Marcel Sommerick
Mitglied
Drittes Kapitel
Drittes Kapitel
[ 4]Perplex starrte André auf die andere Straßenseite, wo eben noch die Zugmaschine gestanden hatte. Er umrundete das Viertel, lief die Straße auf und ab. Nichts. Spielende Kinder umringten ihn laut lachend. „What are you looking for, mister?“ André überlegte und machte dann kehrt, ging zurück zu Nuri. Der empfing ihn breit grinsend vor seinem Haus. „Welcome to Egypt, my friend.“
[ 4]André erklärte die Sachlage. Nuri schlug gleich vor, zur Polizei zu gehen, aber André winkte ab. „No police, please“. Nuri fragte ihn, ob ihm sonst noch etwas abhanden gekommen sei, und André deutete auf seinen Rucksack. Nein, er habe alles aus dem Fahrzeug mitgenommen. Er zeigte Nuri die Stelle, an der die Zugmaschine gestanden hatte. Sie machten Halt vor dem nächsten Café, und André gestikulierte wild mit Händen und Füßen, während Nuri auf den Kellner einredete. Andere Ägypter umringten sie. Es entstand ein lebhaftes Gespräch. Nuri meinte schließlich, er werde Augen und Ohren offenhalten. Vielleicht fände man den Lkw wieder. Solange André darauf angewiesen sei, könne er bei ihm ein Fahrzeug mieten. Er führte André zu einer Garage und deutete auf ein Mokick, das im Schatten stand. „Try this, my friend.“ André nahm das Motorrad in Augenschein. Es war eine alte Honda Dax, die schon bessere Tage gesehen hatte. Probehalber setzte er sich darauf und betätigte den Kickstarter. Er fühlte sich wie ein Affe auf dem Schleifstein, aber der Motor sprang sofort an. Sie wurden handelseinig. André versprach, alle drei Tage vorbeizuschauen und die Miete für das Mokick zu entrichten. Dann brauste er davon, im Rucksack die Zigaretten und das frische Brot sowie einige Flaschen Bier.
[ 4]Es war die heißeste Zeit des Tages. Der Fahrtwind kühlte den Körper ein wenig, aber eigentlich hätte André sich jetzt gerne im Schatten verkrochen. Er passierte die kleine Quelle und kam dann an die Stelle, an der er die Straße verlassen hatte. Siedendheiß fiel ihm ein, dass das GPS-Gerät in dem gestohlenen Fahrzeug verblieben war. Er fuhr von der Straße ab und dann im Zickzack durch das Gelände. Alles kam ihm so bekannt vor und dennoch fremd. Er folgte einer Spur, von der er annahm, es sei seine eigene. Der Tank war noch voll, daher konnte er sich einen Abstecher erlauben. Wieder kreuzte er die Spuren einer Gazelle. Die Tiere wussten, wie sie zum nächsten Wasserloch kamen. Er fuhr jetzt der Sonne entgegen. Die Honda wühlte sich durch den Sand. Er merkte sich die Felsformationen für den Rückweg und irrte weiter durch das Gelände. Es wurde Nachmittag, und er musste sich eingestehen, dass er im Kreis gefahren war. Sein Schutz – das Versteck vor neugierigen Beobachtern – wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Der Tank war noch zur Hälfte voll. Er hätte alles für einen Kompass gegeben, doch der lag bei seinem übrigen Gepäck im Hänger. Als er aufgebrochen war, hatte er fest damit gerechnet, mit dem GPS-Gerät den Standort punktgenau wiederzufinden. Er wollte Benzin sparen und nahm eine Abkürzung, um zu seiner Hauptspur zurückzufinden. Eigentlich wusste er genau, dass dies die verkehrte Taktik war, doch plötzlich – es dämmerte schon – erblickte er in der Ferne seinen Lagerplatz. Er jubelte auf und drehte eine Ehrenrunde. Dann lud er sein Gepäck ab. Alles stand noch so da, wie er es verlassen hatte: hier die Feuerstelle, dort der abgekuppelte Hänger, die vollen Wasserkanister und das Benzin für den Generator. Er füllte gleich etwas Benzin in den Tank der Honda und war froh, dass er sich so gut auf seine Expedition vorbereitet hatte.
[ 4]Er kochte sich Nudeln mit Tomatenmark, dann trank er noch ein Bier und streckte seine müden Knochen auf der Luftmatratze aus. Die Nacht war ruhig, und er schlief gut. Die nächsten Tage verbrachte er mit der Arbeit an seiner Grube. Mittags hielt er sich im Schatten auf, und einmal am Tag fuhr er zu der Quelle zurück, um frisches Wasser zu holen. Nachdem er die Strecke ein paar Mal gefahren war, kannte er sich gut aus und konnte den Weg anhand der Felsformationen auch ohne Kompass finden. Die Honda Dax gefiel ihm zunehmend, und nachdem er das Ventilspiel neu eingestellt hatte, war auch das lästige Klappern der Ventile verschwunden. Manchmal drehte er noch eine Runde durch den Sand, aber über die Weiße Wüste wagte er sich nicht hinaus. Am dritten Tag fuhr er nach Bahariya, um die Miete für das Mokick zu entrichten und Zigaretten einzukaufen. Er hatte sich einen großen Rucksack umgehängt, um alles transportieren zu können und genoss es, im Fahrtwind über den Asphalt zu brausen.
