Kinderkram '99

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Kinderkram 99
Tock. Ich nehme das Geräusch gleichzeitig mit einem Schmerz am Hinterkopf wahr und drehe mich reflexhaft um. Ein Korken fällt vor mir auf den Schotter. Ich stutze, kann mir keinen Reim auf die Sache machen und reibe über die kleine, brennende Beule am Kopf. Langsam gehe ich weiter. Tock, tock. Die nächsten Korken treffen mich an der Hand und wieder am Kopf. Die Flugbahn des einen habe ich aus den Augenwinkeln gesehen und jetzt bemühe ich mich, dieser unsichtbaren Linie zu folgen. Es raschelt verdächtig im Gebüsch, doch durch die Blätter hindurch kann ich nicht erkennen wer oder was die Bewegung verursacht. Ich hebe einen der Korken vom Boden auf. Ein handelsüblicher Weinflaschenkorken. Noch während ich mich bücke, trifft mich der nächste in den Nacken. Ruckartig richte ich mich auf und laufe auf das Gebüsch zu, doch weit komme ich nicht, denn hier ist alles voller Brennesseln und Dornen und ich trage kurze Hosen. Jemand scheint mich zum Abschuß freigegeben zu haben, denn jetzt treffen mich neben den Korken auch noch harte Salven kleiner Kugeln, die ich schnell als Erbsen identifiziere. Also doch! Kinder stecken hinter der ganzen Geschichte. Na denen werde ich was erzählen: "Schluß jetzt!", rufe ich in die Büsche hinein. "Wenn ihr nicht sofort aufhört, könnt ihr euch auf einen riesigen Ärger gefaßt machen. Sowas ist doch kein Spaß mehr!" Weiter komme ich nicht, denn eine weitere Salve trifft mich am Augenlid, das sofort anschwillt. Das Auge tränt heftig. Ich halte die Linke auf das Auge und die Rechte hebe ich schützend vor den Kopf. Den nächsten Schmerz nehme ich am kleinen Finger wahr. Kein Korken diesmal, keine Erbsen, ein Stein hat mich getroffen. Der Finger blutet. Panik wallt in mir auf. Ich hatte doch nur ein bißchen spazieren gehen wollen und jetzt, so ein Alptraum. "Das ist kein Spaß mehr!", höre ich mich schreien; meine Stimme klingt schrill und überschlägt sich. Angst schwingt in ihr mit. In geduckter Haltung, wie ein verwundetes Tier, sehe ich mich mit einem Auge nach einem Ausweg um. Vor und hinter mir der Schotterweg, links und rechts Büsche und Bäume. Durch diese hohle Gasse... Ein Inferno bricht los: Erbsen prasseln auf meine nackten Beine, wie Hagel bei einem unerwarteten Sommergewitter. Steine schlagen von beiden Seiten gegen meinen Körper. Ich renne los, doch sehe ich nur mit einem Auge und da ich versuche den Geschossen auszuweichen, wird meine Flucht zu einem skurrilen Feixtanz. Ein großer Stein, der mich mit einiger Wucht am Hinterkopf trifft, läßt mich zu Boden gehen. Ich fasse an die Stelle, sie fühlt sich feucht und warm an. Tatsächlich werde ich jetzt von Kinder eingekreist. Ihre Gesichter sind vor Schmutz kaum zu erkennen und sie haben Blätter und Gräser in den Haaren. Noch einmal regt sich in mir die Hoffnung, daß ich nur das Opfer eines entgleisten Spiels geworden bin, denn die Kleinen sehen aus, wie Kinder eben, die Indianer spielen. Doch wie in Zeitlupe sehe ich, daß wieder eines von ihnen mit einem Blasrohr auf mich anlegt. Eigentlich ist die Röhre als Sitzstange für Ziervögel gedacht, aber als Blasrohr eignet sie sich hervorragend. Ich weiß das, weil ich als Kind auch ein solches hatte. Im Moment habe ich