Steinfeld 1817
Das sanfte klingeln, von aneinandergestoßenem Porzellan, weckte Bernd. Er blinzelte, es war dunkel, Kerzen brannten und beleuchteten einen gedeckten Tisch.
„Guten Abend, Bernd! Ich erdreiste mich, Euch so anzusprechen, auf dringendes anraten des Hausherrn, obwohl ich Euch bei Bewußtsein noch nicht begegnet bin,“ Die Stimme kam aus Richtung des Bettes, in dem sein Patient seiner Genesung entgegen schlummern sollte.
„Ich bin Boris Wersten, Doctor, der Euch, wie mir berichtet wurde, sein Leben schuldet, wenn nicht das, so doch sein rechtes Bein.“
Bernd richtete sich auf. Über das Bett von Boris war ein Brett gelegt, Teller und Tasse darauf, ließen ihn an der improvisierten Tafel teilhaben, an der Mascha, Nora und Claus um sein Bett herum saßen.
„Ihr, oder du, Boris," antwortete Bernd, „bist der erstaunlichste Patient, der mir je unter’s Messer kam. Gestern streiften dich noch des Todes Flügel, heute mapfst du nach Herzenslust Kuchen, machst den Damen schöne Augen! Nicht, dass ich Einwände hätte, Schmerzen hast du nicht, unterstelle ich?“
„Ich fühle die Wunde, Doctor, bewege ich das Bein, was ich tunlichst unterlasse. Ansonsten geht es mir, bis auf die Schwäche gut. Mascha, hat eben nach der Wunde gesehen und war zufrieden.“
„Habe neuen Giest aufgelegt,“ nahm die Boris das Wort ab, „und war mit der Heilung höchst zufrieden. Es ist keine Spannung und kaum Rötung zu sehen, ein Mirakel!“
„Sagen wir, es ist gut gegangen“ antwortete Bernd. „Als Boris auf den Tisch kam, war die Wunde sauber ausgeblutet, fast keimfrei. Einen günstigeren Zeitpunkt für die Operation gab es nicht, Muskel mit Sehnen vernähen, die Wunde schließen, Giest drauf, ein Patient, den so leicht nichts umwirft, all das zusammen brachte den Erfolg. Das sollte uns nicht übermütig machen, nach dem Stück Kuchen, Boris, ist Schluss. Hinlegen und weiter zu Kräften kommen, ist jetzt Parole!“
„Werde ein gehorsamer Patient sein, bin bereit für sofortigen Schlaf.“
„Wunderbar, Boris“ Mascha klatschte in die Hände, im Nu war abserviert, die Kerzen bis auf eine ausgeblasen, das Zimmer geräumt.
Draußen griff Bernd sich Mascha’s Puls, „Meine liebe Dame,“ er runzelte die Stirn, „ich erinnere, dich vor wenigen Stunden schwach und ermattet angetroffen zu haben? Sollte sich da jemand übernehmen? Nora, was sagst du, zurück ins Bett mit der Mama?“
„Nein, ich glaube nicht, Doctor. Sie hat genau wie du sechs Stunden geschlafen, ist allein aufgewacht und fühlt sich gut. Ich drehe den Spieß einfach um, du hast geschlafen, nur gegessen hast du nichts.“
„So ist es, ich spüre meinen Magen. Nur Süßes wäre nicht das Richtige. Wenn ich einen Wunsch äußern dürfte, Geselchtes vom Schwein oder ähnliches, käme mir zupass.“
„Magst du geräucherte Gans?" bot Nora an. „Eine Spezialität dieser Gegend. Also mir läuft beim Gedanken daran, das Wasser im Mund zusammen.“
„Hast du trotz Kuchen genug Platz im Magen, mir Gesellschaft zu leisten und mitzukauen, Nora?“
„Mitzukauen, Bernd? Warum mitzukauen, ich schluck mit. Gans ist mein Lieblingsgericht. Lauf ich über den Hof beim Gansstall vorbei, drücken sich die Vögel ängstlich in eine Ecke, als ahnten sie meine Vorliebe. Setz dich in den kleinen Raum neben der Küche, ich bring dir einen guten Roten, so leidest du keine Langeweile, während ich den Vogel zerteile.“
„Lass das die Köchin machen, setzt du dich bitte zu mir?“
„Tät ich, doch die ist in Lyck bei ihrer Muhme, Neuigkeiten von Steinfeld austratschen. Macht aber nichts, bin schnell fertig.“
Es dauerte nicht lange und Nora stellte eine randvolle Platte, mit Gänsebrust und süßem Preißelbeerkompott auf den Tisch.
„Das Süße kommt mit dem Geräucherten nicht süß, schmeckt pikant, probier!“
Bernd stippte ein Stück Brust vorsichtig in das Kompott, schnüffelte und steckte es in den Mund.
„Ei,“ strahlte er, „Nora, vorzüglich ist das. Gar nicht der Gansgeschmack, den ich kenne, da weht Wachholder und Bitteres mit rein? Hilf mir, was ist es?“
„Eicheln, die Eicheln, auf die die Schweine so wild sind. Die kommen in kleiner Portion mit ins Feuer, geben dem Rauch den aparten Geschmack. Gut, was wir Hinterwäldler so zu bieten haben, Doctor?“
„Besonders, wenn ich dich Hinterwäldlerin ansehe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Im übertragenen Sinn, versteht sich. Nicht, dass ich dich fressen wollte, an dir knabbern schon.“
„An mir knabbern? Wie soll ich das verstehen, Herr Doctor?“
„Wie schon, schöne Nora, wie ich es gesagt habe. Nein, ich berichtige, nicht wie ich es gesagt, wie ich es geahnt zu haben glaube. Dieses unbestimmte Ziehen in der Brust, schon in Cleve, ich erzählte es dir, als du wissen wolltest, was mich hierher getrieben, gleichzeitig unterstelltest, nur die Liebe könne das bewirkt haben.“
„Ich verstehe, das Clevische Ziehen möchte mich beknabbern ?"
„Wenn du so willst, Nora, ja.“
„Das heißt, du möchtest mich beknabbern?“
„Hab zwar schon einmal ja gesagt, sag’s aber gern nochmal. Ja. Gibt auch anderes als knabbern. Fiel mir so ein, als ich dein süßes Mäulchen die Gans beknabbern sah. Kannst schmeicheln, streicheln, küssen sagen. Egal wie du’s magst, ich möchte es tun.“
„Weißt du, Bernd, meine Cousine, die Trude, ist schon geküsst. Die hat mir angeraten, schließ die Augen sollt es dir geschehen. Ich wollte darauf wissen, der, der’s tut, macht auch die Augen zu? Die Trude darauf: Ich glaube wohl, sehen konnt ich’s nicht. Nun meine Frage an dich. Schließt du die Augen, solltest du mich küssen? Ich denke mal, du sagst ja. Jetzt meine weitere Frage, ich dufte stark nach Gans, könntest du doch eher knabbern, als küssen gemeint haben?“
„Ich überlege es mir, schöne Nora. Die Gans war außerordentlich, jedoch mächtig, satt bin ich, da gibt es keinen Zweifel. Wäre ich noch hungrig, glaub’s mir, der Sinn stände mir nach Fleisch. Lass mich noch einen Schluck vom Roten nehmen, eindeutig, Nora, küssen nicht knabbern. Selbst stärkster Gansduft lässt mich kalt.“
„Aha, da wär ich auf der sicheren Seite. Sag mir noch, wie geht es weiter? Was muss ich tun, außer die Augen schließen?“
Bernd rückte auf der Bank, soweit das Tischbein und die Ecke es erlaubten, zu dem Mädchen hin. Er sah ihr Augen ein wenig größer werden, Erschrecken und Erwartung, beides wohl. Er fasste sie um die schlanke Taille, zog sie an sich, ihr Mund ein wenig offen, halb Staunen und halb kleiner Widerstand. Zart küsste er die weichen Lippen, die sich erst schlossen, dann jedoch sich seinem Mund ergaben. Behutsam tastete er nach ihrer Zunge, die schnell verstand und sich dem Tanz ergab, doch bald schon ihre eignen Wünsche hatte.