[ 4]Nuri war in seinem Garten beschäftigt, als er ihn besuchte. „Hello, my friend, how are you?“ Er wusch sich die Hände in einem Eimer Wasser und begrüßte ihn freudestrahlend. Sein kleiner Bruder hatte die Avancen wohl zwischenzeitlich aufgegeben und kam herbei, um mit Andrés Apparat ein paar Fotos zu schießen. Dann kam auch noch der Vater aus dem Haus, um sich den fremden Gast anzusehen und ein paar Worte zu wechseln. Nuri zeigte ihm Fotos von sich und anderen Touristen. Er trug eine Kombination, die er bei einer italienischen Rallye abgestaubt hatte. André fühlte sich eigentlich ganz wohl bei seinem neuen Freund und schlug daher auch eine Einladung zum Abendessen für den folgenden Tag nicht aus.
[ 4]Die MAN-Zugmaschine blieb weiterhin verschwunden. André bezahlte die Miete für das Mokick und ging dann ins Stadtzentrum, um in einem Laden für alles noch die Zigaretten zu kaufen. Hinter der Theke stand ein junges Ding, das verlegen kicherte, als André die Regale durchstöberte. „Haben Sie auch Mais?“ fragte André auf Deutsch, schlug dann in seinem Wörterbuch nach. „Mais – sora?“ Sie ging in eine Ecke des Ladens, kam mit einer Flasche Mineralwasser wieder. „Soda?“ André verneinte, versuchte es noch einmal. „Maize, Mais, thora?“ Sie schüttelte den Kopf. „You mean ful?“ Sie deutete auf eine Dose Bohnen. André resignierte und packte die Bohnen in den Rucksack, zu den Keksen und dem alkoholfreien Bier. „Would you like?“ fragte das Mädchen.
[ 4]„Pardon?“
[ 4]„What would you like?“
[ 4]„This is all, thank you.“
[ 4]„Shokran, ila-l-liqa.“
[ 4]André verließ den Laden und versuchte es ein paar Ecken weiter noch einmal. Anscheinend gab es keinen Mais in Ägypten, und sein Kauderwelsch verstand erst recht keiner. Er setzte sich auf das Mokick und rauschte davon. Polizei gab es hier anscheinend nicht, und wenn es ihm auch höchst ungelegen kam, dass sie den MAN gestohlen hatten, aufgeben kam für ihn nicht in Frage.
[ 4]Fast schien es, als seien seine Lebensgeister wieder ein wenig erwacht, und er hätte sich von seinen Plänen entfernt. Doch als der Abend hereinbrach und er völlig allein am Feuer saß, kam die Depression wieder. Es war wie ein langer, dunkler Tunnel, in den er plötzlich hineingeschleudert wurde. Er begann leise vor sich hinzuwimmern und barg den Kopf in den Händen. Immer noch verfügte er über das Satellitentelefon, aber in diesem Zustand konnte er kein vernünftiges Gespräch führen. Er rief seinen Onkel an, legte dann einfach auf, als sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete. Was mochte wohl seine Familie denken? Er war sich nicht sicher, ob ihn jemand vermissen würde. André griff in die Tasche, holte das Taschenmesser hervor. Was konnte ihn davon abhalten, sich ganz einfach die Pulsadern aufzuschlitzen? Er strich mit der Klinge über den Unterarm. Das Blut pochte in seinen Adern. Ein Bekannter von ihm hatte einmal bemerkt, man dürfe sich die Adern nicht waagerecht, sondern nur vertikal aufschlitzen, da man sich sonst die Sehnen mitverletze. Was spielte das in diesem Moment für eine Rolle? Er hatte schon die häßlichen Narben gesehen, die bei einem solchen Versuch zurückblieben. Seine Familie mochte vielleicht schon denken, er sei tot. Dann erinnerte er sich an sein Projekt, das Jahrtausendgrab. Er steckte das Messer wieder ein und begann erneut zu graben, mitten in der Nacht, beim Licht der Gaslampe. Schlafen konnte er ein andermal.
[ 4]Als der Morgen graute, begutachtete er sein Werk. Er hatte mittlerweile eine Grube von drei mal vier Metern ausgehoben. Er überlegte, dass hinterher alles so aussehen musste, als sei hier nichts geschehen, damit das Grab nicht verfrüht entdeckt wurde. Aber wer würde die letzte Schaufel Erde auf seine Leiche werfen? Und wie um alles in der Welt sollte er den Hänger in die Grube manövrieren ohne die Zugmaschine? Sein ganzes Projekt schien ihm manchmal lachhaft. Er öffnete eine Alukiste und holte die beiden Goldbarren hervor. Wer auch immer sein Grab finden würde, das Gold allein würde ihn reich belohnen. Er zählte sein Geld, es reichte noch für eine Weile. Er würde bald wieder etwas tauschen müssen, und in Bahariya gab es keine Bank. Vielleicht konnte er bis nach Dakhla fahren. Das waren gut 400 Km, doch es war immer noch besser, als wieder nach Kairo zurückzukehren. Für die Dax war das zu weit entfernt, aber sicher gab es auch einen Bus. Er musste auch darauf Acht geben, dass ihm nicht einfach einer etwas über den Schädel zog und mit seinem Geld abzog. Glücklicherweise waren die Leute hier freundlich, und von dem vielbeschworenen islamischen Fundamentalismus war wenig zu spüren.
