Kapitel 9

Amadis

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Bericht Doktor Watson ...

Ich erwachte. Jeder Muskel meines Körpers schien zu schmerzen. Mein Kopf dröhnte und als ich versuchte, die Augen einen Spalt weit zu öffnen, drang das Licht derart schmerzhaft herein, dass ich mich beeilte, die Lider wieder zu schließen.
Ich versuchte, mein bewusstes Denken wieder in Gang zu bringen. Etwas war merkwürdig, aber ich wusste noch nicht so recht ... mein Gott! Die Erinnerung durchfuhr mich wie ein Blitz! Wie konnte es sein, dass ich noch lebte? Der Grellwor hatte mich mit in die Tiefe gezogen, ich war nahe am Ersticken ... das waren meine letzten Erinnerungen bevor ... ja, bevor ... was? Oder war ich im Jenseits? Aber warum dann die Schmerzen? War ich gar in der ...
Ich versuchte mit aller Gewalt, diesen letzten Gedanken zu verdrängen. Vorsichtig öffnete ich erneut die Augen. Nach einer oder zwei Minuten unentwegten Blinzelns normalisierte sich mein Gesichtssinn und ich erkannte, dass ich mich in einem Raum befand, in dem allenfalls trübes Dämmerlicht herrschte.
Vorsichtig richtete ich mich auf, was ein Schwindelgefühl zur Folge hatte, das mich veranlasste, jede weitere abrupte Bewegung vorerst zu unterlassen. Mein Lager bestand aus einer Matratze, die offenbar aus groben Pflanzenfasern gefertigt war. Der Raum war quadratisch mit einer Seitenlänge von etwa zehn Fuß. Die Wände waren wie auch der übrige Raum vollkommen kahl. Es gab eine geschlossene Tür aber weder Fenster noch Möbelstücke und woraus Wände und Boden bestanden, war nicht zu ergründen. Es handelte sich um ein sehr glattes, fugenloses Material, das sich kühl anfühlte. Das trübe Licht entsprang drei merkwürdig anzuschauenden, gläsernen Behältern, die in jeweils einer Raumecke aufgestellt waren. Sie waren zylinderförmig, etwa drei Fuß hoch und zwei im Durchmesser und enthielten ganz offensichtlich Wasser oder eine andere klare, geruchlose Flüssigkeit, von der das türkisfarbene Licht ausstrahlte. Ich sah außerdem Gasblasen, die in den Behältern nach oben stiegen. Meine eigene Kleidung war verschwunden. Stattdessen trug ich einen langen, einfach gearbeiteten Mantel aus einem groben, leinenähnlichen Material. Er wurde durch einen vorn verknoteten Gürtel notdürftig zusammengehalten.
„Wenn das ein Engelsgewand ist ...“, murmelte ich und musste über mich selbst lächeln.
Ich erhob mich mühsam, wobei mich erneuter Schwindel überkam. Im letzten Moment stützte ich mich an der Wand ab. Dann ging ich mit kurzen, vorsichtigen Schritten zur Tür. Es gab keinen Türgriff! Daraus ließ sich wohl folgern, dass ich ein Gefangener war. Aber wessen Gefangener? War das Shaftars „Hexenküche“? Mein Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken und der Erinnerung an die Gräueltaten, derer der Schwarze Prinz, wie ich ihn bei mir nannte, fähig war. Allerdings fragte es sich, warum Shaftar mich hätte retten sollen und wie er mich überhaupt so schnell hätte finden können ... Fragen über Fragen auf die ich keine Antworten wusste, keine Antworten wissen konnte.
Es vergingen etwa fünfzehn Minuten, in denen ich meine Unterkunft – meine Zelle? – eingehender untersuchte. Allerdings blieben meine Bemühungen, die Tür zu öffnen oder zumindest zu ergründen, wo ich mich befand, ohne jeden Erfolg. Schließlich gab ich es auf und ließ mich wieder auf das primitive Lager sinken.
Ich hatte in meiner Zeit in Indien gelernt, in fast jeder Situation und Position zu schlafen. So war ich bereits leicht hinweg gedämmert, als mich ein schleifendes Geräusch weckte. Ich setzte mich blitzartig auf. Was ich dann zu sehen bekam, ließ mich trotz der Erlebnisse mit den Grellwor erstarren. Zwei Männer hatten den Raum betreten. Aber waren das überhaupt Männer im eigentlichen Sinne? Sie waren komplett haarlos und ihre Haut von hellblauer Farbe. Ohrmuscheln besaßen sie nicht aber am Halsansatz konnte ich beiderseits zusätzliche Organe entdecken, die wie Kiemen aussahen. Diese Vermutung wurde durch die Tatsache erhärtet, dass zwischen ihren Fingern und Zehen Schwimmhäute zu erkennen waren. Besonders auffällig war die in orangeroter Farbe leuchtende Iris. Ihre Kleidung bestand lediglich aus Lendenschurz ähnlichen Tüchern. Insgesamt waren sie von derart vollendeter Gestalt, dass man sie fraglos für Engel hätte halten können – hätten sie nur Flügel statt Schwimmhäute gehabt!
„Ah, du bist erwacht!“, stellte der Größere der beiden lächelnd fest, wobei seine purpurfarbenen Lippen schneeweiß leuchtende Zähne entblößten. „Ich hoffe, du hast dich erholt!“ Er sprach das antiquierte Englisch, das in dieser Welt – ich ging jetzt davon aus, noch immer in Shaftars Welt zu sein – verbreitet war. Ich merkte, dass ich die beiden fremdartigen Männer unentwegt anstarrte und beeilte mich zu antworten.