Als sie sich voneinander lösten, seufzte Nora tief. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen, wusste die Wallung ihrer Brust kaum zu beherrschen. Dann jedoch, sah sie Bernd ins Auge, sagte nur: „Schön!
Schön, Bernd, das ist gesagt für den Augenblick, sollte der Nachhall vergangen sein, habe ich Fragen. Muss wissen, woher das kommt, das Rauschen im Kopf, im ganzen Leib beim Küssen. Für jetzt ziehe ich mich zurück, muss mich ordnen.“ Sprach‘s und verschwand.
Klapaida.
Hat den Wersten gerettet, der Doctor, und macht sich gut an das Mädchen ran; könnt zufrieden sein, wär’s auch, wär ich den Wersten los. Werde ihn schnellstens gesund machen, dann ab nach Livland mit ihm. Soll mir nicht sterben, hat nichts verbrochen und genug gelitten, für Nichts und wieder Nichts. Wird echt aussehen die Genesung, ohne jeden Ruch von Hexerei.
Die Alte! Seine uralte Mutter! Da trifft nächste Woche ein Kurier ein mit der Todesnachricht. Die kommt ohne den Sohn nicht unter die Erde. Werde ihn kräftigen, den Boris, im Schlitten weich gebettet ist er alsbald nach Hause unterwegs.
Da bin ich völlig aus dem Schneider, käm keiner auf den Gedanken ich hätte meine Finger im Spiel. Ist er erst weg, gilt, aus den Augen aus dem Sinn.
Fügte sich wunderbar, der Bote kam, sank halbtot vom Pferd. „Die Mutter vom gnädigen Herrn verstorben,“ stammelte er bevor ihm die Sinne schwanden.
Mascha war bestürzt, wie bring ich das unserem Patienten schonend bei, ihr erster Gedanke: „Klapaida!“ Die war sofort zur Stelle, mussten nicht lange beratschlagen, die Mascha und sie. War gut beieinander ihr Patient, würde ihn in den nächsten Tagen gestärkt, in der Stube auf und abgehen, sofern der Medicus mitspielte.
Bernd war einverstanden, „hätte es selbst verfügt, meine Damen,“ stimmte er zu. Auch die Fahrt nach Livland, im Schlitten über glatten Schnee, dürfte kein Problem sein. Eine erfahrene Frau sollte mit ihm reisen, die nicht zimperlich ist, den Verband alle Tage wechselt, ihm bei der Notdurft Verrichtung behilflich ist, dabei auf peinlichste Sauberkeit achtet.
Boris trug die Nachricht vom Tode der Mutter mit Fassung. „Es grenzt an ein Wunder, dass sie so alt geworden ist, aber ich muss sie unter die Erde bringen,“ darauf bestand er. „Ich fühl mich nicht krank, ein wenig schwach, jedoch laufen sollt ich, wie soll das sonst gehen, wir brauchen vier Tage und Nächte für die Reise?“
Bevor Mascha erklären konnte, nahm Klapaida das Wort: „Gnädiger Herr, ich weiß was ihr denkt, ein und aussteigen aus dem Schlitten, kommt nicht in Frage. Eine Frau mit entsprechendem Geschirr, wird Euch zur Hand gehen. Sie wird Euch waschen, trocknen, verbinden, alles tun, wozu Ihr nicht im Stande seid. Schickt Euch darein, wie Ihr es hier getan habt und noch tut. Seht den Schlitten als fahrendes Bett.“
Kurt wollte den schnellen Abschied nicht ohne ein Fest leiden, da bedurfte es Bernds Machtwort, mit dem er dem Patienten jeglichen Alkoholgenuss, für die nächsten drei Monate untersagte.
„Claus, alter Freund,“ tröstete in Boris, „was soll ein Fest ohne Wässerchen? Lass uns vernünftig sein. Ich schlage vor, ihr alle besucht mich im nächsten Winter, bis dahin schwinge ich, wenn es so weiter geht mit meiner Genesung, wieder das Tanzbein und ein Besuch in St. Petersburg wäre zu erwägen?
Zehn Tage später, kam zusammen mit der Pflegerin, Nachricht aus Livland. Boris war wohlauf, die Reise gelungen und er freue sich auf ein Wiedersehen.
Klapaida die es schon wusste, freute sich als Mascha es berichtete.
Düsseldorf 2003
„Bernd, gehst du mit mir zum Ärzteball?“
„Muss das sein, Vicky? Ich erinnere, voriges Jahr nach dem denkwürdigen Ereignis von dir gehört zu haben, nie mehr nähmest du an dem öden Ritual teil.“
„Stimmt, habe ich gesagt, aber mein Chef, Adam Waldeck, hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Du weißt, seine Frau hat sich von ihm getrennt, seine Nichte, die bei ihm wohnt möchte mit und er fühlt sich mit zwei Frauen nicht wohl.“
„Ach, und ich soll den Nichten-Kümmerer abgeben? Nö Vicky, tu mir das nicht an.“
„Bernd, ich habe sie getroffen, sie hat gestern Abend Adam im Institut abgeholt, er hat sie mir vorgestellt, eine Gräfin Kelm. Die Gräfin geschenkt, aber die außergewöhnliche Schönheit der Dame, beachtenswert.“
„Du willst mich ködern, Vicky!“
„Bernd, im Ernst. Diese Gräfin wird Furore machen. Bricht dir doch kein Stein aus der Krone, uns zu begleiten.Tu es mir zu Liebe. Waldeck geht in zwei Jahren, wenn ich seine Nachfolgerin werden soll, brauche ich seine Protektion.“
„Schwesterchen, überredet. Hole mich aber bitte ab.“
„Geht klar, du wirst dir ein wenig Lust antrinken. Ich stehe Punkt acht, morgen Abend, vor deiner Tür.“
„Gut, sei aber bitte pünktlich!“
Außergewöhnliche Schönheit, Vicky würde sie ohne Grund nicht so hoch loben. An schönen Frauen, gebricht es meiner Umgebung tatsächlich. Hübsche, schlagfertige, sportliche Typen, aber Schönheiten? Ist nicht mehr im Schwange, einer Frau Schönheit zuzusprechen. Vicky ist hübsch, klug, sportlich, erfolgreich, chic, aber schön? Jedenfalls hält sie sich nicht für schön, sonst würde sie die Gräfin nicht eine Schönheit nennen.
Nun ja, habe zugesagt, werde die Dame zu Gesicht bekommen. Wie hieß sie noch gleich? Da klang was nach, Kelm, Gräfin Kelm, kenne keinen, der oder die so hieße, dennoch ist da ein Gefühl, als ob ich.... Kelm, Graf Kelm, werde es nicht lösen, kann sie doch morgen fragen, ob es Kelms hier in der Gegend gibt. Halt! Das Telefonbuch. Unter G, Graf ist Namensbestandteil, kein Titel. Nix, Graf und Grafen jede Menge, ach, hier steht ja Graf Waldeck. Wußte gar nicht, dass der ein Graf ist. Macht jedenfalls kein Wesen davon. Unter Kelm? Kelm gibt es. Anne, Jobst, Jörg, Zacharias. Damit hat sich’s.
Also Morgen. Was ist los mit mir? Wieso beunruhigt mich eine unbekannte Gans, der ich den Aushilfsgalan machen soll? Weil sie schön ist? Das darf nicht wahr sein. Vicky findet sie schön, möglich sie ist schön anzusehen, darunter aber nichts als leeres Zimmer. So oder ähnlich. Wüßte nicht, dass es je geklappt hätte, bei einer Empfehlung durch Dritte. Abgesehen davon, wird es dem Mädchen ebenso gehen. Bekommt vom Onkel, wie ich den Alten einschätze, ungefragt einen Begleiter zugeteilt, der der Bruder seiner Assistentin ist. Da die Dame sich gegen die Zwangsehre nicht wehren kann, wird sie allerbester Laune sein.