[ 4]Die Dax leckte Öl. Er baute den Motor aus, wobei er dummerweise vergaß, den Zündkerzenstecker abzuziehen. Der Motor fiel in den Sand, und der Stecker splitterte. Mit etwas Sekundenkleber flickte er ihn wieder zusammen. Dann entfernte er den Ventildeckel, nahm das Nockenwellenrad ab und band die Steuerkette hoch. Schließlich konnte er den Zylinderkopf abnehmen. Aus einem Bogen Folie schnitt er eine neue Zylinderfußdichtung aus und montierte die Teile in umgekehrter Reihenfolge. Er baute den Motor wieder ein, betätigte den Kickstarter. Der Motor heulte auf. Der Gaszug hatte sich im Vergaser verhakt. Er fummelte ihn in die richtige Position, und die Dax schnurrte wieder wie eine Eins.
[ 4]Das alles hatte viel Zeit gekostet. In der heißen Sonne schwitzte er sein T-Shirt durch. Nicht noch einmal einen Sonnenstich riskieren, dachte er und leerte im Schatten nach und nach den Wasserkanister. Als er auf die Uhr sah, war es schon später Nachmittag. Er erinnerte sich an seine Verabredung bei Nuri und nahm den gewohnten Weg durch die Einöde, um pünktlich anzukommen.
[ 4]Auf halber Strecke kam ihm ein Auto mit Touristen entgegen. Er winkte freundlich, hoffte dabei, dass sie seinem Versteck nicht zu nahe kommen würden. Bald kam er wieder an die Quelle, wo er den Wasserkanister auffüllte. Dann ging es noch ein Stück geradeaus durch die Schwarze Wüste. Geröll erstreckte sich bis zum Horizont. Er war froh, auf Asphalt zu fahren, denn hier hätte er sich sicher schnell eine Reifenpanne eingehandelt. Der Lkw hätte das vielleicht noch weggesteckt, aber mit der Dax fühlte er sich verloren wie ein Floh im Ozean. Er verdrängte diesen Gedanken und fuhr in die kleine Oase ein, bog nach links ab, dann noch einmal nach rechts und stand vor Nuris Haus.
[ 4]Erst war niemand da, der ihn in Empfang nahm, doch nachdem er eine halbe Stunde gewartet hatte, sah er Nuri, der ihm mit einem Bündel Holz von der Hauptstraße entgegenkam. Er begrüßte in freudestrahlend und verschwand dann mit ihm im Inneren des Hauses. Nuris Mutter ließ sich nicht blicken, aber der Vater kam bald zu Tisch mit einer Schüssel voll dampfendem Essen. Auch der kleine Bruder war wieder da. Es gab Tajine mit Lammfleisch. Nuri begann zu erzählen. Von seiner Zeit bei der Armee, seinem letzten Urlaub im Libanon. Von seinen Freunden in Europa und seiner Arbeit als Fremdenführer. Sie redeten die halbe Nacht, doch als Nuri ihn fragte, was er eigentlich hier suche, blieb er die Antwort schuldig. „You know, tourism.“ Es entstand ein peinliches Schweigen, und André beeilte sich, allen die Hände zu schütteln und zu seinem Lagerplatz zurückzukehren.
[ 4]Am nächsten Morgen packte er seine Siebensachen zusammen, fuhr dann noch einmal in die Oase. Er schloss das Mokick ab und erkundigte sich in einem Café nach dem nächsten Bus nach Dakhla. Er solle warten, gab man ihm zu verstehen, der Bus würde schon kommen. Er trank einen lauwarmen Kaffee und wartete. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hielt ein roter VW-Bus vor dem Café und hupte. Der Kellner winkte. André war skeptisch. Man versicherte ihm, dies sei der Bus nach Dakhla. Am Steuer saß ein junger Bursche, der offensichtlich gerade seinen Führerschein erworben hatte und sich einen Spaß daraus machte, alle Kurven in rasantem Tempo zu nehmen. Warte nur, dachte André, irgendwann werden sie dich auch aus einem Ei von Schrott herauspellen. Dann und wann hielt der Bus an, damit die Fahrgäste austreten konnten. Die Fahrt dauerte etwa fünf Stunden. André trank dann und wann einen Schluck Wasser und war froh, als in der Entfernung endlich der Ortseingang sichtbar wurde.
