flammarion
Foren-Redakteur
Old Icke macht Besuche
Als ich das erste Schuljahr absolvierte, erreichte einer unserer Lehrer das Rentenalter. Er verabschiedete sich von uns mit den Worten: "Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mich mal besuchen würdet, ich wohne in der Tasso-Straße." Diese Straße kannte ich, da waren wir kürzlich vorbeigekommen, als Ida ein Amt in der Parkstraße aufzusuchen hatte.
An einem herrlichen Feriensommersonntag fasste ich den Entschluss, bei dem strahlenden Sonnenschein nicht in die dustere Kirche zu gehen, sondern einen Spaziergang zum Weißen See zu machen. Das war die Grundsteinlegung zu meinen späteren Wanderungen. Am Weißen See gab es mehrere Wiesen, auf denen viele verwilderte Gartenblumen blühten. Ich pflückte hier eine und dort zwei, und immer so weiter, bis ich einen großen Strauß zusammen hatte, der mir sehr gut gefiel. Ich stellte mir vor, wie ich ihn der Ida überreichte und hörte sie sagen: "Wat soll ick denn mit det Unkraut, du dummet Polk?"
Ich war schon im Begriff, den Strauß am Wegesrand abzulegen in der Hoffnung, dass er einem Vorübergehenden gefallen würde, da fiel mir die Einladung des Lehrers ein. Die Tasso-Straße war ja hier ganz in der Nähe, und vielleicht gefiel dem netten alten Herrn der Strauß! Gedacht, getan. Sein mit Säulen reich verziertes Wohnhaus erschien mir wie ein Schloss. Zögernd drückte ich den Klingelknopf. Das Herz schlug mir bis in den Hals hinauf. Ich war schon drauf und dran, hasenfüßig davonzulaufen, als die Tür aufging und eine freundliche Dame von unbestimmbarem Alter mich anlächelte und fragte: "Na, du Kleine, was führt dich zu uns?"
Sie hatte ein unauffälliges Make-up und eine tadellose Frisur und sie trug ein gerade geschnittenes helles Leinenkleid mit dezenter Folklorestickerei. Ich hatte nie zuvor eine so elegante Erscheinung gesehen. Endlich fand ich die Sprache wieder und sagte hastig: "Ick wollte den Leera besuchen, er hat ja unse janze Klasse injeladn, aba ick jloobe, die annan wern nich komm." Ihr Lächeln wurde noch freundlicher: "In welche Schule gehst du denn?" - "Ick jeh in der siehmten Schule, un da in der erstn Klasse, det heeßt, ick komm in der zweeten, wenn die Schule wieda losfängt." - "Na, dann komm mal rein, meine Kleine. Mein Mann ist zwar nicht zu Hause, aber du wirst sicher gern ein paar Kekse essen wollen."
Diese Aussicht entzückte mich. Kekse gab es bei uns bestenfalls zu Weihnachten. Ich rief: "Au ja! Au jaa! Keekse eß ick für mein Lehm jern!" Ich begann unwillkürlich zu gestikulieren, wobei mir endlich auch der Grund meines Besuches in die Augen fiel. "Ick ha ooch Bluhm mitjebracht. Is ja man allet bloß Unkraut, aba hübsch, nich?" - "Oh ja, das ist ein wundervoller Sommerstrauß. Wo hast du den denn gekauft?" - "Ach nee! Nee, nee, Mensch, für koofn ha ick doch keen Jeld nich. So ne Bluhm wachsn am Weißn See uffe Wiese, da ha k se her." - "Ach, wie lieb! Ein selbstgepflückter Strauß! Und so hübsch zusammengestellt!" - "Nee, nee, ick ha bloß een Stiel zun annern jeleecht." Sie blickte mich irritiert an, sah aber sofort, dass da keine Bosheit, sondern nur kindlicher Unverstand sprach.
Sie führte mich in ihre kleine Küche, die ich als hübsch und reinlich empfand, tat die Blumen in eine passende Vase - die Art, wie sie mit dem Strauß umging, verschaffte mir ein wahres Glücksgefühl. Hier wurde etwas geachtet, das ich nach meinem Geschmack geschaffen hatte! - und gab mir ein duftendes Stück Seife, damit ich mir vor dem Essen die Hände waschen konnte, denn ich hatte ja während des Blumenpflückens auf der Prärie mit Bären und Wölfen gerungen, mit Indianern Blutsbrüderschaft geschlossen und Büffel gejagt, war durch tiefe Wälder und Sümpfe gezogen und sah nun auch ganz danach aus.
Als ich sauber war, war auch der Kakao warm - Kakao, noch so etwas, das ich sonst nur zu Weihnachten bekam! - und die Kekse wurden in die Stube getragen, wo wir uns an einen kleinen runden Lacktisch setzten, der mit reicher Intarsienarbeit verziert war. Der Tisch war so schön, dass ich es kaum fassen konnte, dass Teller und Tassen darauf gestellt wurden!
Während die Lehrersfrau den Kakao eingoss, gab ich meiner Verwunderung Ausdruck: "Ick dürf inne Schtube? Bei Oma kommt der Besuch nur inne Küche." - "Ja, warum das denn?" - "Weil wir inne Schtube bloß een Stuhl ham, un da leje ick imma ahms meine Sachen ruff, wenn ick im Bett jehe." Sie verkniff sich mühselig das Lachen und fragte: "Ja, wird denn der Stuhl dadurch unbenutzbar?"
Ich merkte, dass ich mich falsch ausgedrückt hatte und zählte nun das gesamte Mobiliar nebst Standort auf. Sie bremste mich bald: "Ist ja gut, Kleine, das brauchst du mir doch gar nicht alles zu erzählen." Hastig fiel ich ein: "Nee, nee, ick will ja man bloß, det Sie mir richtich vaschteehn." Sie seufzte: "Es ist tatsächlich nicht ganz einfach, dich zu verstehen. Du sagtest vorhin, du gehst in der siebenten Schule und in der ersten Klasse; aber es ist doch nicht so, dass du da den ganzen Tag hin- und herläufst. Du gehst in DIE Schule und in DIE Klasse. Ebenso verhält es sich mit deinem Bett. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Oma Dir erlaubt, im Bett herumzulaufen. Es muss also heißen: Ich gehe ins Bett, nicht im." Stark beeindruckt, sagte ich nun: "Det wer ick ma merkn. Det is ja doll, ej, det so n pa Buchschtahm jleich n janz annern Sinn jehm!" Genau genommen weckte diese Frau meinen Intellekt und pflanzte eine innige Liebe zur deutschen Sprache in mich, die später durch die Freundin meiner Mutter weiter entwickelt wurde. Ich lernte an jenem Tag mehr als in einer Schulwoche.
In der Zwischenzeit hatte ich mit gutem Appetit die köstlichen Kekse restlos verzehrt. Die Lehrersfrau ging in die Küche, um Nachschub zu holen. Währenddessen blickte ich mich im Zimmer um. Nie zuvor hatte ich soviel fremdartigen Zierrat gesehen wie hier. Als die Frau wieder hereinkam, sagte ich, ganz in Idas Tonfall: "Na, Sie ham aba ne Menge Schtaubfänga." Erschrocken fragte sie: "Wo siehst du Staub, Kind?" - "Nee, nee, det is schon allet prima sauba hier, aber hier stehn übaall ne Menge Schtaubfänga." - "Ja, was ist denn das? Zeig mir doch mal einen!" - "Na, ditte da!", sagte ich überlegen und wies auf die Figuren und ausgestopften Tiere auf dem Schrank, auf die afrikanischen Schilde und die japanischen Schwerter an der Wand, das aus Elfenbein geschnitzte indische Schachspiel auf dem Nebentisch und die chinesische Deckelvase in der Zimmerecke. Während ich genüsslich Kekse knabberte, erklärte sie mir Herkunft und Bedeutung jedes Gegenstandes. Sie erklärte so viel, dass ich am Ende nur begriffen hatte, dass es sich bei all den Gegenständen um Reiseandenken von ihr und ihrem Mann handelte, und ich erzählte ihr von der Brockenhexe, die Gerda kürzlich der Ida von einer Harzreise mitgebracht hatte. Dieser Staubfänger wanderte in der folgenden Heizperiode in den Ofen.
Ich wollte zum Schluss noch etwas Nettes sagen: "Det is ja janz irre schnafte, det Sie so ville schöne Kinkerlitzchen hahm!" Sie erwiderte ernst: "Ich wundere mich immer wieder, wie du mit unserer schönen deutschen Sprache umgehst. Sie hat es nicht verdient, so verschandelt zu werden." Ich spürte, es wäre ihr lieb gewesen, wenn ich nun bald den Heimweg antreten würde, aber ich konnte mich nicht trennen von dieser Frau, die so grundverschieden von allen mir bekannten war. Ich wollte ihre ruhige, angenehme Stimme noch mehr vornehme und gebildete Worte sagen hören. Und ich genoss es außerordentlich, einmal als Mensch behandelt zu werden und nicht als "dummet Polk".
So stellte ich mich dumm und fragte mit schief gelegtem Kopf: "Die deutsche Schprache is schön? Ja, jibts denn noch andre?" - "Aber gewiss doch, Kind, es gibt noch sehr viele andere Sprachen. Du hast mir doch vorhin erzählt, dass du einen Film gesehen hast, der in Afrika spielte ("Der 15 jährige Kapitän" nach Jules Verne)." Schnell fiel ich ihr in die Rede: "Ja, aba da ham ooch die Neejas deutsch jeschprochn!" - "Oh nein, der Film wurde synchronisiert, das heißt, es wurde alles ins Deutsche übersetzt, damit du es verstehst." - "Aha. Un wie schprechn nu die Neejas?" Nachdem sie mir einiges über Negerstämme und ihre Dialekte - unter Hinweis darauf, dass ich einen fürchterlichen Berliner Dialekt sprach - sowie über Kolonialismus erzählt hatte, kam der Lehrer nach Hause.
Er begrüßte mich höflich, freute sich über den Strauß oder tat zumindest so und fragte: "Wie lange darfst du denn bleiben?" Ich spürte, dass seine Einladung, ihn zu besuchen, nur eine Floskel gewesen war und dass seine Heimkunft für seine Frau die Erlösung von mir bedeutete. Ich antwortete übertrieben munter: "Wenn die Jlockn bimmeln, muss ick zu Hause." Er berichtigte gewohnheitsmäßig: "Nach Hause." Dann sah er auf seine Armbanduhr und konstatierte: "Die Glocken werden in einer halben Stunde läuten. Da du einen weiten Weg hast, schlage ich vor, dass du dich jetzt verabschiedest. Weil wir uns aber kaum miteinander unterhalten konnten, schenke ich dir etwas, woran du hoffentlich viel Freude hast."
Er holte aus der untersten Schublade eines Rokkokoschrankes ein kleines Segelschiff hervor, einen Dreimaster. Ich hätte vor Freude am liebsten einen hohen Luftsprung gemacht, aber ich spürte, dass ich mich in dieser Wohnung schon oft genug für einen Tag daneben benommen hatte. So strahlte ich ihn mit großen Augen an und lächelte mein allergrößtes Dankeschön: "Oh, det dürf ick behalten?" - "Ja, das darfst du behalten, und wenn du magst, dann besuch uns bald wieder." Diese Einladung schmeichelte mir, und ich jubelte: "Det mach ick!" Gleichzeitig war ich sicher, dass ich meinen Fuß nie wieder auf ihre Schwelle setzen würde, denn die heimlichen Blicke, die sie miteinander tauschten, offenbarten mir, dass ich für sie ebenso exotisch war wie ihre Andenken aus aller Welt.
Der Heimweg führte mich am Weißen See vorbei, wo ich auf die Idee kam, sehen zu wollen, wie das Schiff schwimmt. Ich setzte es aufs Wasser. Es schwamm leicht krängend am Ufer entlang, bis eine Welle es aus meiner Reichweite führte. Ich versuchte, es mit einem Stock zu mir zu ziehen, aber der Stock war zu kurz. Mit großer Trauer sah ich zu, wie das Schiff mehr und mehr zur Seemitte hintrieb. Ich gab es verloren und trottete heim.
Erst nach 20 Uhr war ich zu Hause. Ich erzählte zu meiner Entschuldigung wahrheitsgemäß, wo ich war und was ich erlebt hatte. Ida sagte: "Na jut, sattjejessn biste also, da kann ick mir det Ahmdbrot sparn." Dann fragte sie: "Warum haste denn det Schiff nicht einfach erstma mit nach Hause jebracht, du dummet Polk?" - "Weil so n Seejelschiff Jungsschpielzeuch is un du det beschtimmt wieda an irrjend een Jung vakooft oda vaschenkt hättst!" - "Richtich", konstatierte sie, "un nu ab int Bette."
Ein paar Monate später:
Eine Klassenkameradin namens Helga hatte mich nach Schulschluss zu sich eingeladen, damit wir zusammen spielen könnten. Es war meine erste Einladung, so hüpfte ich munter neben ihr her. Sie sagte: "Bei mir zu Hause darfste aber nich so springen!" - "Nee, nee", tröstete ich sie, "ick weeß schon, det man inne Wohnung schtille is!"
Wir spielten in ihrem Zimmer Karten und "Mensch ärgere dich nicht". Sie lehrte mich Halma und Mühle. Dann kam ihre Mutter nach Hause und es gab Kaffee und Kuchen. Mitten in der Woche! Ich ließ es mir schmecken und versprühte meine Originalität in der ständigen Wiederholung erstaunter Ausrufe: "Ach, du jrüne Neune! Ach, du jrünet Ei! Ach, du jrüne Tinte! Ach, du jrüner Himmel!" Ich ignorierte ganz einfach, dass ich allen auf die Nerven ging. Es gefiel mir hier. Hier wurde weder geschimpft, noch über Abwesende hergezogen, hier wurde ich nicht bevormundet.
Wir spielten, bis die Mutter fragte, wann ich nach Hause muss. Ich wollte den Fehler nicht wiederholen, zu sagen, dass ich beim Glockenläuten erwartet wurde. Ich sagte: "Ne Weile kann ick schon noch bleim, uff mir wartet keena."
Dann gab es Abendbrot mit Wurst- und Käsesorten, die mir unbekannt waren. Aber es stand auch Schmalz auf dem Tisch. Das schmeckte gut! Ich aß vier Stullen und ignorierte die Bemerkung der Mutter über meinen undamenhaften Appetit.
Nach dem Abendbrot fragte sie: "Wird sich denn deine Oma auch keine Sorgen machen, wenn du so lange wegbleibst?" Die Sorgen gönnte ich ihr, denn sie hatte mir am Vortag wegen einer Nichtigkeit eine saftige Maulschelle verpasst. Ich sagte also: "Nee, um mir macht sich keena Sorjen."
Helga machte mich nun darauf aufmerksam, dass es Zeit zum Schlafengehen war. Ich hätte gern bei ihr übernachtet, ja, ich wäre am liebsten überhaupt nicht mehr nach Hause gegangen. Aber ihre Mutter sagte, dass sie an einem Kind mehr als genug hat. So trat ich den Heimweg an. Natürlich hatte Ida sich Sorgen gemacht. Im ersten Moment war diese Erkenntnis sehr wohltuend für mich, aber die dazugehörenden Beschimpfungen und Schläge lehrten mich, nie wieder derartige Sorgen zu verursachen.
Im darauf folgenden Sommer:
Da ich von meinen Klassenkameraden für meinen sonntäglichen Kirchgang gehänselt wurde, beschloss ich, nicht mehr in die Kirche zu gehen. Ich ging nun an den Sonntagen spazieren. Möglichst dort, wo es grün war, also durch die Gärten. So kommt man - ob man will oder nicht - von Weißensee über Heinersdorf nach Pankow. Kaum festgestellt, war ich auch schon auf dem Weg zu Tante Gerdas Haus. Ich freute mich darauf, sie außer der Reihe zu sehen.
