Karma

Der Bauer trifft im Wald auf einen Eber, ein Wildschwein. Soweit nicht ungewöhnlich, aber dieser Eber kann sprechen.
»Was störst du meine Mittagsruhe, Bauer?«
Der Bauer glaubt, seine Ohren spielen ihm einen Streich. Er steht da, sagt nichts.
»Antworte gefälligst, oder verzieh dich.«
Der Mann räuspert sich. »Ein Wildschwein, das spricht.« – mehr bringt er erst nicht raus.
»Offensichtlich«, sagt das Tier.
Der Bauer fasst sich. Er macht ein paar Schritte auf das Tier zu, dann setzt er sich ins Moos. Und schaut. Beobachtet das Wildschwein, dass sich nicht groß stören lässt und dabei ist, in einem morschen Wurzelstock nach Käfern zu wühlen. Der Mann schaut herum, nach oben und hinter sich, steht auf und spät durchs umliegende Gebüsch. »Nein, nein, Bauer. Du träumst nicht, ich bin echt. Ist das so schwer zu glauben?«
»Naja, schon. Hat man sowas schonmal gehört..?«
»Man hört viel Blödsinn und manchmal auch was Wahres, aber man hört auch vieles nicht. Überhaupt unter Menschen.«

Der Bauer geht um das Schwein herum, kniet sich hin, inspiziert das Tier von allen Seiten und von der Nähe. Er grinst und denkt bei sich, dass er das kuriose Wildschwein fangen muss. Um es herzuzeigen, im Dorf und auch sonst überall. Aber er hat kein Seil dabei – doch in seiner Tasche hat er ein Messer. Er stellt sich über das Wildschwein, das immer noch fieberhaft und grunzend nach Essbarem stöbert. Breitbeinig steht der Bauer da, und er zieht sein Messer. »Gehst du freiwillig mit, oder muss ich nachhelfen?«
Das Schwein mampft und schaut den Bauer mit trüben Augen an. »Hm? Wohin soll ich gehen mit dir? Willst du mich schlachten und essen? Das sieht dir ähnlich, Mensch.«
»Nein. Ein sprechendes Wildschwein schlachtet man nicht. Tot bist du so gut wie jedes andere.«
»Ah, einsperren willst du mich. Nein, ich bleibe hier im Wald.«
»Siehst du nicht das Messer?«
»Tot bringe ich nichts, hast du gesagt. Was willst du also mit dem Messer?«
»Leg es nicht darauf an. Jetzt nimm deine Schnauze aus dem Dreck und komm mit.«
»Wenn du mich dann den Leuten zeigst, werde ich kein Wort sagen.«
»Du wirst vor ihnen sprechen, dafür sorge ich. Und ich werde kräftig kassieren.«
»Und was soll ich ihnen erzählen? Du hast mich auch noch nichts gefragt. Was dich interessiert, ist Geld, sonst nichts. Gieriger Mensch.«
»Was soll ich eine schmutzige Wildsau fragen?«
»Ich bin ein Eber. Aber gut. Ich glaube, ich weiß, was ich deinen Leuten erzähle.«
»So, was denn?«
»Ich erzähle von dem einen Abend, zur Sonnenwende, als das große Feuer brannte und das Fest im Dorf war.«
»Was willst du da erzählen? Die waren ja alle dabei.«
»Nicht vom Fest an sich, oder vom Feuer. Davon, was am Waldrand geschah. Du, Bauer, warst da. Und dieses kleine, junge – sehr jung war sie. Gelacht habt ihr. Kannst du dich erinnert, was passiert ist?«
»Was erzählst du da für einen Blödsinn?«
»Blonde Zöpfe, Karo-Kleid. Rote Lippen. Ein reizendes Mädchen. Vielleicht ist sie dann ja auch unter den Zuhörern. Das liebe Kind. So hast du sie genannt. Und was sagt deine Frau dazu? Und was wird der Vater des Mädchens sagen?«

Der Bauer wird zornig und holt mit dem Messer aus, doch der Eber ist schneller, springt aus dem Weg. »Warte, wenn ich dich erwische. Ich stech’ dich ab!«
Der Eber verschwindet im Gestrüpp, aber sein Gegrunze ist noch zu hören.

