Kapitel 6: Beppo trifft auf Fred

Beppo fegte in einer seiner Lieblingsstrassen.
In der Lindenstrasse waren rechts und links der Fahrbahn Linden gepflanzt. Der Bürgersteig war fast etwas eng dort, wo die Linden ihren kreisrunden Platz hatten.
Aber Beppo liebte diese Strasse.
Sie war schattig wegen der schönen, alten Bäume, deren Blätterdach jetzt mittags etwas Kühle spendete. Auf der Fahrbahn, dessen Asphalt in der Sonne fast weich geworden war, und auf dem Gehsteig lagen viele Blätter und einige Äste, die Beppo mit Brotresten, Coladosen, Zigarettenstummeln und anderen weggeworfenen Dingen zusammenkehrte.
Beppo schob seinen Rollwagen vor sich her, blieb immer wieder stehen, kehrte mit seinem großen Besen den Müll zu einem kleinen Haufen zusammen, schob ihn mit einem Kehrblech zusammen und kippte ihn in einen großen blauen Müllsack, der über dem Rollwagen aufgespannt war.
Die Häuser in der Lindenstrasse waren kleine, dicht aneinandergebaute Häuser mit winzigen Vorgärten. Aber Beppo sah, dass die Leute, die hier lebten, glücklich sein mussten. In einem Vorgarten war ein riesiges Blumenbeet angelegt. Die Blumen rochen bis auf die Strasse. Daneben war ein Haus, in dessen Garten zwei blühende Kirschbäume standen.

Auf der Ziegelmauer zum nächsten Grundstück lag ein Kater, der auf dem warmen Stein genüsslich schlief. Im Garten dahinter spielten Andreas und Thomas Himmelich Fußball auf dem kleinen Rasen vor dem Haus. Ihre Mutter rief, dass sie nicht so viel Lärm machen sollten.

Auf der anderen Straßenseite strich Herr Alwin Müller seinen Gartenzaun dunkelgrün. Als Beppo näher kam, bellte Hasso, Herr Müllers großer Hooverwart-Hund.
„Mensch, Beppo, kommst du mich besuchen?“, begrüßte ihn Alwin und streckte ihm die grün beschmierte Hand hin.
„Nein, Alwin, leider nicht. Ich muss noch die ganze Strasse kehren.“
Alwin Müller schaute die Strasse hinab: „Da hast aber noch was zu tun.“
Beppo nickte. Er kannte seinen alten Freund Alwin vom Kegelclub.
„Und dein Zaun?“, fragte Beppo.
„Der erste Anstrich heute; und morgen kommt der zweite Anstrich drauf.“
„Soso.“, sagte Beppo gedankenverloren.
„Wie lang musst du denn noch arbeiten, Beppo?“
„Noch ein Jahr; dann werd ich auch Zeit haben, meinen Gartenzaun zu streichen.“, sagte Beppo, und beide lachten.
Aber eigentlich war den beiden nicht zum Lachen zumute: Wegen einer Einsparmassnahme in seiner Firma hatte Alwin seine Arbeit letzten Monat verloren.
Das war schade, denn er hatte auch nur noch zwei Jahre bis zur Rente und wollte eigentlich so lange noch arbeiten.
Beppo versprach Alwin, ihn morgen zum Kegeltreffen abzuholen. Dann verabschiedeten sich die Freunde. Beppo musste noch etwas schaffen.