Vor der Haustür kontrollierte ich, ob meine Hände sauber waren. Diesmal waren sie es - ich konnte sie unbesorgt der Tante zur Begrüßung reichen. Rasch strich ich noch das Kleid und die Haare zurecht, dann zog ich die Klingel. Es dauerte einen Moment, ehe die Tür geöffnet wurde. Ich wurde vor Freude schon zapplig - was wird Tante Gerda zu dieser Überraschung sagen? Sie wird sich freuen, ganz bestimmt wird sie sich freuen, denn ich bin doch wohl ein lieber Besuch! Sie wird mir eine Tasse Milch warm machen oder vielleicht hat sie sogar rote oder gelbe Brause da?
Ich strahlte über das ganze Gesicht, als sie endlich die Tür öffnete. Mich erkennend, erbleichte sie. Sie fragte angstvoll: "Is wat passiert mit Oma?" Ich schüttelte den Kopf und wunderte mich, dass sie meine Grußhand übersah. "Ja, warum kommst de denn denn her? Is wat mit Irma?" Ich verneinte und sagte: "Ick wollte euch besuchn komm, nur mal so, weil ick jrade in de Nähe wa." - "Wieso waast du hier jrade inne Nähe? Wat suchst du in Panko?"
Ich sagte, dass ich sonntags immer spazieren gehe. "Soso, schpatziern jehn un Besuche machn. For sowat biste doch noch ville zu kleene, Mensch!"
Sie zog ihre Kittelschürze aus, schlüpfte in Kleid und Schuhe, setzte ihr Hütchen auf, schrieb ihrem Mann, der auf dem Fußballplatz war, einen Zettel, nahm mich bei der Hand und fuhr mit mir zu Ida, wo sie mich wie ein Fundstück abgab. So war ich gründlich und für alle Zeiten davor gewarnt, irgendwo unangemeldet als Besuch zu erscheinen.
Etliche Jahre später - ich war gerade Mutter geworden - fasste ich dann doch noch einmal den Entschluss, Tante Gerda unangemeldet zu besuchen. Ich wollte das nach Idas Tod zwischen uns zerrissene Band neu knüpfen, meine Tochter der Familie vorstellen und nach Möglichkeit Gerda zur Oma meiner Tochter deklarieren.
Wieder stand ich erwartungsfroh vor ihrer Tür, fest davon überzeugt, dass das kleine Bündel Mensch in meinem Arm längst verklungene Saiten wieder zum Klingen bringen würde. Es war wie damals. Ich wunderte mich nicht darüber, dass es eine Weile dauerte, ehe die Tür geöffnet wurde, das kannte ich ja noch. Alfred öffnete. Oh Wunder, er war nicht auf dem Fußballplatz! Er blickte mich giftig an und sage: "DU??? Wat willst du denn hier uff n Sonntachnachmittach?"
Er drehte sich um und ließ die Tür offen. Ich war von diesem Empfang durchaus nicht entmutigt. Ich trat ein und fragte: "Is Tante Gerda zu Hause?" Da hörte ich schon ihre Stimme: "Wer isset denn, Pappa?" Er brummte irgendetwas, ließ sich in den Sessel fallen und steckte sich eine Zigarette an. Gerda war im Nachthemd.
Ich hatte nicht im geringsten geahnt, dass ich das alte Ehepaar beim Mittagsschlaf stören könnte. Sie kicherte: "Ach, du bist det?! Nach so ville Jahre! Wat haste denn da uff n Arm, Mensch? Ach, is der süß! Is doch n Junge, wa? Biste vaheirat? Na, nu setz dir ma hin, ick koch uns n Kaffe."
Ich folgte ihr in die Küche. Erstens wollte ich nicht mit Alfred alleine sein und meine kleine Tochter seinem Zigarettenqualm aussetzen, zweitens kam mir Gerda ein bisschen wacklig auf den Beinen vor und drittens wollte ich ihr beim Tischdecken helfen. Ich erzählte ihr rasch alles Wissenswerte.
Sie kicherte immer wieder. So kannte ich sie gar nicht! Erst am Kaffeetisch beruhigte sie sich langsam. Alfred hatte inzwischen den Fernseher eingeschaltet. Damals hatten noch nicht viele Leute einen Fernsehapparat.
Ich fand es toll, ein Kino in der Wohnung zu haben, wo man sich gleich an Ort und Stelle mitten im Film über das Geschehen unterhalten konnte. Ich wunderte mich, dass man mir nicht antwortete. Plötzlich sagte Alfred zornig: "Wenn de nich gleich de Klappe hältst, fliechste! Is sowieso ne Unvascheemtheit, hier ufft Wochende unanjemeldt uffzukreuzn, unvaheirat mit m Jör!"
Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Dann sagte ich schnoddrig: "Du hast damals die Zeit nich jenutzt, um mir Moral beizubring. Nu isset zu schpeet." Gerda schüttelte den Kopf: "Ihr werdt euch doch jetz hier nich zankn! Wat vorbei is, is vorbei, lasst ma die Vajangheit ruhn!"
Ohne es zu wollen, hatte sie mir mit diesen Worten klargemacht, dass sie absolut nicht meinen Vorstellungen von der Oma meiner Tochter entsprach. Ich stand auf, um mich zu verabschieden. Sie brachte mich zur Tür und sagte: "Ick hab mir sehr jefreut, det du dir ma hast blickn lassn. Komm ruhich ma wieder mit det Kleene, wenn Pappa nich da ist."
Ich nickte und wusste genau, dass ich sie nicht besuchen werde. Es widerte mich an, dass sie einen Mann, der als Vater völlig ungeeignet war und auch keine Kinder hatte, "Papa" nannte.
Dreißig Jahre später fiel mir ihr sonderbares Verhalten wieder ein. So reagiert man nicht, wenn man aus dem Schlaf gerissen wurde! Dieses Taumeln, dieses Kichern! Sie im Hemd und er komplett bekleidet! Bleibt nur die Vermutung, dass er ihr etwas eingegeben hatte, damit sie sein süßes, kleines Mädchen ist! Na, immer noch besser, als wenn er die kleinen Mädchen auf der Straße ansprechen würde!
Old Icke begegnet der Kleinkunst
Im Sommer 47 stand auf einem beräumten Ruinengrundstück in unserer Straße ein kleiner Rummel, zu dem auch ein Puppentheater gehörte, d.h. ein Puppenspieler hatte sich den Fahrgeschäften und Buden mit seinem Wohnzelt angeschlossen. Er gab nicht jeden Tag eine Vorstellung. Für uns, die wir ja noch gar nicht wussten, was ein Puppentheater ist, waren die Karussels und Buden viel interessanter. Wir hatten zwar kein Geld für Lose oder Wurfspiele, aber das Zusehen machte auch Spaß. Eines der Karussels hatte sogar eine Schallplatte, die den ganzen Tag dudelte: "Fahr mit mir nach Tahiti, mit mir nach Tahiti, mit mir . . ."
Eines Tages klebten viele bunte Plakate an allen Zäunen der näheren Umgebung, wo zu lesen war, dass der Puppenspieler am kommenden Sonntag eine große Kindervorstellung geben werde. Da alle Kinder aus der Nachbarschaft die Vorstellung ansehen wollten, bekamen auch wir die Erlaubnis dazu. Ich erinnere mich natürlich nicht mehr an den Inhalt des Stückes, ich weiß nur noch, dass wir alle stark ergriffen waren und dem Stück mit großer Geräuschkulisse folgten. Jeder Satz und jede Bewegung des Puppenspielers wurde von uns mit entsprechender Lautäußerung bedacht. Ich weiß auch nicht mehr, welcher Art die Puppen waren, ob Marionetten oder Handpuppen uns ein zauberhaftes Märchen vorführten.
Ich weiß nur, dass die Prinzessin blond und blauäugig war und ein Kleid aus weißer Spitze trug, der König trug einen dunkelblauen Samtmantel mit Pelzkragen, der Zauberer einen schwarzen Mantel und einen hohen, spitzen Hut, der Teufel aber war ganz in leuchtend rote Seide gekleidet. Der Kaspar war mit einem Anzug aus bunten Rauten angetan, er hatte kleine goldene Schellen an seiner langen Zipfelmütze sowie an seinen Händen und Füßen. Seine Pritsche war spiegelblank lackiert, weshalb er sie auch nicht benutzte, sondern nur spazieren trug.
Das Ganze war für mich überaus fantastisch. Ich war ganz der Welt entrückt und begriff es zuerst gar nicht, dass das Stück zu Ende und alles nur ein Märchen war. Die Leute begannen zu klatschen und der Puppenspieler trat vor den Vorhang, um sich zu verbeugen. Plötzlich war es unheimlich ruhig, dann brach ein Pfeifkonzert los.
Der Puppenspieler war nämlich ein großer Mann mit langen schwarzen Locken, er hatte einen dichten schwarzen Vollbart, der ihm bis auf die Brust reichte und er hatte tiefschwarze Augen. Er war nicht nur genau der Typ, der dem deutschen Volk bis vor kurzem noch als Untermensch hingestellt wurde, sondern er sah auch noch dem bösen Puppenspieler Barabas aus dem russischen Märchenfilm "Das goldene Schlüsselchen", den wir Kinder kürzlich im Kino gesehen hatten, sprechend ähnlich. Der Mensch, der uns eben noch mit seinem Spiel so restlos begeistert hatte, wurde nun ausgepfiffen und Barabas geschimpft. Waltraud befürchtete schlimmere Übergriffe und ging rasch mit mir nach Hause, wie immer, wenn es irgendwo brenzlig wurde.
Zu unserer Kindergemeinschaft gehörte ein etwa zwölfjähriger Junge, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe. Ich hatte zuwenig mit ihm zu tun. Er behauptete, mit dem Puppenspieler näher bekannt zu sein, auf sein Zelt aufpassen zu dürfen und auch manchmal die Puppen führen zu dürfen. Als wir alle nun diesen "Barabas" gesehen hatten, beschlossen die größeren Kinder unserer Gemeinschaft, dem "bösen Mann" die Puppen zu stehlen.
Wir wussten, dass das Zelt dicht verschlossen war und niemand einfach so hineingehen konnte. Kindern, die die Puppen nur mal anschauen wollten, erklärte der Puppenspieler, dass die Puppen seit mehreren Generationen im Besitz seiner Familie wären und einen großen historischen Wert besitzen, dass er sie daher nur mit größter Vorsicht und nur zu den Vorstellungen benutzt.
In dem kürzlich beendeten Krieg waren so viele Werte den Bach hinuntergegangen, dass wir Kinder absolut nicht begriffen, wieso Puppen jetzt nicht von Kindern angefasst werden sollen. Puppen sind Kinderspielzeug. Jeder einzelne von uns hätte mit den Puppen spielen können, nicht nur dieser Bärtige! - so dachten wir. Der Junge wurde beauftragt, uns die Puppen zu bringen. Er wehrte sich heftigst: "Nein, das tue ich nicht! Ich bringe euch die Puppen nicht! Niemals!" Blutend aus Gesicht und Händen verließ er die geheime Stätte unserer Zusammenkunft.
In den nächsten Tagen wurde das Zelt observiert. Die Führer unserer Gemeinschaft wollten die Puppen haben. Der eine den König, der nächste den Teufel, der andere die Prinzessin, der vierte den Zauberer. Der, der die Prinzessin wollte, wurde weniger heftig verlacht als der, der den Kaspar begehrte. Der Kaspar war eine Figur, die zum Auslachen und Verhöhnen da war.
Endlich war ein passender Zeitpunkt gefunden. Der Puppenspieler war mit Freunden in einer Kneipe - wir wussten, dass ein Mann eine Kneipe nur als Volltrunkener verlässt und hofften, dass der Puppenspieler wenigstens darin ein "Mann" war; sein jugendlicher "Aufpasser" war von uns abserviert worden, er ließ sich gewiss nicht mehr blicken - die Gelegenheit war günstig.
Aber keines der Kinder passte unter der dicht verschlossenen Zeltplane hindurch. So begannen sie auf mich einzureden, dass ich kleiner Murkel für sie in das Zelt kriechen soll und die Puppen herausholen, wenn es geht, alle, aber zumindest den Teufel. Ich schüttelte den Kopf. Mit dem Teufel wollte ich nichts zu tun haben.
Es gab auch sonst in dem Stück keine Figur, mit der ich mich identifizieren konnte. Für keine der vorgeführten Puppen hätte ich mein Seelenheil riskiert. Sie versprachen mir alles Mögliche, wenn ich nur irgendeine Puppe stehlen würde. Ich hatte die Worte unseres Pfarrers aber noch im Ohr, der da sagte: "Du sollst nicht stehlen! So spricht der Herr, dein Gott!" Ich grinste meine Verführer an und schüttelte weiter standhaft den Kopf.
Da sagte Waltraud bedauernd: "Wirklich schade! Du bist die eenzichste, die da rinjehn könnte! Vielleicht hat diesa Barabas doch wieda die Fee mit den blauen Haaarn jefang; die muss denn jetze uff eeewich bei ihm bleim!" Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie er die Fee wieder in seine Gewalt bekommen haben könnte, aber im Märchen ist schließlich alles möglich, und dieser Mann mit seinem langen schwarzen Vollbart kam eindeutig aus dem Märchenreich, soviel stand für mich fest. Die blauhaarige Fee durfte auf gar keinen Fall in seiner Gewalt bleiben!
Tapfer ging ich auf das Zelt zu und schob mich vorsichtig unter die Plane. Es war stockfinster in dem Zelt, aber ich wusste, dass sich meine Augen binnen kurzem an die Dunkelheit gewöhnen würden, und dann wollte ich solange suchen, bis ich entweder genau wusste, dass die Fee nicht hier war und ich sie also nicht retten konnte, oder ich würde auftragsgemäß den Teufel unserem Anführer bringen, die Prinzessin und den Zauberer denen, die nach ihnen verlangten, und den Kaspar hätte ich gerne mit seinem zukünftigen Besitzer geteilt. Ich wollte nicht, dass so zauberhafte Puppen unter einem bösen Mann leiden müssen.
Plötzlich erschütterten schwere Schritte den Boden hinter mir. Außerdem hörte ich die Kinder, die in gehöriger Entfernung auf meine Rückkunft warteten, schreiend davonlaufen. Eine große Hand packte meinen Fuß, der sich noch außerhalb des Zeltes befand, und ich wurde mit einem Ruck aus dem Zelt gerissen. Eine schwere Männerhand klatschte so gewaltig auf meine Rundungen, dass mir auch Brust und Bauch wehtaten. Dann riss der Puppenspieler mich in die Höhe, schüttelte mich und schrie: "Was tust du hier, du neugieriges Gör? Wag das nicht noch einmal!" Er stellte mich auf den Boden und verpasste mir zum Abschied noch einen Fußtritt, der mich aber nicht ganz erreichte, denn durch den unfreiwilligen Spagat, den ich ausführte, als er mich aus seinem Zelt riss, waren meine Beine noch nicht voll funktionsfähig.
Ich fiel also hin und sein Fuß sauste durch die Luft. Ich konnte vor Entsetzen nicht einmal schreien. Auf allen Vieren lief ich nach Hause, so schnell es irgend ging. An der Ecke wurde ich von den anderen erwartet, die das Ganze aus sicherer Entfernung beobachtet hatten. Sie trösteten mich mit einem Bonbon, den eins der Kinder zufällig in der Tasche hatte. Ich war der Held des Tages, obwohl meine Mission gescheitert war.
