht sagen, ob sie wirklich kurze, tiefschwarze Locken, einen dunkelrot geschminkten Mund, eine schlanke, drahtige Figur hatte und hohe Stöckelschuhe trug und etwa 35 Jahre alt war - ich habe diese Erscheinung im Unterbewusstsein und jedes Mal, wenn eine Frau von diesem Äußeren in meinen Gesichtskreis tritt, bekomme ich ein Signal: "Vorsicht! Gift!" Aber ich bin als moderne Frau dahingehend aufgeklärt, dass es nichts Übersinnliches gibt, so muss mir jeder Mensch erst mal beweisen, dass er tatsächlich so ist, wie er aussieht. Und dennoch - wie oft und wie gerne - glaube ich dem schönen Schein!
Irgendwann im zweiten Schuljahr kamen drei Leute in unsere Klasse, die sich mit jedem Kind ausführlich unterhielten. Es ging um unsere körperliche Gesundheit und um unser seelisches Gleichgewicht. Der Arzt war mit meinem Rücken nicht so recht zufrieden, aber ich versicherte ihm, dass mir nichts wehtat. Die Psychologin hielt sich ziemlich lange mit mir auf. Sie kam sogar am anderen Tag wieder, weil ihr eine meiner Bemerkungen keine Ruhe gelassen hatte: "Wenn ick die Ooren (Augen) janz feste zumache, denn seh ick Monnefratzn."
Das war ein von Grete L. benutztes Wort für karikierte Gesichter. Die Psychologin bat mich, ihr so eine Fratze aufzuzeichnen und fand meine Produktion hochinteressant. Sie hatte Buntstifte mitgebracht und ich kritzelte freudig auf großem Zeichenpapier die entsetzlichsten Gesichter, die sich meine Phantasie ausmalte. Besorgt fragte die Psychologin: "Hast du keine Angst vor denen?" - "Nee", lachte ich, "det sin doch nur Fratzn, die duhn jarnischt, da brauch ick keene Angst haam, da sin ja keene Arme un Beene, nur Ooren und manchma ne lange Zunge."
Als ich in die 3. Klasse ging, hatte ich im Mai eine schwere Grippe. Unser Hausarzt war gerade dabei, die Praxis an seinen Sohn weiterzugeben, so musste ich zu einem anderen Arzt. In der Gustav-Adolf-Str. - Ecke Langhansstr. gab es einen Allgemeinmediziner, dort wurde ich hingeschickt.
Ich hatte mir keinerlei Beschäftigung mitgenommen - ich wusste noch nicht, wie lange man in einem Wartezimmer warten kann, bis man aufgerufen wird - und blickte gelangweilt aus dem Fenster. Im gegenüberliegenden Wohnhaus erspähte ich nach einiger Zeit eine meiner Klassenkameradinnen. Wir hielten ein kurzes Gespräch, kurz deshalb, weil ich laut rufen musste, um mich verständlich zu machen. Einer der Patienten schloss das Fenster, um seine Ruhe zu haben.
Als ich nach meiner Genesung wieder in die Schule kam und meinen Entschuldigungszettel abgab, den der Lehrer laut vorlas, keifte meine Klassenkameradin: "Die wah ja janich krank, ick hab ihr doch int jejenübaliejende Haus jesehn, wo se zu Besuch wa!" Ich sagte: "Ja, da wah ick zu Besuch bei n Aazt! Wenn de nachher zu Hause jeehst, kannst de det Aaztschild an det Eckhaus lesn. Det Waatezimma is jenau uff de Ecke, von da aus ham wir uns untahaltn."
Erstmalig hatte ich mich erfolgreich verteidigt! Aber ich war stark enttäuscht von dieser Klassenkameradin, die sich so freundlich mit mir von Fenster zu Fenster unterhielt und mich dann der Lüge bezichtigte! Auch wunderte ich mich darüber, dass sie augenscheinlich nie soviel Interesse aufgebracht hatte, das große Emailleschild durchzulesen, an welchem sie täglich mindestens zweimal vorüber kam. Der Lehrer unterbrach: "Privatgespräche finden nach Schulschluss statt".
Etliche Tage später wurde ein wenig beliebter Schüler vom Deutschlehrer stark gelobt, weil er seine Schrift erheblich verbessert hatte. Alle standen um seine Schulbank herum und bewunderten die Leistung. Nun wurde auch ich neugierig und warf einen Blick in das Heft. Was ich sah, entsetzte mich. Hatte denn dieser Junge zu Hause niemanden, der ihm das Heft solange um die Ohren schlug, bis er ordentlich schreiben konnte? Was da gelobt wurde, waren kaum entzifferbare Krakel, der Junge konnte unmöglich vorher noch unleserlicher geschrieben haben!
Zornig nahm ich seinen Bleistift und rief: "Weeßte, wat de dafor vadient hast? Dette!" und strich das Geschriebene so heftig durch, dass die Heftseite riss. Der Junge begann zu weinen und sofort tat er mir leid. Es tat mir leid, was ich getan hatte. Der Lehrer packte mich am Kinn und schüttelte mich, dass ich den Boden unter den Füßen verlor. Er schimpfte mich aus und wandte sich dann ab. Von meinen Klassenkameraden wurde mir Klassenkeile angedroht. In der Pause berieten sie miteinander und beschlossen, dass der geschmähte Schüler mir eine Ohrfeige geben darf. Ich lief nicht davon, sondern nahm meine Strafe - die ich als gerecht empfand - an. Doch als er mir eine weitere Ohrfeige verpassen wollte, setzte ich mich zur Wehr und besiegte ihn. Die Mitschüler akzeptierten es. Ich ging heim, unsicher, ob ich mich oder die anderen verachten soll oder darf.
Da wir im dritten Schuljahr eine neue Klassenlehrerin bekamen, erfuhren wir zur Weihnachtszeit, was "Julklapp" ist und die Klasse beschloss, einen Julklapp durchzuführen. Auch ich zog begeistert ein Los. Ida schimpfte: "Ick hab doch keen Jeld nich for Jeschenke for fremde Jörn, du deemlijet Kamel!" Am anderen Tag versuchte ich, mein Los zurückzugeben, aber die Lehrerin sagte: "Du wirst dich doch nicht aus dem Klassenkollektiv ausschließen wollen! Deine Oma wird wohl wenigstens fünfzig Pfennig übrig haben!"
So überredete ich Ida beim nächsten Einkauf, dass sie als Julklapp-Geschenk eine Schachtel Pfefferkuchenherzen kauft. Diese Schachtel war gestaltet wie das Hexenhaus aus "Hänsel und Gretel" und ich hätte selbst allzugern eine solche Schachtel gehabt, wagte aber nie, darum zu bitten.
Irma wickelte mir die Schachtel in Geschenkpapier ein und band auch eine schöne Schleife darum, nachdem sie gesehen hatte, dass ich das Geschenk in grobes Packpapier eingeschlagen und einen Schnipsgummi zur Befestigung verwendet hatte. Das waren die Materialien, die ich von Ida bekommen hatte.
Als ich mein Geschenk in den Julklapp-Sack versenkte, sah trotz aller Vorsicht jeder, was ich da zu verschenken gedachte. Ein Junge sagte: "Die hat wirklich nur fuffzich Fennich ausjejeben!" Ein Mädchen rief daraufhin: "Na, wehe dir, wenn ick det krieje! Ick hau dir det solange um de Ohrn, bis de weeßt, wat sich jehört!"
Ich schämte mich unendlich und war böse auf die Lehrerin, die mich nicht vom Julklapp befreit hatte. Das Geschenk, das ich erhielt, habe ich unausgewickelt dem Kind gegeben, welches schon über das billige Pfefferkuchenhaus weinte. So war ich vor der Klasse rehabilitiert.
In den nächsten Jahren verschenkte ich Bücher, die ich zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekommen hatte. Da ich sie pfleglich behandelte, sahen sie wie neu aus.
In der sechsten Klasse bekam ich zum Julklapp etwas, das wie gekauft aussah. Es handelte sich um ein "Näh-Karussel". Acht Spulen Nähgarn und -seide waren zwischen einer Trommel befestigt, auf welcher ein Nadelkissen trohnte. Doch in jenem Jahr hatte ich gerade entdeckt, dass ich genauso herumtoben kann wie ein Junge und interessierte mich nicht im geringsten für Näharbeit, für die ich ja laut Ida auch viel zu dämlich war.
Der Junge, der mir das Geschenk gemacht hatte, bemerkte meinen abfälligen Blick und fragte: "Gefällt es dir nicht?" Ich klärte ihn auf. Er sagte: "Aber das habe ich selbst gemacht!" Nun bewunderte ich seine Kunstfertigkeit und versprach, das Geschenk in Ehren zu halten. Doch in der nächsten Heizperiode nahm Ida das kleine Kunstwerk auseinander, tat die Nähutensilien in ihr Nähkästchen und steckte das verbleibende Holz in den Ofen.
In der vierten Klasse bekamen wir einen neuen Zeichenlehrer. Während wir zeichneten, ging er von Tisch zu Tisch und half uns bei der perspektivischen Darstellung. Bei mir hatte er nichts zu helfen. Wir sollten ein Fabrikgebäude zeichnen, welches später mit Tusche einen realistischen Anstrich erhalten sollte. Ich verpasste meiner Fabrik einen Anstrich, den ich aus hellrot und lila zusammengemischt hatte. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten grau oder gelb gewählt, ich aber hatte genau den Farbton getroffen, den Fabriken aufwiesen. Das Lob des Lehrers und die gute Zensur freuten mich jahrelang.
Weil ich so gerne sang, trat ich - gerade zehnjährig - dem Schulchor bei. Es ging mir im Wesentlichen darum, mit anderen zu singen. Ich stillte hier mein kindliches Harmoniebedürfnis, das übrigens noch heute in mir wach ist. Ich war sehr glücklich, im Schulchor neue Lieder zu lernen, Lieder, die ich bei Ida nie kennen gelernt hätte. Deutsche Volkslieder, Lieder anderer Völker, Lieder von Völkerfrieden und Menschenliebe.
Meldete ich mich bei Ida zur Chorstunde ab, sagte sie grinsend: "Jaja, jeh sing." Bei Familie L. war "jeh sing" eine höfliche Umschreibung für "verpiss dich". Ich versäumte keine Übungsstunde und gehörte zwölfjährig zum Kreise derjenigen, die öffentlich auftreten durften. Wir sangen zur Einschulung der Erstklässler, zur Jugendweihe, zum Schulabgang und in Altersheimen. Ein wahres Glücksgefühl durchströmte mich, mit Fug und Recht die Bühne betreten zu dürfen! Mit dem Chor. Niemals hätte ich allein eine Bühne betreten, selbst dann nicht, wenn keine Zuschauer in der Nähe waren! Und ich achtete darauf, nicht zu sehen zu sein, wenn ich auf die Bühne kam bzw. sie verließ. Ich wusste, dass ich ein "Trampel" bin und wollte den Chor nicht diskreditieren. Es genügte mir, dabei zu sein. Später schob man mich in die zweite, dann gar in die erste Reihe, weil ich so klein war.
