Helene Persak
Mitglied
Als sie erneut in den Flur tritt, ist das Erste, was sie sieht Michelle, die mit besorgter Mine in ihre Richtung blickt.
Auch das noch, seufzt Gabrialla entnervt, Warum nur macht sie sich immer gleich solche Sorgen?
Doch sie hat keine Zeit sich weitere Gedanken zu machen, Michelle macht sich auf den Weg, den nicht mehr so leeren Flur zu überqueren.
Als würde sie den Kopf schütteln über das Chaos, macht diese ruckartig ein Schritt nach einander. Doch Gabrialla weiß aus Erfahrung, dass sie versucht die anderen im Blick zu haben. Was, Gabriallas Meinung nach, vergebens ist.
Als würden die mittleren Lehrlinge auf sie achten. Das Einzige, was sie wollen ist in den Essensraum und noch etwas ab bekommen. Es gibt immer welche, die bis zum Schluss warten! Schlimmer sind nur die Jüngsten der Lehrlinge! Die achten auf nichts. Derart aufgedreht, wie sie vom Training gerade sind, Frage ich mich, warum sie überhaupt schon hinunter gelassen werden.
Unbeirrt tritt sie in die Masse aus Lehrlingen, um ihrer Freundin entgegenzueilen.
Was für ein Lärm!, schimpft sie, als sie sich an ein größeres Mädchen vorbei schiebt. Sie kann höchstens 15 Zyklen zählen, da sie kein Prüfling ist, doch überragt sie Gabrialla fast um einen Kopf.
Bah, lästige Bälger, kommentiert sie, als ein kleinerer Lehrlingsjunge ihr in die Seite rennt. Wo sind den nur die Erzieher? Als ich in dem Alter war, ist immer eine da gewesen, um mich zu rügen. Dann haben sich die Freundinen endlich erreicht.
„Was ist geschehen?“, will diese auch sofort von ihr erfahren. „Was hat sie gesagt?“ Kritisch wandert ihr Blick über Gabriallas Gesicht, während immer sie immer wieder von Körpern gestreift werden.
Was kann ich nur sagen, dass sie nicht noch mehr beunruhig? Suchend wandert der Blick weiter, streift ihre Augen, ihren Mund, auf dem Weg ihren Körper hinab.
„Nichts.“, versucht sie, eilig zu beschwichtigen. Zu eilig, wird ihr bewusst, als der Blick der Freundin den ihren sucht. Tiefe Sorgenfalten bilden sich zwischen deren Augen. Natürlich war das sie falsche Antwort. Wann soll schon einmal nichts sein? „Sie hat mir nur etwas neues zum Trinken gegeben“, ergänzt sie, in der Hoffnung weitere Fragen zuvorzukommen „und mich dann gehen lassen.“.
„Ich fühle mich gut.“, beteuert sie laut seufzend. „Ehrlich. Ich hatte nur Hunger, doch das Trinken hat mir geholfen.“ Doch noch immer wandert der Blick über Gabrialla, begleitet von zwei weiteren als Marie und Sven die kurze Strecke zu ihnen überwunden haben.
Hört endlich auf, fleht sie im Stillen. Ihr braucht euch nicht um mich sorgen! Wie kann ich euch das nur begreiflich machen?, überlegt sie, mit schwindender Geduld. „Mein Hunger hat mich wohl etwas empfindlich gemacht,“ versucht sie es, „weswegen ich mich über Juls so erschreckt habe. Es tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.“ In der Hoffnung, ihrer Aussage damit mehr Kraft zu verleihen, drückt sie Michelles Hände kurz in ihren, blickt zu den beiden anderen und ergänzt: „Wenn ihr euch Sorgen gemacht habt.“ Doch die Falten verschwinden ebenso wenig wie die Blicke.
Bevor jemand noch etwas sagen kann, meldet sich Juls zu Wort: „Wenn ihr noch länger bleiben wollt, müssen wir ohne euch gehen.“. Er überragt die anderen um sich herum um mehr als einen Kopf und lenkt, mit seiner tiefen, männlichen Stimme, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Erleichtert seufzt Gabrialla.