Im Nachbargarten saß Stefan unter dem großen Apfelbaum.
„Stefan“, rief Beppo vom Gartenzaun aus.
Stefan schaute erstaunt von seinem Buch auf.
Was wollte der alte Mann von ihm?
Dann erkannte er Beppo.
„Hallo Beppo!“
„Wie geht’s dir, Stefan?“
„Gut“, sagte der Junge, nickte, blieb aber im Schatten des Baums sitzen. Ohne den Alten weiter zu beachten.
„Willst du nicht mal wieder ins Amphitheater kommen?“, fragte Beppo nach einer Zeit, denn früher hatte Stefan mit den Kindern im Amphitheater gespielt.
Der Junge schaute vom Buch hoch und Beppo fragend an. Und schließlich sagte er mit fester Stimme: „Ich glaub, das ist eher was für Kinder.“
„Ach so“, meinte Beppo enttäuscht, „wir würden uns trotzdem freuen, wenn du dich mal sehen lässt...“
„OK, ich denk drüber nach“, sagte Stefan. Der alte Mann störte ihn wirklich jetzt beim Lesen. Er konnte doch nicht Beppo von den neuen, revolutionären Ideen erzählen, die er in diesem alten Buch gefunden hatte... Beppo würde das nicht verstehen, er war zu alt und zu dumm dazu, dachte Stefan.
„Tschüss, Stefan“, sagte Beppo, der Stefans Schweigen nicht verstand.
„Tschüss“, erwiderte Stefan, ohne den alten Straßenkehrer anzuschauen.
Ratlos ging Beppo weiter.

Die Nachmittagssonne senkte sich; die Schatten wurden länger. Beppo war schon zweihundert Meter vorangekommen.
Plötzlich senkte sich eine Dunkelheit über ihn, so als ob eine große schwarze Regenwolke sich vor die Sonne geschoben hätte.
Aber als er aufschaute, bemerkte er, dass ein großer, breiter Mann sich ihm in die Sonne gestellt hatte.
Weil der starke Mann im Gegenlicht stand, konnte Beppo ihn nicht ins Gesicht schauen.
„Ja bitte?“, fragte er höflich den riesigen Mann im Gegenlicht.
Überraschenderweise war es nur eine leise Piepstimme, die ihm antwortete: „Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen. Aber ich möchte Ihnen eine Frage stellen.“
„Fragen Sie, bitte“, sagte Beppo und blinzelte ins Sonnenlicht.
„Wissen Sie, wo sich in dieser Stadt Menschen treffen?“
Einen Moment lang war Beppo so verdattert, dass er nichts sagte.
„Das wissen Sie nicht?“, fragte Beppo schließlich zurück und hielt sich die Hand vors Gesicht, weil er in die Sonne schauen musste.
„Nein“, piepste es unglücklich zurück.
Beppo wurde es unwohl; irgendetwas stimmte mit diesem Mann nicht. Trotzdem wollte er ihm antworten: „Also, ich zum Beispiel, ich gehe in den Kegelclub, um meine Freunde zu treffen. Und dann treffen wir uns mit Momo oft am Amphitheater, um mit den Kindern zu spielen oder Gigis Geschichten zuzuhören…“
Der Riese sagte nichts.
„Entschuldigung, können Sie bitte etwas zur Seite gehen, ich muss die ganze Zeit in die Sonne sehen, um mit Ihnen zu sprechen.“, fügte Beppo schließlich hinzu.
„Oh, wirklich? Entschuldigung“, sagte der Koloss erstaunt und tat einen Schritt zur Seite.
„Aber…“ Beppo schluckte. Der Fremde war ein Schwarzer, ein muskulöser Mann, mit breiten schwarzen Oberarmen, einem riesigen Bauch unter seinem weißen T-Shirt und einem breiten, unsicher lächelnden Mund.
„Aber…“
„Ja entschuldigen Sie, ich habe mich nicht vorgestellt habe, ich bin Fred Umbo“, sagte die Fistelstimme.
„Aber…“, fing Beppo von neuem an.
„Ja, ich komme von weit her“, piepste es verständnisvoll.
„Aber…“
Fred sagte nichts mehr.
„… Sie sind ja ein Schwarzer“, sagte Beppo langsam und betonte jedes Wort.
Freds Lächeln verschwand, und sein Mund wurde schmal und hart.
„… ein Schwarzer“, wiederholte Beppo gewissenhaft seine Entdeckung, als ob er gerade eine Monderkundung machen würde. Und gleichzeitig wurde er rot im Gesicht, weil es ihm peinlich war, dass er so gegenüber dem Fremden reagierte.