Die Schulkinder der DDR wurden seinerzeit klassenweise regelmäßig zu Zahnarzt geführt. Jahrelang registrierte der Arzt, dass bei mir alles einwandfrei ist. Ich war stolz auf meine tadellosen Zähne. Aber am Tag des Zahnarztbesuches in der sechsten Klasse hatte ich sie nicht geputzt. Der Schulzahnarzt fühlte sich bemüßigt, mir eine Plombe einzusetzen. Ich hatte zeitlebens nur einmal Zahnschwierigkeiten - als mir ein "Weisheitszahn" wuchs. Er musste gezogen werden. Jener vom Schulzahnarzt sanierter Zahn verlor nach einigen Wochen seine Füllung und hat mir niemals irgendwelche Schwierigkeiten gemacht, außer, dass ich die Essenreste aus ihm herausklauben muss. Aber meine Schulkameraden waren damals recht schadenfroh - die Seechern hat n kaputten Zahn! Gerade war ich dabei, in der Klasse Freunde zu gewinnen, und dann das! Wenn ein Zahn krank ist, macht er immer wieder Schwierigkeiten. Jener Zahnarzt hat mir einen gesunden Zahn angebohrt und mich gleichzeitig - ohne es zu wissen oder gar zu wollen - meines Prestiges in der Schulklasse beraubt.
In der 5.Klasse wurden wir zum Schwimm-Unterricht in die Gartenstraße geführt. Gartenstraße - welch romantischer Name für eine Straße, in welcher lediglich ein paar Bäume standen! Meine Mitschüler waren undiszipliniert wie immer, die Straßenbahnfahrt also stressig für mich. Ich bemitleidete die uns begleitende Lehrerin, die vergeblich versuchte, Disziplin herzustellen. In der - übrigens ältesten Badeanstalt Berlins - angekommen, hatten wir uns in der dritten Etage zu entkleiden und dann nackt ins Parterre zu gehen, wo wir uns duschen sollten, bevor wir in die Badeanzüge schlüpfen. Ich wurde in die äußerste Ecke gedrängt, bis ich mich ausziehen konnte.
Ich wollte sehr gerne schwimmen lernen, schwimmen zu können betrachtete ich als heldenhaft. Ich erschrak, als ich Nackedei im Treppenhaus den gewöhnlichen Besuchern der Badeanstalt begegnete. Rasch lief ich nach unten zu den Duschkabinen. Keine war für mich frei. Ich bog um die Ecke, weil ich von dort Duschgeräusche hörte und stand plötzlich im Duschraum für Männer. Ich kehrte beim Anblick eines nackten Mannes sofort um, es war mir klar, eine Grenze überschritten zu haben.
Endlich fand ich eine freie Kabine und duschte mich rasch, denn meine Klassenkameraden waren längst fertig. Der Schwimmlehrer betrachtete uns und stellte fest, dass ich nicht ganz sauber war. Er schickte mich zurück in die Dusche. Ich wusch mich mit aller Kraft und kehrte zum Beckenrand zurück. Der Schwimmlehrer hatte inzwischen einiges an Theoretischem verlauten lassen, bei meiner Rückkunft standen meine Klassenkameraden noch am Ort. Nun betrachtete er mich und sagte, dass meine Füße immer noch nicht sauber seien. Ich hatte im Sommer auf den nackten Füßen Sandalen getragen, so hatte ich Streifen auf dem Spann. Er rief eine Frau, die mich Dreckschwein waschen sollte. Sie wusch mich und ich heulte.
Als ich dann an den Beckenrand trat, waren alle mit dem "Trockenschwimmen" fertig und wir durften ins Wasser. Ich bekam einen Schwimmring und durfte im Wasser plantschen. Den Unterricht hatte ich verpasst. Auf dem Heimweg wurde ich von meinen Klassenkameradinnen böse beschimpft, weil ich so eine ausgesprochene Drecksau war. Ich hatte zu jener Zeit nämlich eine sonderbare Pigmentverfärbung: Auf meinem Bauch befand sich ein nahezu senkrechter Strich, die linke Bauchseite war dunkler als die rechte und obendrein fleckig. Da half kein Waschen und kein Baden, die Verfärbung blieb. Ich hatte schon häufig daran herumgeschrubbt, aber außer einer Rötung der Haut nichts erreicht. Ich schämte mich so sehr für meinen fleckigen Bauch, dass ich mit keinem Wort meine Klassenkameraden oder gar den Schwimmlehrer aufklären konnte. Auch hätte ich zum Beweis den Bauch herzeigen müssen, dazu war ich nicht gewillt, weil sich meine Brust bereits entwickelte. Ich war mit keiner meiner Klassenkameradinnen so vertraut, dass ich ihr meinen Bauch gezeigt hätte.
Fürderhin erfand ich Ausreden, wenn "Schwimmen" angesagt war. Ich wollte nicht als Nackedei auf einer Hintertreppe besichtigt werden, ich wollte nicht als Dreckschwein gelten - ich gab den Wunsch auf, schwimmen zu lernen. Als ich an einem Tage keine Ausrede wusste, stieg ich sogar aus der Straßenbahn heimlich wieder aus und lief nach Hause. In diesem Jahr erhielt ich für das Fach "Körpererziehung" die Note 5.
In der 7. Klasse hatte ich viel Spaß am Chemie-Unterricht. Die Bezeichnungen der Elemente regten meine Phantasie an. Ich bemühte mich, alle Elemente mit Namen benennen zu können (ich kann noch heute innerhalb von fünf Minuten 70 - 80 chemische Elemente nennen). Ich saß in der Stube und paukte mir die Bezeichnungen ein, sagte sie laut auf wie ein Gedicht. Ida kam aus der Küche: "Wat quasselst du denn hier die janze Zeit? Ick dachte schon, du hast hier heimlich dein Bruda rinjelassn!" Ich antwortete leichthin: "Ick lerne die Elemente." - "Wat, un dafor brauchst de so lange? Die Elemente heißn Feua, Wassa, Luft un Erde, dafor braucht man doch bloß eeen mal Luftholn!"
Ich grinste: "Ja, Oma, im Mittelalter war det so. Nu hat die Wissnschaft festjeschtellt, det diese vier Elemente jar keene sind, sondan aus viele kleene Teilchen zusammjesetzt sind. Et sind ne Menge neue Elemente entdeckt worden. Wassa z.B. beschteht aus zwee Elemente und die Luft aus einem Jasjemisch." - "Wat? Aus Jas? Jas is doch jifftich, du blödet Kamel, det kann doch jar nich sin!", entgegnete sie erregt. "Ja, Oma, du hast schon recht, jedet Jas einzeln is jifftich, aba in der richtjen Mischung is et ehmd tatsächlich atembare Luft. Die Wissenschaft . . ." Sie unterbrach mich unwirsch: "Die Wissenschaft hat festjeschdellt, det Marmelade Fett enthält, ja, ja. Un wozu wird dir det nu nützn, det de det weeßt, wie det neue Zeuch allet heeßt?" - "Na, is et nich schön, zu wissen, wat die Welt im Innersten zusammenhält?" - "Komm du - olle Kuh - mir nu - nich noch mit Jööte!", rief sie erbost und entschwand wieder in die Küche. Ich amüsiere mich noch heute darüber, dass sie unbewusst rhythmisch gesprochen hatte.
In der achten Klasse gelang es mir endlich, mit einigen meiner Klassenkameraden zu reden. Ich beteiligte mich an den Mutproben der Jungen und es gab Mitschüler, die bei mir "abschreiben" wollten. Ich wies sie ab, denn Schummeln hilft nicht, die Prüfungen zu bestehen. Ich sagte ihnen: "Wenn du vor der Prüfungskommission stehst, dann musst du das wissen, dann musst du das können! Es nützt dir nichts, wenn du es bei mir abschreibst, davon kommt es nicht in deinen Kopf! Du musst es selber lernen, selber essen macht fett, selber lernen macht schlau!"
In der achten Klasse bekamen wir einen Klassenkameraden, der seinen Sitzplatz schräg vor mir hatte. Er war ein stiller Junge, tobte in den Pausen nicht herum wie die anderen, sondern blieb - genau wie ich - auf dem Platz sitzen. So kamen wir schließlich ins Gespräch miteinander. Er stotterte stark, das war der Grund, weshalb er sich nie meldete. Er teilte mir sein großes Bedauern über diese Benachteiligung mit und ich erwiderte: "Wenn du singst, dann stotterst du nich. Wie wäre et denn, wenn du beim Sprechen an eene Melodie denkst? Sprich langsam und denk an eene Melodie, vielleicht klappts." Und es funktionierte tatsächlich! Der Junge verbesserte seine Zensuren und wurde fröhlicher.
Ich hatte nicht das Gefühl, in meinen Klassenkameraden Freunde gewonnen zu haben. Ich wurde akzeptiert, wie ich sie akzeptierte. Bei den Mädchen war das etwas schwieriger. Die, die ich gern näher kennen gelernt hätte, wiesen mich mit aller Härte ab. Und die anderen, die Farblosen, interessierten mich nicht. Sie versuchten aber auch nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Wenn der Unterricht vorbei war, eilte jede stracks nach Hause. Ich auch. Nach Schulschluss kannte ich meine Klassenkameraden nicht mehr.
„Oma, du musst die Christa in n Kindajaatn schickn“, sagte in bestimmendem Ton die Nachbarin zu meiner erziehungsberechtigten Tante Ida. „So, warum det denn? Wird se da jejossn, damit se schnella wäkst?“, fragte die humorige Alte zurück.
„Nee, det nich. Aba die Kleene kennt doch keene Kinda! Dadrum muss se dahin.“
„Ach, sind Waltraud, Doris und Mäcki schon awacksn?“, grinste Ida breit.
„Mensch, nu vaschteh mir doch ma richtich, Mensch. Ick meine natürlich jleichaltrije Kinda.“
„Ach, det is woll heute for die neue Zeit wichtich, wat?“, konterte Ida bissig.
„Nee“, Grete L. schüttelte den Kopf, „det wa schon imma wichtich. Wenn die Jöre neechstet Jah in ne Schuhle kommt, denn muss se mit die andern Kinda auskomm könn, dadrum muss se jetze in n Kindajaatn jehn. Außadem lernt se da ooch schon n bisschen wat for de Schuhle. Oda willst du dir villeicht hinsetzen und jedn Tach mit ihr bis zwanzich zeehln un wat weeß ick nich noch allet?“
Die Mühe wollte Ida sich nicht machen und ich wurde im Kindergarten angemeldet. Ich stiefelte auch recht brav neben Tante Irma her – Ida war der Weg zu beschwerlich. Und Tante Irma erzählte mir so viel Vergnügliches unterwegs, dass ich mir vor Begeisterung den Weg nicht merkte.
Die Kindergärtnerin war eine hübsche junge Frau. Sie begrüßte mich sehr freundlich und brachte auch die Kinder dazu, mich freundlich willkommen zu heißen. Ich freute mich sehr, mich in einem riesigen Spielzimmer zu befinden, wo alles so bunt und neu war.
Nachdem ein paar Lieder gesungen wurden, von denen ich fast alle kannte, durften wir spielen, was wir wollten. Die Mädchen zogen sich in die „Puppenecke“ zurück, die Jungen bildeten kleinere Grüppchen um mehrere Bausteinhaufen und einen Kaufmannsladen.
Ich war unschlüssig, wohin ich mich wenden könnte. Das Angebot war so groß! Wie in einem Spielzeugladen! Ich vergewisserte mich bei der Erzieherin, ob ich wirklich mit allem spielen könne, was an Spielzeug im Raum ist, denn es gab auch viel Jungsspielzeug, und die Puppenecke sah mir mit den vielen Mädchen darin sehr eng aus. Sie bejahte lächelnd und ich lief schnurstracks zu einem großen roten Auto und bewegte es auf dem Fußboden.
Leider gehörte dieses Auto einem Jungen, es war Privatbesitz. Er schoss auf mich zu und entwand mir das Gefährt. Ich brüllte auf und wies auf die Erlaubnis der Erzieherin hin. Sie stand mir bei und ich durfte weiter mit dem schönen Auto spielen.