Also Junge, vermiese dir nicht die Stimmung! Vielleicht ist die Schönheit nymphoman. Beschwätzt dich nach einer halben Stunde zu fliehen. Wohin? Egal, nur fort aus der Ödnis! „Bitte, erretten Sie mich, seien Sie mein Lohengrin, ich bin Ihr Schwan.“ Heissa! Auf geht’s! Du führst sie heim ins eigne Heim. Quatsch! Vicky, kratzte mir die Augen aus.
Vicky war pünktlich. Das übliche Gedränge an der Garderobe. Waldecks weißer Schopf, alle überragend, drehte sich suchend nach Leuchtturm Art. Dann hatte er uns erspäht, eine Hand fliegt hoch, deutet zur Bar hinüber. Ich pumpe eine Faust auf und nieder, signalisiere verstanden. Vicky, in ihrem ausgeschnittenen Kleid, gewährt mir tiefen Einblick, ist plötzlich Frau. Ich reiche ihr den Arm, sie hascht nach meiner Hand.
„Hast du ihn gesehen?“
„Ja doch, er ist zur Bar. Habe ihm verstanden zugemorst.“
„Zugemorst?“
„Ganz sicher, folge mir.“
Vor der Bar wird das Gedränge dichter, plötzlich greift Waldecks Arm nach Vicky.
„Hierher, meine Lieben, ich habe vorgesorgt.“
In dem Gedränge zwei freie Hocker, auf der Theke davor Champagnergläser, daneben Waldeck und die Schönheit. Schönheit, das war sie. Strahlend grüne, schwarz bewimperte Nixenaugen sehen mich an, machen mich sprachlos. Gott sei Dank, der Lärm ringsum kaschiert die Lähmung. Vicky stellt mich vor. Ihre Hand, fester nerviger Druck. Ich lächle, komme mir hilflos vor. Waldeck gestikuliert, beugt sich zu mir, brüllt mir ins Ohr:
„Schon vorige Woche reserviert, den Champagner bestellt, Weisung gegeben einschenken, wenn erste Gäste sich der Bar nähern. Hat geklappt.“
Ich nicke. Die Schöne bewegt die Lippen, ich beuge mich zu ihr hin. „Ich bin Nora," sagt sie, ihr Mund ganz dicht an meinem Ohr, ihr warmer Atem umweht mich. Vicky sieht mich an, kneift mir verschwörerisch ein Auge, ich sehe weg. Verdammt, was ist mit mir, bin wie vom Donner gerührt. Ruhe bewahren, sie ansehen, offen ins Auge sehen. Sie trägt einen wundervollen alten Smaragdschmuck. Feinste Arbeit, müßte ich aus der Nähe betrachten. Auch ihr Kleid fällt aus dem Rahmen. Ich beobachte, wie Vicky nahe an Nora ran geht, das Kleid beinah untersucht. Waldeck spricht mit Vicky. Vicky schlägt mir auf den Arm, sagt etwas, verschwindet mit Waldeck. Ich bin mit Nora allein. Allein in dieser uns umwuselnden Menschentraube. Ich nehme Vicky’s Platz, setze mich neben sie.
„Haben Sie mich verstanden,“ fragt sie. „Ich bin Nora!“
„Ich Bernd,“ antworte ich.
„Bleibt es hier so voll, den ganzen Abend?“ will sie wissen.
„Nein“ antworte ich, „das verläuft sich gleich.“
„Gott sei Dank,“ sagt sie. „den ganzen Abend hielte ich das nicht aus.“
„Wollen wir tanzen,“ frage ich. "Gern," nickt sie. Ich führe sie auf die Tanzfläche. Ich bin ein guter Tänzer, wird mir helfen, mein Gleichgewicht zu justieren. Sie schwebt in meinem Arm, ein herrliches Mädchen. Wie alt sie sein mag? Keine zwanzig, schätze ich, dabei absolut sicher. Ich konzentriere mich auf den Tanz, schalte ab. Muss ganz Rhythmus und Gleichklang sein. Sie reagiert, läßt sich führen, schmiegt sich an mich, ahnt jede meiner Aktionen, geht mit. Perfekt, was wir da machen inmitten des Geschiebes, um uns herum. Sie nickt mir zu. Ihre Lippen formen ein Wort. Fantastisch, lese ich. Ziehe ihre Linke zum Mund, hauche einen Kuss. Sie strahlt mir ein grünes Danke. Die Musik verklingt, ich reiche ihr den Arm, sie nimmt meine Hand. Wie Vicky, geht es mir durch den Kopf. Hat aber wenig schwesterliches an sich, die Dame. Wir gehen zurück zur Bar, Vicky und Waldeck sind nicht da. Warum sollten sie. Wir setzen uns. Sie rückt zu mir ran. „Sie sind ein blendender Tänzer," lobt sie, "die meisten Herren können nur hopsen.“
„Nora,“ knipse ich mein charmantestes Lächeln an, „wenn andere Fußball oder Tennis spielten, habe ich Turniere getanzt. Zuerst wurde ich von meinen Freunden ausgelacht, als ich später bei jedem Ball, jeder Tanzerei, Hahn im Korb bei den Damen war, verging denen das Lachen. Wie bei jeder Sportart, prägen sich auch beim Tanz Bewegungsabläufe ein, werden automatisiert. Ich kann mich ganz auf die Musik, die Partnerin einstellen. So wird, bei einer sensiblen Partnerin, Bewegung und Rhythmus stumme Sprache.“ Ich sah sie an, traute mich mitten hinein in das leuchtende Grün.
„Stumme Sprache," wiederholte sie. „Ja, ich verstehe, Schwingungen, es gab Schwingungen, als wir tanzten.“
Die Musik setzt wieder ein. Ich frage sie mit den Augen, sie gleitet von ihrem Sitz in meinen Arm. Ein Walzer. „Tanzen Sie Walzer?“ Ihre Antwort ein Wiegen, gepaart mit verlangendem Blick. Bevor das Parkett sich füllt, legen wir los. Ich fege, dieses Zauberwesen im Arm quer über die Tanzfläche, aus den Augenwinkeln erkenne ich, man hält sich zurück, überlässt uns das Feld, ist gern Zuschauer. Ich tanze den Walzer meines Lebens, keine Drehung zu gewagt, kein Umschwung zu abrupt, Nora pariert sie. Wir fiegen durch sämtliche Varianten des Wiener Walzers, rechts- und linksherum, streuen Figuren, aus dem Moment geboren ein, jeder muss glauben, wir seien ein seit langem eingespieltes Paar. Bei den letzten Tönen setzt Beifall ein, wir verbeugen uns lachend. Ich nehm sie wie selbstverständlich um die Taille, führe sie zur Bar, hebe sie auf den Sitz und küsse ihren mir einladend hingehaltenen Mund.
„Es ist schön mit dir, schön wie schon lange nicht mehr,“ strahlt sie mich an, und ich kann nur sagen: „Nora, ich bin sprachlos vor Glück.“
„Fulminant, was ihr da geboten habt!“ Waldeck und Vicky kamen zurück.