Fred ließ die Schultern hängen.
Da begann sich der kleine, alte Körper von Beppo zu regen. Kleine Zuckungen liefen durch seinen Körper. Zuerst dachte Fred, dass Beppo Anstalten machen wollte, wegzulaufen oder sich zu übergeben.
„Ein …“, Beppo hielt inne, „Schwarzer in unserer kleinen Stadt. Und … und ich habe das gar nicht gesehen, weil Sie in der Sonne standen.“
Fred wusste nicht, was er davon halten sollte. Und dann fing Beppo an zu glucksen wie eine Wassertoilette, bei der der Frischwasserzulauf nicht richtig funktioniert.
„Ein… glucks… Schwarzer… glucks… den ich zu unserem Kegelverein eingeladen habe.“
Und der kleine, alte Beppo kicherte wie ein Schuljunge, der einen Streich gemacht hat.
„Willkommen ... haha...in unserer Stadt... entschuldigen Sie bitte, ich heiße Beppo Straßenkehrer, Sie müssen mir erzählen, woher Sie kommen“, sagte Beppo lachend und hielt Fred seine Hand hin.
Als Fred das sah, schlug freudig ein.
Beppo hörte nicht auf zu kichern, weil ihm etwas peinlich, dass der schwarze Mann ihn verunsichert hatte. Wie schnell kann man Angst haben, weil man einen Fremden nicht kennt?
Beppo lachte und kicherte über sich selbst. Er fand es lustig, wie schnell er die Fassung verloren hatte, nur weil der Fremde ein großer schwarzer Mann war.

Und da fing auch Fred an zu lachen. Aber nicht ein kleines piepsiges Lachen, wie man das bei seiner hohen Stimme erwartet hätte, nein, er begann sich zu schütteln, und aus seinem Bauch dröhnte ein großer Lachorkan, ein vom Herzen kommendes Basslachen, das er sich lange aufgespart hatte, und so tief, als ob man die tiefste und dickste Orgelpfeife zum Lachen gebracht hätte. Und ihr gemeinsames befreites Lachen schallte über Hunderte von Metern in die Lindenstrasse hinein.

Alwin hörte diesen Orkan am Ende der Strasse, sah seinen Freund Beppo neben einem fremden Afrikaner stehen und hatte Angst um seinen Freund.
„Beppo!“, rief er, das Gartentor aufreißend. „He, Sie da! Lassen Sie meinen Freund Beppo in Ruhe! Ja Sie!“, rief er Fred zu.
„Komm Hasso!“, befahl er seinem Hund.
„Beppo, ich komme!“, versicherte er seinem Freund.
Aber Fred und Beppo lachten weiter.
Alwin trieb seinen Hooverwart-Hund aus den Garten aus auf den Bürgersteig hinaus.
Der Hund bellte in Jagdlaune und fegte die Strasse hinab.
Als Alwin bei Beppo und Fred ankam, fasste Beppo ihn am Arm, damit er nicht fortliefe, bevor er selbst zu Ende gelacht hätte.
Der Hund stand neben ihnen und bellte aufgeregt.
„Und jetzt… haha… glaubt… Alwin, Fred hätte mich überfallen! Der böse schwarze Mann hat mich überfallen! Haha! Haha!“
Fred und Beppo steigerten sich in ihrem Lachen und klopften sich jetzt vor Lachen auf die Schenkel.

Wauwau! Der Hund schlug laut an.
Fred und Beppo versuchten, sich zu beruhigen, und machten jetzt vereinzelte Lachsalven durch, die in unvorsehbaren Abständen aus ihnen herausbrach. Der Straßenkehrer streichelte Hasso sanft über den Kopf, damit wenigstens der Hund sich beruhigte.
Alwin war vom Laufen außer Atem und zog vor, nichts zu sagen.
Langsam beruhigten sich Fred und Beppo.
Der Riese Fred setzte sich erschöpft auf die Erde. Beppo lehnte sich vom Lachen geschüttelt gegen einen Gartenzaun.

„Um Himmels Willen, Beppo, was ist los mit dir? Geht es dir gut?“, rief Alwin zornig.
Beppo wischte sich die Tränen aus den Augen, schlug sich auf den Mund, um nicht wieder neu loszulachen, und sagte dann langsam etwas, was Alwin sicher nicht als Antwort erwartet hatte: „Ich… glaube...“, erklärte Beppo feierlich, „wir haben… einen neuen… Kegelbruder gefunden.“
 



 
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