allerdings andere Sorgen, denn aus besagtem Blasrohr fliegen jetzt Pinwandnadeln, die sich schmerzhaft und bis zum Anschlag in meiner Haut versenken. Der Schmerz, die Unfaßbarkeit der Situation, der Anblick der vermeidlich spielenden Kinder, all das mischt sich in meinem Denken und Fühlen und wird schließlich zu einer einzigen Gefühlslegierung: Wut! Ich springe auf und packe mir das Ende des Blasrohres und reiße es dem Jungen aus den Händen. Jetzt hat er Angst und weicht erschrocken zurück. Ich drehe mich ein wenig, um mir meinen nächsten Gegner vorzunehmen. Zunächst scheint auch dieser ängstlich zurückzuweichen, doch dann trifft mich wieder etwas hart am Kopf, so daß es gleißend hell vor meinen Augen wird. Ich taumle und genau dieses kurze Taumeln nutzt der Junge, beißt die Zähne zusammen und rammt mir mit all seiner Kraft einen spitzen, daumendicken Haselnußstock unterhalb des Brustbeins in den Leib. Ich falle nach hinten, flach auf den Rücken und mit beiden Händen befühle ich das Holz in meinem Körper, ganz so wie im Film. Ich fühle die glatte Haselnußrinde und das warme Blut, das aus mir fließt. Wahrscheinlich die Aorta, denke ich und schaue in den Himmel, der mit meinem Sturz ruckartig mein Blickfeld ausfüllte. Ich bin erlegt, mir wird langsam aber unaufhaltsam bewußt, daß ich hier auf diesem Weg sterben werde und mir wird unsagbar kalt. Jäh nimmt die Ruhe ein Ende. Die Kleinen wollen nicht warten, bis ihre Beute verblutet ist. Sie schlagen mit Stöcken und werfen Steine und stechen in das Fleisch. Einer tat dies mit schrillen, langgezogenen Schreien, weil er ein Ninja ist; ein anderer imitierte Schuß- und Explosionsgeräusche mit jedem Stein, den er auf meinen Körper wirft. So geht es eine ganze Weile weiter. Dann gibt der Bandenchef ein Zeichen und die Jungen zerren den Körper an den nahen Fluß. Sie stoßen ihn ins Wasser und die Strömung nimmt ihn mit. In ein paar Tagen wird man ihn, an einem Stauwehr hängend, finden.
Als Jan-Niklas am Abend nach Hause kommt, fragt ihn die Mutter nach seinem Tag und er sagt, sie habe Recht gehabt, draußen zu spielen sei tatsächlich noch spannender, als den ganzen Tag nur fernzusehen oder am Computer zu spielen. Tagsüber, da geht es Jan-Niklas ganz gut und alle aus der Bande haben sich an den Schweigeschwur gehalten. Aber nachts oder an dunklen Orten, da tut dem Jan-Niklas der Bauch weh und er hat Angst, weil dann immer der matschige Mann vor ihm auftaucht, wie er im Fluß davonschwimmt. Plötzlich öffnen sich in dem blutigen Gesicht die Augen und starren den Jungen an, eiskalt und klagend. Dann öffnet sich der Mund, doch statt des erwarteten Schreis dringt ein Fisch aus dem Mund des Toten, gleitet zwischen den Zähnen hindurch und fällt, blutig wie ein Neugeborenes, in die bräunliche Flut. Letzten Freitag hatte die Mutter Fisch gemacht und Jan-Niklas genötigt davon zu essen. Obwohl er sonst immer mit gutem Appetit Fisch gegessen hatte, hatte er sich diesmal gesträubt und kaum hatte er seinen Teller leergegessen, erbrach er das gesamte Mahl. Weinend sank er in den Schoß der Mutter und preßte unter Tränen die Worte hervor: "Mama, der Fisch kommt aus dem toten Mann, er will mich fressen..."

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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