„Von Ihnen, Bernd, wußte ich, Sie waren lange Jahre Turniertänzer, sind es noch? Aber dass du, Nora, so mithalten kannst, setzt mich in Erstaunen. Ich hatte keine Ahnung von deiner Tanzkunst.“
„Ich auch nicht, Onkel Adam.“
„Wie, du auch nicht, heißt das, wir sahen eine Premiere?“
„Ob das eine Premiere war? Sicher ist, ohne Bernds Führung und Inspiration, könnte ich so nicht tanzen.“
„Inspiration, wie meinst du das?“
„Schwingungen, Vibrationen, Adam. Bernd führte mich, wie soll ich das erklären, doch, ich hab’s, er lenkte mich, wie man ein Auto lenkt. Ein Auto ohne den Führer am Steuer kann nicht, was es kann. Erst durch den Lenkenden, ist es zu den uns geläufigen Dingen fähig.“
„Stimmt das so, Bernd?“
„Ja und nein. Ohne eine Partnerin, die sich inspirieren lässt, geht es nicht. Wäre es, wie Nora erklärt, müssten die Paartänzer nicht so schweißtreibend trainieren. Es gibt jedoch Gleichklänge von Körper und Seele, die ein Phänomen, wie unseren Tanz eben, möglich werden lassen.“
„Gleichklänge von Körper und Seele, hört sich an, als ob Ihr euch seit Jahren in den Armen läget, und nicht eben zum ersten Mal miteinander tanztet.“
„Liebes Adam Onkelchen, was nicht ist, kann noch werden!“
„Nora! Gehst du nicht ein wenig weit?“
„Finden Sie, Herr von Waldeck? Ich bin da Noras Meinung, was nicht ist, kann werden!“
„Vicky, was sagen Sie dazu?“
„Ich, Chef? Also, der schnellste Blitzeinschlag, sollte die Aussage der beiden nicht nur bon mot sein, den ich je erlebte. Nun ist mein Bruder ein ernsthafter Mensch, das spricht gegen das bon mot.“
„Vicky, das muss ich erst verdauen, gehört der Tanz mir, es wird aufgespielt?“
„Sicher Chef, wir werden hier nicht gebraucht.“
„Was passiert da,Vicky?“
„Chef, verlieben passiert da. Wir sind eben Zeuge eines akuten Emotionsausbruchs geworden. Für meinen Bruder freut es mich. Der hat mir allzu lange den coolen Intellektuellen gegeben. Gegeben, darauf liegt die Betonung. Bernd ist emotional, gar nicht Vernunft gesteuert. Er verbirgt sich hinter seinem Verstand, weil er seine Emotion bisher nicht an die Frau bringen konnte.“
„Soviel ich weiß, Vicky, gab es aber einige Amouren. Wobei ich untertreibe, wenn ich einige sage.“
„Ja doch, Amouren, Oberflächliches, Amouren eben. Das große Erlebnis, die Durchrüttelung von Kopf bis Fuß, hat nie stattgefunden, soweit ich den Durchblick habe. Glaube es aber zu wissen, Bernd und ich sind ziemlich eng miteinander.“
„Ist etwas ganz besonderes, Vicky, wenn der Blitz tief und nachhaltig einschlägt. Wem ist das schon beschieden? Vielen nie, und viele, die dem Glück nah waren verspielen es leichtfertig, erkennen es nicht.“
„Spricht da die Erfahrung, Chef?“
„Wenn Sie so wollen. Doch lass uns nicht zu ernst werden. Die beiden knistern, ob sie wirklich brennen, wir werden es erleben.“
Bernd war ein wenig abwesend, er spürte, etwas Aussergewöhnliches geschah mit ihm. Was tun - das Nächstliegende: „Tanzen, Nora?“ Sie zögerte einen Atemzug, dann glitt sie von ihrem Hocker. Diesmal blieb ihre Gangart verhalten, sie reihten sich ein in das allgemeine Geschiebe. Nora sah ihn nicht an, vermied mit gesenktem Kopf seinen Blick.
Der blöde Professor, Bernd hatte an sich halten müssen. Was mischte der sich ein mit seinem groben Geschwätz, der sollte doch wissen, wie empfindlich und zart, vor jedem kühlem Zug zu schützen, sich erstmals öffnende Blüten sind. Er zog Nora eine Ahnung näher zu sich, sie folgte, beruhigt schob er sie an den Rand der Tanzfläche und ließ sie frei.
„Also Nora, nach dem Geschiebe ist mir nicht,“ sie sah auf, als er das sagte, nickte zustimmend.
Auf dem Weg zur Bar, nahm Bernd den Weg durch die Garderobe. Nora blieb stehen. „Müssen wir dahin zurück?“ fragte sie.
„Nein Nora, ich gewiß nicht, sollen wir?“
„Ja, wir sollten, lachte sie befreit,“ und reichte der Garderobenfrau ihre Marke.
„Ich bin ohne Auto, Nora.“
„Macht nichts, ich habe mein gutes Stück in der Tiefgarage geparkt.“
„Na fein, da kann nichts schiefgehen, bis auf den Onkel, wirst du dich bei ihm abmelden?“
„Nö, ich denke nicht, der ist froh mit Vicky allein zu sein, wird mich schon vergessen haben.“
„So, meinst du? Die sehen sich doch täglich.“
„Schon, aber beruflich. Ich habe den Verdacht, Onkelchen geht auf Freiersfüßen, da ist eine solche Veranstaltung mit Tanz und Champagner ein ideales Anschleichgelände.“
„Glaube ich nicht, Nora. Waldeck ist zwanzig Jahre älter als Vicky, und kennen tun die sich eine Ewigkeit.“
„Tempi mutantur, Bernd. Tantchen ist ihm von der Fahne gegangen. Er kann nicht allein sein, macht ihn verrückt. Deshalb bin ich doch hier. Habe in seinem Hause eine abgeschlossene Wohnung mit eigenem Zugang, der so liegt, dass wir uns tagelang nicht sehen. Stört ihn aber nicht. Hauptsache du bist da, sagt er. Ich kann dich sofort sehen, wenn es nicht anders geht. Ist für ihn auf Dauer keine Lösung. Darum glaube ich, er baggert deine Schwester an.“
„O Gott, wenn er sich da mal nicht vertut.“
„Bernd, der fällt nicht mit der Tür ins Haus. Alter Stratege. Erste Regel: Gelände sondieren. Zweite Regel: Gelände planieren. Soll ich weitermachen?“
„Nein, nein, Nora, lass es. Woher hast du das?“
„Den Blödsinn? Vergiß nicht, ich bin eine junge Dame von Stand und von’s Land. In Rieseby, wo der letzte Zweig derer von Kelm lebt, dem ich ein zugeflogenes Blättchen bin, wird das aristokratische Ritual excessiv gepflegt. Je weniger Einfluß, desto mehr Getue, gilt durchgängig, nicht nur für Aris. Die haben tatsächlich noch den schnarrenden Herrenreiter Gestus drauf, eben solches Geschwätz wie erste Regel etc.“
„Zugeflogenes Blättchen, wie verstehe ich das?“
„Ist eine längere Geschichte, Bernd, sieh, das ist mein geliebter Mini-Cooper, steig ein.“
„Ein schnuckeliges Wägelchen, Nora.“
„Nicht nur schnuckelig, rasant! Eine sagenhafte Straßenlage, nur leider zu teuer. Inspiziere, seitdem er mein ist, kein Schaufenster mehr.“
„Kein Schaufenster mehr? Wie das? Du sitzt neben mir, bist quicklebendig, wie geht das zusammen?“
„Weiß nicht, Bernd. Muss sein. Noch zwölf Monate und er ist bezahlt.“
„Na ja, das ist absehbar. Ich meine das ehrlich, habe eine Schwester.“
„Nie eine Frau gehabt, Bernd?“
„Wenn du wissen willst, ob ich je verheiratet war, nein nie.“
„Standhaft, die meisten deines Alters haben für eine Familie zu sorgen, manche sind dabei, eine zweite zu gründen.“
„Idioten, ich weiß.“
„Wo soll ich hinfahren, hast du eine Ahnung?“
„Du sitzt am Steuer, ich dachte, du hättest ein Ziel.“
„Habe ich, Onkelchen würde sagen, schickt sich das, Nora?“
„Lass mich ihm antworten, warum sollte es sich nicht schicken? Zwei Erwachsene, entweder es geschieht oder nicht. Dies früher oder später, auf jeden Fall. Also, was soll’s.“
„Gute Antwort, Bernd, wir sind gleich da.“
Noras Wohnung war ein fraulich warmes Nest. Bernd fühlte sich auf Anhieb wohl. Nora setzte ihn mit einem Martell in einen Sessel, mit Blick auf den großen Garten des Professors. Sie selbst verschwand, erschien nach einem Viertelstündchen in einem legeren Hausanzug, grünblau, das sich mit der Farbe ihrer Augen traf. Sie goß sich einen Cidre ein, setzte sich zu ihm.