„Marie!“, drängt er ungehalten und scheucht dadurch auch die letzten Lehrlinge, die zwischen ihnen stehen geblieben sind oder schnell hindurch eilen wollen, weg. Einen Fuß auf der Treppe, seine Hand ungeduldig in ihre Richtung gestreckt, mahnt er: „Wir sind spät dran. Denk an unsere Pläne! Ich werde nicht zulassen, dass sie“ - Gabrialla meint, beinahe spüren zu können, wie sein Finger gegen sie tippt - „unsere Partnerschaft gefährdet.“ Zu jeder anderen Gelegenheit, wäre ihr Trotz geweckt worden, wäre Gabrialla aufgebraust, doch nicht dieses Mal. Den dieses Mal ist sie undeutbar froh ihn unter ihren Freunden zu haben.
Gehorsam setzt sich Marie in Bewegung, nicht jedoch, ohne Juls zurecht zu weißen. „Gabrialla ist meine Freundin. Sie ist Teil der Gemeinschaft. Wenn es ihr nicht gut geht, ist es nicht nur meine Pflicht zu helfen, Juls!“
„Er hat Recht,“ stimmt Gabrialla währendessen eilig zu, „wir müssen los, wollen wir nicht zu spät zu der Prüfung kommen. Na los,“ scheucht sie, als sich niemand weiter in Bewegung setzt, „kommt mit.“ Nun ist es sie, die nach Michelles und Svens Hand greift und sie mit sich zieht. Hin zur Treppe und hinauf in das ebenerdige Stockwerk.
Als sie die Treppe verlassen, verstummt Maries und Juls Diskussion schlagartig.
Stille legt sich wie eine Decke über sie.
Die Pflanzen, die hier wachsen, vor allem aber der riesige Baum, der den Mittelpunkt der Glaskuppel bildet und sich über ihnen erhebt, dämmen sämtliche Geräusche. Der Lärm, den die beiden jüngeren Gruppen verursachen, scheint hier unwirklich.
Als Gabrialla neugierig neben ihre Freunde tritt, sieht sie den Grund für die dennoch ungewohnte Stille. Nur noch wenige Prüflinge halten sich außerhalb des Lehrraumes auf. Keiner lacht. Keiner scherzt.
Gabrialla lässt ihren Blick schweifen. Der Weg, der zwischen ihnen und ihrem Lehrraum liegt, ist gesprenkelt mit kleinen Gruppen. Ansonsten kann sie niemanden sehen.
Ich hab die Kuppel noch nie derart still erlebt. Neugierig dreht sie sich um, blickt in Richtung des Baumes. Sie streckt sich, bis sie nur noch auf den Zehnspitzen steht. Jetzt schafft sie es gerade noch, die schmale Wiese, den Weg und den Kreis, in dem der Baum steht, zu überblicken. Selbst auf dem Podium ist niemand zu sehen. Ungewöhnlich! Die Stille scheint sie wie ein Kokon zu umhüllen, abzuschirmen. Einzig ein Wispern erreicht sie von der ihnen am nächsten stehenden Gruppe.
Was soll das Lernen, das Diskutieren jetzt, kurz vor der Prüfung, noch bringen?, fragt sie sich. Das macht nur nervös. Wenige Herzschläge nur, hält die Gruppe noch inne, bevor sich erst Juls, gefolgt von Marie, in Bewegung setzt. Drei Herzschläge später, folgt ihnen Gabrialla als letzte der Gruppe.
Auf dem Weg zu ihrem Lehrraum, versucht sie sich, von den Gruppen fernzuhalten, sie für sich auszublenden. Dabei sinniert sie: Jetzt noch durchsprechen, was man nicht weiß, zeigt nur, was man nicht weiß.
Also versucht sie, sich von ihnen abzulenken, sich nicht von ihrem Weg abbringen zu lassen. Doch an was Denken? Mit was sich beschäftigen, um nicht an den Garten, die Sehnsucht und die Prüfung zu denken?
Zu deutlich kann sie die Nervosität ihrer Freunde spüren.
Wie sie sich ausbreitet, zwischen ihnen schwingt und sich verbindet. Noch bevor sie ihren Flur erreicht haben, beginnt sie, wie Stoff hinter ihnen her zu flattern.
Sie zu locken.
Da erreichen sie den Flur. Einen Schritt und Gabrialla ist umhüllt von köstlichem Geruch. Wasser gleich, das sie beim Tauchen umgibt, füllt er den Raum um sie. Doch, anders als im Wasser, empfindet sie keinen Drang aufzutauchen und zu Atmen. Vielmehr drängt etwas in ihrem Inneren sie, diesen Geruch einzuatmen. Ihn in sich aufzunehmen, sich daran zu laben und ihm zu folgen.