Ich fuhr auf einen Bausteinhaufen zu. Die Jungen riefen: „Hier kannste nich lang, hier is Baustelle!“ und rasch wendete ich. Leider zu rasch, die Reifen stellten sich quer. Der Besitzer fürchtete um seinen Flitzer und nahm mir das Auto noch einmal weg. Die Erzieherin brachte die Räder wieder in Ordnung und stellte das Auto auf ein Regal, sodass es keiner von uns erreichen konnte. „So“, sagte sie. „Wenn du nach Hause gehst, dann bekommst du es wieder. Und ich möchte dich bitten, es in Zukunft zu Hause zu lassen. Es gibt hier genug Spielzeug.“
Mich aber führte sie in die Puppenecke zu den Mädchen. Da waren alle Puppen und Teddys schon in fester Hand einer Puppenmutti. Nur ein dünnes Stoffpüppchen war noch übrig, eine Figur aus dem Kaspertheater. Das sollte die Mutter sein und ich sollte ihre Rolle spielen. Ein Kind sagte: „Die Mutti muss jetzt zur Arbeit gehen. Die Fabrik ist da drüben bei den Jungs.“
Diese goldene Brücke betrat ich kleiner Idiot leider nicht. Meine Wahrheitsliebe schlug mir ein Schnippchen. Ich verkündete lauthals: „Nee, die Mutter sitzt!“ und setzte die Kasperfigur rigoros auf einen Stuhl in der Puppenstube.
Ja, meine Mutter „saß“. Das war alles, was ich von ihr wusste. Und meine erziehungsberechtigte Tante saß auch immer gern irgendwo auf einem Stuhl. Diese Erklärungen sprudelte ich hervor und bekam gar nicht mit, dass die Muttis aller hier anwesenden Kinder arbeiten gingen.
Wieder einmal hatte ich mich gründlich daneben benommen, keiner wollte jetzt noch mit mir spielen. Es wurde mir ein Bilderbuch in die Hand gedrückt und ich saß ganz allein am Tisch, bis ich endlich von Grete L. abgeholt wurde. Bevor ich mit ihr gehen durfte, führte die Erzieherin ein längeres Gespräch mit ihr über mich und mein Benehmen. Ich schämte mich in Grund und Boden. Das hielt Grete L. natürlich nicht davon ab, bei Ida Bericht zu erstatten. „Aba vahaun musste die Jöre nu nich jleich dafor, die weeß et doch man bloß nich bessa“, sagte sie am Schluss, so kam ich glimpflich davon.
Ich fürchtete, dass ich am nächsten Tag von vornherein mit einem Bilderbuch an den Tisch gesetzt werde. Das wollte ich nicht. Ich wollte mich auch nicht mit den anderen Kindern, deren Welt mir so völlig fremd war, streiten. Überhaupt wollte ich niiiiie wieder in den Kindergarten gehen. Am anderen Tag bettelte ich erst einmal, damit ich nicht dahin muss. Da es nicht half, warf ich mich zu Boden, strampelte und schrie und setzte so meinen Willen durch.
Heute überlege ich, ob es mir in der Schule genützt hätte, wenn ich weiterhin in den Kindergarten gegangen wäre. Und wenn ja, auf welche Weise.
Meine Einschulung
Nach meinem fünften Geburtstag bekam ich oft zu hören: "Na, waate, wenn de erscht ma in de Schuhle jeehst, denn wird dir der Leehra schon die Dußlichkeitn austreihm!"
Dann wandte ich mich ab, damit Oma mein Lachen nicht sieht. Ich lachte sie nicht aus, oh nein, ich wusste nur ganz genau, dass ich in der Schule keine Dußlichkeiten machen würde, denn ich ging ja zum Lernen dorthin!
Ich war sehr begierig darauf, viel zu lernen, damit man mich nicht mehr "blödet Jör" schimpfen konnte. Ich freute mich riesig auf die Schule. Auch die Warnung meiner um sechs Jahre älteren Cousine: "Det is ja nich so einfach in de Schuhle!" konnte meine Freude nicht eindämmen.
Auf Omas Geburtstagsfeier im April 1950 fragte ich ebenso neugierig wie ungeduldig: "In welche Schule wer icke denn komm?" Onkel Alfred antwortete grinsend: "In ne Baumschule, hähähä!"
Oma erkundigte sich bei unserer Nachbarin Grete M., "welche Schule denn jetze in die neue Zeit ewentuell for so n blödet Jör zuschdändich is." Grete M. sagte abfällig: "Die jehn jetze alle in die selbe Schule, Jungs un Meechn durchnnanda. Schulkleidung is nich nötich un Schulbücha kriejen die Jörn ooch alle von de Schule, ooch Hefte. Du brauchst nur ne Schultüte koofn, ne Schulmappe, Schiefatafl un Jriffl."
Oma atmete auf. Die Einschulung würde viel weniger Geld kosten, als befürchtet. Nun fragte Grete M.: "Waaste denn schon zu n Schuulazt mit se?"
Oma wunderte sich: "Zu n Schuulaazt? Warum det denn?"
"Damit der die Schulfeehichkeit festschdelln kann, ob se übahaupt schon in de Schuhle jehn kann."
"Na, janz blöd isse ja nu ooch wieda nich", verteidigte die Oma mich zu meiner größten Verwunderung. Sie war es doch, die mir ständig vorwarf, zu allem zu blöd zu sein!
Tage später ging meine Tante Gerda mit mir zum Schularzt. Ich war schrecklich aufgeregt. Zu Hause hatte man noch einmal nachgemessen, ob ich schulfähig sei. Das lässt sich nämlich ganz leicht feststellen - wenn das Kind den rechten Arm über den Kopf legt und die Hand bedeckt das linke Ohr, ist das Kind schulfähig. Leider war es mir auch unter größter Anstrengung nicht möglich, das Ohr mit der Hand zu bedecken, ich erreichte es nur mit den Fingerspitzen. Aber alle hofften, dass ich bis zur Einschulung noch wachse.
Das Wartezimmer war fast leer, so freute sich Gerda: "Hier sin wa bald wieda raus!" Aber es dauerte einige Zeit, ehe wir aufgerufen wurden. Eine freundliche ältere Frau reichte mir ihre gepflegte Hand und strich mir übers Haar: "Du brauchst keine Angst zu haben, meine Kleine, von mir bekommst du keine Impfung, ich möchte nur sehen, wie groß du bist - dazu stellst du dich hier an die Meßlatte, so - schon fertig. Nun schaun wir mal, wie schwer du bist, dazu stellst du dich ohne Schuhe hier auf die Waage - nein, nicht an der Waage festhalten! Jetzt möchte ich wissen, ob du gut siehst.“
Ich platzte heraus: “Wie ick heute aussehe, seh ick nich imma aus, heute hab ick neemlich det jute Kleid an.”
Ich hatte “siehst” bisher nur gehört, wenn Oma, Tante Gerda oder meine Cousine Waltraud tadelten: “Kieck bloß ma, wie du wieder aussiehst!” Die andere Form: “Siehste, siehste!” (bei meinen Missgeschicken) war nur eine andere Form von “Ätsch, ätsch, ausgelacht!” Die Schulärztin erläuterte, dass “siehst” eine gebeugte Form von “sehen” ist und führte an: “Ich sehe, du siehst.” Ich war baff.
Der Test ging weiter: “Schau her zur Tafel. Auf welches Bild zeige ich?"
Ich antwortete spontan: "Na, uff ditte da.", und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Bild, welches sie mit dem Zeigestock berührte. Die Ärztin verzog keine Miene und fragte geduldig weiter: "Und was siehst du auf dem Bild?" Ich antwortete zu ihrer Zufriedenheit, bis sie feststellte: "Die Augen sind in Ordnung. Nun zum Gehör." Ich krähte: "Hörn kann ick ooch jut, Oma saacht imma, det ick aatich bin!"
Die Ärztin erklärte mir, dass "hören" und "gehorchen" zweierlei sind, setzte mir Kopfhörer auf und ließ mich ein unangenehmes Geräusch hören, mit der Anweisung, ihr zu sagen, wann ich es nicht mehr höre.
"So, das ist auch erledigt. Jetzt unterhalten wir uns ein wenig. Freust du dich auf die Schule?"
"Jaaa!", schrie ich begeistert.
"Ist ja gut, nicht so laut! Kannst du denn schon zählen?"
Nun kam ich in Verlegenheit. Ich plapperte rasch alle Zahlen heraus, die je an mein Ohr gedrungen waren. Man kann sich das Durcheinander vorstellen. Die Ärztin lachte und legte mir einige bunte Täfelchen vor: "Wie viele siehst du?"
Ich strahlte sie an und wusste keine Antwort. Sie nahm ein paar Täfelchen weg und stellte die Frage erneut. Ich wusste nicht einmal, wie viele Kärtchen für die Zahl 3 stehen!
Nun fragte sie nach den Farben. Ich erkannte nur rot und grün. Sie fand das sehr ungenügend. Ich rief: "Aba ick kenne doch noch schwaaz un weiß!", denn ich hatte große Angst, nicht eingeschult zu werden. Sie klärte mich auf, dass schwarz und weiß keine Farben sind und ich war todtraurig.
Da Tante Gerda versucht hatte, mir bei den Farben vorzusagen, wurde sie hinausgeschickt. Die Ärztin legte mir mehrere Abbildungen geometrischer Figuren vor und ich sollte sie benennen. Das Quadrat war bei mir eine Schachtel, das Rechteck eine Kiste, der Kreis ein Ball, das Dreieck erkannte ich einwandfrei als ein Verkehrszeichen, bei der Raute kicherte ich vertraulich: "Da fehlt der Schdrich in ne Mitte!" (damals „zierte“ eine Raute mit einem Strich in der Mitte fast jede Wand) und das Trapez deklarierte ich mit Beschimpfungen für den Zeichner als falsch gemalt.
Sie erklärte mir auf angenehm ruhige Art, was die Figuren darstellten und legte mir danach drei Zeichnungen vor, zu denen ich eine Geschichte erzählen sollte, die den Zusammenhang der Bilder erläutern.
Da ich bisher so viele Fehler gemacht hatte, war meine Angst, die Prüfung nicht zu bestehen, ins Unermessliche gestiegen. Ich glaubte, es sei das Beste, gar nichts mehr zu sagen. Vor allem, weil ich zu Hause oft für meine Fantasie getadelt wurde, und hier sollte ich nun Proben davon ablegen! Es dauerte eine Weile, ehe die Ärztin mich wieder zum Reden bringen konnte. Die Geschichte, die ich dann zu den Bildern erzählte, gefiel ihr. Sie rief meine Tante wieder herein und sagte ihr, was alles mit mir geübt werden muss, wenn ich in diesem Jahr noch eingeschult werden soll. Wir bekamen einen neuen Termin und wurden entlassen.
Auf dem Heimweg schimpfte Gerda: "Mein Jott, det du doof bist, det wissn wa ja nu alle. Aba det du sooo doof bist, det hätt ick nie jedacht! Du weeßt ja buchschdeeblich nischt! Jar nischt! Blamierst een bis uff de Knochn! Wie kann een einzelnet Kind bloß sooo doof sein!"
Zu Hause gab sie mich dem allgemeinen Gelächter preis. Ich schlug die Augen nieder und hielt mühelos die Tränen zurück. Ich kannte ja den Satz: "Dummheit muss bestraft werden!" und nahm geduldig meine Strafe hin. Gerda zählte auf, was ich alles schnellstens lernen muss.
Dann stotterte sie: "Die Doktasche hat jesaacht, die Christa kann nich ab . . . abscha . . . abschahiean. Weeßt du, wat det is, Oma?"
Oma zog die Stirn kraus und machte eine Schnute. Ich warf ein: "Det heißt "abschdrahiern", so hat die Doktasche jesaacht."