„Schön gepflegter Garten, den Onkelchen da hat,“
„Ist sein Hobby, Bernd. Adam ist ein begeisterter Gärtner. Um die Ecke, von hier nicht zu sehen, steht sein Gewächshaus. Beheizt, mit Lüftung und allen Schikanen. Sicher mit ein Grund, warum Lulu ihn verlassen hat. Er kommt aus der Klinik, bindet sich seine grüne Schürze um, verschwindet in Garten oder Gewächshaus. Deshalb stört es ihn wenig, mich nicht zu sehen, Hauptsache ich bin in Reichweite.“
„Schöne Aussichten für eine künftige Ehefrau.“
„Gar nicht mal, Bernd. Ihm schwebt keine Liebesheirat vor. Die Dame soll ihm das Gefühl geben nicht allein zu sein, und ihn bei gesellschaftlichen Ereignissen begleiten.“
„Du bist doch da und begleitest ihn.“
„Genügt ihm aber nicht. Eines Tages habe ich mich an dich gewöhnt und dann haust du ab, jammert er ständig.“
„Ich bin eher skeptisch, ob er bei Vicky ankommt. Ich nehme an, die weiß von seiner Lebensweise, hat doch die Lulu gut gekannt. Seine Stellung möchte sie erben, da bin ich sicher, aber sonst? Ist Adam dein echter Onkel?“
„Nicht ganz aber ungefähr, Adam Leberecht Gottfried Joseph Friedrich Graf Waldeck. Mit den Kelm’s mehrfach versippt und verschwägert. In unserem Herdbuch genauestens verzeichnet und nachzulesen.“
„Eurem Herdbuch?“
„Unserem Stamm und Zuchtbuch, dem Gotha. Da steht drin, wie die einzelnen Linien miteinander gekreuzt wurden, ist der Beweis warum so viel Idioten, Debile und einfach Untüchtige, hochwohlgeborener Abstammung sind. Übrigens, Waldeck enthält sich jeglicher Aristokratirerei.“
„Nora, deshalb fragte ich, ob er dein echter Onkel ist. Es wurde gemunkelt, er sei ein Graf, von ihm war aber nichts herauszukriegen, von Lulu auch nicht.“
„Die Lulu ist eine Gräfin Westphalen, so viel ich weiß, haben die sich in jungen Jahren bei einer Adelszusammenkunft, vulgo Heiratsmarkt, kennengelernt und sich ineinander verliebt. Lulu hat mit dem Adelstamtam auch nichts am Hut.“
„Du wolltest erzählen, wie du dem Clan der Kelms zugeflogen bist.“
„Wollte ich das? Nun gut, wenn wir schon mal dran sind. Die Kelms waren seit Jahrhunderten in Masuren, in der Nähe von Lyck auf Gut Steinfeld, ansässig. Heute gehört das Gebiet zu Polen. Ende des zweiten Weltkrieges war mein Vater ein Baby. Die Kelms flüchteten vor den russischen Armeen nach Westen.
Meine Großmutter hatte meinem Vater Schmuck und Kleid, beides trug ich zum Ball, und das Familenregister derer von Kelm in den Tragkorb gepackt, in dem er die lange Reise nach Schleswig machte. Halt, nicht zu vergessen, ins Kleid fest eingenäht die Geschichte von Schmuck und Kleid.
Eine alte Magd ist wochenlang mit dem Kind durch das Land geirrt, bis sie auf die Schleswiger Kelms stieß, denen sie ihr Fleisch und Blut, mit den herzlichsten Grüßen und einem großen „Danke Schön“ von der gnädigen Frau, anvertraute.
Man versorgte die völlig Entkräftete, packte sie ins Bett und hoffte wohl auf den nächsten Tag, um mehr zu erfahren. Als sie geweckt werden sollte, der Tag neigte sich schon, war sie tot. Von den Eltern meines Vaters hat sich jede Spur in dem großen Zusammenbruch des Deutschen Reiches verloren. Das ist es, mehr kann ich nicht berichten.“
„Was ich nicht verstehe, Nora, ist das mit dem Kleid? Den Schmuck hab ich schon bewundert, sieht nach Ende des siebzehnten Jahrhunderts aus, unschätzbare Stücke. Doch das Kleid, es ist so gut erhalten. Wenn es in der Trage lag, mit der dein Vater befördert wurde, ist es über sechzig Jahre alt?“
„Wenn dies das einzige Rätsel wäre, Bernd, könnt ich mich dreinschicken. Das Unverständliche, Unheimliche ist, das Kleid stammt von Material und Machart, aus der Zeit Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts. Es müßte verfärbt, stockig, muffig, von Motten angefressen sein. Nichts von alledem, es hängt wie ein normales Kleid im Schrank. Es verändert sich nicht. Meine Mutter hat es oft getragen, sie nannte es ihr Zauberkleid. Nie Nora, hat sie mir gestanden, war ich mehr Frau als in diesem Kleid. Bestimmt war es nicht ich, die eben so elegant und gekonnt tanzte, es war der Zauber des Kleides, Bernd.“
Bernd nahm einen Schluck von seinem Cognac, ließ ihn langsam auf der Zunge zergehen, genoß das Brennen. Da saß dieses atemberaubende Mädchen und erzählte eine noch atemberaubendere Geschichte. Eine Geschichte, die nicht wahr sein konnte, nicht wahr sein durfte.
„Nora, du studierst?“
„Ja, Physik, wegen des Kleides. Folgte ich meiner ersten Neigung, wäre Tiermedizin mein Fach gewesen, so aber, mit dem Kleid, wählte ich Physik. Du bist der einzige, außer meinem Vater, meine Mutter ist tot, der von den Eigenschaften des Kleides weiß.
Warum ich es dir erzählte, ist mir ein Rätsel, ich musste es einfach. Nein, denke nichts Falsches. Hat mit uns nichts zu tun. Wie könnte ein so unvorstellbares Geheimnis bewahrt bleiben, machte man es von zufälligen Sympathien abhängig.
Da ist etwas nicht Erkenn- oder Deutbares in mir. Etwas verschlossen, Bedrückendes. Eben, als ich das Geheimnis preisgab, durchzuckte mich eine Empfindung. Durchzuckte ist richtig, ich bezweifelte die Wortwahl einen Moment, nein, ich bleibe bei durchzuckte. Zurück bleibt eine Öffnung, nein ein Riss. Ich sehe ihn, er schließt sich, die Empfindung vergeht. Bernd, du hälst mich bitte nicht für eine abgedrehte Esoterikerin?“
„Nein, tu ich nicht, obwohl, wäre da nicht das Kleid, es läge nahe. Könnte noch sein, du hast die Story erfunden, nur warum solltest du? Aufmerksamkeit musst du nicht auf dich ziehen, bist ohne die, Paradiesvogel genug. Ich hab Vicky beobachtet, wie sie das Kleid bei dem Gedränge an der Bar, als sie eine Weile hinter dir stand, genauestens unter die Lupe nahm. Es hätte nur noch gefehlt, sie hätte den Stoff zwischen den Fingern gerieben, um die Konsistenz zu ergründen. Ist ihr Beruf genau hinzuschauen, nur sind Ballkleider in der Regel nicht Objekte ihrer Zuwendung.“
„Würde mich brennend interessieren, was sie zu sagen hat, wenn sie überhaupt etwas dazu sagt. Vielleicht könntest du sie provozieren, fragen, was an meinem Kleid so interessant war, warum sie so genau hingeschaut hat?“
„Verlass dich drauf, ich frage. Was mich noch beschäftigt, du willst Physik studieren oder bist schon dabei....“
„Im zweiten Semester.“
„Im zweiten Semester? da hat man meist eine Ahnung, ob man richtig liegt. Wie ist es bei dir, Sehnsucht nach den Vetrinären?“
„Du wirst dich wundern, nein, keine Sehnsucht. Ich mag Physik, ist präzis aber lässt Raum für Spekulation. Nicht Erfahrungswissenschaft wie bei den Fächern, die es mit dem Leben zu tun haben. Das Schöne, ich bin erst am Anfang. Muss jetzt Bekanntes zu meinem machen, also lernen. Schmerzt jedoch nicht, bei der Aussicht auf die ungeheuren Möglichkeiten der Spekulation, bei der theoretischen und vor allem der Astrophysik.“
„Da kommt die Initialmotivation aber ins Hintertreffen, ich glaube kaum, dass Okkultes in der Physik geklärt werden kann.“
„Da bin ich ganz anderer Meinung. Okkultes, so wie wir es in des Wortes Bedeutung verstehen, hat in der Physik keinen Platz. Okkultes als Phänomen schon. Jedwedes Unerklärliche ist erst mal Phänomen. Erst wenn es sich der Einordnung widersetzt, wir es nicht verstehen, keine uns deutbare Eigenschaft erkennen, machen wir es zum Okkulten. Mein Kleid kann so betrachtet, nicht okkult sein. Es ist vorhanden, begreif- und tragbar. Die einzige uns nicht geheure Eigenschaft, scheinbar ist es immun gegen die Zeit. Wohl deshalb, weil es nichts gibt, was nicht altert. Doch ich bin sicher, das Kleid altert, nur eben, in von uns nicht zu beobachtenden Zeitspannen.“
„Gut erklärt, Nora. Ja so kann man es sehen. Also Kleid, schlafe ruhig in deinem Kleiderkasten, freue dich auf den nächsten Ball, bei dem ich deine Herrin oder soll ich sagen deinen Schützling, von dir inspiriert über das Parkett schweben lassen werde.