Etwas, tief in ihr, zerbricht. Dunkelheit quilt über, breitet sich, zähem Brei gleich, warm und weich in ihr aus. Schmeichelt ihr und schiebt sie hinweg.
Die feinen Haare, auf Armen, Beinen und Gesicht stellen sich auf, folgen dem geringsten Windhauch. Ihr Blick fixiert die Gruppe, stellt alles andere in den Hintergrund. Riechen kann sie nur noch diesen Duft, der sie immer weiter zu sich winkt. Ihre Schritte werden behutsamer, flüssiger und leiser, als sie sich langsam Gino nähert.
Der Schwächste. Der Ängstlichste. Er wird mir gehören.
Nein!, sträubt sie sich. Wehrt sich gegen das Schmeicheln.
Doch! Widerspricht es, will nicht zurückweichen. Aber Gabrialla lässt nicht nach.
Das kann nicht sein, versucht sie zu rufen, jedoch schafft kein Ton den Weg über ihre Lippen. Das darf nicht sein!, kreischt sie vor Entsetzen.
Das Dunkle zuckt zurück.
Dies gibt ihr die Möglichkeit sich abzuwenden und sich zu entziehen. Blind hastet sie den Flur entlang, den ihr Blick ist nun vollständig verschwommen. Doch sie hält nicht an. Nach wenigen Schritten hat sie die Tür am Ende des Flures erreicht.
Nein!, bäumt es sich noch einmal auf, bevor sie durch die Tür stürmt, nach draußen.
Der Geruch bleibt zurück.
Als hätte es sich nur an diesem festgehalten, sinkt die Wärme in sich zusammen.
Als Gabrialla fast ein Drittel der Grünfläche überwunden hat, bleibt sie stehen und ringt nach Atem. Verwirrt sieht sie sich um.
Was ist nur los mit mir?, fragt sie sich fassungslos, während das Schmeicheln sich weiter zurückzieht. Was war das?
Fast schon ist es verschwunden und hat die Erinnerung aus ihr mit genommen. Nur ein kleiner Teil ist geblieben, schmiegt sich an ihr Herz und wispert: Bald ist es soweit.
Zitternd stellen sich ihre Haare erneut auf, als ein Frösteln über den Körper läuft.
Was ist nur los?, wiederholt sie nun energischer. Doch weis sie, dass keiner ihre Fragen beantworten kann. Keiner sie beantworten, von ihnen wissen will. So bleibt sie stumm. Wieso riecht es hier überall nach Essen? Tränen der Frustration, der Verzweiflung überfluten ihre Augen, drängen nach draußen, doch Gabrialla gibt nicht nach. Entschlossen wischt sie diese beiseite. Und dann auch noch so lecker, dass ich kaum widerstehen kann.
Bald ist es soweit, wispert es.
Das kann nicht sein. In diesem Herzschlag fällt ihr das Trinken wieder ein.
Und seine Wirkung.
Gierig reist sie am Verschluss des Behälters und nimmt einen langen Zug des köstlichen Getränks.
Und das, ergänzt sie, kann ebenso wenig sein. Wann hat das einfache Trinken angefangen, so gut zu schmecken? Dennoch tritt die Wirkung fast sofort ein. Ihre Gedanken werden klarer und das Dunkle zieht sich zurück, wird vergessen.
„Gabrialla!“, reist Michelle sie aus ihren Gedanken.
Schwankend zwischen Wut und Scham, nimmt sie sich noch vier Herzschläge, um den Behälter zu schließen, tief zu Atmen und sich zu beruhigen.
Dann hat Michelle sie fast erreicht und Gabrialla dreht sich seufzend zu ihr um.
„Ich brauchte nur etwas frische Luft. Tut mir leid.“ Wie oft habe ich mich heute schon entschuldigt? „Der Geruch, die Nervosität der anderen war, irgendwie zu viel für mich.“, versucht sie zu beschwichtigen, die Freundin zu beruhigen. „Es tut mir leid,“ wiederholt sie noch einmal. Greift nach der Hand der Freundin und fährt energisch, jegliche weitere Fragen unterbindend, fort: „Los, wir sind schon spät dran und sicher die Letzten.“ Bevor sie losläuft, leistet sie sich einen schnellen Blick auf die vor ihr aufragende Glasfront. Dieser bestätigt ihre Befürchtung und entringt ihr ein Seufzen.
