Marcel Sommerick
Mitglied
Siebtes Kapitel
[ 4]Als André erwachte, dachte er erst, er sei noch im Schlummer und hätte einen Alptraum. Dann fiel ihm alles wieder ein, das Haschisch, Florian und Petra, die Festnahme. Er blickte sich in der Zelle um. Es herrschte Halbdunkel, und er konnte nicht feststellen, wie lange er in Ohnmacht verbracht hatte, denn sie hatten ihm seine Uhr abgenommen. Es war ein etwa neun Quadratmeter großes Loch, in dem sich nichts außer einer Steinpritsche befand, auf der man sich nur unbequem ausstrecken konnte. Es schmerzte ihn in allen seinen Gliedern, außerdem hatte er bohrenden Hunger. Er war allein in der Zelle, ein Privileg, wie sich später herausstellen sollte. Er begann zu schreien.
[ 4]„Hello? Is there anybody? Is there anybody out there?“
[ 4]Eine halbe Stunde ging das so, dann knirschte ein Schlüssel im Schloss, der Riegel sprang auf, und ein Wärter trat ein. André fiel gleich die geladene Schusswaffe an seiner Hüfte auf. Widerstand war völlig zwecklos. Ausdruckslos hörte sich der Wärter André’s Klagen an, machte dann kehrt und kehrte wenig später mit einem Stück Brot und einer Flasche Wasser zurück. André aß hastig und trank in großen Schlucken. Er bestürmte den Wärter mit Fragen, doch der zuckte nur die Schultern. „Ana asif.“
[ 4]Anscheinend sprach er kein Englisch. Die Tür fiel wieder zu, und André war abermals allein. Er durchwühlte seine Taschen. Alles hatten sie ihm abgenommen, sogar den Gürtel und die Schnürsenkel. Nach etwa einer halben Stunde öffnete sich die Tür erneut, und André hatte die Möglichkeit auszutreten. Es war eine große Erleichterung. Er fragte nach einer Matratze und einer Decke, aber niemand verstand ihn. So ging das eine Weile hin und her, es mochten zwei, drei Tage sein, aber André kam es wie Wochen vor. Einmal kam ein Mithäftling in die Zelle. Er sah kopfschüttelnd zu, wie André das belegte Brot herunterschlang und fragte dann: „What do you think are you eating there?“
[ 4]André war es egal, er hatte einfach Hunger. Gut möglich, dass sie die Reste aus den Mülleimern für ihn hervorkramten. Der Mithäftling, ein sonnengebräunter Ägypter mit kurzen Haaren in Jeans und – wie er erst jetzt bemerkte – einem Hemd, das sich in seinem Gepäck befunden hatte, wurde wieder abgeführt und André war allein.
[ 4]Dann ging plötzlich das Licht im Flur an, die Tür öffnete sich, drei Beamte führten André auf die Wache, und sie quetschten ihn nach allen Regeln der Kunst aus. Wie sein Name sei, woher er komme, wann er geboren sei und wo. Der Grund seines Aufenthaltes in Ägypten. „Well, tourism“, murmelte André.
[ 4]Niemand schien ihm das so ganz abzukaufen, und sein Reisepass verschwand in einer Schublade. André beschwerte sich, und der Beamte – ein Dicker mit Glatze, der fortwährend Cleopatra-Zigaretten paffte – murmelte etwas, was dem Tonfall nach so klang wie: „Den sehen Sie sowieso nie mehr wieder.“
[ 4]Sie steckten André zurück in seine Zelle, und aus Schwäche und Wut begann er zu weinen. Er fand in einer Ecke der Zelle eine Glasscherbe und begann an seinen Pulsadern zu ritzen. Dann dachte er an sein Projekt und warf die Glasscherbe weg. Eine Woge der Verzweiflung übermannte ihn. Was hatte er eigentlich in seinem Leben zustande gebracht? Er saß auf einem Trümmerhaufen, und niemand konnte ihm helfen. Seinen Suizid mit dem Jahrtausendgrab zu umrahmen – das hatte schon Stil, aber einfach so in einem ägyptischen Kerkerloch zu verschimmeln, entbehrte jeder Logik. Er wollte Petra und Florian auch nicht in Schwierigkeiten bringen, aber nach dem Haschisch hatte die Polizei gar nicht groß gefragt. Für sie war es eine abgemachte Sache.
[ 4]André war sich nicht sicher, ob ihn überhaupt jemand vermissen würde. Seine Freundin hatte vor einer Ewigkeit mit ihm Schluss gemacht. Seine Mutter, gewiss, aber die war schon alt und krank und hatte nicht mehr lange zu leben. Mit seiner Schwester hatte er sich nur gestritten, solange er zurückdenken konnte. Sein Freund Wolfgang hatte andere Sorgen. Auf der Arbeit hatten die Kollegen sei jeher nur den Kopf über ihn geschüttelt. Alles was ihm blieb, war ein Stück unendlicher Leere. So musste man sich fühlen, wenn man lebendig gelähmt war. Seit Wochen gab es nichts, was ihm auch nur die geringste Freude bereitet hätte, und hier im Knast war es noch tausendmal schlimmer. Die Dinge reduzierten sich auf Kleinigkeiten – eine Matratze, eine Decke, ein Stück Brot; in Freiheit hätte er die Depression noch gerade so ausgehalten. Er führte auch keine Psychopharmaka mit, vielleicht hätte das eine Erleichterung bedeutet. So war die Welt grau in grau, und es gab keinen Lichtblick.