Tante Gerda sagte verwundert: "Jenau! Mensch, det du dir det merkn konntst, wo de doch sonst so blöd bist!"
Oma vermutete, dass es das neue Wort für "Weniger" beim Rechnen sei.
Als Irma von der Arbeit kam, wurde sie nach der Bedeutung des Wortes gefragt, das Oma schon vergessen hatte. Ich durfte es noch einmal nennen. Irma sagte: "Det kommt von "abstrakt" und bedeutet, dass Christa nich abstrakt denken kann."
Oma schüttelte den Kopf: "So n Blödsinn brauchn die Jörn heutzudaare? Na, Christa hat sich det Wort jemerkt, da is et jut mööchlich, det se denn ooch den Rest kapiert." (In der Schule gab es soviel zu lernen und zu sehen, dass ich nie nach dem “abstrahieren” fragte.)
Waltraud wurde beauftragt, mir alles Erforderliche beizubringen. Mit aller Härte trichterte sie mir die Zahlen, die Farben und die wichtigsten geometrischen Figuren ein. In wenigen Tagen konnte ich bis zwanzig zählen und kannte alle Farben, selbst Farbtöne, nach denen die Ärztin nicht gefragt hatte.
Zu dem neuen Arzttermin ging die Nachbarin Grete M. mit mir. Tante Gerda hatte Protest eingelegt: "Ick blamier mir doch nich no maa mit die Jöre!"
Auf dem Weg sagte Grete M. zu mir: "Wenn de wieda so blöd bist, lass ick dir daa bei die Doktasche, denn nehm ick dir nich wieda mit zu Hause!"
Ich hoffte, dass das nicht geschehen würde, und betete inständig, dass Waltraud mir wirklich alles beigebracht hatte, was ich für den Nachweis der Schulfähigkeit benötigte. Sie ging ja schon lange zur Schule, sie MUSSTE wissen, was ich brauchte.
Die ersten Fragen der Ärztin konnte ich leicht beantworten und fühlte mich dadurch immer sicherer. Ich erzählte auch einiges, was sie gar nicht wissen wollte. Ich bestand alle Prüfungen mit Bravour und sie schenkte mir ein Bonbon. Nun wurde Grete M. gefragt, warum nicht meine Mutter mit mir diesen wichtigen Gang gemacht habe? Grete M. sagte verächtlich: "Die ihre Mutta sitzt."
Meine Eltern hatten damals Buntmetall im Westteil der Stadt verkauft, geschmuggelt, wie es hieß, und waren dabei erwischt und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden.
Ich erbleichte und wäre am liebsten in der Erde versunken. Jetzt würde es wieder so eine scheußliche Hetztirade gegen meine Mutter geben! Aber die Ärztin sah mich nur mitleidig an und strich mir über das Haar. Diese Frau war gnädiger mit mir als die Leute, die ständig in meiner Nähe waren. Sie sagte nur noch leise: "Ein klein wenig disziplinierter und ruhiger muss Christa noch werden, ansonsten erfüllt sie alle Voraussetzungen."
Grete M. gab zu bedenken, dass meine Hand noch immer nicht das Ohr bedeckt, wenn man meinen Arm über den Kopf legt. Die Ärztin entgegnete, dass solche Äußerlichkeiten nebensächlich sind, die Hauptsache sei die Auffassungsgabe, und die sei bei mir in ausreichendem Maße vorhanden. Fröhlich hüpfte ich neben Grete M. nach Hause.
Nun ich den Einschulungstermin fest in der Tasche hatte, übte Waltraud nicht mehr mit mir, so hatte ich einen großen Teil der Zahlen über den Sommer wieder vergessen.
Zur Einschulung hätte ich liebend gern das duftige weiße Spitzenkleid der kürzlich vergangenen Sommersonntage getragen, aber Oma sagte: "Det is dir doch schon ville zu kleene, Mensch! Wißt de villeicht aussehn wie n Schpringa?" ("Springer" wurden die Seiltänzer genannt. Sie trugen so knappe Gewänder, dass man die Körperform sah. Das galt als unanständig.) So wurde mir ein Kleid angezogen, welches Waltraud zu klein geworden war. Es war mir zu lang und zu weit.
Die "auf Zuwachs" gekauften weißen Kniestrümpfe waren das einzige, was an Bekleidung für meine Einschulung angeschafft worden war. Sie bildeten eine Ziehharmonika an meinen Beinen. Die an Fersen und Zehen abgeschnittenen Halbschuhe deklarierten mich endgültig als Armeleutekind. Oma sagte: "Armut schändet nich! Wir könn nich dafor, det wir nich mehr haam!"
So war ich es zufrieden, zumal das "Einschulungskleid" doch zu meiner großen Freude weiß war, mit roten Pünktchen.
Meine Schultüte war schon viele Wochen vorher gekauft worden. Sie wurde auf den Kleiderschrank gestellt, damit ich sie nicht etwa kaputt mache, bevor sie zum Einsatz kommt. Nicht, dass man mich für besonders wild hielt, nein, die Tüte hätte beim Spielen herunter fallen können. Dabei hätte die Spitze abbrechen können, wie bei Waltrauds Tüte. Sie war all die Jahre aufgehoben worden und Oma dachte, dass ich sie zur Einschulung bekäme. Aber mit der abgebrochenen Spitze ging das ja nun mal nicht.
Vermutlich hatte Tante Gerda selber die Spitze abgebrochen, weil die Tüte zur ewigen Erinnerung aufbewahrt werden sollte und sie befürchtete, dass sie kaputt geht, sowie ich sie berühre. Ich galt als tollpatschig und ungeschickt. Das endete erst, als das Laudanum, womit die Oma mich ruhig zu stellen versuchte, alle war und sie keins mehr zu kaufen bekam und der Hausarzt es auch nicht verschrieb.
So blickte ich mein herrliches Prachtstück – meine Tüte war größer als die von Waltraud und viel bunter - täglich ebenso bewundernd wie begehrlich an. Bewundernd, weil sie mit Abbildungen von Spielzeug und Schulutensilien bedruckt war, begehrlich, weil ich gehört hatte, dass sie mit Süßigkeiten gefüllt werden wird.
Die größte Menge an Bonbons, die ich bislang sah, war ein viertel Pfund gelber Brustkaramellen gegen Omas Erkältung. Das würde in der riesigen Schultüte hoffnungslos versaufen.
Ich versuchte mir vorzustellen, was alles in diese Tüte hineingehen könnte. Zuerst eine große Menge an Maiblättern und Himbeerbonbons. Ja, die waren lecker! Aber alle hätte ich gewiss niemals aufessen können. Vor meinem geistigen Auge war die Tüte zur Hälfte damit gefüllt. Es passten also bequem noch ein paar Riegel Pfefferminz-Fondant hinein. Die Bonbons hätte ich auf der Straße an irgendwelche Kinder verteilt, in der Hoffnung, Freunde zu gewinnen. Meine Cousine machte es auch immer so. Wenn sie mit ihrer Bonbontüte – die sie regelmäßig von ihrem verhassten Stiefvater bekam – auf die Straße trat, bildete sich flugs eine dicke Traube fremder Kinder um sie. Das Fondant hätte ich mit der Familie geteilt.
Ich sah, dass immer noch Platz in der Tüte war. Na, vielleicht bekomme ich ja auch noch ein paar Lutscher? Ich stellte mir den herrlich süß-sauren Geschmack eines Zitronenlutschers vor. Hhhmmm, lecker! Und wie lange es dauert, ehe er aufgelutscht ist! An den Lutschern hätte ich so lange zu tun, dass ich auf alle Maiblätter und Himbeerbonbons verzichten könnte.
Zwischen den Lutscherstielen ist noch Platz für einige Roxe. Diese bunten, aus unterschiedlichen Bonbonarten zusammen geschweißten Zylinder waren die Krönung der Bonbonherstellungskunst. Einmal erst hatte ich so ein Kunstwerk im Mund gehabt. Ein beinahe abendfüllendes Erlebnis! Von denen würden nur jene Familienmitglieder abbekommen, die ich wirklich sehr mochte.
Ich begann zu überlegen, wen ich wirklich sehr mochte. Die Oma natürlich. Und Waltraud? Sie war nicht immer lieb zu mir, aber immerhin die einzige, die mit mir spielte. Soll sie auch einen bekommen. Tante Gerda? Mit hängen und würgen. Die lustige Tante Irma schon eher. So, den Rest esse ich aber alleine!
Nun hatte ich mich so weit verstiegen, dass ich es wagte, auch noch von einer kleinen Tafel Schokolade zu träumen. Ein Täfelchen ganz für mich allein! Ich schloss die Augen und schmeckte die zart schmelzende Schokolade. Selig faltete ich die Hände vor der Brust.
Schokolade war für mich untrennbar mit Weihnachten verbunden. Sogleich hatte ich den mit Lametta reich geschmückten Lichterbaum vor Augen und roch Pfefferkuchenduft. Das Weihnachtslied „Ihr Kinderlein, kommet“ kam mir in den Sinn und ich lächelte, denn jetzt rief die Schule „Ihr Kinderlein, kommet“.
Endlich war der große Tag heran, an dem die Schultüte gefüllt werden sollte. Ich stand daneben und schaute gespannt zu. Auf dem Tisch lag zu meiner Verwunderung ein Stapel Zeitungen. Das erste Blatt wurde genommen, zusammen geknüllt und in die Spitze der Tüte gepresst. Sehr gut, dachte ich hochachtungsvoll, so kann die Spitze nicht so leicht abbrechen. Auch die zweite Zeitung sah ich als nützlich an. Die dritte – na ja, aller guten Dinge sind drei. Bei der vierten zog sich meine Stirn kraus, bei der fünften ballte ich die Fäuste und bei der sechsten bekam ich einen gewaltigen Wutanfall. Ich schrie und tobte und brüllte aus Leibeskräften.
Oma schimpfte mich ein "janz ausvascheemtet Jör", Tante Gerda tobte: "Wo solln wa denn det allet heerneehm?" und Onkel Alfred sagte: "Dadran würdeste doch zwee Jahre lang futtan; bis dahin is det meiste schlecht, Mensch!"
Tante Irma gab mir die gefüllte Tüte in den Arm und fragte: "Na, kannst de die jut traaren?"
Die Tüte war unhandlich und schwer. Sie fiel mir aus der Hand, weil ich nicht mit ihrer Kopflastigkeit gerechnet hatte. Irma fing sie rechtzeitig auf. "So", sagte sie, "und nu schtell dir ma vor, die Tüte weere bis oohmhin voll Bonbons und allet sowat. Denn könnte noch nich mal ICK die Tüte hochheem! Du musst nich denkn, det ooch nur eeen Kind uff de Welt jemals seine Schultüte richtich voll Süßichkeitn hatte, det is doch jar nich mööchlich."
Nun weinte ich nicht nur aus Enttäuschung über die Schwindeltüte, sondern auch darüber, dass sie mir beinahe runter gefallen wäre. Man verpasste mir eine saftige Maulschelle, damit ich wieder zu mir komme. Heulend und schluchzend verzog ich mich in eine Ecke, während weiterhin nur Zeitungspapier in die Tüte kam.
Nach einer Weile hatte ich mich innerlich gefestigt und trat wieder an den Tisch heran. Inzwischen war eine dünne Schicht Eukalyptus-Bonbons, die ich gar nicht so besonders mochte, auf den Zeitungen verteilt worden. Ein Fläschchen Liebesperlen verlor sich darin und eine Tafel Vitalade winkte mir zu. Vitalade war ein Schokoladenersatz, der mit Bonbonsplittern versetzt war. Mit diesem Zeug konnte ich mir weder auf der Straße Freunde gewinnen noch in der Familienachtung steigen. Jedoch tröstete mich eine kleine Schachtel Buntstifte, die der Onkel ganz obenauf gelegt hatte. Was soll s? Ich ging doch nicht wegen Bonbons zur Schule, sondern um zu lernen.