Ebenso wie Marie haben sich einige andere Lehrlinge halb in ihren Stühlen herum gedreht um zu ihnen hinaus zu sehen.
Gabrialla, hat das Glasige, das Durchsichtige der, oberhalb des Grundes gelegenen Aufenthaltsräume immer gut gefallen. Konnte sie doch so immer wieder einen Blick nach draußen, in die Freiheit riskieren. Doch nun wünscht sie sich nichts mehr, als blickdichte Wände.
Bin ich nicht schon seltsam genug?, klagt sie. Muss ich jetzt, so kurz vor der letzten Prüfung, wenige Nächte vor dem Erwachsenwerden, mich auch noch so seltsam Verhalten? Wie ist es nur dazu gekommen? Sie erwartet keine Antwort. Von wem auch, wenn sie die Frage, keiner ihre vielen, verwirrenden Fragen, Laut stellt? Von ihrer Stelle aus, konnte Gabrialla nicht in den Vorderen Teil des Raumes Blicken. Die innere Wand versperrten ihr die Sicht. So überlegt sie, wenn sie noch schauen können, können wir nicht zu spät sein. Noch nicht.
Sie kann hören, wie Michelle hinter ihr angestrengt schnauft, doch verlangsamt sie ihre Schritte nicht. Ich will nicht schuld sein, dass sie die Prüfung verpasst. Nicht das auch noch. Es ist schon schlimm genug, dass ich so eine seltsame Freundin bin. Was wäre ich erst für eine Freundin, wenn ich ihrem Traum im Weg stände? Energisch reist sie die Eingangstür auf und hastet über den Flur. Als sie durch die Tür des Lehrraumes blicken kann, atmet sie erleichtert auf. Sie sind noch nicht da. Keine Lehrer, keine Erzieher. Die Lehrlinge sind noch alleine. Erst jetzt wird sie langsamer, lässt sich zurückfallen und passt sich Michelle an.
„Wenn du einmal etwas willst, kann dich echt niemand aufhalten, Gabrialla.“, kommentiert diese schnaufend. „Ehrlich, ich weiß nicht, wie du das schaffst. Du bist noch nicht einmal außer Atem, wogegen ich nach Luft giere.“
Besorgt lässt Gabrialla den Blick über ihre Freundin gleiten. Ich war zu schnell, wird ihr klar. Ich habe wieder einmal nicht aufgepasst, schimpft sie sich beschämt. Kann das nicht aufhören? Warum lerne ich das nicht?
Michelle eilt in den Lehrraum, doch Gabrialla stockt im Eingang. Halb in der Tür, halb im Raum starrt sie hinein.
Das ist es jetzt. Das letzte Mal, dass ich diesen Raum betrete. Meine letzten Prüfungen. Freude und Beklommenheit wabern in ihr. Steigen auf und machen Platz für den Gegenspieler. In schauern Jagen sie über ihre Arme, ihren Rücken, hinab und hinauf, lassen ihren Kopf kribbeln.
Erst als sie, die ihr entgegen eilende Marie erreicht, bemerkt Michelle, dass die Freundin nicht mehr an ihrer Seite ist.
„Komm, Gabrialla,“, winkt sie ihr zu, „wenn wir hier herumstehen, wird es auch nicht besser.“ Doch diese bewegt sich nicht.
Das darf nicht schief gehen. Ihr Innerstes erzittert, als ihr diese erschreckende Möglichkeit, die Zuversicht raubt. Ich werde außerhalb der inneren Gebäude arbeiten oder ich verlasse die Farm! Panik ergreift ihr Herz. Lässt es wild in ihr springen und ihr Blut rauschen. Nirgendwo anders werde ich mich einsortieren lassen! Eingelullt vom Rauschen, driftet sie in eine mögliche Zukunft ohne Freiheit, ohne den Himmel über sich.
„Gabrialla?“, wie ein belebender Windhauch erreicht sie Michelles Stimme. Streicht über ihre Sinne und holt sie zurück. Blinzelnd sucht sie ihre Freundin. „Komm,“ fordert diese sie erneut auf, „es wird Zeit.“
Nein, gesteht sie sich ein, ich kann sie nicht verlassen. Das eben Geschehene schon wieder vergessend, überwindet sie die Distanz zu ihren Freundinen in drei großen Schritten. Kaum ist sie angekommen, schiebt sich eine Hand in ihre und klammert sich an sie. Sachte erwidert Gabrialla den Griff und gemeinsam begeben sie sich zu ihren Plätzen.
