Kapitel 5: Wasser fehlt

Der Sonnenball stand am Zenit und heizte die alten Steine des Amphitheaters auf. Momo wusste, dass es zu heiß war, sich auf die Stufen zu setzen. Sie hatte sich schon einmal nachmittags verbrannt, als die Sonne schwächer wurde und sie dachte, die Steine wären etwas abgekühlt.
Wendeline und Elsa lagen mit triefend feuchten Tüchern auf den Gesichtern im Pinienwald, um etwas Kühle für ihren Mittagsschlaf zu finden. Bruno war zu einem Bauern arbeiten gegangen. Toni wollte Gigi Fremdenführer helfen, eine Ballonfahrt für drei dänische Touristen zu organisieren, aber Gigi war noch nicht mit dem Ballonkorb und den Ballontüchern aufgetaucht. Sie wollte den Ballon mit heißer Luft füllen; am Nachmittag sollten dann die Besucher kommen.
Franco, Paolo, Ann, Alexandra, Giacomo, Momo und Sascha hatten sich mit Badehosen und -anzügen in den kleinen Bach hinter dem Amphitheater gesetzt, den angenehmsten Platz in der Mittagshitze. Das kalte Wasser floss um ihre Beine herum, und die Kinder schrieen um die Wette, während sie sich mit dem herrlichen Nass bespritzten.

„Wo warst du denn?“, hörten sie Toni vorwurfsvoll fragen.
Als die Kinder sich umdrehten, sahen sie Gigi, der einen Bollerwagen mit einem riesigen Korb, vielen Leinen, bunten Planen und einem Brenner hinter sich her zog. Gigis Hemd war schweißdurchnässt. Er stellte den Bollerwagen ab.
„Macht mal Platz, Kinder!“, rief Gigi.
Und Plitsch-Platsch! saß er mit Schuhen, Hemd und Hose mitten im Bach. Alle lachten, sogar Toni, der sich noch ärgerte, dass Gigi verspätet war.

„Keine Sorge, Toni“, sagte Gigi, der Tonis sorgenvolles Gesicht sah, „die Dänen müssen etwas warten. Aber weil sie sehr nette Menschen sind, werden sie auch das ertragen. Und jetzt die gute Nachricht: Danach kommt noch ein Gruppe von Japanern zum Ballonfahren!“
„Aber wenn wir den Korb einsammeln, die Planen zusammenlegen und uns neu vorbereiten, ist es schon Nacht.“
„Klar!“, stimmte Gigi ihm zu, stand auf und streckte die Arme von sich wie ein Hampelmännchen. Das Bachwasser floss aus seinen Hemdsärmeln und Hosenbeinen heraus. Die Kinder lachten wieder.

Dann erzählte Gigi, was passiert war: „Ich sage also zu den freundlichen Japanern: ‚Es tut mir leid; heute Nachmittag bin ich ausgebucht, aber die Nachtballonfahrt ist noch zu haben.’“
„Ist denn das nicht gefährlich nachts?“, wollte Paolo wissen.
„Das haben auch die Japaner ganz höflich gefragt. Und dann habe ich ihnen gesagt: ‚Aber nein, das ist ein Spektakel, das bis auf die Römer zurückgeht.’ ‚Ach, wirklich!’ fragten die verdutzt. ‚Klar’, sag ich, ‚schon die römischen Kaiser überflogen die Stadt und das Amphitheater, wenn die Löwen und Gladiatoren in der Arena waren.’ ‚Toll’, rief eine japanische Frau ganz begeistert. ‚Aber das ist sicher sehr viel teurer’, fragte ein älterer Japaner sofort. ‚Ach, das geht, es ist nur 30 % teurer’, meinte ich.“
„Du Gauner!“, rief Toni lachend.
„Warum?“, fragte Gigi erstaunt.
„Heißt das, dass wir heute nacht Gladiatoren sind?“, rief Franco.
„Genau!“, sagte Gigi. „Wir stellen große Fackeln auf, so dass man das Amphitheater von oben beleuchtet sehen kann.“
„Ich habe noch mein Plastikschwert und den Wikingerhelm von Karneval“, rief Franco.
„Wir haben noch alte Gewänder, die können wir benutzen“, schlug Giacomo vor.
„Ich könnte einen langen Speer schnitzen“, erklärte Paolo.
„Ich werde ein besonders trauriges Gladiatorenlied komponieren“, versprach Alexandra.
Ann und Momo sahen sich an. „Wir wären gerne römische Prinzessinnen“, erklärte Ann für beide.
„Klasse!“, Gigi grinste über sein ganzes Gesicht. „Ich wusste, dass ich auf euch zählen kann.