[ 4]Es war schon zu spät, um noch Geld zu tauschen. André nahm sich ein Hotelzimmer, wimmelte den Portier ab, der ihn mit tausend Fragen überschüttete. Ihm war schlecht, beinahe musste er brechen. Es war die Hitze und das ungewohnte Essen. Er legte sich auf das schäbige Bett und wartete auf das Morgengrauen. Wie viele Männer mussten auf dieser abgenutzten Matratze gelegen haben? An der Wand war noch ein fettiger Fleck, wo ihre Köpfe die Tapete berührten. André kämpfte mit der Übelkeit. Aber schließlich kam der neue Tag, und sein Magen beruhigte sich wieder. Neben dem Hotel gab es eine Imbissbude, wo er eine Portion Falafel aß, dazu trank er starken schwarzen Kaffee. Er zählte sein Geld. Es reichte nicht. „I am going to pay you when I leave.“
[ 4]Die Bank war schon früh geöffnet, und er war froh, als er sechshundert Euro eintauschen konnte. Für alles und jedes musste man in Ägypten bezahlen, das Geld reichte nicht so lange, wie er sich das vorgestellt hatte. Er verbrachte noch eine Nacht in dem Hotel, diskutierte ewig lange mit dem jungen Burschen an der Rezeption, um das Haus schließlich im Morgengrauen zu verlassen, ohne das Falafel zu bezahlen. Diesmal konnte er einen regulären Omnibus nehmen, der ihn einige Stunden später in Bahariya absetzte.
[ 4]Das Mokick stand noch dort, wo er es verlassen hatte. Er traf Nuris kleinen Bruder Hassan, der anscheinend auf ihn gewartet hatte. „Tomorrow there is a party of our neighbour. We would like you to come.“
[ 4]André hakte nach und erfuhr, dass die Nachbarin von Mekka zurückgekehrt sei. Es gäbe ein großes Fest mit Tanz und Gesang, zu dem er herzlich eingeladen sei. Er sagte zu und verschwand dann zu seinem Lager, nachdem er noch einige Einkäufe getätigt hatte. Am Ortsausgang rannte ein kleines Mädchen vor ihm über die Straße, beinahe hätte er sie überfahren. Schnell sammelte sich eine Menschenmenge. André vergewisserte sich, dass der Kleinen nichts fehlte und sah dann zu, dass er Land gewann. Ein paar Kinder schrien noch hinter ihm her und warfen mit Steinen. Er war froh, als er die Ortschaft hinter sich gelassen hatte und auf die Piste einbog. Fast schien ihm sein Lagerplatz ein wenig heimatlich mit der Luftmatratze, den vielen Kisten voller Bücher und Hausrat, der Elektronik, die sein Grab bereichern sollte und den Wasserkanistern. Er sank bald in traumlosen Schlaf, um anderntags wieder sechs Stunden zu graben.
[ 4]Nach der harten Knochenarbeit war es reine Erholung, wieder zu Nuri zu fahren. In einem kleinen Innenhof waren nach Einbruch der Dunkelheit alle Nachbarn des Viertels versammelt. Eine Kapelle aus Trommeln, einer Flöte, hatten auf Matten am Boden Platz genommen. Um sie herum gruppierten sich – streng nach Männern und Frauen getrennt – die Besucher. Mit einem religiösen Gesang wurde das Fest eröffnet. Dann stellten sich einige Männer in einer Reihe auf und begannen ruhig und rhythmisch nach einem monotonen Gesang zu tanzen. Dumpfe Trommeln untermalten den Tanz, der sich mehr und mehr steigerte und bei dem die Tänzer mehr und mehr in Trance gerieten. Die Trommeln wurden schneller, bis sie in einen anderen Rhythmus kamen und dann wieder langsamer, um eintönig zu werden. Dabei wiederholten die Tänzer ständig eine religiöse Formel. Räucherwerk wurde abgebrannt und den Tänzern zum Einatmen gegeben. Stundenlang ging das so, bis der Höhepunkt der Trance erreicht war. Aus der Reihe der Tänzer wurden einige ausgewählt, die vortraten. Der Leiter des Tanzes brachte Nadeln, die etwa 25 Zentimeter lang waren und mit Holzknäufen am Ende versehen waren. Er bohrte sie den Tänzern durch die ausgestreckte Zunge. Es sah unheimlich aus.
[ 4]Dann tanzten sie mit den Nadeln im Mund weiter. Die nächste Gruppe wurde ausgewählt. Sie entblößten den Oberkörper und bekamen Nadeln unterhalb der Brust in die Haut gestochen und in den Oberarm. Dabei wurden die Trommeln weiter gespielt, und der Tanz nahm eine Art Stampfen an. Nach einer Viertelstunde wurden die Nadeln wieder eingesammelt, und die Tänzer wurden durch Umhängen einer Gebetsschnur wieder zurückgebracht. Teilweise unter starken Schockwirkungen kamen die Männer zu sich. Einige lagen noch am Boden und zuckten unter den Nachwirkungen des Tanzes. Bei keinem konnte André Blut an den Einstichstellen der Nadeln sehen. Noch stundenlang später traten bei einigen Schwächeanfälle und Krämpfe auf. Die Trommeln dröhnten weiter, und ihren dumpfen Ton konnte André als Resonanz bis in den Magen spüren. Gegen ein Uhr wurde das Fest – wieder mit einem religiösen Gesang – beendet. André drückte Nuri noch einen Batzen Scheine für das Mokick in die Hand und verschwand dann in der Dunkelheit, um seinen Lagerplatz aufzusuchen.