Sie erreichen diese, kurz bevor die Lehrerin den Raum betritt.
Auch das noch, seufzt Gabrialla entnervt, Warum nur macht sie sich immer gleich solche Sorgen?
Doch sie hat keine Zeit sich weitere Gedanken zu machen, Michelle macht sich auf den Weg, den nicht mehr so leeren Flur zu überqueren.
Als würde sie den Kopf schütteln über das Chaos, macht diese ruckartig ein Schritt nach einander. Doch Gabrialla weiß aus Erfahrung, dass sie versucht die anderen im Blick zu haben. Was, Gabriallas Meinung nach, vergebens ist.
Als würden die mittleren Lehrlinge auf sie achten. Das Einzige, was sie wollen ist in den Essensraum und noch etwas ab bekommen. Es gibt immer welche, die bis zum Schluss warten! Schlimmer sind nur die Jüngsten der Lehrlinge! Die achten auf nichts. Derart aufgedreht, wie sie vom Training gerade sind, Frage ich mich, warum sie überhaupt schon hinunter gelassen werden.
Unbeirrt tritt sie in die Masse aus Lehrlingen, um ihrer Freundin entgegenzueilen.
Was für ein Lärm!, schimpft sie, als sie sich an ein größeres Mädchen vorbei schiebt. Sie kann höchstens 15 Zyklen zählen, da sie kein Prüfling ist, doch überragt sie Gabrialla fast um einen Kopf.
Bah, lästige Bälger, kommentiert sie, als ein kleinerer Lehrlingsjunge ihr in die Seite rennt. Wo sind den nur die Erzieher? Als ich in dem Alter war, ist immer eine da gewesen, um mich zu rügen. Dann haben sich die Freundinen endlich erreicht.
„Was ist geschehen?“, will diese auch sofort von ihr erfahren. „Was hat sie gesagt?“ Kritisch wandert ihr Blick über Gabriallas Gesicht, während immer sie immer wieder von Körpern gestreift werden.
Was kann ich nur sagen, dass sie nicht noch mehr beunruhig? Suchend wandert der Blick weiter, streift ihre Augen, ihren Mund, auf dem Weg ihren Körper hinab.
„Nichts.“, versucht sie, eilig zu beschwichtigen. Zu eilig, wird ihr bewusst, als der Blick der Freundin den ihren sucht. Tiefe Sorgenfalten bilden sich zwischen deren Augen. Natürlich war das sie falsche Antwort. Wann soll schon einmal nichts sein? „Sie hat mir nur etwas neues zum Trinken gegeben“, ergänzt sie, in der Hoffnung weitere Fragen zuvorzukommen „und mich dann gehen lassen.“.
„Ich fühle mich gut.“, beteuert sie laut seufzend. „Ehrlich. Ich hatte nur Hunger, doch das Trinken hat mir geholfen.“ Doch noch immer wandert der Blick über Gabrialla, begleitet von zwei weiteren als Marie und Sven die kurze Strecke zu ihnen überwunden haben.
Hört endlich auf, fleht sie im Stillen. Ihr braucht euch nicht um mich sorgen! Wie kann ich euch das nur begreiflich machen?, überlegt sie, mit schwindender Geduld. „Mein Hunger hat mich wohl etwas empfindlich gemacht,“ versucht sie es, „weswegen ich mich über Juls so erschreckt habe. Es tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.“ In der Hoffnung, ihrer Aussage damit mehr Kraft zu verleihen, drückt sie Michelles Hände kurz in ihren, blickt zu den beiden anderen und ergänzt: „Wenn ihr euch Sorgen gemacht habt.“ Doch die Falten verschwinden ebenso wenig wie die Blicke.
Bevor jemand noch etwas sagen kann, meldet sich Juls zu Wort: „Wenn ihr noch länger bleiben wollt, müssen wir ohne euch gehen.“. Er überragt die anderen um sich herum um mehr als einen Kopf und lenkt, mit seiner tiefen, männlichen Stimme, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Erleichtert seufzt Gabrialla.
„Marie!“, drängt er ungehalten und scheucht dadurch auch die letzten Lehrlinge, die zwischen ihnen stehen geblieben sind oder schnell hindurch eilen wollen, weg. Einen Fuß auf der Treppe, seine Hand ungeduldig in ihre Richtung gestreckt, mahnt er: „Wir sind spät dran. Denk an unsere Pläne! Ich werde nicht zulassen, dass sie“ - Gabrialla meint, beinahe spüren zu können, wie sein Finger gegen sie tippt - „unsere Partnerschaft gefährdet.“ Zu jeder anderen Gelegenheit, wäre ihr Trotz geweckt worden, wäre Gabrialla aufgebraust, doch nicht dieses Mal. Den dieses Mal ist sie undeutbar froh ihn unter ihren Freunden zu haben.
