Kinderteller

Markus Veith

Mitglied
Kinderteller
Als Kind versuchte ich immer strukturiert zu essen. Speisen, die ich nicht mochte, die ich aber aufessen mußte, waren mir ein absolutes und leider allzu alltägliches Greuel. Es beruhigt mich fast, daß wohl jedes, ausnahmsweise noch autoritär erzogene Kind dies hat durchmachen müssen. Diese pädagogischen Rituale fingen meist sehr harmlos an. Zuerst wurde strahlende Sonne für den nächsten Tag versprochen, wenn der Teller leergegessen wurde. Wobei mir stets schleierhaft blieb, was es mit diesen Wetter beschwörenden Freßopfern auf sich hatte. Ich kann mich im nachhinein nicht mehr daran erinnern, ob es sich irgendwann einmal gelohnt hat. Dann, als sich dieses fadenscheinige Versprechen als kein ausreichendes Argument erwies, ging meine elterliche Zwangsverköstigungsarbeitsgemeinschaft dazu über, jeden einzelnen Bissen einem Verwandten zu widmen, was höchst unappetitlich war, wenn ich diese sowieso nicht mochte.
Irgendwann war ich es leid. Ich ergab mich meinem Schicksal und versuchte, das beste draus zu machen. Und so entwickelte ich die Strategie, immer erst das zu essen, was ich nicht mochte, um mir die Leckerbissen, die zwischen dem Ekel durchaus auch vorhanden waren, für den Schluß aufzuheben.
Ich würgte Spargel hinunter, stets in der bangen Befürchtung, er könne auf dem Weg nach unten mein Rachenzäpfchen erdrosseln. Wie eine Urwaldliane schlängelten sich die von Mama unsorgsam geschälten Spelzen in meiner Speiseröhre hinab, nur notdürftig mit Sauce Hollandaise beschmiert, die damals liebevoll "Schmecklecker-Soße" genannt wurde, was mich immer schon argwöhnisch werden ließ. Zumal das eigentliche i-Tüpfelchen dieser Tunke, der "Spritzer" Zitronensaft, den Vergleich mit einer Flutwelle nicht zu scheuen brauchte, und in mir zusammenzog, was sich zusammenziehen ließ. Mama neigte dazu, beim Kochen immer ein bisschen vor sich hin zu träumen und so war ihre Auffassungen von Prise, Schuss und Messerspitze sehr wankelmütig. Aber neben dem langen Spelzengemüse lag oft der köstliche, rosarote, pfannengeröstete Lachs aus dem Aldi auf dem Teller.
Oder Rosenkohl. Trotz des schönen Namens raspelte er mir stets bitter an der Zunge entlang, auch wenn ich mir enorme Mühe gab, das empfindliche Sinnesorgan nicht zu streifen, da diese Berührungen den Brechreiz zu sehr herausforderten. Allein bei dem Gedanken an das unumgängliche Schlucken unter Mamas Ungehorsam-feindlichen Blicken verbogen sich mir die Mageninnenwände. - Doch neben den verhassten Kohlknäuln, die die Farbe der mißglückten Mischversuche in meinem Malkasten hatten, lockten mich die Kartoffelpuffer und das Schnitzel mit der Parniermehlhaut - die ich stets peinlich penibel von dem Gemüsesud fernhielt. Nichts war schlimmer, als die goldbraunen Röstkartoffeln in dieser verkochten Grünton-Pfütze dümpeln zu sehen.
Oder der gefürchtete Möhreneintopf. Diese eingestampfte Pampe mit verkochten Kartoffelbrocken. Das damalige Gerücht, aus ihnen und aus nichts anderem würden auch jene herrlichen Kartoffelpuffer gefertigt, war eins der großen Mysterien meiner Kindertage. Ich konnte der Einverleibung dieses Breis nur dann ein wenig Spaß abringen, wenn ich ihn so essen durfte, wie ich wollte. Nämlich in Mustern. Wenn mir Nahrung schon nicht schmeckte, sollte sie mich wenigstens unterhalten.
Ich formte kunstvolle Windrosen in die Matsche, und kleine Landschaften, Labyrinthe und lustige Möhrenschattenrisse, denen ihre Ekel-Konsistenz scheinbar nichts ausmachte. Ich aß sie zu Gesichtern und Figuren, die mir in meiner Phantasie lebensecht erschienen und mich zu ihrem Verzehr noch freundlich aufforderten. Also kehrte ich sie mit dem Schieber, den ich damals noch hatte, auf der Gabel zusammen und balancierte diese so weit es ging, ganz hinten in meinen Mund hinein, mit zusammengekniffenen Augen und tief an den Unterkiefer geduckter Zunge, um nichts was schmecken konnte, meine Bilder auf der Gabel vernaschen zu lassen. Diese phantastischen Gebilde wollte ich in mir aufnehmen, in mich hineinfüttern, damit sie für immer in mir blieben. Die Bilder wohlbemerkt - nicht das, woraus sie bestanden. Die Vorstellung einer kleinen Speisengalerie in meinem Innern, einer Art Buffet-Vernissage, bei der alles Ekelige einen freundliche und kunstvolle Form erhielt, erweckte in mir eine Euphorie, die mich alles Übel dieser Karotin-strotzenden, gut-für-die-Augen-seienden Wurzeln vergessen ließ. Bis Papas entnervte Stimme mich dazu aufforderte, anständig zu essen, wie jeder normale Mensch auch, und die gefährliche Brisanz in seiner Stimme nach der fünften Ermahnung, ließ mich widerstandlos gehorchen.
Also aß ich anständig. Von außen nach innen. Von "mittlerweile kalt" nach "mundwarm". Wie es sich angeblich gehörte und wie es sinnvoll war.
Und heute? Was ist heute? Wie legt man Gebilde mit Döner-Salat? Wie ißt man Pizza am besten? In Streifen? Oder zersäbelt man den Rand? Oder ißt man sie, zu Ecken zersäbelt, gleich aus der Hand? Und wenn, macht es dann noch so viel Spaß wie früher, wo man sich so köstlich und relativ ungetadelt Finger und Front einsauen durfte? Und was ist mit Spargel oder Kohlrabi, Rosenkohl und Wirsing oder dem allkindisch verhaßten Spinat, den im Vor-Blubb-Zeitalter doch niemand wirklich mochte? Irgendwann haben mich wohl die guten Manieren eingeholt. Wo sind sie hin, die guten alten Zeiten der Übelkeit, der Nahrungszufuhrphantasie und der Möhrenbrei-Clowngesichter, die man verspeisen konnte? Was spart man sich heute für den Schluß auf?" fragte ich dich, die du verführerisch lächelnd neben mir lagst, zum Anbeißen nackt und von der Sommersonne braun gebraten.
"Aber wenn mir etwas wirklich schmeckte," fügte ich grinsend hinzu, "dann leckte ich nachher sogar den Teller ab."
Und als ich dann meinem Heißhunger auf dich nachgab und wir nicht unbedingt den Regeln entsprechend dafür sorgten, daß es am nächsten Tags schönes Wetter gab - einmal für Opi, einmal für Omi, einmal für Onkel Otto - da hauchtest du, und es klang wirklich erschreckend verdorben: "Naschen zwischendurch? Wenn das deine Eltern wüßten."
 