[ 4]Der Gedanke, in tausend Jahren als Zeuge der Zeit ans Licht zu treten, hatte ihn fasziniert. Er war von den Menschen in seiner Heimat enttäuscht. Was taten sie anderes, als die Umwelt zu verpesten, immer tödlichere Waffen zu entwickeln und diese bei jeder Gelegenheit an Drittweltstaaten zu verscherbeln. Die Privilegien der Industrienation wurden mit Klauen und Zähnen verteidigt, dass halb Afrika brannte, interessierte daheim niemanden groß. Er wollte den Puls der Zeit fühlen und dokumentieren, wie die Menschheit den Bach herunterging. In dem Lkw stapelten sich Bücher, Hefte und Magazine, die alle um die Jahrtausendwende herum erschienen waren. Wenn jetzt durch Zufall jemand seine Baustelle entdeckte, musste das Erstaunen groß sein. Er hegte noch eine kleine Hoffnung, dass er irgendwann aus dem Knast entlassen wurde und alles sich als ein großer Irrtum herausstellte. Aber er hatte auch nicht die geringste Ahnung, wie er einen ägyptischen Polizisten bestechen könnte, und ob es überhaupt ein Gerichtsverfahren für ihn geben sollte. Wenn Petra und Florian nichts unternahmen, würde er vielleicht für immer hinter den Kerkerwänden verschimmeln, so lange, bis er den Mut aufbrachte, sich endlich das Leben zu nehmen. Er hielt es für sein angestammtes Privileg, zu diesem Schritt zu greifen. Keiner hatte ihn gefragt, ob er kommen wollte, warum sollte er jemanden fragen, wenn er ging?
[ 4]Die Schritte des Wärters rissen ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete die Tür, schubste ihn von der Pritsche und sagte in gebrochenem Englisch: „You have vacation for some hours. But you need to come back afterwards.“
[ 4]André blinzelte verwirrt, als er in das pralle Sonnenlicht auf der Straße zurückkehrte. Florian wartete auf ihn vor der Wache. Er fing gleich an, André mit Fragen zu bestürmen, aber der musste sich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen. „Was sagst du?“
[ 4]„Wir wollen versuchen, die Polizei zu bestechen. Hast du Geld?“
[ 4]„Ein wenig.“
[ 4]„Wieviel?“
[ 4]„Um die viertausend Euro.“
[ 4]„Das sollte reichen. Stimmt das auch wirklich?“
[ 4]„Na klar.“
[ 4]„Dann werden wir das Geld vorstrecken. Mit etwas Glück bist du in ein paar Tagen wieder draußen.“
[ 4]André schluckte. Er hätte gerne etwas gesagt zu der gerissenen Methode, das Dope einfach in seinem Gepäck zu verstauen, aber vielleicht wäre Florian wütend geworden und hätte die Hilfsaktion abgeblasen. Dass er ein Windhund war, war André jetzt klar. Er durfte bloß kein Wort über den Lkw verlieren, sonst könnte er sein ganzes Projekt abschreiben. Sie gingen in ein einfaches Restaurant und aßen gebratenes Hähnchen mit Pommes frites, tranken dazu eine Cola, und Florian erklärte ihm in allen Einzelheiten, wie er die Polizei bestechen wollte. André hörte nur mit halbem Ohr hin, obwohl es lebenswichtig für ihn war. Er genoss die Sonne, das Essen, den Schweiß auf seiner Haut. Schließlich rüttelte Florian ihn an der Schulter. „Hörst du mir überhaupt zu?“
[ 4]„Na klar.“
[ 4]„Dann ist ja alles abgemacht. Ich glaube, du musst jetzt wieder zurück.“
[ 4]„Schon?“
[ 4]„Es muss sein. Sonst lassen sie dich niemals gehen.“
[ 4]„Okay.“
[ 4]André seufzte, trank noch eine letzte Cola und rauchte eine Zigarette. Dann rappelte er sich auf, und Florian ging mit ihm zur Wache. Er klopfte André auf die Schulter und murmelte: „Mach es gut, Kamerad.“
[ 4]Der Polizist am Eingang verlor kein Wort und stieß André zurück in den Keller, wo die Zelle lag. André streckte sich auf der Pritsche aus und fiel in tiefen Schlaf. In der Nacht wurde er wach und merkte, dass er sich noch eine Packung Kippen eingesteckt hatte. Also steckte er sich eine an, dann die zweite, bis die Schachtel leer war. Morgens rasselte der Wärter mit dem Schlüsselbund und brachte ihm ein Stück Brot und eine Flasche Wasser. André aß und trank gierig. Er beschloss, es sei besser, den Wärter nicht nach seiner Freilassung zu fragen. Der verlor auch kein Wort darüber und verschwand schweigend. André machte ein paar Kniebeugen und Liegestütze und legte sich dann auf die Pritsche, um über sein Leben nachzudenken.