(c) 2004 by Marcel Sommerick
Drittes Kapitel
[ 4]Perplex starrte André auf die andere Straßenseite, wo eben noch die Zugmaschine gestanden hatte. Er umrundete das Viertel, lief die Straße auf und ab. Nichts. Spielende Kinder umringten ihn laut lachend. „What are you looking for, mister?“ André überlegte und machte dann kehrt, ging zurück zu Nuri. Der empfing ihn breit grinsend vor seinem Haus. „Welcome to Egypt, my friend.“
[ 4]André erklärte die Sachlage. Nuri schlug gleich vor, zur Polizei zu gehen, aber André winkte ab. „No police, please“. Nuri fragte ihn, ob ihm sonst noch etwas abhanden gekommen sei, und André deutete auf seinen Rucksack. Nein, er habe alles aus dem Fahrzeug mitgenommen. Er zeigte Nuri die Stelle, an der die Zugmaschine gestanden hatte. Sie machten Halt vor dem nächsten Café, und André gestikulierte wild mit Händen und Füßen, während Nuri auf den Kellner einredete. Andere Ägypter umringten sie. Es entstand ein lebhaftes Gespräch. Nuri meinte schließlich, er werde Augen und Ohren offenhalten. Vielleicht fände man den Lkw wieder. Solange André darauf angewiesen sei, könne er bei ihm ein Fahrzeug mieten. Er führte André zu einer Garage und deutete auf ein Mokick, das im Schatten stand. „Try this, my friend.“ André nahm das Motorrad in Augenschein. Es war eine alte Honda Dax, die schon bessere Tage gesehen hatte. Probehalber setzte er sich darauf und betätigte den Kickstarter. Er fühlte sich wie ein Affe auf dem Schleifstein, aber der Motor sprang sofort an. Sie wurden handelseinig. André versprach, alle drei Tage vorbeizuschauen und die Miete für das Mokick zu entrichten. Dann brauste er davon, im Rucksack die Zigaretten und das frische Brot sowie einige Flaschen Bier.
[ 4]Es war die heißeste Zeit des Tages. Der Fahrtwind kühlte den Körper ein wenig, aber eigentlich hätte André sich jetzt gerne im Schatten verkrochen. Er passierte die kleine Quelle und kam dann an die Stelle, an der er die Straße verlassen hatte. Siedendheiß fiel ihm ein, dass das GPS-Gerät in dem gestohlenen Fahrzeug verblieben war. Er fuhr von der Straße ab und dann im Zickzack durch das Gelände. Alles kam ihm so bekannt vor und dennoch fremd. Er folgte einer Spur, von der er annahm, es sei seine eigene. Der Tank war noch voll, daher konnte er sich einen Abstecher erlauben. Wieder kreuzte er die Spuren einer Gazelle. Die Tiere wussten, wie sie zum nächsten Wasserloch kamen. Er fuhr jetzt der Sonne entgegen. Die Honda wühlte sich durch den Sand. Er merkte sich die Felsformationen für den Rückweg und irrte weiter durch das Gelände. Es wurde Nachmittag, und er musste sich eingestehen, dass er im Kreis gefahren war. Sein Schutz – das Versteck vor neugierigen Beobachtern – wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Der Tank war noch zur Hälfte voll. Er hätte alles für einen Kompass gegeben, doch der lag bei seinem übrigen Gepäck im Hänger. Als er aufgebrochen war, hatte er fest damit gerechnet, mit dem GPS-Gerät den Standort punktgenau wiederzufinden. Er wollte Benzin sparen und nahm eine Abkürzung, um zu seiner Hauptspur zurückzufinden. Eigentlich wusste er genau, dass dies die verkehrte Taktik war, doch plötzlich – es dämmerte schon – erblickte er in der Ferne seinen Lagerplatz. Er jubelte auf und drehte eine Ehrenrunde. Dann lud er sein Gepäck ab. Alles stand noch so da, wie er es verlassen hatte: hier die Feuerstelle, dort der abgekuppelte Hänger, die vollen Wasserkanister und das Benzin für den Generator. Er füllte gleich etwas Benzin in den Tank der Honda und war froh, dass er sich so gut auf seine Expedition vorbereitet hatte.
[ 4]Er kochte sich Nudeln mit Tomatenmark, dann trank er noch ein Bier und streckte seine müden Knochen auf der Luftmatratze aus. Die Nacht war ruhig, und er schlief gut. Die nächsten Tage verbrachte er mit der Arbeit an seiner Grube. Mittags hielt er sich im Schatten auf, und einmal am Tag fuhr er zu der Quelle zurück, um frisches Wasser zu holen. Nachdem er die Strecke ein paar Mal gefahren war, kannte er sich gut aus und konnte den Weg anhand der Felsformationen auch ohne Kompass finden. Die Honda Dax gefiel ihm zunehmend, und nachdem er das Ventilspiel neu eingestellt hatte, war auch das lästige Klappern der Ventile verschwunden. Manchmal drehte er noch eine Runde durch den Sand, aber über die Weiße Wüste wagte er sich nicht hinaus. Am dritten Tag fuhr er nach Bahariya, um die Miete für das Mokick zu entrichten und Zigaretten einzukaufen. Er hatte sich einen großen Rucksack umgehängt, um alles transportieren zu können und genoss es, im Fahrtwind über den Asphalt zu brausen.