Ich hatte mehrere Schürfwunden und blaue Flecken davongetragen. Ida wollte natürlich wissen, woher sie rührten und ich erzählte alles wahrheitsgemäß. Ida winkte Traute und Doris zu sich und sagte: "So n Blödsinn lasst a jefällichst! Wenn Puppenschpiela ooch keen vanünftja Beruf is for n ausjewachsnen Mann, ihr könnt det nich beurteiln, ob det n bösa Mann is! Un ihm bei seine brotlose Kunst ooch noch die Puppn, also sein Werkzeuch zu klaun, det is, also ick weeß nich, wat ick zu so ne Jemeinheit saaren soll!" Dass sie diesmal so zurückhaltend war mit ihrem Tadel und nicht wie gewöhnlich übelste Beschimpfungen auf uns ausgoss, beeindruckte mich zutiefst.
Ida fragte: "Wat wolltet ihr denn man bloß mit die Puppn?" - "Na, schpieln!", meinte Doris keck. Während Traute sich hinter mir versteckte, sagte Ida tadelnd: "Det sin doch keene Puppn for eich zen schpieln, ihr Dusseltiere! Treibt eich ja nich wieda uff den Rummelplatz rum!" Traute und Doris versprachen es, froh, ungestraft davongekommen zu sein. Zu mir sagte Ida: "Du musst nich imma ALLES machen, wat Traute un Doris saaren! Siehst ja, wat da manchma for n Blödsinn bei rauskommt!" - "Aba ick wollte doch die Prünzessin befrein!", versuchte ich mich zu verteidigen. Ida sah mich groß an: "Sowat jibt s doch nur im Meerchen, du dummet Polk! Prünzessin befrein! Bist du etwa n Prünz? Du weeßt doch, wer die Prünzessin befreit, der muss se ooch heiratn!"
Traute und Doris wollten sich ausschütten vor Lachen. So endete dieser ruhmreiche Tag für mich doch noch mit Schimpf und Schande. Wenn ich mich recht erinnere, wünschte ich an jenem Tag erstmalig, lieber als Junge auf die Welt gekommen zu sein. Wäre ich ein Junge gewesen, hätte man mich zwar veräppelt, aber doch meinen Heldenmut anerkannt. Mädchen ist das Heldentum für gewöhnlich verwehrt.
Zwei Jahre später hatte ich die nächste Begegnung mit der Kunst. Tante Gerda und Onkel Alfred besuchten mit mir eine Zirkusvorstellung. Wir Mädchen hatten unsere weißen Sonntagskleider an und mir war eingeschärft worden, mich EINMAL anständig zu benehmen und halbwegs sauber zu bleiben. Um das zu gewährleisten, wollte ich bei einem der anderen an der Hand gehen. Aber das junge Paar wollte unterwegs ein wenig turteln, und so sagten sie: "Du bist schon groß, du kannst alleine laufen."
Diesen Standpunkt vertrat auch Waltraud, und so kam es, wie es kommen musste: Anstatt auf den Weg zu achten, sah ich mir die bunten Plakate an, die Wohnwagen, die Gitter und das riesige Zelt und fiel natürlich irgendwann in den Schmutz. Nachdem man es abgelehnt hatte, mich an der Hand zu führen, glitten die Beschimpfungen wirkungslos an mir ab. Auch, dass ich keine Zuckerwatte bekam, war mir keine Strafe. Ich wusste, dass Waltraut ihre Riesenportion nicht schafft und so doch etwas für mich zum Kosten bleiben würde.
Nachdem ich dann ihren Zuckerwattestiel leer geknabbert hatte, überlegte ich, was an dieser unappetitlichen klebrigen Substanz eigentlich dran sein sollte? Also von mir aus brauchte es dieses Zeug nicht zu geben! Die Käfige im Hintergrund waren viel interessanter. Aber Alfred sagte: "Inne Tierschau jehn wa nich, die Viecha sehn wa ja denn inne Vorschtellung. Die wärn ja nich hier, wenn se nich ooch inne Maneesche jezeicht wern würn." Ich schmollte, zeigte es aber nicht. Ich wollte mir nicht noch weitere Nachteile einhandeln.
Endlich betraten wir das Zelt und gingen zu unseren Plätzen auf einer der hintersten Sitzreihen. Gerda maulte: "Mann, von hier aus sieht man ja janischt!" Alfred antwortete: "Wird schon reichn! Die annern Plätze sin zu deuer." Der Zirkus war nur mäßig besucht, so wechselten wir zu Beginn der Vorstellung auf bessere Plätze. Ich wunderte mich darüber, dass wir nicht vom Kartenabreißer daran gehindert wurden. Alfred sagte: "Der hat jetz wat anderet zu duhn, hier is jetz keena mehr, der uffpassen kann!" Ich blickte mich um und richtig - die Kartenabreißer waren in der Manege mit anderen Dingen beschäftigt. Während der Vorstellung erkannte ich gar einen von ihnen als Kunstreiter wieder.
Ich fand alles wunderschön. Die Clowns! Die Pferde! Die Perche-Nummer! Die Elefanten! Die Trapez-Nummer! Die Löwen! Die Jongleure! Die Tiger! Noch mal Clowns! Die gemischte Tierdressur! Die Musik, die so exakt zu jedem Auftritt passend gespielt wurde! Der Zauberer! Und die Hochseilartisten! Ich spendete überschwänglichen Beifall.
Nachdem Gerda gesagt hatte: "Unsa kleenet doowet Landei Krille is ja so leicht zu bejeistan! Die jefällt allet, un wenn t der jrößte Mist is!", hielt Traute sich sehr zurück mit ihrem Beifall. Auch die Erwachsenen bewegten ihre Hände oft nur andeutungsweise. Ich verstand das nicht. Was die Artisten hier zeigten, konnte doch mit Sicherheit nicht jeder zweite! Meine diesbezügliche Bemerkung auf dem Heimweg wurde abgetan: "Dafor sin det Aatistn, damit se det könn! For Aatistn is det nischt besonderet. Wat de in den Zökus jesehn hast, siehste in jeen annan ooch."
Meine Begeisterung war indessen nicht zu bremsen. Auf dem ganzen Heimweg sprach ich voller Entzücken über jede Darbietung. Endlich stöhnte Tante Gerda: "Men – schens - kind, halt endlich die Klappe! Det kannste nachher allet Oman azeeln!" Abschließend bemerkte ich noch: "Wenn ick jroß bin, wer ick ooch Klohn!" Alfred lachte: "Det biste doch schon, du krist det man bloß nich mit!" In meiner Begeisterung hatte ich völlig vergessen, dass "Klohn" als Schimpfwort galt. Ida hatte weder Zeit noch Geduld, sich meine begeisterte Schilderung des Zirkusgeschehens anzuhören. Sie wies mich ab: "Du fällst ma uff n Wecka, Meedel!"
Auch in den "Berliner Prater" ging Alfred mit uns, weil dort ein Kinderfest stattfand. An jenem Tag ging es folgendermaßen zu: Waltraud freute sich genauso wie ich auf das Kinderfest, und sie wäre gern mit ihren Eltern allein dorthin gegangen. Sie maulte: "Muss denn die Krille übaall mit?!" Ihre Mutter erklärte, dass ich genauso viel Anrecht auf ein Kinderfest habe wie sie. Nun wurden wir hübsch angezogen. Waltraud murrte: "Kricht die Christa wieda eens von meine Kleida an? Ick kann det nich leidn!" Gerda lachte: "Mensch, nu hab dir nich so alban! Det Kleid is dir doch schon lange ville zu kleene! Wo willste denn det jetz noch hinziehn?!"
Waltraud sah es widerwillig ein. Nun wollte sie nur noch besser frisiert sein als ich. Das gestand ich ihr neidlos zu. Sie war die Ältere von uns beiden, sie war die Hübschere von uns beiden, sie war blond, sie hatte eine Mutter und neuerdings auch einen Vater. Ich konnte froh sein, von ihnen mitgenommen zu werden. Und ich war froh. Und dankbar.
Endlich gingen wir los. Auf dem Weg wurden wir noch einmal ermahnt: "Jenade euch Jott, wenn ihr euch mißtich macht!" Bei Waltraud war da keine Gefahr, die Ermahnung galt im Wesentlichen mir. Dann waren wir nach kurzer Straßenbahnfahrt im Prater. Ich war enttäuscht, denn er sah aus wie ein großes Gartenlokal, und die Erwachsenen benahmen sich auch so, als wären sie in einer Kneipe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier ein Kinderfest stattfinden sollte. Auf meine diesbezügliche Frage lenkte Alfred meinen Blick zu einem riesigen Gestell aus Holz und Metall: "Daaa is die Bühne, und da wird ooch wat sein!" Nun ließ ich die Bühne keine Sekunde mehr aus den Augen.
Endlich formierte sich auf ihr ein Kinderchor. Der Dirigent sagte mit weicher Stimme: "Zuerst singen wir nicht nur für alle anwesenden Kinder, sondern auch mit ihnen. Alle, die mitsingen möchten, kommen jetzt zu uns auf die Bühne. So entsteht ein riesengroßer, neuer Prater-Kinderchor, und wir singen all die Lieder, die jedes Kind kennt." Ich wollte sofort losstürmen, aber Gerda hielt mich am Ärmel zurück: "Bist du doof? Du kannst doch da nich mit sing, du kennst doch die Lieda janich!" Ich erwiderte jammernd und heftig gestikulierend: "In de Sonntachsschule bei n Kindajottesdienst kenn ick die Lieda ooch nich, un da muss ick mitsing, warum dürf ick denn nu jetze hier nich?"
Alfred setzte mich energisch auf meinen Stuhl hinter mein großes Glas "Berliner Weiße mit Schuss". Das kostete damals ebensoviel wie ein halbes Pfund Wurst und ein halbes Brot. Von hier aus durfte ich zuhören, wie die allgemein bekannten Kinderlieder gesungen wurden, und ich bedauerte lebhaft, nicht auf die Bühne zu dürfen.
Waltraud hatte sich inzwischen vom Tisch weg auf die Bühne begeben. Ich schrie: "Walle singt da vorne!" Gerda "beruhigte" mich: "Die is n bisschen älta als du, die kennt die Lieda. Un kiek dir ma um! Da sin noch andre Kinda, die atich am Tisch sitzn bleim." Aber diese artigen Kinder konnten nicht freihändig laufen, teils, weil sie zu jung waren, teils, weil sie behindert waren. Und ich kannte alle Lieder, die auf der Bühne gesungen wurden! Jedes einzelne konnte ich im vollen Wortlaut mitsingen! Ich sang also leise an unserem Tisch, wodurch ich Alfred und Gerda beim Schmusen störte. Wenn ich bemerkte, dass ich störte, trank ich mein Bier. Nachdem es so teuer war, sollte es mir auch schmecken.
Als der Gesang auf der Bühne beendet war, kehrte Waltraud an unseren Tisch zurück. Alfred und Gerda lobten sie für ihren Auftritt in der Art, wie man einen Hund lobt; deshalb war ich einen Moment froh, nicht auf die Bühne gegangen zu sein. Während Alfred kurz darauf für uns alle Bratwürste bestellte, streckte Waltraud mir die Zunge heraus: "Ääätsch, ick hab doch mitjesung!" Tja, das hatte ich bemerkt. Mich bewegte nur noch die Frage: Warum wurde ich am Mitsingen gehindert? Warum durfte ich nicht auf die Bühne? Bin ich wirklich zu blöd, um die mir bekannten Lieder zu singen?
Eine Stunde später kam der Kinderchor, diesmal in farbenfrohe Trachten gekleidet, wieder auf die Bühne zurück. Und sie sangen Lieder, zu denen sie auch tanzten. Keine Macht der Welt hätte mich jetzt noch am Tisch halten können! Ich erklomm auf allen Vieren den glücklicherweise rückwärtigen Bühnenaufgang. So konnte niemand meine Tapsigkeit sehen; ich war als Vierjährige noch nicht fähig, eine Treppe anders als auf allen Vieren zu erklimmen, und mischte mich unter den Chor. Aber jetzt waren die Zuschauerkinder nicht zum Mitsingen aufgefordert. Ich war ein störender Fremdkörper und wurde rasch von der Bühne gedrängt: "Du jehörst nich zu uns!", sagten sie zu mir. Ich hatte nicht begriffen, dass die Bühne nun nicht mehr für Jedermann frei war, und wurde obendrein von meiner Verwandtschaft ausgelacht.
Die nächste Begegnung mit der Kunst hatte ich weitere zwei Jahre später. Wir gingen mit der Schulklasse in ein - - - Puppentheater. Was wir dort sahen, war kein durchgängiges Stück, sondern ein Nummernprogramm, und es traten unterschiedliche Arten von Puppen auf; von der Stabpuppe bis zur kunstvollen Marionette war alles vertreten, was gemeinhin von Puppenspielern bewegt wird. Für jede Nummer wurde die Bühne völlig neu dekoriert. In den Umbauphasen wurde das Publikum teils von Wollwürmern, teils vom Kasperle unterhalten.
Was da im einzelnen vorgeführt wurde, weiß ich nicht mehr, mir ist von dem ganzen Puppentheater nur eine einzige Szene im Gedächtnis haften geblieben. Zum einen, weil sie mir wirklich sehr gut gefallen hatte und zum zweiten, weil ich ihretwegen Ärger bekam, denn wir sollten über den Theaterbesuch einen Aufsatz schreiben und schildern, was uns sehr gut bzw. gar nicht gefallen hat. Als "nicht gefallen" schilderte ich das Benehmen meiner Klassenkameraden. Sie hatten sich auf dem Hin- und Rückweg sowie während der Vorstellung reichlich ungehörig benommen. Wenn ich in Idas Gegenwart auch nur ein Zehntel all dieser Ungehörigkeiten begangen hätte, hätte ich eine gewaltige Tracht Prügel bekommen. Als "sehr gut gefallen" schilderte ich wahrheitsgemäß jene Szene, die in Venedig spielte.
Da fuhr eine Gondel anmutig durch den Canale Grande, und in der Gondel saß eine Puppendame mit hoher Frisur und weitem Kleid, einen Sonnenschirm in der Hand. Der Gondoliere trug einen weiten Mantel mit hohem Kragen, er stakte die Gondel sachte vorwärts und sang mit angenehmer Stimme die "Barkarole" aus "Hoffmanns Erzählungen". Damals kannte ich diese Barkarole noch nicht, aber es war die erste Melodie, die ohne Text bei mir haften blieb. Daher konnte mir fünf Jahre später die Freundin meiner Mutter den Titel nennen. Ich begriff nicht, warum der Gondoliere sich beim Singen so komisch verrenkte, dass alle über ihn lachten. Wie kann man sich zu so herrlicher Musik komisch bewegen! Aber ich ließ mir durch diese Frage den Genuss nicht beeinträchtigen.
Als wir die Aufsätze zurückbekamen, klärte mich die Lehrerin dahingehend auf, dass das Benehmen meiner Klassenkameraden zwar tatsächlich unschön war, aber keineswegs zum Stück gehörte, dass auf der Bühne kein Wasser war, sondern nur glänzendes Papier und dass die Puppen nicht gesungen hatten, sondern dass ein Tonband abgespielt wurde und dass die gesamte Szene absoluter Kitsch - hier verzog sie angewidert das Gesicht - gewesen sei.
Ich wusste, dass auf der Bühne kein Wasser war. Ich wusste, dass die Puppen nicht selbst gesungen hatten. Aber es war alles so perfekt gemacht, dass meine Begeisterung keine anderen Worte gefunden hatte. Was Kitsch ist, wusste ich damals noch nicht. Ich musste nur schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass das, was mir gefiel, minderwertig ist. Und in der Pause bekam ich Klassenkeile. Von nun an zeigte ich nicht mehr offen, was ich dachte und fühlte, und lernte auch bald, in gewissen Situationen zu lügen.