Noch eine Frage, vorher aber gebe ich ein wenig von mir preis, wo ich so viel von den Kelms weiß, soll mich das nicht stören.
Als wir eben hier ankamen, hoffte ich als Mann, dir beim Ausziehen des Kleides helfen zu müssen. Die Szene stand vor meinem inneren Auge. Ich nahm an, frag nicht warum, du würdest dich bäuchlings auf die Couch dort legen, mich bitten, dich aus deinem Kleid herauszuknöpfen. Ich stand schon hier, du hast es nicht bemerkt, massierte meine Finger, wärmte sie auf, um nicht allzu ungeschickt zu sein. Bitte erklär mir, wie entkamst du dem Futteral ohne Hilfe?“
„Ganz einfach, Bernd, mit Hilfe eines Reißverschlusses. Die Knöpfe und Schlingen sind nurmehr Zierde, ohne Funktion. Eine geschickte Schneiderin hat das so umkonstruiert, dass Frau ohne Mann dem Futteral entsteigen kann. Diese Konstruktion hatte das gute Stück schon, als es auf mich kam. Liegt auf der Hand, Männer gab es schon immer, ebenso Männerfantasien. Wäre fatal die männliche Hilfestellung, das Futteral lässt Unterwäsche nur allersparsamst zu.“
„Hochdelikat, Nora, das Kleidungsstück. Kann mich nicht erinnern, je so intensiv und kurzweilig über ein Kleid geplaudert zu haben. Noch eins, ich verspüre, kann es sein du auch, einen kleinen Appetit? Nichts Großes. Auf der Herfahrt, sind wir zwei Ecken weiter, an einem Inder vorbeigekommen.“
„Vergiß es, Bernd. Der Inder taugt nicht. Es gibt hervorragende Inder in der Stadt, ich esse gern dort, aber der hier ist nix. Doch verzage nicht, ich habe, vorsorglich Sushis aus dem Kühler genommen, die sind jetzt aufgetaut. Du magst doch Sushis?“
„Ob ich Sushis mag? Ich liebe sie. Hast Du den scharfen Original-Meerrettich und die richtige Sojasoße?“
„Ich hoffe doch, hier sieh mal.“
„Ja, den Meerrettich nehme ich auch, Sojasoße habe ich andere, aber davon gibt es viele Sorten. Hauptsache sie schmeckt.“
„Hauptsache, Bernd, du sagst nicht nein zu dem Sake hier, mit dem ich die Sushis herunterspülen möchte.“
„Nein, bist du wahnsinnig, lass mich riechen, herrlich und hat genau die richtige Temperatur. Komm, setz dich, fangen wir an. Ich habe einen japanischen Freund, habe ihn beim Chirurgenkongress in Phuket kennengelernt. Mit dem japanisch Essengehen, ist ein Erlebnis. Wenn wir genügend Sake drin hatten, wollte der mich füttern. Bestellt etwas Undefinierbares, isst selbst, und füttert mich. Ist ein Zeichen besonderer Wertschätzung bei den Japsen.
Ich berichtige den Freund. Freunde in unserem Sinne sind wir nicht. Die Sprachen sind da vor, auch die Mentalität, bin ich sicher. Aber jolly good fellows, so wie die Engländer das singen, sind wir bei jedem Treffen.“
„Freundschaft, Bernd, jeder meint seine Freundschaft. Ist gängige Münze geworden, der Begriff. Denk nur an den Spruch, Freundschaft zwischen Mann und Frau ginge nicht, ist doch absoluter Blödsinn!“
„Wär mir da nicht so sicher, Nora. Du magst das anders sehen. Verlangtest du von mir, dich nicht als Frau zu sehen, hätte ich ein Problem.“
„Verlange ich nicht, und tue es mir bitte nicht an.“
„Hört sich gut an, schöne Nora.“
„Wo Männerfantasie so herrlich mit den Knöpfen meines Kleides spielte.“
„Danke für dein Verständnis, Schönheit, ich glaube, die Fantasie ist es, die der Liebe Beine macht, doch auch der Sake ist nicht zu verachten!
Wobei der Sake mich noch mal an Okabe-san, meinen japanischen Chirurgenfreund, erinnert. Okabes Großvater war, mit der japanisch kaiserlichen Armee, Besatzer in Thailand. Als Stadtkommandant im Range eines Obersten, Herr von Phuket. Als der Großvater hörte, sein Enkel flöge zu einem Kongress dorthin, verlangte er ihn zu sprechen.
Okabe-san machte sich auf zum Hause der Großeltern, wurde von der Großmutter mit nicht endenden Ahs und Ohs empfangen, und flugs dem Großvater überstellt. Der saß auf seiner Tatami, winkte seinem Enkel sich zu ihm zu setzen, während er seine Frau, die Großmutter, mit unwirschem Handschlenkern hinausscheuchte.
Mein Kleiner, sagte er zu dem sechsunvierzigjährigen Okabe, Sohn meines Sohnes, schön dass du gekommen bist. Du fliegst nach Siam, hörte ich, nach Phuket?
Ja, Großvater, du hörtest richtig.
Ja Enkelsohn, dachte es mir, hören tu ich noch gut. Also, ich habe ein Anliegen.
Damals, als ich auf Befehl unseres göttlichen Kaisers, in den glorreichen Krieg zog, in dessen frühen Verlauf wir Ostasien zu einem japanischen Imperium machten, war ich eine gewisse Zeit Chef der Stadt Phuket. Wenn ich eine gewisse Zeit sage, meine ich etwas mehr als zwei Jahre, bis diese nichtswürdigen, stinkenden Großaffen aus Amerika, uns unterjochten.
Zu Beginn dieser zwei Jahre begab es sich, dass ich eine entzückende Dame von siamesischem Geblüt kennenlernte. Die Dame hatte schwer unter dem Krieg gelitten, sie litt noch, als ich sie traf. Es ist nun nicht so, Enkel, wie dir sicher in der Schule auf Befehl der stinkenden Affen aus Amerika eingebläut wurde, dass wir herzlose Eroberer gewesen wären, die, die ihnen Anheimgefallenen auspressten wie Papajas, nein, so waren wir nicht!
Ich für meinen Teil jedenfalls nahm mich der lieblichen Schönheit an, ließ sie rund füttern, bis die Rippen nicht mehr durch ihre Seidenhaut traten. Jeden Tag verfügte sich die Köchin, der ich sie anvertraut hatte, zu mir, um mich vom Fortschritt der Fütterung zu unterrichten.
Endlich war es soweit, ein Mensch stand vor mir, ein Mädchen, lieblicher als der Mond im Oktober. Ich hieß sie ihren Sarong ablegen, wollte sehen was gutes Futter ausgerichtet.
Zu meinem Erstaunen weigerte sie sich. Warum bist du undankbar? Bin ich nicht dein Wohltäter? Ich fragte sie das mit Tränen in der Stimme.
Sie antwortete, wobei sie mich ihre Mandelaugen funkelnd fixierten: Eher sterb ich, als dass ein anderer, als mein Ehemann mich unbekleidet sähe.