[ 4]Er wusste, dass es eigentlich nur eine Durstphase war, die er zu durchstehen hatte. So war das mit der Depression, wie es in den Lehrbüchern stand. Er hätte vielleicht in medikamentöse Behandlung gehen sollen, aber er hielt nichts von Psychopharmaka. Sie machten dick und träge, er hatte die traurigen Gestalten in der Psychiatrie gesehen. Man konnte nie sagen, wie lange so eine Depression dauerte. Er misstraute den Ärzten in seiner Heimat und wählte lieber den Freitod, als den steinigen Gang in die Psychiatrie anzutreten, der möglicherweise Jahre dauern würde. Er war sich auch sicher, dass er vielleicht von seiner Entscheidung abrücken würde, wenn nur eine hübsche Frau zufällig seinen Weg kreuzte. Er hatte sich nie viel Zeit genommen für die Frauen, für ihn war das Verliebtsein eine Art Fieber, das vielleicht zwei Wochen dauern würde und dann wieder abklang. Seine letzte Freundin war mit einem Latin Lover durchgebrannt, seitdem hielt er es nach der Devise: „Selbst ist der Mann.“
[ 4]Aber es war weit und breit keine Frau in Sicht, die ihn von seinem Entschluss hätte abbringen können, und er konnte ein entsetzlicher Dickschädel sein, wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ein einfacher Suizid war sinnlos, er hinterließ nur eine traurige, klaffende Lücke im Leben der Angehörigen. Aber das Jahrtausendgrab bedeutete etwas Großes, Sensationelles. Er hatte leider nicht die finanziellen Mittel, um abzutreten wie seinerzeit Tutanchamun. Aber ein kleine Sensation könnte sein Grab vielleicht in tausend Jahren bedeuten. Er war sicher, dass der Ort abgeschieden genug war, um all die Jahre unentdeckt zu bleiben.
[ 4]Aber noch saß er in seiner Zelle, und die Entlassung schien in großer Ferne dahinzuschwinden. Er konnte am folgenden Tag den Wärter überreden, dass er sich kurz waschen konnte. In der Zelle herrschte eine brütende Hitze. Kakerlaken krochen über den Flur. Er zertrampelte sie mit den Schuhen, so gut das im Halbdunkel möglich war. Er fragte den Wärter, ob er ihm nicht etwas zu lesen geben könnte, woraufhin dieser ein religiöses Traktat aus der Hemdentasche zog, das in Englisch verfasst war. Es mochte von den Zeugen Jehovas sein. Im Dämmerlicht der Zelle war es auch schwierig, die Buchstaben zu entziffern. Was hätte er gegeben für ein kurzes Telefonat mit einem Freund oder einem seiner Angehörigen. Aber das Satellitentelefon und die Annehmlichkeiten seines Lagers waren in weiter Ferne. Er war schon froh, dass die Wärter ihn nicht verprügelten oder ihn mit einer Horde Homosexueller zusammen in eine Zelle sperrten. Er hatte gehört, dass Häftlinge dazu neigten, aufgrund der Isolation zu übertriebener Masturbation zu greifen. Aber das Dreckloch, in dem er steckte, lähmte die Lebensgeister derartig, dass er nicht im Traum daran dachte. Er fühlte sich schmutzig, verschwitzt und abgerissen, und alles, wonach er sich sehnte, war, wieder einmal eine saubere Hose anzuziehen und eine ordentliche Dusche zu nehmen. So vergingen Stunden und Tage, und nichts geschah. Dann, als er schon glaubte, alles sei am Ende, erschien der Wärter plötzlich, grinste ihn an, gab ihm seine Sachen zurück und flachste: „You are free, my friend. Come with me, I’ll open the door for you.“
[ 4]Er schubste André vor sich her, bis sie zum Ausgang der Wache kamen. Das grelle Licht blendete André, und er sah nicht sofort, dass Florian auf der gegenüberliegenden Seite der Straße auf ihn wartete. Dann kam Florian zu ihm herüber und klopfte ihm auf die Schulter. „Hallo, alter Freund, alles in Ordnung?“
[ 4]André wollte etwas sagen, aber die Freude über die wiedererlangte Freiheit schnürte ihm die Kehle zu. Er grinste Florian an. „Lass uns gehen.“
[ 4]Sie stiegen in den Bulli, der ein paar Ecken weiter geparkt war, und machten sich auf den Rückweg. Es wurde eine lange Fahrt. Sie hatten nichts zu trinken dabei, und André bekam leichte Kopfschmerzen. Florian versuchte André auszuquetschen über seinen Lagerplatz und wieviel Geld er nun dabei hatte, aber André gab nur ausweichende Antworten. „Wie viel hast du dem Wärter gegeben?“
[ 4]„Viertausend Euro.“
[ 4]„Du bekommst von mir fünftausend. Und jetzt verschon mich mit deinen Fragen.“