Vierzehnjährig sah ich erneut lebende Menschen auf einer Bühne. Zu den Jugendweihestunden gehörte nämlich auch ein Theaterbesuch. Wir sahen „Ein Sommernachtstraum" in der „Komischen Oper". Der Titel schien mir überaus romantisch, aber ich war vorgewarnt, das Stück wurde in der „Komischen Oper“ aufgeführt. Romantik würde hier also persifliert werden. Ich staunte über die festlich gekleideten Besucher. Nie hatten meine Augen so viel Eleganz erblickt! Auch meine Klassenkameraden trugen Kleider, die ich nie zuvor an ihnen sah.
Bei mir zu Hause hatte vor dem Theaterbesuch ein heilloses Durcheinander geherrscht: "Die Jöre jeht int Tiata! Wat die Schule sich denkt! Woher solln wa denn jetze so schnell n Tiatakleid for die Jöre hernehm?"
Ich bekam ein Kleid von Waltraud, aus welchem sie längst herausgewachsen war. Ich war überzeugt davon, dass ich anlassgerecht gekleidet war und gab mich dem Theatererlebnis mit ganzer Seele hin. Ich versuchte krampfhaft, dem Geschehen zu folgen, wusste nicht, welcher handelnden Person ich mehr Sympathie zukommen lassen sollte. Für mich war das Ganze ein unerhörtes Vorkommnis. Soviel Licht, soviel Schönheit, soviel Musik, soviel Glimmer auf den Kostümen - namentlich Titania hatte sehr viele Strasssteine in ihrem Kleid, bei jeder Bewegung warfen sie feurige vielfarbige Blitze. Kein Weihnachtsbaum konnte so schön sein wie dieses Kostüm!
Die Darsteller konnten nicht von dieser Welt sein. Wer jemals eine wohlklingende Melodie an mein Ohr brachte, war nach meinem Dafürhalten schon ein besserer Mensch. Wer jedoch so herrlich singen konnte wie die Akteure jener Operette, war zumindest in der Vorstufe zum Engel. Jeden Bühnenkünstler stellte ich in Zukunft den Engeln gleich. Wenn nicht, noch höher. Total verzaubert kehrte ich nach Hause zurück, wo meine Begeisterung auf taube Ohren stieß.
Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich eines Tages selber auf der Bühne stehen würde, um das Publikum zum Lachen zu bringen, hätte ich geantwortet: „Du spinnst ja!“
Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin 1951
Irma hatte einen Witz gehört, der ihr so gut gefiel, dass sie ihn jedem erzählte. Mir war unklar, wie man so etwas als Witz erzählen konnte, aber urteilen Sie bitte selbst: Wenn die Hottentotten zur Arbeit auf die Felder gehen, binden sich die Frauen ihre Säuglinge auf den Rücken. Schreit eines, dann werfen sie die Brust über die Schulter und das Kind trinkt. Einmal traf eine Frau ihr Kind so unglücklich am Kopf, dass es daran starb. Wie nennt man das? Das ist ein Hottentottentittenattentat. Als ich an einem Tag diese Zumutung dreimal hintereinander hören durfte, gab ich - ungefragt - die Antwort auf eine Weise, die klarstellen sollte, dass das kein guter Witz ist. Irma gab mir eine Ohrfeige - übrigens die einzige, die ich je von ihr erhielt - und sprach monatelang nicht mehr mit mir.
Kurze Zeit später wurden für die Weltfestspiele Quartiere und Betreuer gesucht. Grete L. bewarb sich, der guten Bezahlung wegen und nicht etwa, weil sie für die Spiele war. Im Gegenteil, sie war der Meinung, dass jeder hübsch zu Hause bleiben sollte, da könnte er seinem Land viel dienlicher sein als durch solch eine "Vergnügungsreise".
Jedenfalls sagte sie zu Ida: "Ej, du kannst doch so jut kochn - ick melde unsan Hausbodn als Quartier un uns beede als Betreuer un denn vadien wa uns det Jeld!"
Ida war nicht sicher, ob denn "die Hottntottn det berliner Essn ooch schmeckn wird", aber Grete L. sagte: "Hunga is der beste Koch!"
Nun ließen sich die beiden noch eine Weile über diesen Staat aus, der die Jugend der ganzen Welt in eine vom Krieg zerstörte Stadt einlädt, wo wir Deutsche uns doch gerade schämen mussten, schon den zweiten Krieg verloren zu haben.
Ein paar Tage später stand sie dann mit einem großen Sack voller Fahnen in unserer Küche. Sie sollten in die Fenster gehangen werden, damit die ausländischen Gäste ihre Quartiere leichter finden. Grete L. wollte die englische und die amerikanische Fahne anhängen, Ida die französische, weil ihnen diese Völker am sympathischsten waren. Die phantasievollen Fahnen der afrikanischen Nationalstaaten hätten sie am liebsten zur Hofseite hin gehangen, aber da war Ärger zu befürchten.
Ida maulte: "Müssn wa uns jetze hier mit die Hottntottn rumärjan! Wie die schon aussehn! Det reicht nich, det se schwaaz sin, die draren ooch noch n Ring durch de Neese un hahm jede Menge Unjeziefa! Un wer weeß, ob det bei die nich ooch noch Menschnfressa jibt! Natzjonalschdaat! Seit wann ham die Hottntottn ne Natzjon?"
Mir gefielen die afrikanischen Fahnen sehr gut. Grete L. sagte: "Ja, ja, du Affe! Det Bunte jefällt! Wenn die sich nich mal bei ihre Faane uff eene Faabe einjen könn, denn wird det in die ihrn Schtaat ooch janz schön drunta un drüba jehn! Wer weeß, wie die Hottntottn sich denn hier bei uns benehm wern!" (Als auf unsere Fahnen das DDR-Emblem genäht wurde, hatte sie auch gleich einen flotten Spruch parat: "Wir sin so behämmat, det wir solange zirkeln, bis wir in Eehrn untajehn.")
Beim Zusammenfalten der Fahnen sagte Ida sinnend: "Mein Jott, wenn jetze hier wirklich aus alle Welt Leute komm könn, denn könnte ja ooch Trautes Vata plötzlich vor de Düre schtehn!" Grete L. ließ die Fahne sinken und wandte sich zu Waltraud: "Hör ma zu, Meedel, wenn der wirklich hier ankommt, denn saachste zu ihm: "Sie ham sich mein janzet Leehm nich um mir jekümmat, Sie sin nich mein Vata!", un denn knallste ihm die Düre vor de Neese zu un denn kann a klingeln, bis a schwaaz wird!" Waltraud nickte ernst und ein wenig verstört. Zum ersten mal fühlte ich mich ihr überlegen: Ich brauchte meinen Vater nicht zu verleugnen!
Auf unserem Dachboden wurden Strohsäcke ausgelegt, und die Jugend der Welt kam nach Berlin. Mich faszinierte der Gedanke, dass sich gerade in dieser vom Krieg zerstörten Stadt junge Menschen zu einem Fest trafen, um ihren Friedenswillen zu dokumentieren und dass sie sich trotz unterschiedlicher Sprache verstanden und vertrugen.
Am ersten Tag der Weltfestspiele formierte sich ein gewaltiger Fackelzug mit mehreren Blaskapellen. Die Delegierten zogen, ihre Friedensparolen rufend, an unserem Haus vorbei. Viele Menschen standen am Straßenrand und winkten freudig dem Zuge zu, und viele Kinder folgten ihm oder liefen wenigstens ein Stück nebenher. Ich spürte die Musik mit allen Fasern meines Körpers und schloss mich - äußerst erregt - dem Zuge an. Das "Weltjugendlied" und das "Aufbau-Lied" wurden für mich zu Hymnen.
Mäcky wich nicht von meiner Seite. Wir folgten dem Fackelzug wahrscheinlich bis zu seiner Auflösung, denn plötzlich war nichts mehr von ihm zu sehen und es standen auch keine winkenden Menschen mehr am Straßenrand und die Kapelle war verstummt. Endlich erwachte ich aus dem Taumel. Ich drehte mich auf dem Absatz um und sagte: "Komm, Mäcky, wir müssen zusehn, det wa zu Hause komm."
Wir liefen die uns unbekannten Straßen entlang. Ich wusste beim besten Willen nicht, wo wir waren und wie wir gehen mussten, um nach Hause zu kommen. Auch konnte ich die altdeutsche Schnörkelschrift auf den Straßenschildern nicht entziffern. Der erste Mensch, den ich nach dem Heimweg fragte, antwortete mir nicht, weil Mäcky ihm hinter meinem Rücken eine Fratze schnitt. Ich wagte nicht noch einmal, jemanden zu fragen.
An einer Straßenkreuzung sagte Mäcky plötzlich: "Wir müssen da lang!", und wies in eine Richtung, die uns nach meiner Meinung fast wieder an den Ausgangspunkt unseres Irrwegs gebracht hätte. Ich widersprach ihm, doch er hörte nicht auf mich und ging allein los. Ich ließ ihn laufen, denn ich kannte inzwischen seinen Starrsinn. Jeder muss seine Fehler selber machen, dachte ich mir nur.
Nun konnte ich endlich wieder jemanden nach dem Weg fragen und freute mich, als mir ein Polizist entgegenkam. Doch er antwortete mir, dass er etwas besseres zu tun hätte, als mein Freund und Helfer zu sein. Ich hatte dummerweise diese Formulierung benutzt, als ich ihn ansprach.
Ich fragte mehrere Leute nach dem Heimweg, aber keiner kannte die Pistoriusstraße, ja, einige glaubten gar, dass ich sie mit diesem Wort ärgern wollte!
Dann wurde es dunkel und ich begann zu weinen. Ich war durstig. Ich war hungrig. Ich war müde, völlig verängstigt und die Füße taten weh. Ich "heulte wie ein Schlosshund".
Endlich bemerkte eine Frau meinen erbarmungswürdigen Zustand. Sie kannte die Pistoriusstraße zwar auch nicht, aber sie hatte einen Stadtplan bei sich! Wir fuhren mit mehreren Verkehrsmitteln (auf diese Weise machte ich meine erste U-Bahn-Fahrt) bis zur Berliner Allee, wo die Pistoriusstraße mündet. Von hier ab kannte ich den Weg, ganz in der Nähe war ja das Postamt, wohin ich Ida begleitete, wenn sie ihre Rente abholte.
Alle waren schon in größter Sorge. Man vermutete bereits, dass die Hottentotten mich aufgefressen hätten. Als ich gestand, dass die Musik mich dazu verführt hatte, dem Zug zu folgen, sagte Grete L.: "Denn is det Märchen vom Rattnfänga also wah!"
Waltraud lachte mich aus, weil ich mich verlaufen hatte. Ihr könnte so etwas nie passieren, meinte sie. Mein Harmoniebedürfnis hinderte mich, ihr zu sagen, dass daran nur ihr Mangel an Unternehmungsgeist schuld ist. Grete L. fragte nach einem Seitenblick auf Ida, dessen Bedeutung mir erst später klar wurde: "Wo haste denn den Mäcky jelassn? Du solltest doch uff n uffpassn?" Ich ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und schluchzte. Wenn Mäcky auch inzwischen ein kleines Ekel geworden war, so zerriss mir doch der Gedanke, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, das Herz.
Nach ein paar Minuten sagte Grete L. gönnerhaft: "Na, nu heule man nich. Der Mäcky liecht längst in sein Bette un schleeft. Der is neemlich ville intellijenta als du, der hat zu Hause jefunn!"
In Wirklichkeit war er - tränenüberströmt - von einem Polizisten nach Hause gebracht worden.
Ich durfte für die gesamte Dauer der Weltfestspiele unsere Wohnung nicht mehr verlassen. Wenn ich aus der Stube ging, fragte Ida schon scharf: "Wo wisstn hin?"
Ida und Grete L. kochten für unsere Gäste Eintöpfe und Goulasch. Die ersten Portionen davon bekamen wir, d.h. unsere vierköpfige Familie und die achtköpfige von Grete L.. Wenn der Eintopf dann ein bisschen wenig aussah, wurde eben mit Wasser nachgewürzt.
Ich war so neugierig auf unsere Gäste! Ich hatte beim Eröffnungs-Fackelzug Inder und Afrikaner in ihren Nationaltrachten gesehen und war ganz hingerissen von so viel Farbenpracht und Schönheit. Auch die braune Haut fand ich sehr reizvoll. Warum auch nicht? Bei allen Familienfeiern wurde bei uns gesungen: "Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich . . ."
Ich wollte "unsere Hottentotten" allzu gern einmal sehen, aber es war mir unter Androhung schlimmster Strafe verboten worden, auf den Boden zu gehen. Also bettelte ich so lange, bis Grete L. mich mit nach oben nahm zum Kaffeeausschenken.
Als erstes sah ich, dass Idas Behauptung der Unmoral stimmte - hier lagen tatsächlich Jungen und Mädchen aller Hautfarben kreuz und quer durcheinander, ohne Trennwände! Doch ehe ich mich darüber mokieren konnte, hob ein blondes Mädchen mich jauchzend in die Höhe. Ich schmiegte mich selig an sie, mich hatte schon so lange niemand hochgehoben! (Obwohl Waltraud sechs Jahre älter ist als ich, wurde doch nur immer ich "das große Kalb" genannt!)
Weil ich Grete L. schon so oft beim Lügen ertappt hatte, wollte ich an Ort und Stelle eine brennende Frage klären: "Seid ihr denn etwa wirklich Hottntottn?"
Eisiges Schweigen umgab uns plötzlich. Alle, die eben noch so fröhlich durcheinander geredet hatten, sahen uns an mit stummen, scharfen Blicken. Das hübsche Mädchen stellte mich langsam wieder auf die Erde. Ein paar große, kräftige Schwarze näherten sich uns bedrohlich und mir wurde siedend klar, eine grobe Dummheit begangen zu haben.
Grete L. sagte hastig: "Entschuldicht bitte, wat die Jöre jesaacht hat. Ick hätt se nich mit hoch bring dürfn. Die is neemlich nich janz richtich im Kopp!"
Ich steckte rasch den Daumen in den Mund und versuchte, blöd auszusehen. Es gelang mir anscheinend, denn einer der Schwarzen streichelte meine Wange.
Als wir dann im Treppenhaus waren, sagte Grete L.: "Also, wenn ick det jewußt hätte, det du mir so blamiern duhst, hätt ick dir janz bestimmt nich mit oom jenomm! Dir müsste man doch jlatt dermaßn in n Hintan treten, det de wochenlang Stiebelspitzen kackst."
In unserer Küche berichtete sie mit großer Empörung der Ida den Vorfall. Ich verteidigte mich: "Aba ihr habt doch selba imma jesaacht, det det Hottntottn sin!" - "Wat wir saaren, jeht dir n Scheißdreck an!", keifte Grete L. Und Ida nickte: "Un damit sowat nich noch ma vorkommt, wirst de jetz imma in de Schtube jehn, wenn hier wat jeredt wird. Scheer dir raus, du blödet Jör!"
Am letzten Tag der Weltfestspiele kam der Fackelzug der Delegierten wieder an unserem Haus vorbei. Wir standen auf dem Balkon. Die Erwachsenen winkten von Zeit zu Zeit müde mit den kleinen Papierfähnchen, die Grete L. zu diesem Zweck von der Zentrale erhalten hatte. Sie murmelte: "Ja, macht man bloß alle, det a zu Hause kommt, und lasst euch ja nich so bald wieda hia blickn, ihr Hottntotten!" Plötzlich fuhr sie herum: "Wo is n Christa? Ach, da biste ja. Nich, det de dir wieda valoofn duhst."