Nach der Einschulung tat ich die kostbaren Buntstifte in meinen Ranzen und legte die Süßigkeiten zum allgemeinen Verzehr auf den Tisch. Dabei kam ich mir sehr erwachsen vor.
Aus den Gesprächen der Erwachsenen wusste ich, dass die Einschulungsfeier in einer Aula stattfinden wird. Ich fragte Waltraud, was eine Aula ist. Sie antwortete: "Na, Aule is doch Schpucke, wa? Nu weeßte allet." (Als einmal die Rede von der Berliner Klosterstraße war, sagte sie angewidert: "Ih, ne Schdraße aus Klosetts!")
Freudig erregt schritt ich neben Oma zu meiner Einschulungsfeier und war sehr froh, dass es sich bei der Aula um einen festlich geschmückten Saal handelte, der mit vielen fröhlichen Menschen angefüllt war. Die Erstklässler waren leicht zu erkennen an ihren schönen Kleidern, an ihren leuchtenden, forschenden Augen und natürlich an den Schultüten.
Vom Verlauf der Feier weiß ich noch, dass der Direktor eine lange Rede hielt, welcher ich nicht folgen konnte und Oma gelangweilt lauschte, nach ihm noch eine Frau etwas mir unverständliches redete und der Schulchor sang. Der Gesang gefiel mir sehr. Bisher hatte ich nur vom Chor der Engel im Himmel gehört. Ebenso lieblich klangen mir nun diese hellen Kinderstimmen und ich wusste, ich sehe herrlichen Zeiten entgegen.
Danach wurden wir Kinder in unsere Klassenzimmer geführt, wo wir Bücher und Hefte erhielten. Ich zitterte vor Freude: Jetzt hat die Dummheit bald ein Ende, jetzt werde ich alles lernen, alles erfahren, was ich zu wissen begehre! Und so viele Kinder werden meine Kameraden sein! Wir werden zusammen lernen und spielen und miteinander reden! Es kam anders, denn ich war ein krasser Außenseiter.
Vor der Schulhaustür schoss Onkel Alfred das Einschulungsfoto. Ich besitze es noch. Man erkennt deutlich, dass meine Schultüte federleicht ist. Nachdem sie ausgeleert wurde, kam sie wieder auf den Schrank. Ich würdigte sie keines Blickes mehr.
Nach einigen Tagen schlug meine Cousine vor: „Wir könnten Einschulung schpieln. Ick wer einjeschuhlt un du bist die Lehrerin.“
Ich vergewisserte mich mehrmals, ob sie auch wirklich meint, was sie sagt und ließ dann zu, dass sie die Tüte vom Schrank herunter holt. Sie nahm den Besen und schlug nach der Tüte. Dabei bekam sie die erste Delle. Sie setzte sich brav mit der Tüte im Arm auf die „Schulbank“ und ich begann mit dem „Unterricht“. Als ich sie in meiner Funktion als Lehrerin dafür rügte, lieber aus der Schultüte Schnipsel heraus zu reißen anstatt dem Unterricht zu folgen, meinte sie leichthin: „Ick bin ehmt een bösaatijet Kind, so wat jibt s.“
Ja, das hatte ich schon am eigenen Leibe erfahren. Ich fuhr also mit dem Unterricht fort und ließ das „Kind“ gewähren, zumal es hin und wieder eine richtige Antwort gab. Am Ende des Schultages lag das teuere Stück in Fetzen am Boden. Ich sagte: „Nu kiek dir det an, wat du jemacht hast!“ Waltraud scherzte grinsend: „Hauptsache aatich, wenn ooch bösaatich.“
Oma schimpfte sehr mit uns, war aber andererseits froh, den „Staubfänger“ los zu sein. Obendrein diente er vorzüglich als Kohlenanzünder.
Nach zwei Jahren Schulbesuch freute ich mich, den Jargon ablegen zu können. Meine aus Süddeutschland stammende Mutter sprach nämlich hochdeutsch und ich wartete sehnsüchtig auf ihre Entlassung aus dem Gefängnis. Sie hatte in ihrer Kindheit ein Internat für Höhere Töchter besucht und ich wollte ihr wenigstens in meiner Sprechweise gefallen.
Beim Gedanken an meine Einschulung und vor allem an meine Schulzeit schaudert es mich heute noch.
Old Icke geht zur Schule
Vor der Schulhaustür schoss Alfred das Einschulungsfoto. Bei der Feier zu Hause war das Wichtigste das Essen und Trinken. In den Tischgesprächen wurde zum x.Male erwähnt, dass mein Bruder Manfred eine Hilfsschule besucht und mein Bruder Paul sehr schlechte Zensuren nach Hause bringt. Man befürchtete ähnliches auch bei mir.
Die Einschulung war an einem Sonnabend. Am Montag wusste ich nicht mehr genau, wie meine Klassenkameraden aussehen. Die Lehrerin hatte uns gezeigt, an welcher “1" an der Schulmauer wir uns wieder treffen. Ich merkte mir das “1a”. Waltraud ging in die selbe Schule wie ich, wir gingen oft zusammen zur Schule, auch an meinem ersten Schultag. Sie sicherte mir zu, stets für mich da zu sein, wenn ich eine Frage oder Schwierigkeiten hätte. Sie stellte mich zur 1a, weil ich ihr gesagt hatte, dass ich in diese Klasse gehörte. Ich begrüßte fröhlich die Kinder, die dort standen. Sie sagten, ich solle verschwinden, denn ich gehöre nicht zu ihnen. So begab ich mich zur 1b, wo ich ebenfalls weggeschickt wurde. Ich blieb allein auf dem Schulhof übrig, da ich mich keiner Gruppe anschließen durfte. Hilflos begann ich zu weinen, denn ich wusste nicht, in welches Klassenzimmer ich mich zu begeben hatte. Endlich führte mich eine junge Frau in den Raum der Klasse 1a, wo ich ob meines Zuspätkommens von der Lehrerin gerügt und von meinen Klassenkameraden ausgelacht wurde.
Da in der Schule, in die ich eigentlich zu gehen hatte, die Heizung repariert werden musste, erlebte ich das Winterhalbjahr des ersten Schuljahres in einer etwas weiter entfernten Schule. Der lange Schulweg störte mich nicht. Ich rannte, um ja pünktlich zu sein. Ich wollte lernen. Direkt neben der eisgrauen Schule stand das rote Gemäuer einer katholischen Kirche. Ich war nicht neugierig genug, um einen Blick in ihr Inneres zu tun, soviel Ruhe hatte ich nicht. Ich habe die Schönheit des Kirchenbaus nur im Vorübereilen zur Kenntnis genommen. Morgens war ich vom Wissensdurst gehetzt, am Schulschluss davon, das Mittagessen warm nach Hause zu bringen. Ida hatte mich für zwei Personen zur Schulspeisung eintragen lassen.
Ich trug an einem Riemchen ein Essgeschirr, wo das Essen eingefüllt wurde. Um den Schulhof zu verlassen, musste man die Kirchentreppe hinab. Hohe Granitstufen, nur für Langbeinige. Ich Kurzbeinige musste vorsichtig gehen. Da wurde ich oft von den Flinkeren geschubst. Eine Treppe von der Länge eines Hauses, zwanzig Kinder darauf und eines ist im Weg. Wie schaffte ich das nur? Es bleibt mir ein Rätsel. Jedenfalls hatte ich den Inhalt des Essgeschirrs am Mantel. Mein Zetern: "Jetz muss meine Oma hungan!" löste Gelächter aus. Ich begann, zu trödeln. Ich wollte als letzte den Hof verlassen, um den Attacken meiner Klassenkameraden zu entgehen. Da erwischten mich die Schüler der höheren Klassen. Auch ihnen war es ein Spaß, mich die Treppe hinunterzuschubsen. Zu Hause wurde ich gerügt, weil ich mit leerem Kanister ankam, weil meine Kleidung beschmutzt war und das bezahlte Essen nicht vorhanden war.
Nach den Sommerferien hatten Waltraud und ich den selben Schulweg. Nun konnte mir nichts mehr passieren. Außer, dass ihr Kinder begegneten, deren Gesellschaft sie sehr genoss. Dann schickte sie mich voraus. Ich wehrte mich nicht, denn Waltraud war klug - sie war sechs Jahre älter als ich und sagte oft, dass ich dumm sei. Ich ging also allein auf den Schulhof und suchte meine Mitschüler. Ich konnte mich nur an den Zahlen an der Wand orientieren: Klasse 2a. Ich war im ersten Schuljahr begierig, zu lernen und schenkte meinen Mitschülern wenig Beachtung. Nun fiel es mir schwer, die Kinder zu erkennen, zu denen ich während der Ferien keinen Kontakt hatte. Ich ging von Gruppe zu Gruppe, wurde überall fortgejagt und letztendlich namentlich aufgerufen.
Einige meiner Klassenkameraden kannten sich vom Kindergarten her, andere, weil sie benachbart waren. Ich kannte keinen. Jedes Gespräch war von vornherein unmöglich, denn wir hatten kein gemeinsames Thema, wie ich bald schmerzlich feststellte. Nicht einmal über die Schule konnte ich mit ihnen reden! Egal, an wen ich mich wandte, keiner war bereit, sich mit mir zu unterhalten.
Ich war aber auch ein zickiges Gör! Anstatt mich darüber zu freuen, wenn jemand mein Tintenfass umwarf, schrie ich ihn an. Ich war nicht der Meinung, dass man auf diese Weise Beziehungen knüpft. Auch liebte ich es nicht, wenn jemand meine Schreibgeräte stibitzte, selbst dann nicht, wenn sie mir kurz darauf zurückgegeben wurden. Ich wusste, wie viel Geld das alles kostet und dass ich auf meine Sachen aufzupassen hatte. Ein Griffel bzw. ein Bleistift wurde solange benutzt, bis er wirklich abgeschrieben war. Solche Dinge zerstört man nicht mutwillig! Und ich durfte erleben, wie Griffel und Bleistifte zerbrochen wurden. Ich wollte mein Eigentum um jeden Preis beschützen. Bald ging ich voller Furcht in die Schule. Ich sprach meine Klassenkameraden nicht mehr an, sondern nahm mich vor ihnen in Acht. Ich ging ihnen aus dem Weg, so gut es ging.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich mir in der Schule ausgerechnet durch ein Lied den Spott meiner Klassenkameraden zuziehen würde. Es handelte sich um ein Lied, welches DDR-Kinder im Kindergarten lernten:
Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land,
allen Menschen, groß und kleinen, bist du wohlbekannt.
Fliege übers große Wasser, über Berg und Tal,
bringe allen Menschen Frieden, grüß sie tausendmal.
Und wir wünschen für die Reise Freude und viel Glück,
kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück.
So etwas wurde bei Ida nicht gesungen. Nachdem ich den Text verstanden hatte, begriff ich, dass die Kommunisten dasselbe wollten wie die Christen, nämlich Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Mir war wie Weihnachten ob dieser Erkenntnis - der neue deutsche Staat, in dem ich aufwachsen würde, wollte Frieden, wollte Völkerfreundschaft, es wird keinen Krieg mehr geben, sondern für alle Menschen Glück und Wohlstand! Unbewusst faltete ich andächtig die Hände vor der Brust. Die Lehrerin nahm den Zeigestock von der Tafel, brach das Lied ab, drückte mit dem Stock meine Hände nach unten und sagte: "Du bist hier nicht in der Kirche, hier wird nicht gebetet." Meine Mitschüler lachten schallend, und ich stand mit hochrotem Kopf da, unfähig, mich zu verteidigen.