„Los, komm, du Gauner! Wir müssen uns beeilen!“, sagte Toni und ergriff Gigi freundschaftlich bei der Schulter.
„He, Kinder!“, rief Gigi, als Toni ihn schon wegzerrte. „Ich hab eine Idee für euch: der Bauer, bei dem Bruno arbeitet, hat Besprenganlagen auf seinen Feldern. Das ist super, man kann drunter durchlaufen, das kühlt toll ab. Wenn ihr Lust habt, geht mal hin, ich habe gestern so eine Dusche genommen.“
„Au ja, das wäre lustig“, rief Paolo.
Schließlich zogen Gigi und Toni den Bollerwagen mit der Ballonausrüstung auf die kleine Anhöhe neben dem Pinienwald, von der man mit dem Ballon losfliegen konnte.
Die Kinder diskutierten noch ein bisschen und beschlossen dann, zur Besprenganlage loszulaufen. Gottseidank wusste Sascha, bei welchem Bauern und auf welchem Feld sein Vater arbeitete.
Die Gruppe der Kinder zog los, die Mütter wachten aus ihrem Mittagsschlaf erschrocken auf, als die Kinder an ihnen vorbeizogen. Aber als Wendeline und Elsa sahen, dass Alexandra bei den Kleinen war, waren sie beruhigt und schliefen wieder ein.

Sie hatten schon das Pinienwäldchen verlassen, als ihnen ein älteres Mädchen ihnen entgegenkam. Es war ein Mädchen, das jetzt so um die 14 Jahre alt war, aber früher mit ihnen gespielt hatte. Momo erkannte sie.
„Hallo Susanne!“, begrüßte unsere struwelige Freundin die Unbekannte.
„Hallo Momo! Hallo ihr anderen!“, erwiderte das blonde Mädchen und lächelte etwas bedrückt.
„Wir wollten uns unter einer Besprenganlage auf den Feldern duschen“, erklärte Alexandra.
„Kommst du mit?“, fragte Franco.
„Ich wollte zu Momo“, meinte Susanne, ohne auf die Frage zu antworten.
Momo verstand. „Ich komme vielleicht später nach“, erklärte sie ihren Freunden.
Alexandra zuckte mit den Schultern: „Einverstanden, bis später, Momo. Tschüss.“
Die anderen Kinder zogen los, und Susanne und Momo setzten sich in den Schatten des Waldrands.