Als ich das erste Schuljahr absolvierte, erreichte einer unserer Lehrer das Rentenalter. Er verabschiedete sich von uns mit den Worten: "Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mich mal besuchen würdet, ich wohne in der Tasso-Straße." Diese Straße kannte ich, da waren wir kürzlich vorbeigekommen, als Ida ein Amt in der Parkstraße aufzusuchen hatte.
An einem herrlichen Feriensommersonntag fasste ich den Entschluss, bei dem strahlenden Sonnenschein nicht in die dustere Kirche zu gehen, sondern einen Spaziergang zum Weißen See zu machen. Das war die Grundsteinlegung zu meinen späteren Wanderungen. Am Weißen See gab es mehrere Wiesen, auf denen viele verwilderte Gartenblumen blühten. Ich pflückte hier eine und dort zwei, und immer so weiter, bis ich einen großen Strauß zusammen hatte, der mir sehr gut gefiel. Ich stellte mir vor, wie ich ihn der Ida überreichte und hörte sie sagen: "Wat soll ick denn mit det Unkraut, du dummet Polk?"
Ich war schon im Begriff, den Strauß am Wegesrand abzulegen in der Hoffnung, dass er einem Vorübergehenden gefallen würde, da fiel mir die Einladung des Lehrers ein. Die Tasso-Straße war ja hier ganz in der Nähe, und vielleicht gefiel dem netten alten Herrn der Strauß! Gedacht, getan. Sein mit Säulen reich verziertes Wohnhaus erschien mir wie ein Schloss. Zögernd drückte ich den Klingelknopf. Das Herz schlug mir bis in den Hals hinauf. Ich war schon drauf und dran, hasenfüßig davonzulaufen, als die Tür aufging und eine freundliche Dame von unbestimmbarem Alter mich anlächelte und fragte: "Na, du Kleine, was führt dich zu uns?"
Sie hatte ein unauffälliges Make-up und eine tadellose Frisur und sie trug ein gerade geschnittenes helles Leinenkleid mit dezenter Folklorestickerei. Ich hatte nie zuvor eine so elegante Erscheinung gesehen. Endlich fand ich die Sprache wieder und sagte hastig: "Ick wollte den Leera besuchen, er hat ja unse janze Klasse injeladn, aba ick jloobe, die annan wern nich komm." Ihr Lächeln wurde noch freundlicher: "In welche Schule gehst du denn?" - "Ick jeh in der siehmten Schule, un da in der erstn Klasse, det heeßt, ick komm in der zweeten, wenn die Schule wieda losfängt." - "Na, dann komm mal rein, meine Kleine. Mein Mann ist zwar nicht zu Hause, aber du wirst sicher gern ein paar Kekse essen wollen."
Diese Aussicht entzückte mich. Kekse gab es bei uns bestenfalls zu Weihnachten. Ich rief: "Au ja! Au jaa! Keekse eß ick für mein Lehm jern!" Ich begann unwillkürlich zu gestikulieren, wobei mir endlich auch der Grund meines Besuches in die Augen fiel. "Ick ha ooch Bluhm mitjebracht. Is ja man allet bloß Unkraut, aba hübsch, nich?" - "Oh ja, das ist ein wundervoller Sommerstrauß. Wo hast du den denn gekauft?" - "Ach nee! Nee, nee, Mensch, für koofn ha ick doch keen Jeld nich. So ne Bluhm wachsn am Weißn See uffe Wiese, da ha k se her." - "Ach, wie lieb! Ein selbstgepflückter Strauß! Und so hübsch zusammengestellt!" - "Nee, nee, ick ha bloß een Stiel zun annern jeleecht." Sie blickte mich irritiert an, sah aber sofort, dass da keine Bosheit, sondern nur kindlicher Unverstand sprach.
Sie führte mich in ihre kleine Küche, die ich als hübsch und reinlich empfand, tat die Blumen in eine passende Vase - die Art, wie sie mit dem Strauß umging, verschaffte mir ein wahres Glücksgefühl. Hier wurde etwas geachtet, das ich nach meinem Geschmack geschaffen hatte! - und gab mir ein duftendes Stück Seife, damit ich mir vor dem Essen die Hände waschen konnte, denn ich hatte ja während des Blumenpflückens auf der Prärie mit Bären und Wölfen gerungen, mit Indianern Blutsbrüderschaft geschlossen und Büffel gejagt, war durch tiefe Wälder und Sümpfe gezogen und sah nun auch ganz danach aus.
Als ich sauber war, war auch der Kakao warm - Kakao, noch so etwas, das ich sonst nur zu Weihnachten bekam! - und die Kekse wurden in die Stube getragen, wo wir uns an einen kleinen runden Lacktisch setzten, der mit reicher Intarsienarbeit verziert war. Der Tisch war so schön, dass ich es kaum fassen konnte, dass Teller und Tassen darauf gestellt wurden!
Während die Lehrersfrau den Kakao eingoss, gab ich meiner Verwunderung Ausdruck: "Ick dürf inne Schtube? Bei Oma kommt der Besuch nur inne Küche." - "Ja, warum das denn?" - "Weil wir inne Schtube bloß een Stuhl ham, un da leje ick imma ahms meine Sachen ruff, wenn ick im Bett jehe." Sie verkniff sich mühselig das Lachen und fragte: "Ja, wird denn der Stuhl dadurch unbenutzbar?"
Ich merkte, dass ich mich falsch ausgedrückt hatte und zählte nun das gesamte Mobiliar nebst Standort auf. Sie bremste mich bald: "Ist ja gut, Kleine, das brauchst du mir doch gar nicht alles zu erzählen." Hastig fiel ich ein: "Nee, nee, ick will ja man bloß, det Sie mir richtich vaschteehn." Sie seufzte: "Es ist tatsächlich nicht ganz einfach, dich zu verstehen. Du sagtest vorhin, du gehst in der siebenten Schule und in der ersten Klasse; aber es ist doch nicht so, dass du da den ganzen Tag hin- und herläufst. Du gehst in DIE Schule und in DIE Klasse. Ebenso verhält es sich mit deinem Bett. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Oma Dir erlaubt, im Bett herumzulaufen. Es muss also heißen: Ich gehe ins Bett, nicht im." Stark beeindruckt, sagte ich nun: "Det wer ick ma merkn. Det is ja doll, ej, det so n pa Buchschtahm jleich n janz annern Sinn jehm!" Genau genommen weckte diese Frau meinen Intellekt und pflanzte eine innige Liebe zur deutschen Sprache in mich, die später durch die Freundin meiner Mutter weiter entwickelt wurde. Ich lernte an jenem Tag mehr als in einer Schulwoche.
In der Zwischenzeit hatte ich mit gutem Appetit die köstlichen Kekse restlos verzehrt. Die Lehrersfrau ging in die Küche, um Nachschub zu holen. Währenddessen blickte ich mich im Zimmer um. Nie zuvor hatte ich soviel fremdartigen Zierrat gesehen wie hier. Als die Frau wieder hereinkam, sagte ich, ganz in Idas Tonfall: "Na, Sie ham aba ne Menge Schtaubfänga." Erschrocken fragte sie: "Wo siehst du Staub, Kind?" - "Nee, nee, det is schon allet prima sauba hier, aber hier stehn übaall ne Menge Schtaubfänga." - "Ja, was ist denn das? Zeig mir doch mal einen!" - "Na, ditte da!", sagte ich überlegen und wies auf die Figuren und ausgestopften Tiere auf dem Schrank, auf die afrikanischen Schilde und die japanischen Schwerter an der Wand, das aus Elfenbein geschnitzte indische Schachspiel auf dem Nebentisch und die chinesische Deckelvase in der Zimmerecke. Während ich genüsslich Kekse knabberte, erklärte sie mir Herkunft und Bedeutung jedes Gegenstandes. Sie erklärte so viel, dass ich am Ende nur begriffen hatte, dass es sich bei all den Gegenständen um Reiseandenken von ihr und ihrem Mann handelte, und ich erzählte ihr von der Brockenhexe, die Gerda kürzlich der Ida von einer Harzreise mitgebracht hatte. Dieser Staubfänger wanderte in der folgenden Heizperiode in den Ofen.
Ich wollte zum Schluss noch etwas Nettes sagen: "Det is ja janz irre schnafte, det Sie so ville schöne Kinkerlitzchen hahm!" Sie erwiderte ernst: "Ich wundere mich immer wieder, wie du mit unserer schönen deutschen Sprache umgehst. Sie hat es nicht verdient, so verschandelt zu werden." Ich spürte, es wäre ihr lieb gewesen, wenn ich nun bald den Heimweg antreten würde, aber ich konnte mich nicht trennen von dieser Frau, die so grundverschieden von allen mir bekannten war. Ich wollte ihre ruhige, angenehme Stimme noch mehr vornehme und gebildete Worte sagen hören. Und ich genoss es außerordentlich, einmal als Mensch behandelt zu werden und nicht als "dummet Polk".
So stellte ich mich dumm und fragte mit schief gelegtem Kopf: "Die deutsche Schprache is schön? Ja, jibts denn noch andre?" - "Aber gewiss doch, Kind, es gibt noch sehr viele andere Sprachen. Du hast mir doch vorhin erzählt, dass du einen Film gesehen hast, der in Afrika spielte ("Der 15 jährige Kapitän" nach Jules Verne)." Schnell fiel ich ihr in die Rede: "Ja, aba da ham ooch die Neejas deutsch jeschprochn!" - "Oh nein, der Film wurde synchronisiert, das heißt, es wurde alles ins Deutsche übersetzt, damit du es verstehst." - "Aha. Un wie schprechn nu die Neejas?" Nachdem sie mir einiges über Negerstämme und ihre Dialekte - unter Hinweis darauf, dass ich einen fürchterlichen Berliner Dialekt sprach - sowie über Kolonialismus erzählt hatte, kam der Lehrer nach Hause.
Er begrüßte mich höflich, freute sich über den Strauß oder tat zumindest so und fragte: "Wie lange darfst du denn bleiben?" Ich spürte, dass seine Einladung, ihn zu besuchen, nur eine Floskel gewesen war und dass seine Heimkunft für seine Frau die Erlösung von mir bedeutete. Ich antwortete übertrieben munter: "Wenn die Jlockn bimmeln, muss ick zu Hause." Er berichtigte gewohnheitsmäßig: "Nach Hause." Dann sah er auf seine Armbanduhr und konstatierte: "Die Glocken werden in einer halben Stunde läuten. Da du einen weiten Weg hast, schlage ich vor, dass du dich jetzt verabschiedest. Weil wir uns aber kaum miteinander unterhalten konnten, schenke ich dir etwas, woran du hoffentlich viel Freude hast."
Er holte aus der untersten Schublade eines Rokkokoschrankes ein kleines Segelschiff hervor, einen Dreimaster. Ich hätte vor Freude am liebsten einen hohen Luftsprung gemacht, aber ich spürte, dass ich mich in dieser Wohnung schon oft genug für einen Tag daneben benommen hatte. So strahlte ich ihn mit großen Augen an und lächelte mein allergrößtes Dankeschön: "Oh, det dürf ick behalten?" - "Ja, das darfst du behalten, und wenn du magst, dann besuch uns bald wieder." Diese Einladung schmeichelte mir, und ich jubelte: "Det mach ick!" Gleichzeitig war ich sicher, dass ich meinen Fuß nie wieder auf ihre Schwelle setzen würde, denn die heimlichen Blicke, die sie miteinander tauschten, offenbarten mir, dass ich für sie ebenso exotisch war wie ihre Andenken aus aller Welt.
Der Heimweg führte mich am Weißen See vorbei, wo ich auf die Idee kam, sehen zu wollen, wie das Schiff schwimmt. Ich setzte es aufs Wasser. Es schwamm leicht krängend am Ufer entlang, bis eine Welle es aus meiner Reichweite führte. Ich versuchte, es mit einem Stock zu mir zu ziehen, aber der Stock war zu kurz. Mit großer Trauer sah ich zu, wie das Schiff mehr und mehr zur Seemitte hintrieb. Ich gab es verloren und trottete heim.
Erst nach 20 Uhr war ich zu Hause. Ich erzählte zu meiner Entschuldigung wahrheitsgemäß, wo ich war und was ich erlebt hatte. Ida sagte: "Na jut, sattjejessn biste also, da kann ick mir det Ahmdbrot sparn." Dann fragte sie: "Warum haste denn det Schiff nicht einfach erstma mit nach Hause jebracht, du dummet Polk?" - "Weil so n Seejelschiff Jungsschpielzeuch is un du det beschtimmt wieda an irrjend een Jung vakooft oda vaschenkt hättst!" - "Richtich", konstatierte sie, "un nu ab int Bette."
Ein paar Monate später:
Eine Klassenkameradin namens Helga hatte mich nach Schulschluss zu sich eingeladen, damit wir zusammen spielen könnten. Es war meine erste Einladung, so hüpfte ich munter neben ihr her. Sie sagte: "Bei mir zu Hause darfste aber nich so springen!" - "Nee, nee", tröstete ich sie, "ick weeß schon, det man inne Wohnung schtille is!"
Wir spielten in ihrem Zimmer Karten und "Mensch ärgere dich nicht". Sie lehrte mich Halma und Mühle. Dann kam ihre Mutter nach Hause und es gab Kaffee und Kuchen. Mitten in der Woche! Ich ließ es mir schmecken und versprühte meine Originalität in der ständigen Wiederholung erstaunter Ausrufe: "Ach, du jrüne Neune! Ach, du jrünet Ei! Ach, du jrüne Tinte! Ach, du jrüner Himmel!" Ich ignorierte ganz einfach, dass ich allen auf die Nerven ging. Es gefiel mir hier. Hier wurde weder geschimpft, noch über Abwesende hergezogen, hier wurde ich nicht bevormundet.
Wir spielten, bis die Mutter fragte, wann ich nach Hause muss. Ich wollte den Fehler nicht wiederholen, zu sagen, dass ich beim Glockenläuten erwartet wurde. Ich sagte: "Ne Weile kann ick schon noch bleim, uff mir wartet keena."
Dann gab es Abendbrot mit Wurst- und Käsesorten, die mir unbekannt waren. Aber es stand auch Schmalz auf dem Tisch. Das schmeckte gut! Ich aß vier Stullen und ignorierte die Bemerkung der Mutter über meinen undamenhaften Appetit.
Nach dem Abendbrot fragte sie: "Wird sich denn deine Oma auch keine Sorgen machen, wenn du so lange wegbleibst?" Die Sorgen gönnte ich ihr, denn sie hatte mir am Vortag wegen einer Nichtigkeit eine saftige Maulschelle verpasst. Ich sagte also: "Nee, um mir macht sich keena Sorjen."
Helga machte mich nun darauf aufmerksam, dass es Zeit zum Schlafengehen war. Ich hätte gern bei ihr übernachtet, ja, ich wäre am liebsten überhaupt nicht mehr nach Hause gegangen. Aber ihre Mutter sagte, dass sie an einem Kind mehr als genug hat. So trat ich den Heimweg an. Natürlich hatte Ida sich Sorgen gemacht. Im ersten Moment war diese Erkenntnis sehr wohltuend für mich, aber die dazugehörenden Beschimpfungen und Schläge lehrten mich, nie wieder derartige Sorgen zu verursachen.
Im darauf folgenden Sommer:
Da ich von meinen Klassenkameraden für meinen sonntäglichen Kirchgang gehänselt wurde, beschloss ich, nicht mehr in die Kirche zu gehen. Ich ging nun an den Sonntagen spazieren. Möglichst dort, wo es grün war, also durch die Gärten. So kommt man - ob man will oder nicht - von Weißensee über Heinersdorf nach Pankow. Kaum festgestellt, war ich auch schon auf dem Weg zu Tante Gerdas Haus. Ich freute mich darauf, sie außer der Reihe zu sehen.