[ 4]André wusste selbst nicht so genau, woher er das Geld nun eigentlich nehmen sollte. Er würde versuchen, einen der Goldbarren umzutauschen. Die nächste Bank war in Dakhla. Er druckste herum. „Nimmst du auch Gold als Zahlungsmittel?“
[ 4]„Warum nicht?“
[ 4]„Dann ist ja alles klar.“
[ 4]Sie kamen nach Farafra. André bat Florian, kurz anzuhalten, da er austreten musste. Sie setzten die Fahrt fort, und je näher sie dem Ziel kamen, desto nervöser wurde André. Gewiss, er wollte Florian das Geld gleich geben, aber er durfte unter keinen Umständen seinen Lagerplatz verraten. Sie kamen in Bahariya an, wo Nuri schon auf sie wartete. Er umarmte André. „My friend, what a bunch of problems! I’m so lucky that you are back.“
[ 4]Sie tranken Kaffee aus kleinen Gläsern. Nuri holte das Mokick aus einem Schuppen, und André lud den Greifzug darauf, den er Florian abgeluchst hatte. Dann wollte er sich auf den Weg machen. Florian hielt ihn zurück. „Moment.“
[ 4]„Was?“
[ 4]„Wer sagt mir, dass du dich nicht einfach in die Wüste verdrückst und mich mit meinen Schulden hier sitzen lässt?“
André deutete auf das Mokick. „Meinst du vielleicht, damit komme ich weit?“
[ 4]„Also gut. Dann treffen wir uns morgen Mittag in dem Cafe, und du bringst mir das Gold.“
[ 4]„Abgemacht.“
[ 4]Sie gaben sich die Hand, und André fuhr auf dem Mokick davon. Er fand den Lagerplatz ohne Probleme wieder. Alles war, wie er es zurückgelassen hatte, nur war seine Ausrüstung von einer dicken Sandschicht bedeckt. Er brachte alles in Ordnung, besichtigte die Grube und entschied, dass sie ausreichen musste, um den Hänger darin zu verbergen. Je näher der Tag X rückte, desto nervöser wurde er. Jetzt musste er beweisen, dass er es ernst meinte mit seinem Suizid. Gerade hatte er wieder ein bisschen Freude gefunden am Leben, das Licht, das Lachen unter Freunden, der heiße Kaffee, die Zigaretten, ein Nickerchen im Schatten. Er war sich unschlüssig. Und wenn er sich im Koffer des Lkws umbringen würde, wer würde die letzte Schippe Sand werfen, um das Versteck perfekt zu machen?
[ 4]Mit solchen Gedanken beschäftigt, tat er die letzten Spatenstiche. Dann befestigte er das eine Ende des Greifzuges an einem Felsen, das andere am Lkw, und betätigte den Hebel. Zufrieden stellte er fest, dass der Hänger sich in Bewegung setzte und langsam über die schräge Rampe in die Grube rollte. Es war eine Knochenarbeit. Nach zwei Stunden war der gesamte Koffer in dem Loch verschwunden. Jetzt musste er es nur noch zuschaufeln.
[ 4]Er stellte die Reste seiner Expeditionsausrüstung an den Rand der Grube und spannte eine Plane, um etwas Schatten zu haben. Dann kochte er sich einen Kaffee und griff zu dem Satellitentelefon. Wieder wählte er die Nummer seines Freundes Wolfgang.
[ 4]„Hallo, ich bin es, André. Ich möchte mich von dir verabschieden.“
[ 4]Schweigen.
[ 4]„Hallo, kannst du mich hören?“
[ 4]„Sicher. Was soll das?“
[ 4]„Ich meine es ernst. Ich mache Suizid.“
[ 4]Wolfgang wurde wütend. „Von mir aus mach das. Aber begreifst du nicht, was du deiner Familie damit antust?“
[ 4]„Jeder hat das Recht zu sterben.“
[ 4]„Bitte rede noch einmal mit deinen Angehörigen. Ich schick dir eine Bekannte nach Bahariya. Sie heißt Judith und studiert in Kairo Islamwissenschaft.“
[ 4]„Eine Freundin von dir?“
[ 4]„Sozusagen.“
[ 4]André überlegte. „Das hilft mir jetzt auch nicht weiter.“
[ 4]„Von mir aus denk darüber, wie du willst. Ich hab etwas dagegen, dass du dich suizidierst.“
[ 4]Es knackte, die Verbindung war unterbrochen. André räumte das Telefon beiseite und rauchte eine letzte Zigarette. Dann begann er, die Grube zuzuschaufeln. Der hintere Teil des Hängers war noch frei, sodass er später die Reste seiner Ausrüstung in den Lkw packen könnte. Seinen letzten Willen hatte er auf Papier festgehalten.
[ 4]Nach drei Stunden machte er eine Pause und aß eine Dose Bohnen mit Brot, trank dazu eine Flasche Bier. Er war gerade dabei, den ersten Schluck zu genießen, da schreckte er zusammen. Von hinter den Felsen hörte er Schritte im Sand. Ungläubig starrte er der untergehenden Sonne entgegen. Es war Florian, und in der Hand hielt er eine Waffe.