Für die Eintragung ins Klassenbuch mussten wir unsere Personalien angeben. Ich wusste von meinem Geburtstag nur, dass er mitten im Winter ist. So erntete ich erneut Gelächter. Bei der Adresse wurde es noch schlimmer. Als ich sagte, dass ich in der Pistoriusstr. 103 b wohne, grölten meine Mitschüler, denn sie kannten diese Straße nicht und bezweifelten ihre Existenz ebenso wie eine Hausnummer über 100. Wenn ich gesagt hätte: "Ich wohne in der Schokoladenstraße, Ecke abgebissen!", hätte man mich für witzig gehalten, so aber wurde ich verachtet: "Die Seechern wohnt in de Piß - toriusstraße! Na, da jehört se ja ooch hin!"
Ich folgte dem Unterricht mit größter Aufmerksamkeit. Ich fand es aufregend, die Form der Buchstaben und Zahlen zu erfahren. Noch schöner war es, sie selber auf die Schiefertafel zu schreiben! Und gar erst die Wonne, als wir in Hefte schrieben! Rechnen liebte ich weniger, lernte aber mit Eifer, denn man muss rechnen können, wenn man im Leben vorwärts kommen will, und das wollte ich.
Nahezu atemlos folgte ich dem Heimatkunde-Unterricht. Was ich hier erfuhr, war faszinierender als jeder Märchenfilm. In diesem von Ida als "unwichtig" eingestuften Fach hatte ich gute Zensuren, ebenso in den noch "unwichtigeren" Fächern Musik und Zeichnen.
Ida übte im ersten Schuljahr täglich mit mir lesen und schreiben. Darüber freute ich mich, denn so festigte sich mein Wissen. An dem Tag, wo wir das "x" lernten, entwendete ein Mitschüler meine Buntstifte. Ich war furchtbar wütend darüber, denn diese Buntstifte wurden von Ida als blanker Luxus angesehen; verlöre ich sie, bekäme ich keine neuen. So verpasste ich an diesem Tage teilweise den Unterricht und jagte - wie es oft vorkam - meinem Eigentum hinterher.
Als ich der Ida den Text mit dem "x" vorlesen sollte, war mir der Buchstabe nicht gleich geläufig und sie schlug mir - just in jenem Moment, als ich das Wort endlich wusste - wütend ins Gesicht, wobei ihr Ehering mir die Lippe aufriss. Ich weinte weniger über den Schmerz als über Idas Ungeduld und die Heimtücke meiner Klassenkameraden. Wenn ich nicht meinen über die ganze Klasse verteilten Stiften hätte nachforschen müssen, hätte ich dem Unterricht besser folgen können. Und am Jahresende schrieb die Lehrerin in mein Zeugnis: "Christa lässt sich zu leicht ablenken. Bei etwas mehr Fleiß könnte sie bessere Leistungen erzielen." Das war der blanke Hohn. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren, sondern musste obendrein noch Idas Beschimpfungen hinnehmen.
Es gab für mich zwei Möglichkeiten, zum Schulhaus zu gelangen: Entweder durch die Friesickestraße (hier standen auf der einen Seite schmucklose graue Wohnhäuser, auf der anderen Seite war ein stinkendes Farbfässer-Lager und ein beräumtes Ruinengrundstück), dann durch die trostlose Charlottenburger (hier standen auf beiden Seiten schmucklose graue Wohnhäuser mit einigen hohläugigen Ruinen dazwischen), von wo aus ich in die Gustav-Adolf-Straße (hier standen kleine Häuser mit hellem, mehrfarbigen Anstrich und klassizistischer Fassade) einbiegen konnte, oder durch die freundliche Pistoriusstraße mit dem Schusterladen und dem Spirituosengeschäft, die ich oft im Auftrag der Familie besuchte.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Friedhof, der mit vielen hohen Bäumen bestanden war, die ihre grünen Zweige weit über die Straße reckten bis zum Hamburger Platz. Hier standen etliche Silberpappeln, die ich bewunderte und liebte, weil sie so gerade und schlank gewachsen waren und ihre zweifarbigen Blätter eine schöne Form hatten. Fast in der Mitte des kreisrunden Platzes war eine Wiese mit einem Buddelkasten darin; dahinter begann eine blühende Laubenkolonie.
Bis zum Hamburger Platz war die Pistoriusstr. mit Linden bepflanzt, dahinter mit Kastanien. Mir war untersagt, zum Buddelkasten bzw. zu den Kastanien zu gehen, denn dazu hätte ich den Fahrdamm überqueren müssen, der damals schon genauso dicht befahren wurde wie heute, sogar eine Buslinie verkehrt dort (vor dem Krieg fuhr auch eine Straßenbahn durch unsere Straße, ich habe die Schienen noch zu sehen bekommen. Ida erzählte, dass genau vor unserer Haustür eine Haltestelle gewesen sei), wo ich ebenfalls in die Gustav-Adolf-Str. einbiegen konnte. Dieser Weg war auch der kürzere. Ich tanzte förmlich zur Schule hin.
Aber auf dem Rückweg wurde ich von Kindern überholt, die zwei bis drei Jahre älter waren als ich. Sie schubsten mich und rissen an meiner Schultasche, bis ich auf das Pflaster stürzte. Dann entwendeten sie meine ABC-Zeitung und verlangten, dass ich daraus vorlesen sollte. Ich las ihnen vor und ich konnte gut lesen; so ließen sie mich gehen. Nachdem mir solches mehrmals geschah, mied ich den farbenfrohen Weg über den Hamburger Platz. Es war, als hätte ich in den ersten Schuljahren ein Schild auf dem Rücken mit der Aufschrift: "Mit mir kann jeder machen, was er will."
Wenn Ida zu den Elternversammlungen ging (sie tat es nur im ersten Schuljahr), nahm sie mich mit. Zu der protestierenden Lehrerin sagte sie: "Ick kann die Jöre nich alleene lassn, die macht sonst Dußlichkeiten."
Da ich einmal tatsächlich aus lauter Langeweile Unfug getrieben hatte, war das noch nicht einmal gelogen. Ich hätte auch nicht gewagt, die Lehrerin darüber aufzuklären, wie oft und wie lange Ida mich sonst allein ließ. Nach der ersten Elternversammlung unterhielt Ida sich mit der Lehrerin noch über Privates. Zum Schluss sagte sie: "Christa ihre Eltan sin int Jefängnis, nu hab ick die Plare mit die Jöre. Wenn se nich follscht (gehorcht), könn Se ihr ruhich eene tachteln." Die Lehrerin wehrte ab: "Es ist nicht gestattet, die Kinder zu schlagen, ein Lehrer, der seine Schüler schlägt, wird fristlos entlassen." Ida war sehr erstaunt und meinte, dann wäre es jetzt wohl sehr schwer, den Kindern etwas beizubringen.
In der zweiten Klasse schrieben wir einen Schulaufsatz mit dem Thema "Mein Zuhause". Darin sollten alle Möbel mit ihrem Standort aufgeschrieben werden. Da war für mich nicht viel nachzudenken! Ich schrieb also (hier gekürzt): "In der Küche steht ein Küchenspinnt, eine Anrichte, ein Tisch mit zwei Stühle, der Kolnkasten, die Kochmaschiene und der Jaskocha. In der Stube stehen zwei Betten, Oma ihrs und meins, ein Ofen, ein Tisch, zwei Stühle, ein Kleiderspinnt, ein Wertiko und der Rejelata. In Tante Irmas Stube darf ich nicht, aber da steht ein Bett, ein Kleiderspinnt, ein Scheeselonk mit zwei Sessel, ein Tisch zum dran sitzen, ein Tisch, wo das Radjo draufsteht und ein schöner Schreibschrank."
Ich war sehr stolz darauf, so rasch vier Seiten geschrieben zu haben, es war fast das doppelte von dem, was die meisten anderen geschrieben hatten und gab meinen Aufsatz in der festen Überzeugung ab, kaum Fehler gemacht zu haben. Ich hoffte auf eine gute Zensur, denn ich hatte getreulich alles so aufgeschrieben, wie es von Ida und allen anderen in unserer Wohnung benannt wurde und hatte außerdem noch die Worte der Lehrerin beherzigt, dass man am Wortende das ungesprochene "e" mitschreibt. Man kann sich denken, dass ich mich in Bezug auf meine erhoffte gute Zensur irrte, aber es kam noch schlimmer.
Als die Lehrerin die Aufsätze zurückgab - wie immer die Arbeiten mit den guten Noten zuerst - glaubte ich, dass sie mein Heft vergessen hätte. Nachdem der schlechteste Schüler sein Heft eingesteckt hatte, sagte die Lehrerin: "Kommen wir nun zu einem ganz besonderen Aufsatz." - "Huch", dachte ich, "so gut ist er ja nun auch wieder nicht!", und errötete vor Stolz.
Indessen sprach die Lehrerin weiter: "Hier hat jemand eine ganz ausgefallene Wohnungseinrichtung. Erkläre mir doch einmal, Seeger, was eine Anrichte ist?" Ich erklärte. "Ahaa,", triumphierte sie, "es handelt sich also um einen kleinen Küchenschrank. Du hast soviel geschrieben, aber diese Formulierung war dir wohl zu lang? Dann heißt es "Koh-len-ka-sten", und nicht so, wie du das Wort verstümmelt hast. Auch heißt es "Gaskocher", das schreibst du zehnmal, ebenso das Wort "Radio", das schreibt man doch nicht mit j, man hört doch das i, oder bist du taub? Nun erkläre mir bitte noch, was eine Kochmaschine ist." Ich sagte, dass die Oma den gemauerten Herd so nennt. "Siehst du," sagte sie heiter, "so hättest du schreiben müssen. Es gibt keine Maschine, die kochen kann. Und nun komm nach vorn und schreibe das Wort "Kleiderspind" an die Tafel, "Spind" kommt ja in deinem Aufsatz mehrmals vor."
Ich schrieb das Wort so an, wie ich es für richtig hielt. Mit großer Befriedigung in der Stimme sagte sie: "Du hast dich tatsächlich nicht verschrieben. Das Wort heißt "Spind", es kommt nicht von "spinnen". Und außerdem bedeutet es Schrank, ihr habt Schränke, nicht Spinde. Und "Vertiko" wird mit "v" geschrieben. Fremdwörter solltest DU lieber vermeiden. "Chaiselongue" enthält gleich mehrere Fehler, deshalb musst du das Wort auch nicht berichtigen, du hast an den anderen Fehlern wirklich genug zu tun. Nun noch das, was mich in die größte Verlegenheit gebracht hat: Was, bitte, ist ein "Rejelata"?"
Mein Gesicht glühte vor Scham. Was konnte ich dafür, dass Ida so sprach? Leise antwortete ich: "Det is die jroße Uhr." - "Aha, also eine Uhr, ein Re-gu-la-tor! Eine Uhr ist ebenso wenig ein Möbelstück wie der Ofen, den du ja auch angeführt hast."
Ich erklärte, dass ich die Uhr für ein Möbel ansah, weil sie aus Holz und fast zwei Meter hoch war. Die Lehrerin schüttelte unduldsam den Kopf: "Uhr bleibt Uhr und ist kein Möbel. So muss ich dir für Inhalt und Ausdruck die Note 4 geben, ebenso für die Schrift."