Gehorsam setzt sich Marie in Bewegung, nicht jedoch, ohne Juls zurecht zu weißen. „Gabrialla ist meine Freundin. Sie ist Teil der Gemeinschaft. Wenn es ihr nicht gut geht, ist es nicht nur meine Pflicht zu helfen, Juls!“
„Er hat Recht,“ stimmt Gabrialla währendessen eilig zu, „wir müssen los, wollen wir nicht zu spät zu der Prüfung kommen. Na los,“ scheucht sie, als sich niemand weiter in Bewegung setzt, „kommt mit.“ Nun ist es sie, die nach Michelles und Svens Hand greift und sie mit sich zieht. Hin zur Treppe und hinauf in das ebenerdige Stockwerk.
Als sie die Treppe verlassen, verstummt Maries und Juls Diskussion schlagartig.
Stille legt sich wie eine Decke über sie.
Die Pflanzen, die hier wachsen, vor allem aber der riesige Baum, der den Mittelpunkt der Glaskuppel bildet und sich über ihnen erhebt, dämmen sämtliche Geräusche. Der Lärm, den die beiden jüngeren Gruppen verursachen, scheint hier unwirklich.
Als Gabrialla neugierig neben ihre Freunde tritt, sieht sie den Grund für die dennoch ungewohnte Stille. Nur noch wenige Prüflinge halten sich außerhalb des Lehrraumes auf. Keiner lacht. Keiner scherzt.
Gabrialla lässt ihren Blick schweifen. Der Weg, der zwischen ihnen und ihrem Lehrraum liegt, ist gesprenkelt mit kleinen Gruppen. Ansonsten kann sie niemanden sehen.
Ich hab die Kuppel noch nie derart still erlebt. Neugierig dreht sie sich um, blickt in Richtung des Baumes. Sie streckt sich, bis sie nur noch auf den Zehnspitzen steht. Jetzt schafft sie es gerade noch, die schmale Wiese, den Weg und den Kreis, in dem der Baum steht, zu überblicken. Selbst auf dem Podium ist niemand zu sehen. Ungewöhnlich! Die Stille scheint sie wie ein Kokon zu umhüllen, abzuschirmen. Einzig ein Wispern erreicht sie von der ihnen am nächsten stehenden Gruppe.
Was soll das Lernen, das Diskutieren jetzt, kurz vor der Prüfung, noch bringen?, fragt sie sich. Das macht nur nervös. Wenige Herzschläge nur, hält die Gruppe noch inne, bevor sich erst Juls, gefolgt von Marie, in Bewegung setzt. Drei Herzschläge später, folgt ihnen Gabrialla als letzte der Gruppe.
Auf dem Weg zu ihrem Lehrraum, versucht sie sich, von den Gruppen fernzuhalten, sie für sich auszublenden. Dabei sinniert sie: Jetzt noch durchsprechen, was man nicht weiß, zeigt nur, was man nicht weiß.
Also versucht sie, sich von ihnen abzulenken, sich nicht von ihrem Weg abbringen zu lassen. Doch an was Denken? Mit was sich beschäftigen, um nicht an den Garten, die Sehnsucht und die Prüfung zu denken?
Zu deutlich kann sie die Nervosität ihrer Freunde spüren.
Wie sie sich ausbreitet, zwischen ihnen schwingt und sich verbindet. Noch bevor sie ihren Flur erreicht haben, beginnt sie, wie Stoff hinter ihnen her zu flattern.
Sie zu locken.
Da erreichen sie den Flur. Einen Schritt und Gabrialla ist umhüllt von köstlichem Geruch. Wasser gleich, das sie beim Tauchen umgibt, füllt er den Raum um sie. Doch, anders als im Wasser, empfindet sie keinen Drang aufzutauchen und zu Atmen. Vielmehr drängt etwas in ihrem Inneren sie, diesen Geruch einzuatmen. Ihn in sich aufzunehmen, sich daran zu laben und ihm zu folgen.