„Es tut mir leid, dass ich dich davon abhalte, mit deinen Freunden loszuziehen“, fing Susanne an, „aber ich brauche deine Hilfe.“
Momo lächelte.
„Es geht ... um ... um einen Freund.“
Momo nickte.
„Du kennst ihn; er heißt Stefan.“
„Ja, richtig, Stefan, früher kam er oft.“, meinte Momo.
„Jetzt ist fast 15“, erklärte Susanne.
„Und du magst ihn“, fragte Momo direkt.
Susanne fühlte sich ertappt.
„Ja, glaub schon...“, sagte sie langsam, „jedenfalls in der letzten Zeit ... ist er so komisch... früher fand ich ihn so ... putzig... mit seiner Brille, die ihm immer von der Nase rutscht. Er war so lustig, ein toller Freund...“
„Ist er das nicht mehr?“
„Ich weiß nicht, Momo! Früher guckte er mich immer so an; und wenn er zusammen mit mir war, wusste ich immer, was er denkt, und ich konnte dir im Voraus sagen, was er sagen wird. Und er auch, er wusste viel über mich; und er nannte mich sogar... ach, das ist ja nicht wichtig...“
„Er gab dir einen besonderen Namen?“, fragte Momo erstaunt.
„Ja“, sagte Susanne etwas verträumt und lächelte.
„Er mag dich ganz doll, oder?“, fragte Momo.
Susanne wurde wieder traurig und nickte stumm.
Momo spielte mit kleinen Nadelzweigen auf dem Waldboden und blickte in die Ferne.
Susanne wollte noch etwas Wichtiges sagen, fand aber die Worte nicht. Ihr Blick verdüsterte sich, und Momo wusste, dass sie weinen würde.
Aber Susanne weinte nicht wirklich, sie seufzte leise und dann noch ein zweites Mal, nur Tränen kamen nicht.
Momo blickte sie an.
„Er... er“, fing sie von neuem an, „er ist anders geworden. Er sagt mir nichts mehr. Er ist wie eine Mauer. Er erzählt mir nichts mehr, und ich weiß nicht mehr, was ich von ihm denken soll.“
Momo hatte ihr zugehört.
„Und er hat den Namen vergessen, den er mir gegeben hat.“, flüsterte Susanne kaum hörbar. Sie war sehr traurig.
Momo hatte Angst, eine falsche Frage zu stellen, starrte Susanne konzentriert an. Und da wusste sie plötzlich, dass Stefan den besonderen Namen, den er Susanne gegeben hatte, nicht vergessen hatte, sondern nicht mehr benutzen wollte. Jetzt verstand Momo, warum Susanne so traurig war.

Momo stellte keine Fragen mehr, sondern nahm ihre Freundin bei der Hand. Und so machten sich die beiden stumm auf den Weg zur Besprenganlage.

Sie gingen schweigsam Hand in Hand über die trocknen Erdwege der Getreide-, Mais- und Gemüsefelder. Plötzlich erkannte Momo am Horizont einen Luftballon in allen Regenbogenfarben. Sie deutete mit der Hand hin, damit auch Susanne ihn sehen konnte.
Der Ballon kam näher.

Momo erkannte Toni und Gigi im Ballon. Gigi gab lange Erklärungen für drei fremde Menschen, die alle blond mit rotgebrannten Gesichtern waren. Momo winkte Gigi zu, aber er sah sie nicht. Ein Däne berührte ihn an der Schulter, um ihn Momo zu zeigen. Und Gigi drehte sich um, winkte Momo und Susanne zu. Die Mädchen winkten zurück.
Momo blickte Susanne an und sah, dass selbst Susanne wieder lächelte. Der Ballon schwebte wie eine Feder durch den Wind unsichtbar bewegt über die beiden Mädchen hinweg. Das feine Ballontuch beulte sich manchmal etwas ein, wenn ein Gegenwind kam, und blähte sich jedes Mal auf, wenn Toni den Brenner anstellte und die Gasflamme die Luft im Inneren des Ballons erwärmte.