[ 4]Nuri war in seinem Garten beschäftigt, als er ihn besuchte. „Hello, my friend, how are you?“ Er wusch sich die Hände in einem Eimer Wasser und begrüßte ihn freudestrahlend. Sein kleiner Bruder hatte die Avancen wohl zwischenzeitlich aufgegeben und kam herbei, um mit Andrés Apparat ein paar Fotos zu schießen. Dann kam auch noch der Vater aus dem Haus, um sich den fremden Gast anzusehen und ein paar Worte zu wechseln. Nuri zeigte ihm Fotos von sich und anderen Touristen. Er trug eine Kombination, die er bei einer italienischen Rallye abgestaubt hatte. André fühlte sich eigentlich ganz wohl bei seinem neuen Freund und schlug daher auch eine Einladung zum Abendessen für den folgenden Tag nicht aus.
[ 4]Die MAN-Zugmaschine blieb weiterhin verschwunden. André bezahlte die Miete für das Mokick und ging dann ins Stadtzentrum, um in einem Laden für alles noch die Zigaretten zu kaufen. Hinter der Theke stand ein junges Ding, das verlegen kicherte, als André die Regale durchstöberte. „Haben Sie auch Mais?“ fragte André auf Deutsch, schlug dann in seinem Wörterbuch nach. „Mais – sora?“ Sie ging in eine Ecke des Ladens, kam mit einer Flasche Mineralwasser wieder. „Soda?“ André verneinte, versuchte es noch einmal. „Maize, Mais, thora?“ Sie schüttelte den Kopf. „You mean ful?“ Sie deutete auf eine Dose Bohnen. André resignierte und packte die Bohnen in den Rucksack, zu den Keksen und dem alkoholfreien Bier. „Would you like?“ fragte das Mädchen.
[ 4]„Pardon?“
[ 4]„What would you like?“
[ 4]„This is all, thank you.“
[ 4]„Shokran, ila-l-liqa.“
[ 4]André verließ den Laden und versuchte es ein paar Ecken weiter noch einmal. Anscheinend gab es keinen Mais in Ägypten, und sein Kauderwelsch verstand erst recht keiner. Er setzte sich auf das Mokick und rauschte davon. Polizei gab es hier anscheinend nicht, und wenn es ihm auch höchst ungelegen kam, dass sie den MAN gestohlen hatten, aufgeben kam für ihn nicht in Frage.
[ 4]Fast schien es, als seien seine Lebensgeister wieder ein wenig erwacht, und er hätte sich von seinen Plänen entfernt. Doch als der Abend hereinbrach und er völlig allein am Feuer saß, kam die Depression wieder. Es war wie ein langer, dunkler Tunnel, in den er plötzlich hineingeschleudert wurde. Er begann leise vor sich hinzuwimmern und barg den Kopf in den Händen. Immer noch verfügte er über das Satellitentelefon, aber in diesem Zustand konnte er kein vernünftiges Gespräch führen. Er rief seinen Onkel an, legte dann einfach auf, als sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete. Was mochte wohl seine Familie denken? Er war sich nicht sicher, ob ihn jemand vermissen würde. André griff in die Tasche, holte das Taschenmesser hervor. Was konnte ihn davon abhalten, sich ganz einfach die Pulsadern aufzuschlitzen? Er strich mit der Klinge über den Unterarm. Das Blut pochte in seinen Adern. Ein Bekannter von ihm hatte einmal bemerkt, man dürfe sich die Adern nicht waagerecht, sondern nur vertikal aufschlitzen, da man sich sonst die Sehnen mitverletze. Was spielte das in diesem Moment für eine Rolle? Er hatte schon die häßlichen Narben gesehen, die bei einem solchen Versuch zurückblieben. Seine Familie mochte vielleicht schon denken, er sei tot. Dann erinnerte er sich an sein Projekt, das Jahrtausendgrab. Er steckte das Messer wieder ein und begann erneut zu graben, mitten in der Nacht, beim Licht der Gaslampe. Schlafen konnte er ein andermal.
[ 4]Als der Morgen graute, begutachtete er sein Werk. Er hatte mittlerweile eine Grube von drei mal vier Metern ausgehoben. Er überlegte, dass hinterher alles so aussehen musste, als sei hier nichts geschehen, damit das Grab nicht verfrüht entdeckt wurde. Aber wer würde die letzte Schaufel Erde auf seine Leiche werfen? Und wie um alles in der Welt sollte er den Hänger in die Grube manövrieren ohne die Zugmaschine? Sein ganzes Projekt schien ihm manchmal lachhaft. Er öffnete eine Alukiste und holte die beiden Goldbarren hervor. Wer auch immer sein Grab finden würde, das Gold allein würde ihn reich belohnen. Er zählte sein Geld, es reichte noch für eine Weile. Er würde bald wieder etwas tauschen müssen, und in Bahariya gab es keine Bank. Vielleicht konnte er bis nach Dakhla fahren. Das waren gut 400 Km, doch es war immer noch besser, als wieder nach Kairo zurückzukehren. Für die Dax war das zu weit entfernt, aber sicher gab es auch einen Bus. Er musste auch darauf Acht geben, dass ihm nicht einfach einer etwas über den Schädel zog und mit seinem Geld abzog. Glücklicherweise waren die Leute hier freundlich, und von dem vielbeschworenen islamischen Fundamentalismus war wenig zu spüren.