»Nein. Ich werde eine andere Geschichte erzählen«, hört der Bauer die Stimme des Ebers aus den Blättern. »Ich erzähle von dem einen Mal, als du hier im Wald den Müllersburschen getroffen hast, mit seinem Wagen. Das Rad war gebrochen, weißt du noch? War schwer beladen mit Säcken, der Wagen. Der Bursche musste zur Mühle laufen, um Werkzeug zu holen, um das Rad zu reparieren. Da hast du gesagt, er soll schnell laufen und holen, was er braucht. Du passt so lange auf den Wagen auf. Es war ja doch ein Stück vom Wald bis zur Mühle. Und der Bursche wollte den Wagen nicht so allein stehen lassen, mit dem ganzen Zeug drauf. Ein Glück für ihn, dass du gerade zur Stelle warst, nicht wahr?«
»Ich helfe, wo ich kann.«

»Ja. Wie der Bursche außer Sichtweite war, hast du die Taschen auf dem Kutschbock durchsucht und die Ladefläche. So war es doch! Die schweren Säcke mit Mehl und Körner hast du liegen gelassen. Aber die Geldbörse hat dich interessiert. Wie viel hast du herausgenommen? Hat es sich auch gelohnt?«
»Lügner! Das stimmt nicht! Wer kann das bezeugen?«
»Ich kann es bezeugen, Dummkopf«, sagt der Eber.

»Komm raus aus dem Gebüsch. Zeig dich. Niederträchtiges Schwein!«
»Der Müller, den du bestohlen hast, wird doch bestimmt auch unter den Zuschauern sein.«
»Sei still! Ruhe! Wenn ich dich erwische, ziehe ich dir das Fell ab.«

»Tot bringe ich dir nichts.«
»Oh doch. Dein Schweigen wird meine Genugtuung sein. Die Kehle werde ich dir aufschlitzen!«
Der Eber zeigt sich, auf einer Anhöhe. Der Bauer rennt wie von Sinnen auf das Tier zu, drängt das Wildschwein an den Abhang. »Jetzt geht es dir ans Leder, verfluchtes Vieh.«
»Eine Geschichte hab ich noch«, sagt der Eber.

»Es ist vorbei! Niemand wird deine Geschichten hören. Wahr oder nicht. Spielt keine Rolle mehr!« Der Bauer kommt mit großen Schritten, schwingt das Messer. Da sagt das Wildschwein: »Die Kollekte des Pfarrers. Weißt du noch? Der Aufruhr war groß im Dorf, sogar hier im Wald wurde darüber geredet. Eine Truhe, mit der Sammlung, den Spenden des ganzen Monats. Weg! Einfach weg. Nicht auffindbar. Damit keiner sie bei dir findet, hast du die Truhe hier im Wald vergraben.«
Der Bauer stockt. »Hast eine Zeit vergehen lassen, bis die Lage sich beruhigt hat, bis die Leute über was anderes redeten, dann bist du gekommen, um die Truhe zu holen. War eine schöne Summe drin. Weißt du noch die Stelle? Es war gleich da hinten.«
»Es war weg. Leer. Die Truhe..!«
»Dein Gesicht damals – ha, das werde ich nie vergessen.«
»Verdammtes Mistvieh. Ich töte dich!«

»Es ist noch da. Das Geld. Ich habe es in ein Glas gesteckt; ein Eichhörnchen hat mir dabei geholfen. Denn wie will ich mit diesen groben Hufen, ... – wie auch immer, das Glas habe ich verscharrt. Da unten.«

Der Eber zeigt mit der Schnauze zum Graben hinunter. »Bei der Buche dort, im Sand. Zwischen den Wurzeln.«
»Ha! Das soll ich glauben?«

»Dann folge mir. Schauen wir nach«, sagt der Eber - und behände, ganz flink läuft er den Hang hinab. »Warte!«, ruft der Bauer, hastet dem Eber nach, doch das Geröll gibt nach und er stolpert und schlägt sich an einem Stein den Kopf auf und ist tot.
 



 
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