Kathedrale aus Rost

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Erhabene Anmut aus Eisen und Stahl, kraftvolle Monumente einstiger industrieller Potenz. Befinden sich solche stählernen Kraftprotze erst einmal außerhalb ihrer einstigen Bestimmung, verlieren sie an Wirkung. Zurück bleibt der morbide Charme des Verfalls, es kommt beim Betrachter Melancholie auf. Diese stummen Zeugen einstiger industrieller Größe sind überwiegend im Westen des Landes anzutreffen. Oft werden sie despektierlich Industriebrachen genannt, was bei den ehemaligen Arbeitern dieser Anlagen Unbehagen auslöst. Aber es gibt auch einen künstlerischen, ästhetischen Aspekt. Das Ausgangsmaterial kann man auf seinen stofflichen Ursprung reduzieren: Eisen oder Stahl mit Dihydrogenmonoxid (H2O) in Kontakt bringen, und man erhält als Ergebnis Rost. In dessen schönster Form entstehen Gebilde in erstaunlich vielfältigen Farbvariationen; eine Allegorie für Umwandlung, für Veränderung. Sind diese Formationen dann lange genug der Witterung ausgesetzt, changieren die Farben des Rostes. Künstler erkennen darin formal-ästhetische Wunderwerke - Fotografen haben einen speziellen Blick dafür. Ins entsprechende Licht gesetzt, erscheinen in ihren Augen optisch verzauberte Objekte von einzigartiger Ausstrahlung. Dieser Aspekt spielt für Rudi Hammerich keine Rolle, sein Kunstempfinden ist hierfür nicht ausgelegt. Er ist einer der wenigen verbliebenen Ehemaligen der Stahlhütte hier vor Ort, er bewacht das Gelände und inspiziert die Sicherheitsvorkehrungen. Das, was für ihn hier früher Arbeit bedeutet hatte, existiert so nicht mehr. Er fühlt sich als reiner Wächter, es ergibt für ihn aber wenig Sinn, diese gewaltige Menge an Alteisen zu hüten. Noch vor wenigen Jahren hatte diese Anlage eine ganz andere Bedeutung, sie war ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Doch Rudi machte eine Veränderung durch, der Job des Wächters bleibt der gleiche.

Eines Morgens meldet sich der Fotograf Fynn-Ole Klahn bei ihm. Der hat vom Insolvenzverwalter des Stahlwerks den Auftrag erhalten, eine Fotoserie für das Exposé zur Verkaufsabwicklung zu erstellen. Mit Rudi Hammerich an seiner Seite stößt der Fotokünstler auf Ansichten der riesigen Industrieanlage, die er alleine nie entdeckt hätte. Rudi ist ganz einfach als Begeher dieses Geländes ein Routinier, Tag für Tag, immer den gleichen Weg. Fynn-Ole Klahn erklärt seinem Führer durch die Anlage, worauf es ihm perspektivisch ankommt, welchen Lichteinfall er bevorzugt. Der Stahlarbeiter erfasst schnell dessen Anliegen und führt den Künstler zu den fotografisch ergiebigsten Positionen. Und dann der magische Moment, im warmen Licht der Abendsonne, der Höhepunkt. Rudi erkennt zum ersten Mal, in welchem Juwel der künstlerischen Art er sich täglich bewegt. Vorher war er sich dieser speziellen Sicht nicht bewusst. Von der tiefstehenden Sonne im spitzen Winkel von hinten angestrahlt, erscheint ihm sein altes Stahlwerk völlig neu. Es sind samtene Rostfarben in allen nur möglichen Tönen, auf welche die Schlagschatten der Türme und Röhren ein kunstvolles Muster werfen. Rudi Hammerich ist fast sprachlos, lediglich ein: Wie eine Kathedrale aus Rost...“ entweicht ihm. Er erkennt zum ersten Mal die Ästhetik 'seiner' abgewrackten Anlage. Für den Fotografen ist es das ultimative Motiv. Dessen Auftraggeber ist später von den fotografischen Ergebnissen begeistert. Der Begriff, Kathedrale aus Rost, ist in dem Moment manifestiert.