Markus Veith

Mitglied
*kicher*

Zu spät. - Allerdings muß ich dazusagen, daß speziell meine Frau Mama recht angetan war. Sie ist eine hervorragende Köchin und weiß sehr genau, daß ich zugunsten der Dramaturgie, die Wahrheit auch mal und ohne Skrupel verändere. - Was ich vor jeder Lesung dieser Geschichte erwähne. Ehrlich.
 

Juni

Mitglied
grinsel

Gut ausgefeilte Geschichte.
Da erkennt sich ja fast eine gesamte Generation wieder.
Ich nicht ganz, trotz autoritärer Erziehung, aber Mädchen haben es ja vielfach einfacher mit strengen Vätern.
Warum mögt Ihr bloß alle keinen Rosenkohl?

Tasha
 

maskeso

Mitglied
Ich muss sagen, am Schluss flacht die Geschichte ein wenig ab, da ist langsam die Luft raus. Gerade die letzte beiden Absätze nehmen ihr dann die "Unschuld", indem das zarte Kindsgemüt weggestoßen und durch den Mann ersetzt wird. Schade eigentlich, denn den Großteil (und an sich auch insgesamt) fand ich wirklich gut.

..ICH mag Rosenkohl
 
A

Ariel Frey

Gast
Wieder diese Kleinigkeiten,

die sich im Leben so markant einprägen. Geniale Idee, wer kennt das nicht? Ich musste unwillkürlich nicken. Aber ich finde, du verlässt die "Kinderposition" an einigen Stellen. So schön du Papas strenge Reden und Mamas Blicke schilderst und wie kreativ du die Bilder zeichnest, die man (mit Möhreneintopf auf der Gabel?) von außen nach innen isst, aber interessiert einen kleinen Jungen, aus welchem Laden der Fisch stammt oder wie großzügig Mama eine Messerspitze oder einen Schuss kalkuliert? An dieser Stelle bricht die Sicht des Erwachsenen leider diese herrliche Kindheitsskizze. Und auch mit dem Schluss realisierst du sehr, obwohl der Vergleich nicht schlecht ist. Schokoküsse?
 



 
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