Was sollte ich machen? Ihre Fütterung hatte Zeit gekostet. Ich hatte mich auf sie gespitzt, wollte, musste sie haben. Ganz zu schweigen von meinem Gesicht! Täglich erkundigte man sich nach ihr. Okabe-san, Herr Oberst, Herr Statthalter, was macht die kleine Hure, die sie päppeln? Schon geritten das Pferdchen? Muss außerordentlich sein, das Lärvchen! Soviel Mühe, Okabe-san, soviel Wertschätzung!
Du willst also, dass ich dich heirate? fragte ich.
Nein, ihre Antwort. Ich sagte, nur mein Ehemann sieht mich unbekleidet!
Bist also schon verheiratet? ich freundlich, obwohl mir die Galle kochte.
Sie entgegnete: Nein, bin ledig. Du fragtest, Offizier, ob ich will, dass du mich heiratest. Nein, will ich nicht, würde mir Scherereien einhandeln.
Scherereien, jetzt wurde ich böse, wer wagt hier, Scherereien zu machen, sag mir das?
Sie kess, mir ins Gesicht: Herr Offizier, das Leben dauert nicht nur ein paar Jahre. Ein Leben kann lang sein. Wenn sie sind längst zurück in Japan sind, hab ich die Scherereien.
Ich schnaubte sie an: Wir bleiben, Mädchen, Japan wird euch auf ewig beschützen!
Da lachte sie mir lauthals ins Gesicht.
Du magst daran erkennen, Enkelsohn, so schreckliche Eroberer konnten wir nicht gewesen sein. Nach den Unterstellungen der stinkenden, großäffischen Massenmörder aus Amerika, hätte ich spätestens jetzt mein Schwert gezogen und sie enthauptet. Was habe ich getan? Hab einen Bonzen holen lassen, und sie geheiratet.
Was dann kam, war eine Zeit der Kirschblüte, der Weidenzweige, im stillen Wasser des Kranichs Spiegelbild. Zeit ohne Zeit.
Enkelsohn, jetzt das Geheimnis: Als ich, du siehst ich senke noch heute mein Antlitz vor Scham, in Gefangenschaft geriet, blieb sie mit zwei Kindern, Zwillings-Mädchen, zurück. Die Ketten in die wir gelegt wurden, lockerte der Großaffe, jetzt unser Freund, erst nach Jahren.
Sofort versuchte ich Kontakt zu ihr aufzunehmen, vergeblich. Du erinnerst sicher die große Reise, die ich nach Europa unternahm, von der ich ohne Fotos heimkam?
Sicher, alle waren bestürzt, Großvater, deine Fotoausrüstung war dir gestohlen worden.
Lüge, Enkelsohn, Lüge! Ich war in Phuket. Habe die Stadt abgegrast, mit ehemaligen Dienern der Kommandantur gesprochen, was nicht leicht war, die taten, als ob es uns nie gegeben hätte. Auch Bakschisch half nicht, ich kehrte heim, ohne Erfolg.
Jetzt, kurz bevor ich mich aus dem Staub mache, höre ich, du fliegst dorthin. Ich habe mit den Leuten nur über Dolmetscher sprechen können, du aber sprichst, wie heutzutag alle Welt, das Affenidiom. Die in Phuket quälten mich dauernd mit ihrem spik inklis, spik inklis. Vielleicht kommst du weiter. Mir ist klar, lebt sie noch, ist sie eine alte Frau, wird mich vergessen haben. Aber die Kinder oder Enkel?
Wir sind wohlhabend. Gern würfe ich ein Steinchen in den Zeitteich, noch lieber wässerte ich ein Floß.
Okabe-san hat sie gefunden, es war nicht einmal schwer, sagte er. Man erinnerte sich noch an den Japaner, der mit einem Dolmetsch, der nichts taugte, herumzog und ein Mädchen suchte.
Niemand brachte damals Frau Srandir, mit der Frau des Stadtkommandanten der Japaner in Verbindung. Keiner erkannte in dem suchenden Japaner den ehemaligen Oberst. Die Episode der Besetzung war einfach zu kurz gewesen.
Jedenfalls war Frau Srandir, eine alte Witwe, höchst überrascht von Okabe-san zu hören, er sei der Enkelsohn ihres japanischen Gemahls. Ja, räumte sie nach einigem Zögern ein, sie sei mit Oberst Okabe verheiratet gewesen, seine Töchter lebten beide, hätten ihrerseits Kinder.
Beide, wie überhaupt alle hier, hätten keine Ahnung von ihrer Mutter japanischem Abenteuer. Damals sei sie froh gewesen, dass die Episode in den Nachkriegswirren unterging. Sie war eine Witwe mit zwei Kindern, deren Mann verschollen war, ein tausendfältiges Schicksal. Danach habe sie wieder geheiratet.
Oberst Okabe hatte vier Enkel in Thailand. Die zwei Jungen unterstützte er beim Studium, den beiden Mädchen half er bei der Gründung eines eigenen Hausstandes. Frau Srandir war glücklich und dankbar, die Zuwendung wurde als Lottereigewinn getarnt.
Sagen Sie dem Oberst, trug sie Okabe-san auf, ich habe nicht vergessen: Spiegelbild des Kranichs, Zeit ohne Zeit.
Als Okabe-san seinem Großvater berichtete, wie erfolgreich er gewesen war, überzog dessen Gesicht ein Ausdruck von Ruhe, wie sein Enkelsohn es noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Er erhob sich lautlos von der Tatami, auf der er neben dem Oberst gehockt hatte, und zog sich zurück. Am nächsten Morgen rief die Großmutter an, der Großvater sei in der Nacht verstorben. Als sie wach wurde, habe er schon kalt auf seiner Schlafmatte neben ihr gelegen.“
„Eine interessante Geschichte, Bernd.“
„Ja Nora, doch während ich erzählte, heult es in meinem Hirn unentwegt: Code Red! Code Red!“
„Code Red, warum, Code Red, Bernd? Höchster Alarm heißt das doch?“
„Richtig, Schönheit. Übersetzten lässt sich Code Red so: Hör auf blöden Mist zu faseln! Siehst du nicht, wer neben dir sitzt? Gibt es keine anderen Themen? Wie willst du aus der Suppe, die du da kochst, rauskommen. Für heute tendieren deine Aussichten gegen Null. Dünnbrettbohrer! Du bist bei ihr zuhaus, du Niete!“
„Soll ich lachen oder weinen, Bernd? Warum bist du nur so ein verdammter Dünnbrettbohrer!? Hast du keine Ahnung von Frauen, ihren geheimen Wünschen? Erzählst von Leuten die lange tot sind? Sieh mich an, ich sitze neben dir!“
„Ich sehe es, Schönheit, was aufregender ist, ich fühle es!“
„Ach ja, du fühlst dich aufgeregt, oder wolltest du sagen angeregt?“
„Lass mich nachdenken, Nora, oder hilf mir, wenn ich Falsches sage.Ich bin beides, auf- und an.“
„Wenn ich helfen darf. Ich würde nicht auf und an sagen, ich entschied mich für drauf und dran.“
Innerlich nahm ich Haltung an. Nehmen Sie Haltung an, hieß das beim Militär. Dann stand ich langsam auf, wobei ich behutsam den Stuhl auf dem ich gesessen, zurück schob, behutsam, um keinen Lärm zu machen, nichts sollte die nächsten Sekunden entweihen. Endlich aufrecht, drehte ich mich zu ihr, die, wie ich jetzt bemerkte, meiner langsamen Routine gefolgt, sich mir zudrehte. Wir standen uns gegenüber, Aug in Aug. Ich hob synchron im Zeitlupentempo beide Arme, die ich dann auf Höhe ihrer Schultern ausbreitete. Nora glitt, ihren Kopf und Oberkörper langsam aus der Lotrechten nach vorn kippend, auf mich zu, ich musste sie nur noch fest umschlingen.
Unsere Lippen fanden sich augenblicklich. Ich verlor die Kontrolle, wollte alles gleichzeitig. Doch das einzigartige Mädchen scheute. Scheute wie eine Stute, die zum ersten Mal den Sattel fühlt. Ich zügelte mein Verlangen. Sie spürte meine Zurückhaltung, ließ sich augenblicklich fallen, zwang mich, ihrer Leidenschaft mit noch mehr Feuer Paroli zu bieten. So kämpften wir, zogen uns fiebernd vor Verlangen die Kleider vom Leib.