[ 4]Die Dax leckte Öl. Er baute den Motor aus, wobei er dummerweise vergaß, den Zündkerzenstecker abzuziehen. Der Motor fiel in den Sand, und der Stecker splitterte. Mit etwas Sekundenkleber flickte er ihn wieder zusammen. Dann entfernte er den Ventildeckel, nahm das Nockenwellenrad ab und band die Steuerkette hoch. Schließlich konnte er den Zylinderkopf abnehmen. Aus einem Bogen Folie schnitt er eine neue Zylinderfußdichtung aus und montierte die Teile in umgekehrter Reihenfolge. Er baute den Motor wieder ein, betätigte den Kickstarter. Der Motor heulte auf. Der Gaszug hatte sich im Vergaser verhakt. Er fummelte ihn in die richtige Position, und die Dax schnurrte wieder wie eine Eins.
[ 4]Das alles hatte viel Zeit gekostet. In der heißen Sonne schwitzte er sein T-Shirt durch. Nicht noch einmal einen Sonnenstich riskieren, dachte er und leerte im Schatten nach und nach den Wasserkanister. Als er auf die Uhr sah, war es schon später Nachmittag. Er erinnerte sich an seine Verabredung bei Nuri und nahm den gewohnten Weg durch die Einöde, um pünktlich anzukommen.
[ 4]Auf halber Strecke kam ihm ein Auto mit Touristen entgegen. Er winkte freundlich, hoffte dabei, dass sie seinem Versteck nicht zu nahe kommen würden. Bald kam er wieder an die Quelle, wo er den Wasserkanister auffüllte. Dann ging es noch ein Stück geradeaus durch die Schwarze Wüste. Geröll erstreckte sich bis zum Horizont. Er war froh, auf Asphalt zu fahren, denn hier hätte er sich sicher schnell eine Reifenpanne eingehandelt. Der Lkw hätte das vielleicht noch weggesteckt, aber mit der Dax fühlte er sich verloren wie ein Floh im Ozean. Er verdrängte diesen Gedanken und fuhr in die kleine Oase ein, bog nach links ab, dann noch einmal nach rechts und stand vor Nuris Haus.
[ 4]Erst war niemand da, der ihn in Empfang nahm, doch nachdem er eine halbe Stunde gewartet hatte, sah er Nuri, der ihm mit einem Bündel Holz von der Hauptstraße entgegenkam. Er begrüßte in freudestrahlend und verschwand dann mit ihm im Inneren des Hauses. Nuris Mutter ließ sich nicht blicken, aber der Vater kam bald zu Tisch mit einer Schüssel voll dampfendem Essen. Auch der kleine Bruder war wieder da. Es gab Tajine mit Lammfleisch. Nuri begann zu erzählen. Von seiner Zeit bei der Armee, seinem letzten Urlaub im Libanon. Von seinen Freunden in Europa und seiner Arbeit als Fremdenführer. Sie redeten die halbe Nacht, doch als Nuri ihn fragte, was er eigentlich hier suche, blieb er die Antwort schuldig. „You know, tourism.“ Es entstand ein peinliches Schweigen, und André beeilte sich, allen die Hände zu schütteln und zu seinem Lagerplatz zurückzukehren.
[ 4]Am nächsten Morgen packte er seine Siebensachen zusammen, fuhr dann noch einmal in die Oase. Er schloss das Mokick ab und erkundigte sich in einem Café nach dem nächsten Bus nach Dakhla. Er solle warten, gab man ihm zu verstehen, der Bus würde schon kommen. Er trank einen lauwarmen Kaffee und wartete. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hielt ein roter VW-Bus vor dem Café und hupte. Der Kellner winkte. André war skeptisch. Man versicherte ihm, dies sei der Bus nach Dakhla. Am Steuer saß ein junger Bursche, der offensichtlich gerade seinen Führerschein erworben hatte und sich einen Spaß daraus machte, alle Kurven in rasantem Tempo zu nehmen. Warte nur, dachte André, irgendwann werden sie dich auch aus einem Ei von Schrott herauspellen. Dann und wann hielt der Bus an, damit die Fahrgäste austreten konnten. Die Fahrt dauerte etwa fünf Stunden. André trank dann und wann einen Schluck Wasser und war froh, als in der Entfernung endlich der Ortseingang sichtbar wurde.