Nun wollte ich erklären, dass am Vortag ein Mitschüler meinen Federhalter aufgestaucht hatte, die Feder daher verbogen war und ich beim besten Willen nicht sauberer schreiben konnte. Mit honigsüßem Lächeln fragte sie: "Du bist immer unschuldig, nicht wahr?" Mit einiger Schärfe in der Stimme fuhr sie fort: "Steh auf, wenn ich mit dir rede!" Solange durfte ich sitzen bleiben, jetzt sollte ich plötzlich aufstehen! Am liebsten hätte ich gesagt: "Jetzt versuche ich mit Ihnen zu reden, und ich weiß nicht, warum meine Klassenkameraden mich nicht mögen!" Stattdessen erhob ich mich langsam aus der Bank, senkte den Kopf und schwieg. Sie gab mir mein Heft und sagte überlegen: "Setz dich bloß wieder hin, du lahme Ente!"
Die Klasse johlte. Tagelang hieß es noch: "Die Seechern spinnt!"
Die Lehrerin hatte "Scheeselonk" im Ganzen unterstrichen, und ich wusste nicht, welche Buchstaben darin falsch waren. Sie hatte zwar gesagt, dass ich das Wort nicht berichtigen muss, aber ich erkundigte mich bei Irma nach der Schreibweise und schrieb es mit zu den berichtigenden Worten, zehnmal, wie die anderen.
Ein paar Tage später sagte die Lehrerin: "Ich habe mir gestern Eure Berichtigungen angesehen. Ihr habt das alle sehr gut gemacht. Seeger, komm doch mal an die Tafel und schreibe das französische Wort für "Sofa" an die Tafel." Stolz schrieb ich es fehlerfrei an. Wieder hatten meine Klassenkameraden etwas zu lachen. Für sie hieß das "scheiße lang", und auf dem Heimweg hatte ich ihren Spottgesang: "Seecha, Seecha, scheiße lang!" zu ertragen.
Warum hatte die Lehrerin mich vor den anderen so lächerlich gemacht?
Jahre später las ich in einem Roman, dass nichts eine Gemeinschaft so fest zusammenhält, wie gemeinsame Ziele, besonders, wenn sie sich gegen etwas oder Jemanden richten. Ich hatte also für den Zusammenhalt des Klassenkollektivs gesorgt. Befremdlich ist nur die Tatsache, dass die Lehrerin sich zu diesem Zwecke das sozial schwächste Kind ausgesucht hatte. Niemals vergesse ich das hämische Grinsen in ihrem Gesicht ob ihres Erfolges. Jahrzehntelang sah ich meinen Gesprächspartnern nicht ins Gesicht, aus Furcht, abermals solch einem niederträchtigen Lächeln zu begegnen.
Damals wusste ich - laut Ida - dass alles richtig ist, was Erwachsene tun. Ich maßte mir kein Urteil über meine Lehrerin an. Ich habe sie nicht gehasst oder verachtet. Ich war nur immer wieder verletzt durch ihr Verhalten. Es tat mir sehr leid, ihren Erwartungen nicht zu entsprechen, obwohl ich mir stets die größte Mühe gab. Sie gehörte zu den Menschen, deren Gesicht ich vergaß, sobald sie mir den Rücken zuwandten. So kann ich heute beim besten Willen nicht sagen, ob sie wirklich kurze, tiefschwarze Locken, einen dunkelrot geschminkten Mund, eine schlanke, drahtige Figur hatte und hohe Stöckelschuhe trug und etwa 35 Jahre alt war - ich habe diese Erscheinung im Unterbewusstsein und jedes Mal, wenn eine Frau von diesem Äußeren in meinen Gesichtskreis tritt, bekomme ich ein Signal: "Vorsicht! Gift!" Aber ich bin als moderne Frau dahingehend aufgeklärt, dass es nichts Übersinnliches gibt, so muss mir jeder Mensch erst mal beweisen, dass er tatsächlich so ist, wie er aussieht. Und dennoch - wie oft und wie gerne - glaube ich dem schönen Schein!
Irgendwann im zweiten Schuljahr kamen drei Leute in unsere Klasse, die sich mit jedem Kind ausführlich unterhielten. Es ging um unsere körperliche Gesundheit und um unser seelisches Gleichgewicht. Der Arzt war mit meinem Rücken nicht so recht zufrieden, aber ich versicherte ihm, dass mir nichts wehtat. Die Psychologin hielt sich ziemlich lange mit mir auf. Sie kam sogar am anderen Tag wieder, weil ihr eine meiner Bemerkungen keine Ruhe gelassen hatte: "Wenn ick die Ooren (Augen) janz feste zumache, denn seh ick Monnefratzn."
Das war ein von Grete L. benutztes Wort für karikierte Gesichter. Die Psychologin bat mich, ihr so eine Fratze aufzuzeichnen und fand meine Produktion hochinteressant. Sie hatte Buntstifte mitgebracht und ich kritzelte freudig auf großem Zeichenpapier die entsetzlichsten Gesichter, die sich meine Phantasie ausmalte. Besorgt fragte die Psychologin: "Hast du keine Angst vor denen?" - "Nee", lachte ich, "det sin doch nur Fratzn, die duhn jarnischt, da brauch ick keene Angst haam, da sin ja keene Arme un Beene, nur Ooren und manchma ne lange Zunge."
Als ich in die 3. Klasse ging, hatte ich im Mai eine schwere Grippe. Unser Hausarzt war gerade dabei, die Praxis an seinen Sohn weiterzugeben, so musste ich zu einem anderen Arzt. In der Gustav-Adolf-Str. - Ecke Langhansstr. gab es einen Allgemeinmediziner, dort wurde ich hingeschickt.
Ich hatte mir keinerlei Beschäftigung mitgenommen - ich wusste noch nicht, wie lange man in einem Wartezimmer warten kann, bis man aufgerufen wird - und blickte gelangweilt aus dem Fenster. Im gegenüberliegenden Wohnhaus erspähte ich nach einiger Zeit eine meiner Klassenkameradinnen. Wir hielten ein kurzes Gespräch, kurz deshalb, weil ich laut rufen musste, um mich verständlich zu machen. Einer der Patienten schloss das Fenster, um seine Ruhe zu haben.
Als ich nach meiner Genesung wieder in die Schule kam und meinen Entschuldigungszettel abgab, den der Lehrer laut vorlas, keifte meine Klassenkameradin: "Die wah ja janich krank, ick hab ihr doch int jejenübaliejende Haus jesehn, wo se zu Besuch wa!" Ich sagte: "Ja, da wah ick zu Besuch bei n Aazt! Wenn de nachher zu Hause jeehst, kannst de det Aaztschild an det Eckhaus lesn. Det Waatezimma is jenau uff de Ecke, von da aus ham wir uns untahaltn."
Erstmalig hatte ich mich erfolgreich verteidigt! Aber ich war stark enttäuscht von dieser Klassenkameradin, die sich so freundlich mit mir von Fenster zu Fenster unterhielt und mich dann der Lüge bezichtigte! Auch wunderte ich mich darüber, dass sie augenscheinlich nie soviel Interesse aufgebracht hatte, das große Emailleschild durchzulesen, an welchem sie täglich mindestens zweimal vorüber kam. Der Lehrer unterbrach: "Privatgespräche finden nach Schulschluss statt".
Etliche Tage später wurde ein wenig beliebter Schüler vom Deutschlehrer stark gelobt, weil er seine Schrift erheblich verbessert hatte. Alle standen um seine Schulbank herum und bewunderten die Leistung. Nun wurde auch ich neugierig und warf einen Blick in das Heft. Was ich sah, entsetzte mich. Hatte denn dieser Junge zu Hause niemanden, der ihm das Heft solange um die Ohren schlug, bis er ordentlich schreiben konnte? Was da gelobt wurde, waren kaum entzifferbare Krakel, der Junge konnte unmöglich vorher noch unleserlicher geschrieben haben!
Zornig nahm ich seinen Bleistift und rief: "Weeßte, wat de dafor vadient hast? Dette!" und strich das Geschriebene so heftig durch, dass die Heftseite riss. Der Junge begann zu weinen und sofort tat er mir leid. Es tat mir leid, was ich getan hatte. Der Lehrer packte mich am Kinn und schüttelte mich, dass ich den Boden unter den Füßen verlor. Er schimpfte mich aus und wandte sich dann ab. Von meinen Klassenkameraden wurde mir Klassenkeile angedroht. In der Pause berieten sie miteinander und beschlossen, dass der geschmähte Schüler mir eine Ohrfeige geben darf. Ich lief nicht davon, sondern nahm meine Strafe - die ich als gerecht empfand - an. Doch als er mir eine weitere Ohrfeige verpassen wollte, setzte ich mich zur Wehr und besiegte ihn. Die Mitschüler akzeptierten es. Ich ging heim, unsicher, ob ich mich oder die anderen verachten soll oder darf.
Da wir im dritten Schuljahr eine neue Klassenlehrerin bekamen, erfuhren wir zur Weihnachtszeit, was "Julklapp" ist und die Klasse beschloss, einen Julklapp durchzuführen. Auch ich zog begeistert ein Los. Ida schimpfte: "Ick hab doch keen Jeld nich for Jeschenke for fremde Jörn, du deemlijet Kamel!" Am anderen Tag versuchte ich, mein Los zurückzugeben, aber die Lehrerin sagte: "Du wirst dich doch nicht aus dem Klassenkollektiv ausschließen wollen! Deine Oma wird wohl wenigstens fünfzig Pfennig übrig haben!"
So überredete ich Ida beim nächsten Einkauf, dass sie als Julklapp-Geschenk eine Schachtel Pfefferkuchenherzen kauft. Diese Schachtel war gestaltet wie das Hexenhaus aus "Hänsel und Gretel" und ich hätte selbst allzugern eine solche Schachtel gehabt, wagte aber nie, darum zu bitten.
Irma wickelte mir die Schachtel in Geschenkpapier ein und band auch eine schöne Schleife darum, nachdem sie gesehen hatte, dass ich das Geschenk in grobes Packpapier eingeschlagen und einen Schnipsgummi zur Befestigung verwendet hatte. Das waren die Materialien, die ich von Ida bekommen hatte.
Als ich mein Geschenk in den Julklapp-Sack versenkte, sah trotz aller Vorsicht jeder, was ich da zu verschenken gedachte. Ein Junge sagte: "Die hat wirklich nur fuffzich Fennich ausjejeben!" Ein Mädchen rief daraufhin: "Na, wehe dir, wenn ick det krieje! Ick hau dir det solange um de Ohrn, bis de weeßt, wat sich jehört!"
Ich schämte mich unendlich und war böse auf die Lehrerin, die mich nicht vom Julklapp befreit hatte. Das Geschenk, das ich erhielt, habe ich unausgewickelt dem Kind gegeben, welches schon über das billige Pfefferkuchenhaus weinte. So war ich vor der Klasse rehabilitiert.
In den nächsten Jahren verschenkte ich Bücher, die ich zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekommen hatte. Da ich sie pfleglich behandelte, sahen sie wie neu aus.
In der sechsten Klasse bekam ich zum Julklapp etwas, das wie gekauft aussah. Es handelte sich um ein "Näh-Karussel". Acht Spulen Nähgarn und -seide waren zwischen einer Trommel befestigt, auf welcher ein Nadelkissen trohnte. Doch in jenem Jahr hatte ich gerade entdeckt, dass ich genauso herumtoben kann wie ein Junge und interessierte mich nicht im geringsten für Näharbeit, für die ich ja laut Ida auch viel zu dämlich war.
Der Junge, der mir das Geschenk gemacht hatte, bemerkte meinen abfälligen Blick und fragte: "Gefällt es dir nicht?" Ich klärte ihn auf. Er sagte: "Aber das habe ich selbst gemacht!" Nun bewunderte ich seine Kunstfertigkeit und versprach, das Geschenk in Ehren zu halten. Doch in der nächsten Heizperiode nahm Ida das kleine Kunstwerk auseinander, tat die Nähutensilien in ihr Nähkästchen und steckte das verbleibende Holz in den Ofen.