[ 4]Als André erwachte, dachte er erst, er sei noch im Schlummer und hätte einen Alptraum. Dann fiel ihm alles wieder ein, das Haschisch, Florian und Petra, die Festnahme. Er blickte sich in der Zelle um. Es herrschte Halbdunkel, und er konnte nicht feststellen, wie lange er in Ohnmacht verbracht hatte, denn sie hatten ihm seine Uhr abgenommen. Es war ein etwa neun Quadratmeter großes Loch, in dem sich nichts außer einer Steinpritsche befand, auf der man sich nur unbequem ausstrecken konnte. Es schmerzte ihn in allen seinen Gliedern, außerdem hatte er bohrenden Hunger. Er war allein in der Zelle, ein Privileg, wie sich später herausstellen sollte. Er begann zu schreien.
[ 4]„Hello? Is there anybody? Is there anybody out there?“
[ 4]Eine halbe Stunde ging das so, dann knirschte ein Schlüssel im Schloss, der Riegel sprang auf, und ein Wärter trat ein. André fiel gleich die geladene Schusswaffe an seiner Hüfte auf. Widerstand war völlig zwecklos. Ausdruckslos hörte sich der Wärter André’s Klagen an, machte dann kehrt und kehrte wenig später mit einem Stück Brot und einer Flasche Wasser zurück. André aß hastig und trank in großen Schlucken. Er bestürmte den Wärter mit Fragen, doch der zuckte nur die Schultern. „Ana asif.“
[ 4]Anscheinend sprach er kein Englisch. Die Tür fiel wieder zu, und André war abermals allein. Er durchwühlte seine Taschen. Alles hatten sie ihm abgenommen, sogar den Gürtel und die Schnürsenkel. Nach etwa einer halben Stunde öffnete sich die Tür erneut, und André hatte die Möglichkeit auszutreten. Es war eine große Erleichterung. Er fragte nach einer Matratze und einer Decke, aber niemand verstand ihn. So ging das eine Weile hin und her, es mochten zwei, drei Tage sein, aber André kam es wie Wochen vor. Einmal kam ein Mithäftling in die Zelle. Er sah kopfschüttelnd zu, wie André das belegte Brot herunterschlang und fragte dann: „What do you think are you eating there?“
[ 4]André war es egal, er hatte einfach Hunger. Gut möglich, dass sie die Reste aus den Mülleimern für ihn hervorkramten. Der Mithäftling, ein sonnengebräunter Ägypter mit kurzen Haaren in Jeans und – wie er erst jetzt bemerkte – einem Hemd, das sich in seinem Gepäck befunden hatte, wurde wieder abgeführt und André war allein.
[ 4]Dann ging plötzlich das Licht im Flur an, die Tür öffnete sich, drei Beamte führten André auf die Wache, und sie quetschten ihn nach allen Regeln der Kunst aus. Wie sein Name sei, woher er komme, wann er geboren sei und wo. Der Grund seines Aufenthaltes in Ägypten. „Well, tourism“, murmelte André.
[ 4]Niemand schien ihm das so ganz abzukaufen, und sein Reisepass verschwand in einer Schublade. André beschwerte sich, und der Beamte – ein Dicker mit Glatze, der fortwährend Cleopatra-Zigaretten paffte – murmelte etwas, was dem Tonfall nach so klang wie: „Den sehen Sie sowieso nie mehr wieder.“
[ 4]Sie steckten André zurück in seine Zelle, und aus Schwäche und Wut begann er zu weinen. Er fand in einer Ecke der Zelle eine Glasscherbe und begann an seinen Pulsadern zu ritzen. Dann dachte er an sein Projekt und warf die Glasscherbe weg. Eine Woge der Verzweiflung übermannte ihn. Was hatte er eigentlich in seinem Leben zustande gebracht? Er saß auf einem Trümmerhaufen, und niemand konnte ihm helfen. Seinen Suizid mit dem Jahrtausendgrab zu umrahmen – das hatte schon Stil, aber einfach so in einem ägyptischen Kerkerloch zu verschimmeln, entbehrte jeder Logik. Er wollte Petra und Florian auch nicht in Schwierigkeiten bringen, aber nach dem Haschisch hatte die Polizei gar nicht groß gefragt. Für sie war es eine abgemachte Sache.
[ 4]André war sich nicht sicher, ob ihn überhaupt jemand vermissen würde. Seine Freundin hatte vor einer Ewigkeit mit ihm Schluss gemacht. Seine Mutter, gewiss, aber die war schon alt und krank und hatte nicht mehr lange zu leben. Mit seiner Schwester hatte er sich nur gestritten, solange er zurückdenken konnte. Sein Freund Wolfgang hatte andere Sorgen. Auf der Arbeit hatten die Kollegen sei jeher nur den Kopf über ihn geschüttelt. Alles was ihm blieb, war ein Stück unendlicher Leere. So musste man sich fühlen, wenn man lebendig gelähmt war. Seit Wochen gab es nichts, was ihm auch nur die geringste Freude bereitet hätte, und hier im Knast war es noch tausendmal schlimmer. Die Dinge reduzierten sich auf Kleinigkeiten – eine Matratze, eine Decke, ein Stück Brot; in Freiheit hätte er die Depression noch gerade so ausgehalten. Er führte auch keine Psychopharmaka mit, vielleicht hätte das eine Erleichterung bedeutet. So war die Welt grau in grau, und es gab keinen Lichtblick.