Susanne und Momo erreichten das Feld, auf dem ihre Freunde schon warteten. Bruno und der Bauer Alfons waren auf dem Feld. Alfons war ein kleiner dünner Mann. Neben dem dicken Bruno sah er fast aus wie eine Vogelscheuche, so dünn war er. Meistens wenn Momo Alfons sah, war sein Hemd verschwitzt und oft auch sonntags noch, hatte er Erdkrumen unter den Fingernägeln.
Bruno und Alfons gingen gebückt über das Feld und schleppten etwas mit sich; die Kinder begleiteten sie.
Momo suchte das Feld mit den Augen ab, wo wohl die Besprenganlage war.
Paolo entdeckte Momo als Erster.
„Ihr braucht die Besprenganlage nicht zu suchen“, rief er den beiden Mädchen zu.
„Warum?“
Paolo kam ihnen entgegen. „Bruno hat uns erklärt, dass der Bürgermeister der Stadt verboten hat, die Felder auf diese Art zu besprengen.“
„Ehrlich?“, fragte Susanne erstaunt.
„Ja, es fehlt Wasser. Die Stadt hat kaum noch Wasser, und hier auf den Feldern, na ja, schaut euch doch selbst um.“
Paolo hatte recht. Der Feldboden sah sehr trocken aus. Momo erinnerte sich, dass nach einem Regenguss die Erde selbst hier ganz schlammig braun aussah. Der Feldboden war jetzt ganz bleich und steinhart an der Oberfläche. An manchen Stellen war er aufgeplatzt wie ein Haut, die zu trocken wird und platzen muss. Er hatte Risse, und Momo konnte ihre Hand in die Erdrisse hineinstecken, so tief waren sie.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Momo hilflos.
„Jetzt muss man eine Bodenbewässerung machen.“
Susanne kannte das nicht: „Was ist das?“
„Die normalen Besprenganlagen verteilen das Wasser, so gut es geht, auf dem ganzen Feldboden. Nur in der großen Hitze verdunstet das Wasser direkt wieder, ohne dass es in die Erde geht. – Bei der Bodenbewässerung gibt man das Wasser direkt in den Boden, ohne dass es verdunsten kann. Deshalb braucht man dann auch viel weniger Wasser.“
„Und wie macht man das?“
„Bruno legt Schläuche aus, die viele kleine Löcher haben. Diese Schläuche liegen auf der Erde, oder sind eingegraben in der Erde, was noch besser ist. Dann wird das Wasser angestellt, und durch die kleinen Löcher fließt das Wasser direkt in die Erde.“
„Aber warum macht man das nicht immer so?“, wollte Momo wissen.
„Man braucht viele Schläuche, um überall auf dem Feld hinzukommen, das kostet viel Zeit und Geld.“
„Aber man spart Wasser“, entgegnete Susanne.
„Das stimmt.“

Die Mädchen schauten wieder auf das Feld. Jetzt verstanden sie, was Bruno und Alfons auf dem Rücken trugen. Es war eine langer Schlauch, den er auf dem Feld auslegte. Damit das Wasser überall hinkommen konnte, legte er den Schlauch wie eine Schlangenlinie aus, bis das ganze Feld wie ein Zick-Zack-Muster mit dem Schlauch bedeckt war. Die Kinder wollten ihm helfen, aber der Schlauch war zu schwer für sie zu tragen.
Bruno hatte jedoch eine andere Arbeit für sie: „Grabt einen kleinen Graben, so tief wie eine Faust, wo ich den Schlauch hineinlegen kann. So kann das Wasser nicht quer über den Feldboden fließen und verdunsten.“
Die Kinder hatten keine Lust, ihm zu helfen, und waren enttäuscht, weil es keine Besprenganlagen mehr gab, um sich zu duschen, aber Paolo fasste die Situation gut zusammen: „Besser wir sparen jetzt das Wasser, als wenn wir später überhaupt kein Wasser mehr haben...“
Also bückten sich die Kinder und begannen zu graben.
Jeder sollte einen kleinen Kanal graben, das war schwer, denn die Erde war hart wie Stein. Momo wollte Erdbrocken abreißen und brauchte all ihre Kraft dazu. Ann nahm einen Stock, um den Kanal vorzuzeichnen. Sascha buddelte wie ein kleiner Bagger mit beiden Händen. Susanne machte einen schmaleren Kanal. Franco hatte ihr einen Stock angespitzt, mit dem sie besser kratzen konnte.
Bruno und Alfons waren sehr zufrieden über den Arbeitseifer der Kinder und dankten ihnen, als sie eine Stunde später auf dem ganzen Feld Schläuche verlegt hatten.
Müde und schwitzend kehrten die Kinder ins Amphitheater und in die Stadt zurück.
 



 
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