Vor der Haustür kontrollierte ich, ob meine Hände sauber waren. Diesmal waren sie es - ich konnte sie unbesorgt der Tante zur Begrüßung reichen. Rasch strich ich noch das Kleid und die Haare zurecht, dann zog ich die Klingel. Es dauerte einen Moment, ehe die Tür geöffnet wurde. Ich wurde vor Freude schon zapplig - was wird Tante Gerda zu dieser Überraschung sagen? Sie wird sich freuen, ganz bestimmt wird sie sich freuen, denn ich bin doch wohl ein lieber Besuch! Sie wird mir eine Tasse Milch warm machen oder vielleicht hat sie sogar rote oder gelbe Brause da?
Ich strahlte über das ganze Gesicht, als sie endlich die Tür öffnete. Mich erkennend, erbleichte sie. Sie fragte angstvoll: "Is wat passiert mit Oma?" Ich schüttelte den Kopf und wunderte mich, dass sie meine Grußhand übersah. "Ja, warum kommst de denn denn her? Is wat mit Irma?" Ich verneinte und sagte: "Ick wollte euch besuchn komm, nur mal so, weil ick jrade in de Nähe wa." - "Wieso waast du hier jrade inne Nähe? Wat suchst du in Panko?"
Ich sagte, dass ich sonntags immer spazieren gehe. "Soso, schpatziern jehn un Besuche machn. For sowat biste doch noch ville zu kleene, Mensch!"
Sie zog ihre Kittelschürze aus, schlüpfte in Kleid und Schuhe, setzte ihr Hütchen auf, schrieb ihrem Mann, der auf dem Fußballplatz war, einen Zettel, nahm mich bei der Hand und fuhr mit mir zu Ida, wo sie mich wie ein Fundstück abgab. So war ich gründlich und für alle Zeiten davor gewarnt, irgendwo unangemeldet als Besuch zu erscheinen.
Etliche Jahre später - ich war gerade Mutter geworden - fasste ich dann doch noch einmal den Entschluss, Tante Gerda unangemeldet zu besuchen. Ich wollte das nach Idas Tod zwischen uns zerrissene Band neu knüpfen, meine Tochter der Familie vorstellen und nach Möglichkeit Gerda zur Oma meiner Tochter deklarieren.
Wieder stand ich erwartungsfroh vor ihrer Tür, fest davon überzeugt, dass das kleine Bündel Mensch in meinem Arm längst verklungene Saiten wieder zum Klingen bringen würde. Es war wie damals. Ich wunderte mich nicht darüber, dass es eine Weile dauerte, ehe die Tür geöffnet wurde, das kannte ich ja noch. Alfred öffnete. Oh Wunder, er war nicht auf dem Fußballplatz! Er blickte mich giftig an und sage: "DU??? Wat willst du denn hier uff n Sonntachnachmittach?"
Er drehte sich um und ließ die Tür offen. Ich war von diesem Empfang durchaus nicht entmutigt. Ich trat ein und fragte: "Is Tante Gerda zu Hause?" Da hörte ich schon ihre Stimme: "Wer isset denn, Pappa?" Er brummte irgendetwas, ließ sich in den Sessel fallen und steckte sich eine Zigarette an. Gerda war im Nachthemd.
Ich hatte nicht im geringsten geahnt, dass ich das alte Ehepaar beim Mittagsschlaf stören könnte. Sie kicherte: "Ach, du bist det?! Nach so ville Jahre! Wat haste denn da uff n Arm, Mensch? Ach, is der süß! Is doch n Junge, wa? Biste vaheirat? Na, nu setz dir ma hin, ick koch uns n Kaffe."
Ich folgte ihr in die Küche. Erstens wollte ich nicht mit Alfred alleine sein und meine kleine Tochter seinem Zigarettenqualm aussetzen, zweitens kam mir Gerda ein bisschen wacklig auf den Beinen vor und drittens wollte ich ihr beim Tischdecken helfen. Ich erzählte ihr rasch alles Wissenswerte.
Sie kicherte immer wieder. So kannte ich sie gar nicht! Erst am Kaffeetisch beruhigte sie sich langsam. Alfred hatte inzwischen den Fernseher eingeschaltet. Damals hatten noch nicht viele Leute einen Fernsehapparat.
Ich fand es toll, ein Kino in der Wohnung zu haben, wo man sich gleich an Ort und Stelle mitten im Film über das Geschehen unterhalten konnte. Ich wunderte mich, dass man mir nicht antwortete. Plötzlich sagte Alfred zornig: "Wenn de nich gleich de Klappe hältst, fliechste! Is sowieso ne Unvascheemtheit, hier ufft Wochende unanjemeldt uffzukreuzn, unvaheirat mit m Jör!"
Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Dann sagte ich schnoddrig: "Du hast damals die Zeit nich jenutzt, um mir Moral beizubring. Nu isset zu schpeet." Gerda schüttelte den Kopf: "Ihr werdt euch doch jetz hier nich zankn! Wat vorbei is, is vorbei, lasst ma die Vajangheit ruhn!"
Ohne es zu wollen, hatte sie mir mit diesen Worten klargemacht, dass sie absolut nicht meinen Vorstellungen von der Oma meiner Tochter entsprach. Ich stand auf, um mich zu verabschieden. Sie brachte mich zur Tür und sagte: "Ick hab mir sehr jefreut, det du dir ma hast blickn lassn. Komm ruhich ma wieder mit det Kleene, wenn Pappa nich da ist."
Ich nickte und wusste genau, dass ich sie nicht besuchen werde. Es widerte mich an, dass sie einen Mann, der als Vater völlig ungeeignet war und auch keine Kinder hatte, "Papa" nannte.
Dreißig Jahre später fiel mir ihr sonderbares Verhalten wieder ein. So reagiert man nicht, wenn man aus dem Schlaf gerissen wurde! Dieses Taumeln, dieses Kichern! Sie im Hemd und er komplett bekleidet! Bleibt nur die Vermutung, dass er ihr etwas eingegeben hatte, damit sie sein süßes, kleines Mädchen ist! Na, immer noch besser, als wenn er die kleinen Mädchen auf der Straße ansprechen würde!
Old Icke begegnet der Kleinkunst
Im Sommer 47 stand auf einem beräumten Ruinengrundstück in unserer Straße ein kleiner Rummel, zu dem auch ein Puppentheater gehörte, d.h. ein Puppenspieler hatte sich den Fahrgeschäften und Buden mit seinem Wohnzelt angeschlossen. Er gab nicht jeden Tag eine Vorstellung. Für uns, die wir ja noch gar nicht wussten, was ein Puppentheater ist, waren die Karussels und Buden viel interessanter. Wir hatten zwar kein Geld für Lose oder Wurfspiele, aber das Zusehen machte auch Spaß. Eines der Karussels hatte sogar eine Schallplatte, die den ganzen Tag dudelte: "Fahr mit mir nach Tahiti, mit mir nach Tahiti, mit mir . . ."
Eines Tages klebten viele bunte Plakate an allen Zäunen der näheren Umgebung, wo zu lesen war, dass der Puppenspieler am kommenden Sonntag eine große Kindervorstellung geben werde. Da alle Kinder aus der Nachbarschaft die Vorstellung ansehen wollten, bekamen auch wir die Erlaubnis dazu. Ich erinnere mich natürlich nicht mehr an den Inhalt des Stückes, ich weiß nur noch, dass wir alle stark ergriffen waren und dem Stück mit großer Geräuschkulisse folgten. Jeder Satz und jede Bewegung des Puppenspielers wurde von uns mit entsprechender Lautäußerung bedacht. Ich weiß auch nicht mehr, welcher Art die Puppen waren, ob Marionetten oder Handpuppen uns ein zauberhaftes Märchen vorführten.
Ich weiß nur, dass die Prinzessin blond und blauäugig war und ein Kleid aus weißer Spitze trug, der König trug einen dunkelblauen Samtmantel mit Pelzkragen, der Zauberer einen schwarzen Mantel und einen hohen, spitzen Hut, der Teufel aber war ganz in leuchtend rote Seide gekleidet. Der Kaspar war mit einem Anzug aus bunten Rauten angetan, er hatte kleine goldene Schellen an seiner langen Zipfelmütze sowie an seinen Händen und Füßen. Seine Pritsche war spiegelblank lackiert, weshalb er sie auch nicht benutzte, sondern nur spazieren trug.
Das Ganze war für mich überaus fantastisch. Ich war ganz der Welt entrückt und begriff es zuerst gar nicht, dass das Stück zu Ende und alles nur ein Märchen war. Die Leute begannen zu klatschen und der Puppenspieler trat vor den Vorhang, um sich zu verbeugen. Plötzlich war es unheimlich ruhig, dann brach ein Pfeifkonzert los.
Der Puppenspieler war nämlich ein großer Mann mit langen schwarzen Locken, er hatte einen dichten schwarzen Vollbart, der ihm bis auf die Brust reichte und er hatte tiefschwarze Augen. Er war nicht nur genau der Typ, der dem deutschen Volk bis vor kurzem noch als Untermensch hingestellt wurde, sondern er sah auch noch dem bösen Puppenspieler Barabas aus dem russischen Märchenfilm "Das goldene Schlüsselchen", den wir Kinder kürzlich im Kino gesehen hatten, sprechend ähnlich. Der Mensch, der uns eben noch mit seinem Spiel so restlos begeistert hatte, wurde nun ausgepfiffen und Barabas geschimpft. Waltraud befürchtete schlimmere Übergriffe und ging rasch mit mir nach Hause, wie immer, wenn es irgendwo brenzlig wurde.
Zu unserer Kindergemeinschaft gehörte ein etwa zwölfjähriger Junge, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe. Ich hatte zuwenig mit ihm zu tun. Er behauptete, mit dem Puppenspieler näher bekannt zu sein, auf sein Zelt aufpassen zu dürfen und auch manchmal die Puppen führen zu dürfen. Als wir alle nun diesen "Barabas" gesehen hatten, beschlossen die größeren Kinder unserer Gemeinschaft, dem "bösen Mann" die Puppen zu stehlen.
Wir wussten, dass das Zelt dicht verschlossen war und niemand einfach so hineingehen konnte. Kindern, die die Puppen nur mal anschauen wollten, erklärte der Puppenspieler, dass die Puppen seit mehreren Generationen im Besitz seiner Familie wären und einen großen historischen Wert besitzen, dass er sie daher nur mit größter Vorsicht und nur zu den Vorstellungen benutzt.
In dem kürzlich beendeten Krieg waren so viele Werte den Bach hinuntergegangen, dass wir Kinder absolut nicht begriffen, wieso Puppen jetzt nicht von Kindern angefasst werden sollen. Puppen sind Kinderspielzeug. Jeder einzelne von uns hätte mit den Puppen spielen können, nicht nur dieser Bärtige! - so dachten wir. Der Junge wurde beauftragt, uns die Puppen zu bringen. Er wehrte sich heftigst: "Nein, das tue ich nicht! Ich bringe euch die Puppen nicht! Niemals!" Blutend aus Gesicht und Händen verließ er die geheime Stätte unserer Zusammenkunft.
In den nächsten Tagen wurde das Zelt observiert. Die Führer unserer Gemeinschaft wollten die Puppen haben. Der eine den König, der nächste den Teufel, der andere die Prinzessin, der vierte den Zauberer. Der, der die Prinzessin wollte, wurde weniger heftig verlacht als der, der den Kaspar begehrte. Der Kaspar war eine Figur, die zum Auslachen und Verhöhnen da war.
Endlich war ein passender Zeitpunkt gefunden. Der Puppenspieler war mit Freunden in einer Kneipe - wir wussten, dass ein Mann eine Kneipe nur als Volltrunkener verlässt und hofften, dass der Puppenspieler wenigstens darin ein "Mann" war; sein jugendlicher "Aufpasser" war von uns abserviert worden, er ließ sich gewiss nicht mehr blicken - die Gelegenheit war günstig.
Aber keines der Kinder passte unter der dicht verschlossenen Zeltplane hindurch. So begannen sie auf mich einzureden, dass ich kleiner Murkel für sie in das Zelt kriechen soll und die Puppen herausholen, wenn es geht, alle, aber zumindest den Teufel. Ich schüttelte den Kopf. Mit dem Teufel wollte ich nichts zu tun haben.
Es gab auch sonst in dem Stück keine Figur, mit der ich mich identifizieren konnte. Für keine der vorgeführten Puppen hätte ich mein Seelenheil riskiert. Sie versprachen mir alles Mögliche, wenn ich nur irgendeine Puppe stehlen würde. Ich hatte die Worte unseres Pfarrers aber noch im Ohr, der da sagte: "Du sollst nicht stehlen! So spricht der Herr, dein Gott!" Ich grinste meine Verführer an und schüttelte weiter standhaft den Kopf.
Da sagte Waltraud bedauernd: "Wirklich schade! Du bist die eenzichste, die da rinjehn könnte! Vielleicht hat diesa Barabas doch wieda die Fee mit den blauen Haaarn jefang; die muss denn jetze uff eeewich bei ihm bleim!" Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie er die Fee wieder in seine Gewalt bekommen haben könnte, aber im Märchen ist schließlich alles möglich, und dieser Mann mit seinem langen schwarzen Vollbart kam eindeutig aus dem Märchenreich, soviel stand für mich fest. Die blauhaarige Fee durfte auf gar keinen Fall in seiner Gewalt bleiben!
Tapfer ging ich auf das Zelt zu und schob mich vorsichtig unter die Plane. Es war stockfinster in dem Zelt, aber ich wusste, dass sich meine Augen binnen kurzem an die Dunkelheit gewöhnen würden, und dann wollte ich solange suchen, bis ich entweder genau wusste, dass die Fee nicht hier war und ich sie also nicht retten konnte, oder ich würde auftragsgemäß den Teufel unserem Anführer bringen, die Prinzessin und den Zauberer denen, die nach ihnen verlangten, und den Kaspar hätte ich gerne mit seinem zukünftigen Besitzer geteilt. Ich wollte nicht, dass so zauberhafte Puppen unter einem bösen Mann leiden müssen.
Plötzlich erschütterten schwere Schritte den Boden hinter mir. Außerdem hörte ich die Kinder, die in gehöriger Entfernung auf meine Rückkunft warteten, schreiend davonlaufen. Eine große Hand packte meinen Fuß, der sich noch außerhalb des Zeltes befand, und ich wurde mit einem Ruck aus dem Zelt gerissen. Eine schwere Männerhand klatschte so gewaltig auf meine Rundungen, dass mir auch Brust und Bauch wehtaten. Dann riss der Puppenspieler mich in die Höhe, schüttelte mich und schrie: "Was tust du hier, du neugieriges Gör? Wag das nicht noch einmal!" Er stellte mich auf den Boden und verpasste mir zum Abschied noch einen Fußtritt, der mich aber nicht ganz erreichte, denn durch den unfreiwilligen Spagat, den ich ausführte, als er mich aus seinem Zelt riss, waren meine Beine noch nicht voll funktionsfähig.
Ich fiel also hin und sein Fuß sauste durch die Luft. Ich konnte vor Entsetzen nicht einmal schreien. Auf allen Vieren lief ich nach Hause, so schnell es irgend ging. An der Ecke wurde ich von den anderen erwartet, die das Ganze aus sicherer Entfernung beobachtet hatten. Sie trösteten mich mit einem Bonbon, den eins der Kinder zufällig in der Tasche hatte. Ich war der Held des Tages, obwohl meine Mission gescheitert war.