[ 4]Der Gedanke, in tausend Jahren als Zeuge der Zeit ans Licht zu treten, hatte ihn fasziniert. Er war von den Menschen in seiner Heimat enttäuscht. Was taten sie anderes, als die Umwelt zu verpesten, immer tödlichere Waffen zu entwickeln und diese bei jeder Gelegenheit an Drittweltstaaten zu verscherbeln. Die Privilegien der Industrienation wurden mit Klauen und Zähnen verteidigt, dass halb Afrika brannte, interessierte daheim niemanden groß. Er wollte den Puls der Zeit fühlen und dokumentieren, wie die Menschheit den Bach herunterging. In dem Lkw stapelten sich Bücher, Hefte und Magazine, die alle um die Jahrtausendwende herum erschienen waren. Wenn jetzt durch Zufall jemand seine Baustelle entdeckte, musste das Erstaunen groß sein. Er hegte noch eine kleine Hoffnung, dass er irgendwann aus dem Knast entlassen wurde und alles sich als ein großer Irrtum herausstellte. Aber er hatte auch nicht die geringste Ahnung, wie er einen ägyptischen Polizisten bestechen könnte, und ob es überhaupt ein Gerichtsverfahren für ihn geben sollte. Wenn Petra und Florian nichts unternahmen, würde er vielleicht für immer hinter den Kerkerwänden verschimmeln, so lange, bis er den Mut aufbrachte, sich endlich das Leben zu nehmen. Er hielt es für sein angestammtes Privileg, zu diesem Schritt zu greifen. Keiner hatte ihn gefragt, ob er kommen wollte, warum sollte er jemanden fragen, wenn er ging?
[ 4]Die Schritte des Wärters rissen ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete die Tür, schubste ihn von der Pritsche und sagte in gebrochenem Englisch: „You have vacation for some hours. But you need to come back afterwards.“
[ 4]André blinzelte verwirrt, als er in das pralle Sonnenlicht auf der Straße zurückkehrte. Florian wartete auf ihn vor der Wache. Er fing gleich an, André mit Fragen zu bestürmen, aber der musste sich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen. „Was sagst du?“
[ 4]„Wir wollen versuchen, die Polizei zu bestechen. Hast du Geld?“
[ 4]„Ein wenig.“
[ 4]„Wieviel?“
[ 4]„Um die viertausend Euro.“
[ 4]„Das sollte reichen. Stimmt das auch wirklich?“
[ 4]„Na klar.“
[ 4]„Dann werden wir das Geld vorstrecken. Mit etwas Glück bist du in ein paar Tagen wieder draußen.“
[ 4]André schluckte. Er hätte gerne etwas gesagt zu der gerissenen Methode, das Dope einfach in seinem Gepäck zu verstauen, aber vielleicht wäre Florian wütend geworden und hätte die Hilfsaktion abgeblasen. Dass er ein Windhund war, war André jetzt klar. Er durfte bloß kein Wort über den Lkw verlieren, sonst könnte er sein ganzes Projekt abschreiben. Sie gingen in ein einfaches Restaurant und aßen gebratenes Hähnchen mit Pommes frites, tranken dazu eine Cola, und Florian erklärte ihm in allen Einzelheiten, wie er die Polizei bestechen wollte. André hörte nur mit halbem Ohr hin, obwohl es lebenswichtig für ihn war. Er genoss die Sonne, das Essen, den Schweiß auf seiner Haut. Schließlich rüttelte Florian ihn an der Schulter. „Hörst du mir überhaupt zu?“
[ 4]„Na klar.“
[ 4]„Dann ist ja alles abgemacht. Ich glaube, du musst jetzt wieder zurück.“
[ 4]„Schon?“
[ 4]„Es muss sein. Sonst lassen sie dich niemals gehen.“
[ 4]„Okay.“
[ 4]André seufzte, trank noch eine letzte Cola und rauchte eine Zigarette. Dann rappelte er sich auf, und Florian ging mit ihm zur Wache. Er klopfte André auf die Schulter und murmelte: „Mach es gut, Kamerad.“
[ 4]Der Polizist am Eingang verlor kein Wort und stieß André zurück in den Keller, wo die Zelle lag. André streckte sich auf der Pritsche aus und fiel in tiefen Schlaf. In der Nacht wurde er wach und merkte, dass er sich noch eine Packung Kippen eingesteckt hatte. Also steckte er sich eine an, dann die zweite, bis die Schachtel leer war. Morgens rasselte der Wärter mit dem Schlüsselbund und brachte ihm ein Stück Brot und eine Flasche Wasser. André aß und trank gierig. Er beschloss, es sei besser, den Wärter nicht nach seiner Freilassung zu fragen. Der verlor auch kein Wort darüber und verschwand schweigend. André machte ein paar Kniebeugen und Liegestütze und legte sich dann auf die Pritsche, um über sein Leben nachzudenken.