Etwas, tief in ihr, zerbricht. Dunkelheit quilt über, breitet sich, zähem Brei gleich, warm und weich in ihr aus. Schmeichelt ihr und schiebt sie hinweg.
Die feinen Haare, auf Armen, Beinen und Gesicht stellen sich auf, folgen dem geringsten Windhauch. Ihr Blick fixiert die Gruppe, stellt alles andere in den Hintergrund. Riechen kann sie nur noch diesen Duft, der sie immer weiter zu sich winkt. Ihre Schritte werden behutsamer, flüssiger und leiser, als sie sich langsam Gino nähert.
Der Schwächste. Der Ängstlichste. Er wird mir gehören.
Nein!, sträubt sie sich. Wehrt sich gegen das Schmeicheln.
Doch! Widerspricht es, will nicht zurückweichen. Aber Gabrialla lässt nicht nach.
Das kann nicht sein, versucht sie zu rufen, jedoch schafft kein Ton den Weg über ihre Lippen. Das darf nicht sein!, kreischt sie vor Entsetzen.
Das Dunkle zuckt zurück.
Dies gibt ihr die Möglichkeit sich abzuwenden und sich zu entziehen. Blind hastet sie den Flur entlang, den ihr Blick ist nun vollständig verschwommen. Doch sie hält nicht an. Nach wenigen Schritten hat sie die Tür am Ende des Flures erreicht.
Nein!, bäumt es sich noch einmal auf, bevor sie durch die Tür stürmt, nach draußen.
Der Geruch bleibt zurück.
Als hätte es sich nur an diesem festgehalten, sinkt die Wärme in sich zusammen.
Als Gabrialla fast ein Drittel der Grünfläche überwunden hat, bleibt sie stehen und ringt nach Atem. Verwirrt sieht sie sich um.
Was ist nur los mit mir?, fragt sie sich fassungslos, während das Schmeicheln sich weiter zurückzieht. Was war das?
Fast schon ist es verschwunden und hat die Erinnerung aus ihr mit genommen. Nur ein kleiner Teil ist geblieben, schmiegt sich an ihr Herz und wispert: Bald ist es soweit.
Zitternd stellen sich ihre Haare erneut auf, als ein Frösteln über den Körper läuft.
Was ist nur los?, wiederholt sie nun energischer. Doch weis sie, dass keiner ihre Fragen beantworten kann. Keiner sie beantworten, von ihnen wissen will. So bleibt sie stumm. Wieso riecht es hier überall nach Essen? Tränen der Frustration, der Verzweiflung überfluten ihre Augen, drängen nach draußen, doch Gabrialla gibt nicht nach. Entschlossen wischt sie diese beiseite. Und dann auch noch so lecker, dass ich kaum widerstehen kann.
Bald ist es soweit, wispert es.
Das kann nicht sein. In diesem Herzschlag fällt ihr das Trinken wieder ein.
Und seine Wirkung.
Gierig reist sie am Verschluss des Behälters und nimmt einen langen Zug des köstlichen Getränks.
Und das, ergänzt sie, kann ebenso wenig sein. Wann hat das einfache Trinken angefangen, so gut zu schmecken? Dennoch tritt die Wirkung fast sofort ein. Ihre Gedanken werden klarer und das Dunkle zieht sich zurück, wird vergessen.
„Gabrialla!“, reist Michelle sie aus ihren Gedanken.
Schwankend zwischen Wut und Scham, nimmt sie sich noch vier Herzschläge, um den Behälter zu schließen, tief zu Atmen und sich zu beruhigen.
Dann hat Michelle sie fast erreicht und Gabrialla dreht sich seufzend zu ihr um.
„Ich brauchte nur etwas frische Luft. Tut mir leid.“ Wie oft habe ich mich heute schon entschuldigt? „Der Geruch, die Nervosität der anderen war, irgendwie zu viel für mich.“, versucht sie zu beschwichtigen, die Freundin zu beruhigen. „Es tut mir leid,“ wiederholt sie noch einmal. Greift nach der Hand der Freundin und fährt energisch, jegliche weitere Fragen unterbindend, fort: „Los, wir sind schon spät dran und sicher die Letzten.“ Bevor sie losläuft, leistet sie sich einen schnellen Blick auf die vor ihr aufragende Glasfront. Dieser bestätigt ihre Befürchtung und entringt ihr ein Seufzen.
Ebenso wie Marie haben sich einige andere Lehrlinge halb in ihren Stühlen herum gedreht um zu ihnen hinaus zu sehen.