[ 4]Es war schon zu spät, um noch Geld zu tauschen. André nahm sich ein Hotelzimmer, wimmelte den Portier ab, der ihn mit tausend Fragen überschüttete. Ihm war schlecht, beinahe musste er brechen. Es war die Hitze und das ungewohnte Essen. Er legte sich auf das schäbige Bett und wartete auf das Morgengrauen. Wie viele Männer mussten auf dieser abgenutzten Matratze gelegen haben? An der Wand war noch ein fettiger Fleck, wo ihre Köpfe die Tapete berührten. André kämpfte mit der Übelkeit. Aber schließlich kam der neue Tag, und sein Magen beruhigte sich wieder. Neben dem Hotel gab es eine Imbissbude, wo er eine Portion Falafel aß, dazu trank er starken schwarzen Kaffee. Er zählte sein Geld. Es reichte nicht. „I am going to pay you when I leave.“
[ 4]Die Bank war schon früh geöffnet, und er war froh, als er sechshundert Euro eintauschen konnte. Für alles und jedes musste man in Ägypten bezahlen, das Geld reichte nicht so lange, wie er sich das vorgestellt hatte. Er verbrachte noch eine Nacht in dem Hotel, diskutierte ewig lange mit dem jungen Burschen an der Rezeption, um das Haus schließlich im Morgengrauen zu verlassen, ohne das Falafel zu bezahlen. Diesmal konnte er einen regulären Omnibus nehmen, der ihn einige Stunden später in Bahariya absetzte.
[ 4]Das Mokick stand noch dort, wo er es verlassen hatte. Er traf Nuris kleinen Bruder Hassan, der anscheinend auf ihn gewartet hatte. „Tomorrow there is a party of our neighbour. We would like you to come.“
[ 4]André hakte nach und erfuhr, dass die Nachbarin von Mekka zurückgekehrt sei. Es gäbe ein großes Fest mit Tanz und Gesang, zu dem er herzlich eingeladen sei. Er sagte zu und verschwand dann zu seinem Lager, nachdem er noch einige Einkäufe getätigt hatte. Am Ortsausgang rannte ein kleines Mädchen vor ihm über die Straße, beinahe hätte er sie überfahren. Schnell sammelte sich eine Menschenmenge. André vergewisserte sich, dass der Kleinen nichts fehlte und sah dann zu, dass er Land gewann. Ein paar Kinder schrien noch hinter ihm her und warfen mit Steinen. Er war froh, als er die Ortschaft hinter sich gelassen hatte und auf die Piste einbog. Fast schien ihm sein Lagerplatz ein wenig heimatlich mit der Luftmatratze, den vielen Kisten voller Bücher und Hausrat, der Elektronik, die sein Grab bereichern sollte und den Wasserkanistern. Er sank bald in traumlosen Schlaf, um anderntags wieder sechs Stunden zu graben.
[ 4]Nach der harten Knochenarbeit war es reine Erholung, wieder zu Nuri zu fahren. In einem kleinen Innenhof waren nach Einbruch der Dunkelheit alle Nachbarn des Viertels versammelt. Eine Kapelle aus Trommeln, einer Flöte, hatten auf Matten am Boden Platz genommen. Um sie herum gruppierten sich – streng nach Männern und Frauen getrennt – die Besucher. Mit einem religiösen Gesang wurde das Fest eröffnet. Dann stellten sich einige Männer in einer Reihe auf und begannen ruhig und rhythmisch nach einem monotonen Gesang zu tanzen. Dumpfe Trommeln untermalten den Tanz, der sich mehr und mehr steigerte und bei dem die Tänzer mehr und mehr in Trance gerieten. Die Trommeln wurden schneller, bis sie in einen anderen Rhythmus kamen und dann wieder langsamer, um eintönig zu werden. Dabei wiederholten die Tänzer ständig eine religiöse Formel. Räucherwerk wurde abgebrannt und den Tänzern zum Einatmen gegeben. Stundenlang ging das so, bis der Höhepunkt der Trance erreicht war. Aus der Reihe der Tänzer wurden einige ausgewählt, die vortraten. Der Leiter des Tanzes brachte Nadeln, die etwa 25 Zentimeter lang waren und mit Holzknäufen am Ende versehen waren. Er bohrte sie den Tänzern durch die ausgestreckte Zunge. Es sah unheimlich aus.
[ 4]Dann tanzten sie mit den Nadeln im Mund weiter. Die nächste Gruppe wurde ausgewählt. Sie entblößten den Oberkörper und bekamen Nadeln unterhalb der Brust in die Haut gestochen und in den Oberarm. Dabei wurden die Trommeln weiter gespielt, und der Tanz nahm eine Art Stampfen an. Nach einer Viertelstunde wurden die Nadeln wieder eingesammelt, und die Tänzer wurden durch Umhängen einer Gebetsschnur wieder zurückgebracht. Teilweise unter starken Schockwirkungen kamen die Männer zu sich. Einige lagen noch am Boden und zuckten unter den Nachwirkungen des Tanzes. Bei keinem konnte André Blut an den Einstichstellen der Nadeln sehen. Noch stundenlang später traten bei einigen Schwächeanfälle und Krämpfe auf. Die Trommeln dröhnten weiter, und ihren dumpfen Ton konnte André als Resonanz bis in den Magen spüren. Gegen ein Uhr wurde das Fest – wieder mit einem religiösen Gesang – beendet. André drückte Nuri noch einen Batzen Scheine für das Mokick in die Hand und verschwand dann in der Dunkelheit, um seinen Lagerplatz aufzusuchen.
(c) 2004 by Marcel Sommerick