[ 4]Er wusste, dass es eigentlich nur eine Durstphase war, die er zu durchstehen hatte. So war das mit der Depression, wie es in den Lehrbüchern stand. Er hätte vielleicht in medikamentöse Behandlung gehen sollen, aber er hielt nichts von Psychopharmaka. Sie machten dick und träge, er hatte die traurigen Gestalten in der Psychiatrie gesehen. Man konnte nie sagen, wie lange so eine Depression dauerte. Er misstraute den Ärzten in seiner Heimat und wählte lieber den Freitod, als den steinigen Gang in die Psychiatrie anzutreten, der möglicherweise Jahre dauern würde. Er war sich auch sicher, dass er vielleicht von seiner Entscheidung abrücken würde, wenn nur eine hübsche Frau zufällig seinen Weg kreuzte. Er hatte sich nie viel Zeit genommen für die Frauen, für ihn war das Verliebtsein eine Art Fieber, das vielleicht zwei Wochen dauern würde und dann wieder abklang. Seine letzte Freundin war mit einem Latin Lover durchgebrannt, seitdem hielt er es nach der Devise: „Selbst ist der Mann.“
[ 4]Aber es war weit und breit keine Frau in Sicht, die ihn von seinem Entschluss hätte abbringen können, und er konnte ein entsetzlicher Dickschädel sein, wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ein einfacher Suizid war sinnlos, er hinterließ nur eine traurige, klaffende Lücke im Leben der Angehörigen. Aber das Jahrtausendgrab bedeutete etwas Großes, Sensationelles. Er hatte leider nicht die finanziellen Mittel, um abzutreten wie seinerzeit Tutanchamun. Aber ein kleine Sensation könnte sein Grab vielleicht in tausend Jahren bedeuten. Er war sicher, dass der Ort abgeschieden genug war, um all die Jahre unentdeckt zu bleiben.
[ 4]Aber noch saß er in seiner Zelle, und die Entlassung schien in großer Ferne dahinzuschwinden. Er konnte am folgenden Tag den Wärter überreden, dass er sich kurz waschen konnte. In der Zelle herrschte eine brütende Hitze. Kakerlaken krochen über den Flur. Er zertrampelte sie mit den Schuhen, so gut das im Halbdunkel möglich war. Er fragte den Wärter, ob er ihm nicht etwas zu lesen geben könnte, woraufhin dieser ein religiöses Traktat aus der Hemdentasche zog, das in Englisch verfasst war. Es mochte von den Zeugen Jehovas sein. Im Dämmerlicht der Zelle war es auch schwierig, die Buchstaben zu entziffern. Was hätte er gegeben für ein kurzes Telefonat mit einem Freund oder einem seiner Angehörigen. Aber das Satellitentelefon und die Annehmlichkeiten seines Lagers waren in weiter Ferne. Er war schon froh, dass die Wärter ihn nicht verprügelten oder ihn mit einer Horde Homosexueller zusammen in eine Zelle sperrten. Er hatte gehört, dass Häftlinge dazu neigten, aufgrund der Isolation zu übertriebener Masturbation zu greifen. Aber das Dreckloch, in dem er steckte, lähmte die Lebensgeister derartig, dass er nicht im Traum daran dachte. Er fühlte sich schmutzig, verschwitzt und abgerissen, und alles, wonach er sich sehnte, war, wieder einmal eine saubere Hose anzuziehen und eine ordentliche Dusche zu nehmen. So vergingen Stunden und Tage, und nichts geschah. Dann, als er schon glaubte, alles sei am Ende, erschien der Wärter plötzlich, grinste ihn an, gab ihm seine Sachen zurück und flachste: „You are free, my friend. Come with me, I’ll open the door for you.“
[ 4]Er schubste André vor sich her, bis sie zum Ausgang der Wache kamen. Das grelle Licht blendete André, und er sah nicht sofort, dass Florian auf der gegenüberliegenden Seite der Straße auf ihn wartete. Dann kam Florian zu ihm herüber und klopfte ihm auf die Schulter. „Hallo, alter Freund, alles in Ordnung?“
[ 4]André wollte etwas sagen, aber die Freude über die wiedererlangte Freiheit schnürte ihm die Kehle zu. Er grinste Florian an. „Lass uns gehen.“
[ 4]Sie stiegen in den Bulli, der ein paar Ecken weiter geparkt war, und machten sich auf den Rückweg. Es wurde eine lange Fahrt. Sie hatten nichts zu trinken dabei, und André bekam leichte Kopfschmerzen. Florian versuchte André auszuquetschen über seinen Lagerplatz und wieviel Geld er nun dabei hatte, aber André gab nur ausweichende Antworten. „Wie viel hast du dem Wärter gegeben?“
[ 4]„Viertausend Euro.“
[ 4]„Du bekommst von mir fünftausend. Und jetzt verschon mich mit deinen Fragen.“