Gabrialla, hat das Glasige, das Durchsichtige der, oberhalb des Grundes gelegenen Aufenthaltsräume immer gut gefallen. Konnte sie doch so immer wieder einen Blick nach draußen, in die Freiheit riskieren. Doch nun wünscht sie sich nichts mehr, als blickdichte Wände.
Bin ich nicht schon seltsam genug?, klagt sie. Muss ich jetzt, so kurz vor der letzten Prüfung, wenige Nächte vor dem Erwachsenwerden, mich auch noch so seltsam Verhalten? Wie ist es nur dazu gekommen? Sie erwartet keine Antwort. Von wem auch, wenn sie die Frage, keiner ihre vielen, verwirrenden Fragen, Laut stellt? Von ihrer Stelle aus, konnte Gabrialla nicht in den Vorderen Teil des Raumes Blicken. Die innere Wand versperrten ihr die Sicht. So überlegt sie, wenn sie noch schauen können, können wir nicht zu spät sein. Noch nicht.
Sie kann hören, wie Michelle hinter ihr angestrengt schnauft, doch verlangsamt sie ihre Schritte nicht. Ich will nicht schuld sein, dass sie die Prüfung verpasst. Nicht das auch noch. Es ist schon schlimm genug, dass ich so eine seltsame Freundin bin. Was wäre ich erst für eine Freundin, wenn ich ihrem Traum im Weg stände? Energisch reist sie die Eingangstür auf und hastet über den Flur. Als sie durch die Tür des Lehrraumes blicken kann, atmet sie erleichtert auf. Sie sind noch nicht da. Keine Lehrer, keine Erzieher. Die Lehrlinge sind noch alleine. Erst jetzt wird sie langsamer, lässt sich zurückfallen und passt sich Michelle an.
„Wenn du einmal etwas willst, kann dich echt niemand aufhalten, Gabrialla.“, kommentiert diese schnaufend. „Ehrlich, ich weiß nicht, wie du das schaffst. Du bist noch nicht einmal außer Atem, wogegen ich nach Luft giere.“
Besorgt lässt Gabrialla den Blick über ihre Freundin gleiten. Ich war zu schnell, wird ihr klar. Ich habe wieder einmal nicht aufgepasst, schimpft sie sich beschämt. Kann das nicht aufhören? Warum lerne ich das nicht?
Michelle eilt in den Lehrraum, doch Gabrialla stockt im Eingang. Halb in der Tür, halb im Raum starrt sie hinein.
Das ist es jetzt. Das letzte Mal, dass ich diesen Raum betrete. Meine letzten Prüfungen. Freude und Beklommenheit wabern in ihr. Steigen auf und machen Platz für den Gegenspieler. In schauern Jagen sie über ihre Arme, ihren Rücken, hinab und hinauf, lassen ihren Kopf kribbeln.
Erst als sie, die ihr entgegen eilende Marie erreicht, bemerkt Michelle, dass die Freundin nicht mehr an ihrer Seite ist.
„Komm, Gabrialla,“, winkt sie ihr zu, „wenn wir hier herumstehen, wird es auch nicht besser.“ Doch diese bewegt sich nicht.
Das darf nicht schief gehen. Ihr Innerstes erzittert, als ihr diese erschreckende Möglichkeit, die Zuversicht raubt. Ich werde außerhalb der inneren Gebäude arbeiten oder ich verlasse die Farm! Panik ergreift ihr Herz. Lässt es wild in ihr springen und ihr Blut rauschen. Nirgendwo anders werde ich mich einsortieren lassen! Eingelullt vom Rauschen, driftet sie in eine mögliche Zukunft ohne Freiheit, ohne den Himmel über sich.
„Gabrialla?“, wie ein belebender Windhauch erreicht sie Michelles Stimme. Streicht über ihre Sinne und holt sie zurück. Blinzelnd sucht sie ihre Freundin. „Komm,“ fordert diese sie erneut auf, „es wird Zeit.“
Nein, gesteht sie sich ein, ich kann sie nicht verlassen. Das eben Geschehene schon wieder vergessend, überwindet sie die Distanz zu ihren Freundinen in drei großen Schritten. Kaum ist sie angekommen, schiebt sich eine Hand in ihre und klammert sich an sie. Sachte erwidert Gabrialla den Griff und gemeinsam begeben sie sich zu ihren Plätzen.
Sie erreichen diese, kurz bevor die Lehrerin den Raum betritt.