Ich hatte mehrere Schürfwunden und blaue Flecken davongetragen. Ida wollte natürlich wissen, woher sie rührten und ich erzählte alles wahrheitsgemäß. Ida winkte Traute und Doris zu sich und sagte: "So n Blödsinn lasst a jefällichst! Wenn Puppenschpiela ooch keen vanünftja Beruf is for n ausjewachsnen Mann, ihr könnt det nich beurteiln, ob det n bösa Mann is! Un ihm bei seine brotlose Kunst ooch noch die Puppn, also sein Werkzeuch zu klaun, det is, also ick weeß nich, wat ick zu so ne Jemeinheit saaren soll!" Dass sie diesmal so zurückhaltend war mit ihrem Tadel und nicht wie gewöhnlich übelste Beschimpfungen auf uns ausgoss, beeindruckte mich zutiefst.
Ida fragte: "Wat wolltet ihr denn man bloß mit die Puppn?" - "Na, schpieln!", meinte Doris keck. Während Traute sich hinter mir versteckte, sagte Ida tadelnd: "Det sin doch keene Puppn for eich zen schpieln, ihr Dusseltiere! Treibt eich ja nich wieda uff den Rummelplatz rum!" Traute und Doris versprachen es, froh, ungestraft davongekommen zu sein. Zu mir sagte Ida: "Du musst nich imma ALLES machen, wat Traute un Doris saaren! Siehst ja, wat da manchma for n Blödsinn bei rauskommt!" - "Aba ick wollte doch die Prünzessin befrein!", versuchte ich mich zu verteidigen. Ida sah mich groß an: "Sowat jibt s doch nur im Meerchen, du dummet Polk! Prünzessin befrein! Bist du etwa n Prünz? Du weeßt doch, wer die Prünzessin befreit, der muss se ooch heiratn!"
Traute und Doris wollten sich ausschütten vor Lachen. So endete dieser ruhmreiche Tag für mich doch noch mit Schimpf und Schande. Wenn ich mich recht erinnere, wünschte ich an jenem Tag erstmalig, lieber als Junge auf die Welt gekommen zu sein. Wäre ich ein Junge gewesen, hätte man mich zwar veräppelt, aber doch meinen Heldenmut anerkannt. Mädchen ist das Heldentum für gewöhnlich verwehrt.
Zwei Jahre später hatte ich die nächste Begegnung mit der Kunst. Tante Gerda und Onkel Alfred besuchten mit mir eine Zirkusvorstellung. Wir Mädchen hatten unsere weißen Sonntagskleider an und mir war eingeschärft worden, mich EINMAL anständig zu benehmen und halbwegs sauber zu bleiben. Um das zu gewährleisten, wollte ich bei einem der anderen an der Hand gehen. Aber das junge Paar wollte unterwegs ein wenig turteln, und so sagten sie: "Du bist schon groß, du kannst alleine laufen."
Diesen Standpunkt vertrat auch Waltraud, und so kam es, wie es kommen musste: Anstatt auf den Weg zu achten, sah ich mir die bunten Plakate an, die Wohnwagen, die Gitter und das riesige Zelt und fiel natürlich irgendwann in den Schmutz. Nachdem man es abgelehnt hatte, mich an der Hand zu führen, glitten die Beschimpfungen wirkungslos an mir ab. Auch, dass ich keine Zuckerwatte bekam, war mir keine Strafe. Ich wusste, dass Waltraut ihre Riesenportion nicht schafft und so doch etwas für mich zum Kosten bleiben würde.
Nachdem ich dann ihren Zuckerwattestiel leer geknabbert hatte, überlegte ich, was an dieser unappetitlichen klebrigen Substanz eigentlich dran sein sollte? Also von mir aus brauchte es dieses Zeug nicht zu geben! Die Käfige im Hintergrund waren viel interessanter. Aber Alfred sagte: "Inne Tierschau jehn wa nich, die Viecha sehn wa ja denn inne Vorschtellung. Die wärn ja nich hier, wenn se nich ooch inne Maneesche jezeicht wern würn." Ich schmollte, zeigte es aber nicht. Ich wollte mir nicht noch weitere Nachteile einhandeln.
Endlich betraten wir das Zelt und gingen zu unseren Plätzen auf einer der hintersten Sitzreihen. Gerda maulte: "Mann, von hier aus sieht man ja janischt!" Alfred antwortete: "Wird schon reichn! Die annern Plätze sin zu deuer." Der Zirkus war nur mäßig besucht, so wechselten wir zu Beginn der Vorstellung auf bessere Plätze. Ich wunderte mich darüber, dass wir nicht vom Kartenabreißer daran gehindert wurden. Alfred sagte: "Der hat jetz wat anderet zu duhn, hier is jetz keena mehr, der uffpassen kann!" Ich blickte mich um und richtig - die Kartenabreißer waren in der Manege mit anderen Dingen beschäftigt. Während der Vorstellung erkannte ich gar einen von ihnen als Kunstreiter wieder.
Ich fand alles wunderschön. Die Clowns! Die Pferde! Die Perche-Nummer! Die Elefanten! Die Trapez-Nummer! Die Löwen! Die Jongleure! Die Tiger! Noch mal Clowns! Die gemischte Tierdressur! Die Musik, die so exakt zu jedem Auftritt passend gespielt wurde! Der Zauberer! Und die Hochseilartisten! Ich spendete überschwänglichen Beifall.
Nachdem Gerda gesagt hatte: "Unsa kleenet doowet Landei Krille is ja so leicht zu bejeistan! Die jefällt allet, un wenn t der jrößte Mist is!", hielt Traute sich sehr zurück mit ihrem Beifall. Auch die Erwachsenen bewegten ihre Hände oft nur andeutungsweise. Ich verstand das nicht. Was die Artisten hier zeigten, konnte doch mit Sicherheit nicht jeder zweite! Meine diesbezügliche Bemerkung auf dem Heimweg wurde abgetan: "Dafor sin det Aatistn, damit se det könn! For Aatistn is det nischt besonderet. Wat de in den Zökus jesehn hast, siehste in jeen annan ooch."
Meine Begeisterung war indessen nicht zu bremsen. Auf dem ganzen Heimweg sprach ich voller Entzücken über jede Darbietung. Endlich stöhnte Tante Gerda: "Men – schens - kind, halt endlich die Klappe! Det kannste nachher allet Oman azeeln!" Abschließend bemerkte ich noch: "Wenn ick jroß bin, wer ick ooch Klohn!" Alfred lachte: "Det biste doch schon, du krist det man bloß nich mit!" In meiner Begeisterung hatte ich völlig vergessen, dass "Klohn" als Schimpfwort galt. Ida hatte weder Zeit noch Geduld, sich meine begeisterte Schilderung des Zirkusgeschehens anzuhören. Sie wies mich ab: "Du fällst ma uff n Wecka, Meedel!"
Auch in den "Berliner Prater" ging Alfred mit uns, weil dort ein Kinderfest stattfand. An jenem Tag ging es folgendermaßen zu: Waltraud freute sich genauso wie ich auf das Kinderfest, und sie wäre gern mit ihren Eltern allein dorthin gegangen. Sie maulte: "Muss denn die Krille übaall mit?!" Ihre Mutter erklärte, dass ich genauso viel Anrecht auf ein Kinderfest habe wie sie. Nun wurden wir hübsch angezogen. Waltraud murrte: "Kricht die Christa wieda eens von meine Kleida an? Ick kann det nich leidn!" Gerda lachte: "Mensch, nu hab dir nich so alban! Det Kleid is dir doch schon lange ville zu kleene! Wo willste denn det jetz noch hinziehn?!"
Waltraud sah es widerwillig ein. Nun wollte sie nur noch besser frisiert sein als ich. Das gestand ich ihr neidlos zu. Sie war die Ältere von uns beiden, sie war die Hübschere von uns beiden, sie war blond, sie hatte eine Mutter und neuerdings auch einen Vater. Ich konnte froh sein, von ihnen mitgenommen zu werden. Und ich war froh. Und dankbar.
Endlich gingen wir los. Auf dem Weg wurden wir noch einmal ermahnt: "Jenade euch Jott, wenn ihr euch mißtich macht!" Bei Waltraud war da keine Gefahr, die Ermahnung galt im Wesentlichen mir. Dann waren wir nach kurzer Straßenbahnfahrt im Prater. Ich war enttäuscht, denn er sah aus wie ein großes Gartenlokal, und die Erwachsenen benahmen sich auch so, als wären sie in einer Kneipe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier ein Kinderfest stattfinden sollte. Auf meine diesbezügliche Frage lenkte Alfred meinen Blick zu einem riesigen Gestell aus Holz und Metall: "Daaa is die Bühne, und da wird ooch wat sein!" Nun ließ ich die Bühne keine Sekunde mehr aus den Augen.
Endlich formierte sich auf ihr ein Kinderchor. Der Dirigent sagte mit weicher Stimme: "Zuerst singen wir nicht nur für alle anwesenden Kinder, sondern auch mit ihnen. Alle, die mitsingen möchten, kommen jetzt zu uns auf die Bühne. So entsteht ein riesengroßer, neuer Prater-Kinderchor, und wir singen all die Lieder, die jedes Kind kennt." Ich wollte sofort losstürmen, aber Gerda hielt mich am Ärmel zurück: "Bist du doof? Du kannst doch da nich mit sing, du kennst doch die Lieda janich!" Ich erwiderte jammernd und heftig gestikulierend: "In de Sonntachsschule bei n Kindajottesdienst kenn ick die Lieda ooch nich, un da muss ick mitsing, warum dürf ick denn nu jetze hier nich?"
Alfred setzte mich energisch auf meinen Stuhl hinter mein großes Glas "Berliner Weiße mit Schuss". Das kostete damals ebensoviel wie ein halbes Pfund Wurst und ein halbes Brot. Von hier aus durfte ich zuhören, wie die allgemein bekannten Kinderlieder gesungen wurden, und ich bedauerte lebhaft, nicht auf die Bühne zu dürfen.
Waltraud hatte sich inzwischen vom Tisch weg auf die Bühne begeben. Ich schrie: "Walle singt da vorne!" Gerda "beruhigte" mich: "Die is n bisschen älta als du, die kennt die Lieda. Un kiek dir ma um! Da sin noch andre Kinda, die atich am Tisch sitzn bleim." Aber diese artigen Kinder konnten nicht freihändig laufen, teils, weil sie zu jung waren, teils, weil sie behindert waren. Und ich kannte alle Lieder, die auf der Bühne gesungen wurden! Jedes einzelne konnte ich im vollen Wortlaut mitsingen! Ich sang also leise an unserem Tisch, wodurch ich Alfred und Gerda beim Schmusen störte. Wenn ich bemerkte, dass ich störte, trank ich mein Bier. Nachdem es so teuer war, sollte es mir auch schmecken.
Als der Gesang auf der Bühne beendet war, kehrte Waltraud an unseren Tisch zurück. Alfred und Gerda lobten sie für ihren Auftritt in der Art, wie man einen Hund lobt; deshalb war ich einen Moment froh, nicht auf die Bühne gegangen zu sein. Während Alfred kurz darauf für uns alle Bratwürste bestellte, streckte Waltraud mir die Zunge heraus: "Ääätsch, ick hab doch mitjesung!" Tja, das hatte ich bemerkt. Mich bewegte nur noch die Frage: Warum wurde ich am Mitsingen gehindert? Warum durfte ich nicht auf die Bühne? Bin ich wirklich zu blöd, um die mir bekannten Lieder zu singen?
Eine Stunde später kam der Kinderchor, diesmal in farbenfrohe Trachten gekleidet, wieder auf die Bühne zurück. Und sie sangen Lieder, zu denen sie auch tanzten. Keine Macht der Welt hätte mich jetzt noch am Tisch halten können! Ich erklomm auf allen Vieren den glücklicherweise rückwärtigen Bühnenaufgang. So konnte niemand meine Tapsigkeit sehen; ich war als Vierjährige noch nicht fähig, eine Treppe anders als auf allen Vieren zu erklimmen, und mischte mich unter den Chor. Aber jetzt waren die Zuschauerkinder nicht zum Mitsingen aufgefordert. Ich war ein störender Fremdkörper und wurde rasch von der Bühne gedrängt: "Du jehörst nich zu uns!", sagten sie zu mir. Ich hatte nicht begriffen, dass die Bühne nun nicht mehr für Jedermann frei war, und wurde obendrein von meiner Verwandtschaft ausgelacht.
Die nächste Begegnung mit der Kunst hatte ich weitere zwei Jahre später. Wir gingen mit der Schulklasse in ein - - - Puppentheater. Was wir dort sahen, war kein durchgängiges Stück, sondern ein Nummernprogramm, und es traten unterschiedliche Arten von Puppen auf; von der Stabpuppe bis zur kunstvollen Marionette war alles vertreten, was gemeinhin von Puppenspielern bewegt wird. Für jede Nummer wurde die Bühne völlig neu dekoriert. In den Umbauphasen wurde das Publikum teils von Wollwürmern, teils vom Kasperle unterhalten.
Was da im einzelnen vorgeführt wurde, weiß ich nicht mehr, mir ist von dem ganzen Puppentheater nur eine einzige Szene im Gedächtnis haften geblieben. Zum einen, weil sie mir wirklich sehr gut gefallen hatte und zum zweiten, weil ich ihretwegen Ärger bekam, denn wir sollten über den Theaterbesuch einen Aufsatz schreiben und schildern, was uns sehr gut bzw. gar nicht gefallen hat. Als "nicht gefallen" schilderte ich das Benehmen meiner Klassenkameraden. Sie hatten sich auf dem Hin- und Rückweg sowie während der Vorstellung reichlich ungehörig benommen. Wenn ich in Idas Gegenwart auch nur ein Zehntel all dieser Ungehörigkeiten begangen hätte, hätte ich eine gewaltige Tracht Prügel bekommen. Als "sehr gut gefallen" schilderte ich wahrheitsgemäß jene Szene, die in Venedig spielte.
Da fuhr eine Gondel anmutig durch den Canale Grande, und in der Gondel saß eine Puppendame mit hoher Frisur und weitem Kleid, einen Sonnenschirm in der Hand. Der Gondoliere trug einen weiten Mantel mit hohem Kragen, er stakte die Gondel sachte vorwärts und sang mit angenehmer Stimme die "Barkarole" aus "Hoffmanns Erzählungen". Damals kannte ich diese Barkarole noch nicht, aber es war die erste Melodie, die ohne Text bei mir haften blieb. Daher konnte mir fünf Jahre später die Freundin meiner Mutter den Titel nennen. Ich begriff nicht, warum der Gondoliere sich beim Singen so komisch verrenkte, dass alle über ihn lachten. Wie kann man sich zu so herrlicher Musik komisch bewegen! Aber ich ließ mir durch diese Frage den Genuss nicht beeinträchtigen.
Als wir die Aufsätze zurückbekamen, klärte mich die Lehrerin dahingehend auf, dass das Benehmen meiner Klassenkameraden zwar tatsächlich unschön war, aber keineswegs zum Stück gehörte, dass auf der Bühne kein Wasser war, sondern nur glänzendes Papier und dass die Puppen nicht gesungen hatten, sondern dass ein Tonband abgespielt wurde und dass die gesamte Szene absoluter Kitsch - hier verzog sie angewidert das Gesicht - gewesen sei.
Ich wusste, dass auf der Bühne kein Wasser war. Ich wusste, dass die Puppen nicht selbst gesungen hatten. Aber es war alles so perfekt gemacht, dass meine Begeisterung keine anderen Worte gefunden hatte. Was Kitsch ist, wusste ich damals noch nicht. Ich musste nur schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass das, was mir gefiel, minderwertig ist. Und in der Pause bekam ich Klassenkeile. Von nun an zeigte ich nicht mehr offen, was ich dachte und fühlte, und lernte auch bald, in gewissen Situationen zu lügen.