[ 4]André wusste selbst nicht so genau, woher er das Geld nun eigentlich nehmen sollte. Er würde versuchen, einen der Goldbarren umzutauschen. Die nächste Bank war in Dakhla. Er druckste herum. „Nimmst du auch Gold als Zahlungsmittel?“
[ 4]„Warum nicht?“
[ 4]„Dann ist ja alles klar.“
[ 4]Sie kamen nach Farafra. André bat Florian, kurz anzuhalten, da er austreten musste. Sie setzten die Fahrt fort, und je näher sie dem Ziel kamen, desto nervöser wurde André. Gewiss, er wollte Florian das Geld gleich geben, aber er durfte unter keinen Umständen seinen Lagerplatz verraten. Sie kamen in Bahariya an, wo Nuri schon auf sie wartete. Er umarmte André. „My friend, what a bunch of problems! I’m so lucky that you are back.“
[ 4]Sie tranken Kaffee aus kleinen Gläsern. Nuri holte das Mokick aus einem Schuppen, und André lud den Greifzug darauf, den er Florian abgeluchst hatte. Dann wollte er sich auf den Weg machen. Florian hielt ihn zurück. „Moment.“
[ 4]„Was?“
[ 4]„Wer sagt mir, dass du dich nicht einfach in die Wüste verdrückst und mich mit meinen Schulden hier sitzen lässt?“
André deutete auf das Mokick. „Meinst du vielleicht, damit komme ich weit?“
[ 4]„Also gut. Dann treffen wir uns morgen Mittag in dem Cafe, und du bringst mir das Gold.“
[ 4]„Abgemacht.“
[ 4]Sie gaben sich die Hand, und André fuhr auf dem Mokick davon. Er fand den Lagerplatz ohne Probleme wieder. Alles war, wie er es zurückgelassen hatte, nur war seine Ausrüstung von einer dicken Sandschicht bedeckt. Er brachte alles in Ordnung, besichtigte die Grube und entschied, dass sie ausreichen musste, um den Hänger darin zu verbergen. Je näher der Tag X rückte, desto nervöser wurde er. Jetzt musste er beweisen, dass er es ernst meinte mit seinem Suizid. Gerade hatte er wieder ein bisschen Freude gefunden am Leben, das Licht, das Lachen unter Freunden, der heiße Kaffee, die Zigaretten, ein Nickerchen im Schatten. Er war sich unschlüssig. Und wenn er sich im Koffer des Lkws umbringen würde, wer würde die letzte Schippe Sand werfen, um das Versteck perfekt zu machen?
[ 4]Mit solchen Gedanken beschäftigt, tat er die letzten Spatenstiche. Dann befestigte er das eine Ende des Greifzuges an einem Felsen, das andere am Lkw, und betätigte den Hebel. Zufrieden stellte er fest, dass der Hänger sich in Bewegung setzte und langsam über die schräge Rampe in die Grube rollte. Es war eine Knochenarbeit. Nach zwei Stunden war der gesamte Koffer in dem Loch verschwunden. Jetzt musste er es nur noch zuschaufeln.
[ 4]Er stellte die Reste seiner Expeditionsausrüstung an den Rand der Grube und spannte eine Plane, um etwas Schatten zu haben. Dann kochte er sich einen Kaffee und griff zu dem Satellitentelefon. Wieder wählte er die Nummer seines Freundes Wolfgang.
[ 4]„Hallo, ich bin es, André. Ich möchte mich von dir verabschieden.“
[ 4]Schweigen.
[ 4]„Hallo, kannst du mich hören?“
[ 4]„Sicher. Was soll das?“
[ 4]„Ich meine es ernst. Ich mache Suizid.“
[ 4]Wolfgang wurde wütend. „Von mir aus mach das. Aber begreifst du nicht, was du deiner Familie damit antust?“
[ 4]„Jeder hat das Recht zu sterben.“
[ 4]„Bitte rede noch einmal mit deinen Angehörigen. Ich schick dir eine Bekannte nach Bahariya. Sie heißt Judith und studiert in Kairo Islamwissenschaft.“
[ 4]„Eine Freundin von dir?“
[ 4]„Sozusagen.“
[ 4]André überlegte. „Das hilft mir jetzt auch nicht weiter.“
[ 4]„Von mir aus denk darüber, wie du willst. Ich hab etwas dagegen, dass du dich suizidierst.“
[ 4]Es knackte, die Verbindung war unterbrochen. André räumte das Telefon beiseite und rauchte eine letzte Zigarette. Dann begann er, die Grube zuzuschaufeln. Der hintere Teil des Hängers war noch frei, sodass er später die Reste seiner Ausrüstung in den Lkw packen könnte. Seinen letzten Willen hatte er auf Papier festgehalten.
[ 4]Nach drei Stunden machte er eine Pause und aß eine Dose Bohnen mit Brot, trank dazu eine Flasche Bier. Er war gerade dabei, den ersten Schluck zu genießen, da schreckte er zusammen. Von hinter den Felsen hörte er Schritte im Sand. Ungläubig starrte er der untergehenden Sonne entgegen. Es war Florian, und in der Hand hielt er eine Waffe.