„Ich fühle mich gut, danke!“ Ich versuchte ein Lächeln, was mir wohl gründlich misslang.
„Du hast sicher eine Menge Fragen!“ Er lächelte wieder dieses sanfte Lächeln, das so überhaupt nicht in diese brutale Realität passte.
Ich erhob mich und nickte.
„Wenn ich ehrlich bin, Sir, so weiß ich gar nicht, womit ich beginnen soll.“
Er lachte auf eine derart sympathische und offene Art, dass ich mir eine Frage von vornherein sparen konnte: Diese Männer gehörten nicht zu Shaftars Gefolge!
„Zunächst einmal möchte ich mich für meine Rettung bedanken. Mein Name ist John Watson.“ Ich reichte ihm die Hand.
„Ich bin Marun und das ist mein jüngerer Bruder Alron.“ Auch Alron gab mir die Hand. Ihre Haut war glatt, aber trocken und kühl. „Wir gehören zum Volk der Ubari.“
„Sie sind amphibisch?“ Als die Frage mir heraus gerutscht war, schien sie mir plötzlich indiskret, fast beleidigend. Ich hob entschuldigend die Hände. „Tut mir leid, ich ...“
„Du musst Dich nicht entschuldigen, Doktor. Du hast Recht. Wir sind wirklich amphibisch, aber wir leben meist unter Wasser.“
Ich schaute mich im Raum um.
„Sagen Sie mir nicht, dass wir uns hier ...“
„Du vermutest richtig: Wir befinden uns unter Wasser. Das war auch der Grund für die Tür, die du von innen nicht öffnen konntest. Außerhalb dieses Raumes hättest du nicht atmen können!“
Ich war vollkommen verblüfft.
„Das heißt, Sie haben regelrechte Städte unter Wasser? Unglaublich!“ Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich stutzte ich. „Wie haben Sie mich eben angesprochen?“
Er grinste.
„Doktor. Du bist doch Doktor Watson?“
„Aber wie ...?“ Ich gewöhnte mir an, meine Sätze nicht zu beenden, was man mir – wie ich hoffe – in Anbetracht der Situation, in der ich mich befand, verzeihen konnte.
„Ich hatte die Ehre, Major Wright und deine übrigen Gefährten kennen zu lernen. Alle sind wohlauf, aber in großer Trauer ob deines vermeintlichen Ablebens!“
„Haben Sie ihnen denn nicht mitgeteilt, dass ich lebe?“ Ich schämte mich fast für den Vorwurf, der in diesen Worten mitschwang, aber die Aussicht, mit meinen Gefährten in Kontakt zu treten, erregte mich nicht wenig.
„Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, tut mir leid. Ich bin soeben erst in die Stadt zurückgekehrt und mein Bruder berichtete mir von deiner Rettung.“ Marun hob entschuldigend die Schultern. Ich lächelte um anzudeuten, dass ich ihm eigentlich keinen Vorwurf hatte machen wollen. Trotzdem platzte ich fast vor Neugier.
„Können Sie mich zu meinen Gefährten bringen?“ Ich schaute Marun gespannt an, aber der schüttelte zu meiner großen Enttäuschung den Kopf.
„Leider nicht. Deine Gefährten befinden sich zusammen mit Batan auf dem Weg ins Frankenreich.“
„Batan? Ins Frankenreich?“ Jede Antwort des Ubari warf zwei neue Fragen auf.
„Wir nennen den Mann Batan, den du als Wells kennst. Ja, sie sind am heutigen Morgen mit dem Himmelsschiff ins Frankenreich aufgebrochen, um eine Energievorrichtung zu finden, die ihr für eure Maschine benötigt.“
„Die Dimotron!“ Meine Gedanken rasten. „Ich muss meine Freunde finden, Marun!“ Ich war mir gar nicht bewusst, dass ich den Ubari an den Schultern gepackt und geschüttelt hatte. Ich ließ ihn – peinlich berührt – los und trat einen Schritt zurück. Marun schien angestrengt nachzudenken. Dann wandte er sich an seinen Bruder und redete leise mit ihm, was allerdings in einer fremdartig klingenden Sprache geschah, so dass ich die Ubari nicht verstehen konnte. Nach einer Weile verstummte Marun und schaute mich mit seinen leuchtenden Augen an.
„Es gibt vielleicht einen Weg, dich ins Frankenreich zu schleusen. Ob du allerdings auf diesem Weg schnell genug sein wirst, um deine Gefährten zu erreichen, kann ich nicht versprechen. Vielleicht solltest du hier warten, bis sie zurückkehren.“
Ich dachte nach. Sicher wäre es vernünftig gewesen, hier zu warten, bis Wells mit Wright und den anderen zurückkehrte, aber ich war derart unruhig, dass ich es nicht ausgehalten hätte, in diesem kargen Raum zu sitzen. Außerdem bestand auch hier die Gefahr, die Gefährten bei ihrer Rückkehr zu verpassen, ein Szenario, das ich mir nicht vorzustellen wagte. Nein, ich musste etwas unternehmen, auch wenn ich dabei alles riskierte. Ich teilte den Ubari meine Entscheidung mit und Marun neigte den Kopf, was wohl als Zustimmung zu verstehen war.
„Du solltest dich noch etwas ausruhen, während wir das Notwendige in die Wege leiten. Wir kommen zurück, sobald wir alles erledigt haben.“
Die beiden Männer nickten mir zu und verschwanden dann ohne weitere Worte nach draußen. Die Tür, die sich vor ihnen geöffnet hatte, indem sie zur Seite glitt, schloss sich wieder bevor ich einen Blick nach draußen erhaschen konnte.
 



 
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