Vierzehnjährig sah ich erneut lebende Menschen auf einer Bühne. Zu den Jugendweihestunden gehörte nämlich auch ein Theaterbesuch. Wir sahen „Ein Sommernachtstraum" in der „Komischen Oper". Der Titel schien mir überaus romantisch, aber ich war vorgewarnt, das Stück wurde in der „Komischen Oper“ aufgeführt. Romantik würde hier also persifliert werden. Ich staunte über die festlich gekleideten Besucher. Nie hatten meine Augen so viel Eleganz erblickt! Auch meine Klassenkameraden trugen Kleider, die ich nie zuvor an ihnen sah.
Bei mir zu Hause hatte vor dem Theaterbesuch ein heilloses Durcheinander geherrscht: "Die Jöre jeht int Tiata! Wat die Schule sich denkt! Woher solln wa denn jetze so schnell n Tiatakleid for die Jöre hernehm?"
Ich bekam ein Kleid von Waltraud, aus welchem sie längst herausgewachsen war. Ich war überzeugt davon, dass ich anlassgerecht gekleidet war und gab mich dem Theatererlebnis mit ganzer Seele hin. Ich versuchte krampfhaft, dem Geschehen zu folgen, wusste nicht, welcher handelnden Person ich mehr Sympathie zukommen lassen sollte. Für mich war das Ganze ein unerhörtes Vorkommnis. Soviel Licht, soviel Schönheit, soviel Musik, soviel Glimmer auf den Kostümen - namentlich Titania hatte sehr viele Strasssteine in ihrem Kleid, bei jeder Bewegung warfen sie feurige vielfarbige Blitze. Kein Weihnachtsbaum konnte so schön sein wie dieses Kostüm!
Die Darsteller konnten nicht von dieser Welt sein. Wer jemals eine wohlklingende Melodie an mein Ohr brachte, war nach meinem Dafürhalten schon ein besserer Mensch. Wer jedoch so herrlich singen konnte wie die Akteure jener Operette, war zumindest in der Vorstufe zum Engel. Jeden Bühnenkünstler stellte ich in Zukunft den Engeln gleich. Wenn nicht, noch höher. Total verzaubert kehrte ich nach Hause zurück, wo meine Begeisterung auf taube Ohren stieß.
Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich eines Tages selber auf der Bühne stehen würde, um das Publikum zum Lachen zu bringen, hätte ich geantwortet: „Du spinnst ja!“
Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin 1951
Irma hatte einen Witz gehört, der ihr so gut gefiel, dass sie ihn jedem erzählte. Mir war unklar, wie man so etwas als Witz erzählen konnte, aber urteilen Sie bitte selbst: Wenn die Hottentotten zur Arbeit auf die Felder gehen, binden sich die Frauen ihre Säuglinge auf den Rücken. Schreit eines, dann werfen sie die Brust über die Schulter und das Kind trinkt. Einmal traf eine Frau ihr Kind so unglücklich am Kopf, dass es daran starb. Wie nennt man das? Das ist ein Hottentottentittenattentat. Als ich an einem Tag diese Zumutung dreimal hintereinander hören durfte, gab ich - ungefragt - die Antwort auf eine Weise, die klarstellen sollte, dass das kein guter Witz ist. Irma gab mir eine Ohrfeige - übrigens die einzige, die ich je von ihr erhielt - und sprach monatelang nicht mehr mit mir.
Kurze Zeit später wurden für die Weltfestspiele Quartiere und Betreuer gesucht. Grete L. bewarb sich, der guten Bezahlung wegen und nicht etwa, weil sie für die Spiele war. Im Gegenteil, sie war der Meinung, dass jeder hübsch zu Hause bleiben sollte, da könnte er seinem Land viel dienlicher sein als durch solch eine "Vergnügungsreise".
Jedenfalls sagte sie zu Ida: "Ej, du kannst doch so jut kochn - ick melde unsan Hausbodn als Quartier un uns beede als Betreuer un denn vadien wa uns det Jeld!"
Ida war nicht sicher, ob denn "die Hottntottn det berliner Essn ooch schmeckn wird", aber Grete L. sagte: "Hunga is der beste Koch!"
Nun ließen sich die beiden noch eine Weile über diesen Staat aus, der die Jugend der ganzen Welt in eine vom Krieg zerstörte Stadt einlädt, wo wir Deutsche uns doch gerade schämen mussten, schon den zweiten Krieg verloren zu haben.
Ein paar Tage später stand sie dann mit einem großen Sack voller Fahnen in unserer Küche. Sie sollten in die Fenster gehangen werden, damit die ausländischen Gäste ihre Quartiere leichter finden. Grete L. wollte die englische und die amerikanische Fahne anhängen, Ida die französische, weil ihnen diese Völker am sympathischsten waren. Die phantasievollen Fahnen der afrikanischen Nationalstaaten hätten sie am liebsten zur Hofseite hin gehangen, aber da war Ärger zu befürchten.
Ida maulte: "Müssn wa uns jetze hier mit die Hottntottn rumärjan! Wie die schon aussehn! Det reicht nich, det se schwaaz sin, die draren ooch noch n Ring durch de Neese un hahm jede Menge Unjeziefa! Un wer weeß, ob det bei die nich ooch noch Menschnfressa jibt! Natzjonalschdaat! Seit wann ham die Hottntottn ne Natzjon?"
Mir gefielen die afrikanischen Fahnen sehr gut. Grete L. sagte: "Ja, ja, du Affe! Det Bunte jefällt! Wenn die sich nich mal bei ihre Faane uff eene Faabe einjen könn, denn wird det in die ihrn Schtaat ooch janz schön drunta un drüba jehn! Wer weeß, wie die Hottntottn sich denn hier bei uns benehm wern!" (Als auf unsere Fahnen das DDR-Emblem genäht wurde, hatte sie auch gleich einen flotten Spruch parat: "Wir sin so behämmat, det wir solange zirkeln, bis wir in Eehrn untajehn.")
Beim Zusammenfalten der Fahnen sagte Ida sinnend: "Mein Jott, wenn jetze hier wirklich aus alle Welt Leute komm könn, denn könnte ja ooch Trautes Vata plötzlich vor de Düre schtehn!" Grete L. ließ die Fahne sinken und wandte sich zu Waltraud: "Hör ma zu, Meedel, wenn der wirklich hier ankommt, denn saachste zu ihm: "Sie ham sich mein janzet Leehm nich um mir jekümmat, Sie sin nich mein Vata!", un denn knallste ihm die Düre vor de Neese zu un denn kann a klingeln, bis a schwaaz wird!" Waltraud nickte ernst und ein wenig verstört. Zum ersten mal fühlte ich mich ihr überlegen: Ich brauchte meinen Vater nicht zu verleugnen!
Auf unserem Dachboden wurden Strohsäcke ausgelegt, und die Jugend der Welt kam nach Berlin. Mich faszinierte der Gedanke, dass sich gerade in dieser vom Krieg zerstörten Stadt junge Menschen zu einem Fest trafen, um ihren Friedenswillen zu dokumentieren und dass sie sich trotz unterschiedlicher Sprache verstanden und vertrugen.
Am ersten Tag der Weltfestspiele formierte sich ein gewaltiger Fackelzug mit mehreren Blaskapellen. Die Delegierten zogen, ihre Friedensparolen rufend, an unserem Haus vorbei. Viele Menschen standen am Straßenrand und winkten freudig dem Zuge zu, und viele Kinder folgten ihm oder liefen wenigstens ein Stück nebenher. Ich spürte die Musik mit allen Fasern meines Körpers und schloss mich - äußerst erregt - dem Zuge an. Das "Weltjugendlied" und das "Aufbau-Lied" wurden für mich zu Hymnen.
Mäcky wich nicht von meiner Seite. Wir folgten dem Fackelzug wahrscheinlich bis zu seiner Auflösung, denn plötzlich war nichts mehr von ihm zu sehen und es standen auch keine winkenden Menschen mehr am Straßenrand und die Kapelle war verstummt. Endlich erwachte ich aus dem Taumel. Ich drehte mich auf dem Absatz um und sagte: "Komm, Mäcky, wir müssen zusehn, det wa zu Hause komm."
Wir liefen die uns unbekannten Straßen entlang. Ich wusste beim besten Willen nicht, wo wir waren und wie wir gehen mussten, um nach Hause zu kommen. Auch konnte ich die altdeutsche Schnörkelschrift auf den Straßenschildern nicht entziffern. Der erste Mensch, den ich nach dem Heimweg fragte, antwortete mir nicht, weil Mäcky ihm hinter meinem Rücken eine Fratze schnitt. Ich wagte nicht noch einmal, jemanden zu fragen.
An einer Straßenkreuzung sagte Mäcky plötzlich: "Wir müssen da lang!", und wies in eine Richtung, die uns nach meiner Meinung fast wieder an den Ausgangspunkt unseres Irrwegs gebracht hätte. Ich widersprach ihm, doch er hörte nicht auf mich und ging allein los. Ich ließ ihn laufen, denn ich kannte inzwischen seinen Starrsinn. Jeder muss seine Fehler selber machen, dachte ich mir nur.
Nun konnte ich endlich wieder jemanden nach dem Weg fragen und freute mich, als mir ein Polizist entgegenkam. Doch er antwortete mir, dass er etwas besseres zu tun hätte, als mein Freund und Helfer zu sein. Ich hatte dummerweise diese Formulierung benutzt, als ich ihn ansprach.
Ich fragte mehrere Leute nach dem Heimweg, aber keiner kannte die Pistoriusstraße, ja, einige glaubten gar, dass ich sie mit diesem Wort ärgern wollte!
Dann wurde es dunkel und ich begann zu weinen. Ich war durstig. Ich war hungrig. Ich war müde, völlig verängstigt und die Füße taten weh. Ich "heulte wie ein Schlosshund".
Endlich bemerkte eine Frau meinen erbarmungswürdigen Zustand. Sie kannte die Pistoriusstraße zwar auch nicht, aber sie hatte einen Stadtplan bei sich! Wir fuhren mit mehreren Verkehrsmitteln (auf diese Weise machte ich meine erste U-Bahn-Fahrt) bis zur Berliner Allee, wo die Pistoriusstraße mündet. Von hier ab kannte ich den Weg, ganz in der Nähe war ja das Postamt, wohin ich Ida begleitete, wenn sie ihre Rente abholte.
Alle waren schon in größter Sorge. Man vermutete bereits, dass die Hottentotten mich aufgefressen hätten. Als ich gestand, dass die Musik mich dazu verführt hatte, dem Zug zu folgen, sagte Grete L.: "Denn is det Märchen vom Rattnfänga also wah!"
Waltraud lachte mich aus, weil ich mich verlaufen hatte. Ihr könnte so etwas nie passieren, meinte sie. Mein Harmoniebedürfnis hinderte mich, ihr zu sagen, dass daran nur ihr Mangel an Unternehmungsgeist schuld ist. Grete L. fragte nach einem Seitenblick auf Ida, dessen Bedeutung mir erst später klar wurde: "Wo haste denn den Mäcky jelassn? Du solltest doch uff n uffpassn?" Ich ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und schluchzte. Wenn Mäcky auch inzwischen ein kleines Ekel geworden war, so zerriss mir doch der Gedanke, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, das Herz.
Nach ein paar Minuten sagte Grete L. gönnerhaft: "Na, nu heule man nich. Der Mäcky liecht längst in sein Bette un schleeft. Der is neemlich ville intellijenta als du, der hat zu Hause jefunn!"
In Wirklichkeit war er - tränenüberströmt - von einem Polizisten nach Hause gebracht worden.
Ich durfte für die gesamte Dauer der Weltfestspiele unsere Wohnung nicht mehr verlassen. Wenn ich aus der Stube ging, fragte Ida schon scharf: "Wo wisstn hin?"
Ida und Grete L. kochten für unsere Gäste Eintöpfe und Goulasch. Die ersten Portionen davon bekamen wir, d.h. unsere vierköpfige Familie und die achtköpfige von Grete L.. Wenn der Eintopf dann ein bisschen wenig aussah, wurde eben mit Wasser nachgewürzt.
Ich war so neugierig auf unsere Gäste! Ich hatte beim Eröffnungs-Fackelzug Inder und Afrikaner in ihren Nationaltrachten gesehen und war ganz hingerissen von so viel Farbenpracht und Schönheit. Auch die braune Haut fand ich sehr reizvoll. Warum auch nicht? Bei allen Familienfeiern wurde bei uns gesungen: "Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich . . ."
Ich wollte "unsere Hottentotten" allzu gern einmal sehen, aber es war mir unter Androhung schlimmster Strafe verboten worden, auf den Boden zu gehen. Also bettelte ich so lange, bis Grete L. mich mit nach oben nahm zum Kaffeeausschenken.
Als erstes sah ich, dass Idas Behauptung der Unmoral stimmte - hier lagen tatsächlich Jungen und Mädchen aller Hautfarben kreuz und quer durcheinander, ohne Trennwände! Doch ehe ich mich darüber mokieren konnte, hob ein blondes Mädchen mich jauchzend in die Höhe. Ich schmiegte mich selig an sie, mich hatte schon so lange niemand hochgehoben! (Obwohl Waltraud sechs Jahre älter ist als ich, wurde doch nur immer ich "das große Kalb" genannt!)
Weil ich Grete L. schon so oft beim Lügen ertappt hatte, wollte ich an Ort und Stelle eine brennende Frage klären: "Seid ihr denn etwa wirklich Hottntottn?"
Eisiges Schweigen umgab uns plötzlich. Alle, die eben noch so fröhlich durcheinander geredet hatten, sahen uns an mit stummen, scharfen Blicken. Das hübsche Mädchen stellte mich langsam wieder auf die Erde. Ein paar große, kräftige Schwarze näherten sich uns bedrohlich und mir wurde siedend klar, eine grobe Dummheit begangen zu haben.
Grete L. sagte hastig: "Entschuldicht bitte, wat die Jöre jesaacht hat. Ick hätt se nich mit hoch bring dürfn. Die is neemlich nich janz richtich im Kopp!"
Ich steckte rasch den Daumen in den Mund und versuchte, blöd auszusehen. Es gelang mir anscheinend, denn einer der Schwarzen streichelte meine Wange.
Als wir dann im Treppenhaus waren, sagte Grete L.: "Also, wenn ick det jewußt hätte, det du mir so blamiern duhst, hätt ick dir janz bestimmt nich mit oom jenomm! Dir müsste man doch jlatt dermaßn in n Hintan treten, det de wochenlang Stiebelspitzen kackst."
In unserer Küche berichtete sie mit großer Empörung der Ida den Vorfall. Ich verteidigte mich: "Aba ihr habt doch selba imma jesaacht, det det Hottntottn sin!" - "Wat wir saaren, jeht dir n Scheißdreck an!", keifte Grete L. Und Ida nickte: "Un damit sowat nich noch ma vorkommt, wirst de jetz imma in de Schtube jehn, wenn hier wat jeredt wird. Scheer dir raus, du blödet Jör!"
Am letzten Tag der Weltfestspiele kam der Fackelzug der Delegierten wieder an unserem Haus vorbei. Wir standen auf dem Balkon. Die Erwachsenen winkten von Zeit zu Zeit müde mit den kleinen Papierfähnchen, die Grete L. zu diesem Zweck von der Zentrale erhalten hatte. Sie murmelte: "Ja, macht man bloß alle, det a zu Hause kommt, und lasst euch ja nich so bald wieda hia blickn, ihr Hottntotten!" Plötzlich fuhr sie herum: "Wo is n Christa? Ach, da biste ja. Nich, det de dir wieda valoofn duhst."