Der neue Investor plant, auf dem Gelände des ehemaligen Stahlwerks einen Freizeitpark zu errichten. Bereits in der ersten Phase der Umgestaltung kann man erkennen, dass hier etwas anderes Großes entstehen soll. Der Kernbereich der Anlage, Türme, Räder und Röhrensysteme, bleibt erhalten. Diese werden mit einer neuen Edelrostschicht überzogen und bilden den zentralen Blickfang auf den geplanten Freizeitpark. Von der etwas höher gelegenen Stadt, sowie der nahen Autobahnbrücke, bietet sich ein grandioser Ausblick auf dieses Ensemble. Die hoch aufragenden Reste des früheren Industriebetriebes werden das Markenzeichen für eine ganze Region. Investor und Kommune, beide denken in großen Dimensionen, eine Win-Win-Situation. Alle erhoffen sich von den zu erwartenden Besucherströmen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Viele der früheren Arbeitnehmer des Werkes sollen hier eine neue Beschäftigung finden. Es braucht viele Monate, um den Rückbau der ausgedienten Anlage abzuwickeln. Parallel dazu muss das Gelände verändert werden. Die Ufer des nahegelegenen Flusses werden nivelliert, er wird kanalisiert, um ihn dann in das Konstrukt des neuen Parks mit einzubeziehen. So soll zusätzlich ein vielfältiges Angebot für Wassersport entstehen. Das Erdreich der Bodensenke, in der jahrzehntelang Stahlarbeiter ihrem Broterwerb nachgingen, wird aufgebrochen und neu modelliert. Auf diese Weise entsteht hier eine der größten Baustellen der Republik. Doch dann, der Termin der Fertigstellung ist noch nicht fixiert, geschieht etwas Ungeheures, etwas nie Vorausgeahntes. Eine Naturkatastrophe von fast apokalyptischem Ausmaß trifft diese Region. Durch das gewaltige Unwetter werden Teile der nahen Kleinstadt zerstört, deren Hanglagen wegbrechen. Der kleine Fluss, der sonst ruhig sein Wasser durch das Tal führt, schwillt zu enormer Größe an, er tritt über die Uferlinie. Die Bodensenke, in der sich einst das Stahlwerk befand, läuft voll. Die frühere Industrieanlage säuft regelrecht ab. Und in der Mitte dieses Gewässers ragen die oberen Elemente der einstigen Stahlhütte steil empor.

Und das bleibt so erhalten, auch nachdem wieder geordnetes Leben in der Gegend stattfindet. Statt auf ein Wahrzeichen für einen Freizeitpark, blickt man auf ein Mahnmal aus rostigem, rotbraunem Metall. Besonders in der tiefstehenden späten Nachmittagssonne ist es wunderschön anzusehen. Der Name, den ihm der frühere Stahlarbeiter Rudi Hammerich gegeben hat, besteht fort: Kathedrale aus Rost.
 

petrasmiles

Mitglied
Diese stummen Zeugen einstiger industrieller Größe sind überwiegend im Westen des Landes anzutreffen.
Das halte ich für eine Fehleinschätzung - nach den vielen Schließungen wird es im Osten bedeutend mehr 'Industriebrachen' geben, selbst, wenn es vielleicht weniger Hütten gab; ich kann es aber nicht belegen. Da dieser Satz aber keine tragende Wirkung hat, könnte man ihn auch weglassen - oder um Widerspruch zu vermeiden wie jetzt meinen - diesen Satz dem Protagonisten in den 'Mund' legen bzw. als seine Annahme deklarieren.

Ansonsten erscheint mir Dein Text noch schwankend, ob er eine persönliche Geschichte in Momentaufnahmen des Rudi Hammerich sein soll, oder ein Bericht über die Geschichte einer 'Industriebrache'. Für Ersteres ist die Sprache zu 'sachlich', für Zweites zu viel Rudi.

Ich empfinde auch die 'Pointe' ein wenig zu phantasievoll - ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein 'abgesoffenes' ehemaliges Industriegelände einfach so im Wasser versunken bleibt und nur die 'Kathedrale' noch zu bestaunen ist. Was Wasser und Schlamm mit den Fundamenten anrichten, kann ich mir nur vorstellen, ohne es zu wissen, aber dass das alles so bleibt nach der Überschwemmung, erscheint mir unglaubwürdig.

Liebe Grüße
Petra
 
@ petrasmiles

Hallo Petra,

dieser Text beruht nicht auf belastbaren technischen Daten, Fakten, Hintergründen; es sind im Wesentlichen meine ausformulierten Gedanken und Bilder. Die Geschichte mag deshalb nicht in allen Details authentisch und plausibel klingen. Die Formulierung, 'überwiegend im Westen des Landes anzutreffen', die tatsächlich nicht unverzichtbar wäre, schließt jedoch nicht aus, dass es so etwas weiter östlich auch gäbe. Danke für den Beitrag.

Herzliche Grüße.
Horst
 



 
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