In der vierten Klasse bekamen wir einen neuen Zeichenlehrer. Während wir zeichneten, ging er von Tisch zu Tisch und half uns bei der perspektivischen Darstellung. Bei mir hatte er nichts zu helfen. Wir sollten ein Fabrikgebäude zeichnen, welches später mit Tusche einen realistischen Anstrich erhalten sollte. Ich verpasste meiner Fabrik einen Anstrich, den ich aus hellrot und lila zusammengemischt hatte. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten grau oder gelb gewählt, ich aber hatte genau den Farbton getroffen, den Fabriken aufwiesen. Das Lob des Lehrers und die gute Zensur freuten mich jahrelang.
Weil ich so gerne sang, trat ich - gerade zehnjährig - dem Schulchor bei. Es ging mir im Wesentlichen darum, mit anderen zu singen. Ich stillte hier mein kindliches Harmoniebedürfnis, das übrigens noch heute in mir wach ist. Ich war sehr glücklich, im Schulchor neue Lieder zu lernen, Lieder, die ich bei Ida nie kennen gelernt hätte. Deutsche Volkslieder, Lieder anderer Völker, Lieder von Völkerfrieden und Menschenliebe.
Meldete ich mich bei Ida zur Chorstunde ab, sagte sie grinsend: "Jaja, jeh sing." Bei Familie L. war "jeh sing" eine höfliche Umschreibung für "verpiss dich". Ich versäumte keine Übungsstunde und gehörte zwölfjährig zum Kreise derjenigen, die öffentlich auftreten durften. Wir sangen zur Einschulung der Erstklässler, zur Jugendweihe, zum Schulabgang und in Altersheimen. Ein wahres Glücksgefühl durchströmte mich, mit Fug und Recht die Bühne betreten zu dürfen! Mit dem Chor. Niemals hätte ich allein eine Bühne betreten, selbst dann nicht, wenn keine Zuschauer in der Nähe waren! Und ich achtete darauf, nicht zu sehen zu sein, wenn ich auf die Bühne kam bzw. sie verließ. Ich wusste, dass ich ein "Trampel" bin und wollte den Chor nicht diskreditieren. Es genügte mir, dabei zu sein. Später schob man mich in die zweite, dann gar in die erste Reihe, weil ich so klein war.
Die Schulkinder der DDR wurden seinerzeit klassenweise regelmäßig zu Zahnarzt geführt. Jahrelang registrierte der Arzt, dass bei mir alles einwandfrei ist. Ich war stolz auf meine tadellosen Zähne. Aber am Tag des Zahnarztbesuches in der sechsten Klasse hatte ich sie nicht geputzt. Der Schulzahnarzt fühlte sich bemüßigt, mir eine Plombe einzusetzen. Ich hatte zeitlebens nur einmal Zahnschwierigkeiten - als mir ein "Weisheitszahn" wuchs. Er musste gezogen werden. Jener vom Schulzahnarzt sanierter Zahn verlor nach einigen Wochen seine Füllung und hat mir niemals irgendwelche Schwierigkeiten gemacht, außer, dass ich die Essenreste aus ihm herausklauben muss. Aber meine Schulkameraden waren damals recht schadenfroh - die Seechern hat n kaputten Zahn! Gerade war ich dabei, in der Klasse Freunde zu gewinnen, und dann das! Wenn ein Zahn krank ist, macht er immer wieder Schwierigkeiten. Jener Zahnarzt hat mir einen gesunden Zahn angebohrt und mich gleichzeitig - ohne es zu wissen oder gar zu wollen - meines Prestiges in der Schulklasse beraubt.
In der 5.Klasse wurden wir zum Schwimm-Unterricht in die Gartenstraße geführt. Gartenstraße - welch romantischer Name für eine Straße, in welcher lediglich ein paar Bäume standen! Meine Mitschüler waren undiszipliniert wie immer, die Straßenbahnfahrt also stressig für mich. Ich bemitleidete die uns begleitende Lehrerin, die vergeblich versuchte, Disziplin herzustellen. In der - übrigens ältesten Badeanstalt Berlins - angekommen, hatten wir uns in der dritten Etage zu entkleiden und dann nackt ins Parterre zu gehen, wo wir uns duschen sollten, bevor wir in die Badeanzüge schlüpfen. Ich wurde in die äußerste Ecke gedrängt, bis ich mich ausziehen konnte.
Ich wollte sehr gerne schwimmen lernen, schwimmen zu können betrachtete ich als heldenhaft. Ich erschrak, als ich Nackedei im Treppenhaus den gewöhnlichen Besuchern der Badeanstalt begegnete. Rasch lief ich nach unten zu den Duschkabinen. Keine war für mich frei. Ich bog um die Ecke, weil ich von dort Duschgeräusche hörte und stand plötzlich im Duschraum für Männer. Ich kehrte beim Anblick eines nackten Mannes sofort um, es war mir klar, eine Grenze überschritten zu haben.
Endlich fand ich eine freie Kabine und duschte mich rasch, denn meine Klassenkameraden waren längst fertig. Der Schwimmlehrer betrachtete uns und stellte fest, dass ich nicht ganz sauber war. Er schickte mich zurück in die Dusche. Ich wusch mich mit aller Kraft und kehrte zum Beckenrand zurück. Der Schwimmlehrer hatte inzwischen einiges an Theoretischem verlauten lassen, bei meiner Rückkunft standen meine Klassenkameraden noch am Ort. Nun betrachtete er mich und sagte, dass meine Füße immer noch nicht sauber seien. Ich hatte im Sommer auf den nackten Füßen Sandalen getragen, so hatte ich Streifen auf dem Spann. Er rief eine Frau, die mich Dreckschwein waschen sollte. Sie wusch mich und ich heulte.
Als ich dann an den Beckenrand trat, waren alle mit dem "Trockenschwimmen" fertig und wir durften ins Wasser. Ich bekam einen Schwimmring und durfte im Wasser plantschen. Den Unterricht hatte ich verpasst. Auf dem Heimweg wurde ich von meinen Klassenkameradinnen böse beschimpft, weil ich so eine ausgesprochene Drecksau war. Ich hatte zu jener Zeit nämlich eine sonderbare Pigmentverfärbung: Auf meinem Bauch befand sich ein nahezu senkrechter Strich, die linke Bauchseite war dunkler als die rechte und obendrein fleckig. Da half kein Waschen und kein Baden, die Verfärbung blieb. Ich hatte schon häufig daran herumgeschrubbt, aber außer einer Rötung der Haut nichts erreicht. Ich schämte mich so sehr für meinen fleckigen Bauch, dass ich mit keinem Wort meine Klassenkameraden oder gar den Schwimmlehrer aufklären konnte. Auch hätte ich zum Beweis den Bauch herzeigen müssen, dazu war ich nicht gewillt, weil sich meine Brust bereits entwickelte. Ich war mit keiner meiner Klassenkameradinnen so vertraut, dass ich ihr meinen Bauch gezeigt hätte.
Fürderhin erfand ich Ausreden, wenn "Schwimmen" angesagt war. Ich wollte nicht als Nackedei auf einer Hintertreppe besichtigt werden, ich wollte nicht als Dreckschwein gelten - ich gab den Wunsch auf, schwimmen zu lernen. Als ich an einem Tage keine Ausrede wusste, stieg ich sogar aus der Straßenbahn heimlich wieder aus und lief nach Hause. In diesem Jahr erhielt ich für das Fach "Körpererziehung" die Note 5.
In der 7. Klasse hatte ich viel Spaß am Chemie-Unterricht. Die Bezeichnungen der Elemente regten meine Phantasie an. Ich bemühte mich, alle Elemente mit Namen benennen zu können (ich kann noch heute innerhalb von fünf Minuten 70 - 80 chemische Elemente nennen). Ich saß in der Stube und paukte mir die Bezeichnungen ein, sagte sie laut auf wie ein Gedicht. Ida kam aus der Küche: "Wat quasselst du denn hier die janze Zeit? Ick dachte schon, du hast hier heimlich dein Bruda rinjelassn!" Ich antwortete leichthin: "Ick lerne die Elemente." - "Wat, un dafor brauchst de so lange? Die Elemente heißn Feua, Wassa, Luft un Erde, dafor braucht man doch bloß eeen mal Luftholn!"
Ich grinste: "Ja, Oma, im Mittelalter war det so. Nu hat die Wissnschaft festjeschtellt, det diese vier Elemente jar keene sind, sondan aus viele kleene Teilchen zusammjesetzt sind. Et sind ne Menge neue Elemente entdeckt worden. Wassa z.B. beschteht aus zwee Elemente und die Luft aus einem Jasjemisch." - "Wat? Aus Jas? Jas is doch jifftich, du blödet Kamel, det kann doch jar nich sin!", entgegnete sie erregt. "Ja, Oma, du hast schon recht, jedet Jas einzeln is jifftich, aba in der richtjen Mischung is et ehmd tatsächlich atembare Luft. Die Wissenschaft . . ." Sie unterbrach mich unwirsch: "Die Wissenschaft hat festjeschdellt, det Marmelade Fett enthält, ja, ja. Un wozu wird dir det nu nützn, det de det weeßt, wie det neue Zeuch allet heeßt?" - "Na, is et nich schön, zu wissen, wat die Welt im Innersten zusammenhält?" - "Komm du - olle Kuh - mir nu - nich noch mit Jööte!", rief sie erbost und entschwand wieder in die Küche. Ich amüsiere mich noch heute darüber, dass sie unbewusst rhythmisch gesprochen hatte.
In der achten Klasse gelang es mir endlich, mit einigen meiner Klassenkameraden zu reden. Ich beteiligte mich an den Mutproben der Jungen und es gab Mitschüler, die bei mir "abschreiben" wollten. Ich wies sie ab, denn Schummeln hilft nicht, die Prüfungen zu bestehen. Ich sagte ihnen: "Wenn du vor der Prüfungskommission stehst, dann musst du das wissen, dann musst du das können! Es nützt dir nichts, wenn du es bei mir abschreibst, davon kommt es nicht in deinen Kopf! Du musst es selber lernen, selber essen macht fett, selber lernen macht schlau!"
In der achten Klasse bekamen wir einen Klassenkameraden, der seinen Sitzplatz schräg vor mir hatte. Er war ein stiller Junge, tobte in den Pausen nicht herum wie die anderen, sondern blieb - genau wie ich - auf dem Platz sitzen. So kamen wir schließlich ins Gespräch miteinander. Er stotterte stark, das war der Grund, weshalb er sich nie meldete. Er teilte mir sein großes Bedauern über diese Benachteiligung mit und ich erwiderte: "Wenn du singst, dann stotterst du nich. Wie wäre et denn, wenn du beim Sprechen an eene Melodie denkst? Sprich langsam und denk an eene Melodie, vielleicht klappts." Und es funktionierte tatsächlich! Der Junge verbesserte seine Zensuren und wurde fröhlicher.
Ich hatte nicht das Gefühl, in meinen Klassenkameraden Freunde gewonnen zu haben. Ich wurde akzeptiert, wie ich sie akzeptierte. Bei den Mädchen war das etwas schwieriger. Die, die ich gern näher kennen gelernt hätte, wiesen mich mit aller Härte ab. Und die anderen, die Farblosen, interessierten mich nicht. Sie versuchten aber auch nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Wenn der Unterricht vorbei war, eilte jede stracks nach Hause. Ich auch. Nach Schulschluss kannte ich meine Klassenkameraden nicht mehr.