Als wir auftauchten, dämmerte es. Fragte sich nur, ob Morgen oder Abenddämmerung. „Warten wir auf die Sonne,“ empfahl Nora. „Blutrot und rund ist abends, weite Morgenröte ohne Ball ist morgens.“ Ich zog sie an mich, sie kuschelte sich in meinen Arm.
Nora, wollt ich beginnen, unterbrach mich, warum reden. Doch es konnte sein, sie erwartete es. Also begann ich nocheinmal:
„Nora, mir schien ich war dein Erster?“
„Ja.“
Nichts sonst, einfach ja. Warum mehr, aus ihrer Sicht völlig normal, einer war immer der Erste. Ich küßte sie, sie küßte gern, es wurde ein langer Kuß. Als er zu Ende ging, stieg die Sonne über den Horizont, den Morgen zu verkünden. Merkwürdig, ohne Hahnenschrei. In Kleve begrüßten die Hähne den Morgen.
Ich fragte meine Geliebte, ob sie die Hähne vermisse? Sie schüttelte den Kopf, murmelte, schon wieder in den zweiten Schlaf unterwegs: „Nö, gar nicht, lassen einen nicht schlafen, die Biester.“ Weg war sie.
Steinfeld 1817
Mascha setzte sich zu Bernd, der, als Nora ihn verlassen, langsam den Rest des Roten leerte. „Schmeckt dir die geräucherte Gans“ fragte sie, nach einer Einleitung für ihr Vorhaben suchend „eine masurische Spezialität.“ Wartete seine Antwort nicht ab, leitete sofort über zu Boris und der gestrigen Operation.
„Bernd,“ sagte sie und sah ihn mit den grünen Augen ihrer Tochter an. „Bernd, ich mache mir Gedanken. Was du an Boris tatest, lässt mich nicht ruhen. Ich habe durch die Freundschaft mit unserer Kräuterfrau Klapaida gewisse Einblicke. Habe schon Amputationen beigewohnt, viehische Schlächtereien im Vergleich zu deinem Tun. Nicht nur hast du Boris den Schmerz genommen, nein, du hast die Wunde, den Muskel, die Adern in einer noch nie dagewesenen Weise behandelt! Ich hab noch jeden Handgriff vor Augen, es verblüffte mich unsagbar, wie dir das von der Hand ging. Mit welcher Sicherheit und Ruhe du eins nach dem anderen erledigtest, grenzte an Hexerei. Jetzt bin ich, wohin ich wollte, Bernd, Hexerei.
Klapaida ist hier als Hexe verschrien. Sie hilft jedem, der sie darum bittet, und erntet nur Undank. So, jetzt komme ich langsam zum Eigentlichen. Als mir nicht wohl war, du mir das Bett verordnetest, kam ich mit Klapaida aus dem Wald.
Nichts Ungewöhnliches, wir gehen jede Woche in die Kräuter. Nur diesmal war es anders. Klapaida war nicht meine belehrende Freundin, sondern eine vor mir herjagende Furie. Ich konnte kaum mithalten, so raste sie über Stubben und Wurzeln. Bedenke ich, wie alt sie ist, besser zu sein scheint, eine nicht zu begreifende Kraft, die ihr innewohnt.
In der Mitte des Dickichts, da wo der Keiler Boris anfiel, blieb sie stehen. Herrschte mich an, mich nicht zu rühren. Zur Salzsäule erstarrt verharrst du, fauchte sie, und warf sich auf den Boden über den von Boris stammenden blutigen Fleck. Sie lag da und murmelte etwas, so leise, dass ich nichts verstand. Plötzlich brach ein Riesenkeiler durch den Busch auf uns zu, stieß mir seinen Rüssel bis dicht vors Gesicht, beschnupperte mich, ohne zu touchieren. Plötzlich ließ er ab von mir, warf sich auf die am Boden liegende Klapaida. Jetzt kommt es, Bernd, das Biest flüsterte mir unverständliche, jedoch artikulierte Worte, an ihrem Ohr. Was mir die Sinne raubte war, Klapaida antwortete. Ich verstand, bevor es Nacht um mich wurde, den Satz: 'Verzeih Rogar, verzeih!'
Als ich zu mir kam, lag ich, den Kopf in ihren Schoß gebettet. War ein böser Traum, versucht sie mich zu trösten. Auf dem Heimweg erschlug uns um ein Haar ein Blitz aus heiterem Himmel! Klapaidas Gesicht sagte mir, wir waren noch mal davongekommen. Was mir klar ist, ich war davongekommen.
Dich frage ich, und erzähl dir das, weil ich wissen muss ob du mit ihr im Bunde bist. Der Doctor, ein Zauberer aus einer anderen Welt?“
„Mascha, viel erzählt und wirklich Gruseliges. Doch von mir fürchte nichts. Was ich kann, wird gelehrt in Paris, Bologna, München, Zürich und Berlin. Nicht an jeder Universität alles, aber überall ein Teil. Ein fleißiger Arzt, dem seine Patienten am Herzen liegen, fügt die Teile zusammen und rettet dem Boris das Bein.“
„Ich möchte ein Gebet sprechen vor Erleichterung, Bernd, meine Nora ist dabei sich in dich zu verlieben, soll sie, gehört zur Jugend. Nur wärest du ein Hexenmeister, könnte ich es nicht ertragen.“
„Glaubst du tatsächlich, deine Kräuterfreundin ist eine Hexe, und wenn, wirst du sie nicht mehr sehen?“
„Nein! Das heißt, ja, sie ist eine Hexe, die ich aber weiter sehen werde. Sie ist mir eine teure, ans Herz gewachsene Freundin. Eine Hexe ist sie schon ihres Alters wegen. Vor zehn Jahren ist unsere Magd Irma, im gesegneten Alter von über neunzig, verstorben. Irma war Klapaidas Freundin. Von ihr weiß ich, was es mit der Kräuterfrau auf sich hat.
Komm runter zu meinem Mund mit deinem Ohr, Gnädigste, flüsterte die Irma, als ich sie kurz vor ihrem Tod besuchte. Ich habe ein Geheimnis, will das loswerden, traue mich sonst nicht zu sterben. Die alte Klapaida, wisperte sie kaum hörbar, war schon die alte Klapaida meiner Mutter, und die ist ebenso alt geworden wie ich. Das ist noch nicht alles. Klapaida war mit meiner Großmutter und Urgroßmutter in den Kräutern. Sicher ist, ausehen tat sie wie jetzt, trug stets das schwarze Kleid mit schwarzem Mieder, das rote Kopftuch. Einmal sollte sie verbrannt werden, flog ihren Häschern durch die Luft davon. Frage sie nichts, Gnädigste, möchte sonst bös werden, die Klapaida.
Bernd, wenn ich die zehn Jahre, seit Irma tot ist, mit deren Alter zusammenzähle, komm ich auf hundert Jahre. Packe ich die Mutter, Großmutter und Urgroßmutter dazu, auf vierhundert. Soll es um hundert gar zweihundert Jahre differieren, es bleibt Hexerei.“
„Mascha, du siehst es so. Aber wer garantiert die zwei oder vierhundert Jahre?“
„Spielen keine Rolle, Bernd, hundertfünfzig tun es.“
„Ich strecke mich, Mascha, wenn auch verblüfft. Was deine Nora angeht, von der du sagst, sie verliebte sich in mich, mir geht es nicht anders. Viel mehr erfüllt mich das Gefühl, ich bin Noras wegen zu euch gekommen. Lache nicht, bin zwar, wie du mir glauben wirst, kein Hexer, hatte jedoch Nora im Herzen, bevor ich ihr begegnete. Ich gestehe, eben, bevor du erschienst, haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Nora zog sich zurück, muss das mit mir besprechen, hat sie gemeint.
Bitte, sage ihr nicht, dass ich dich unterrichtet, sie könnte es missverstehen. Ich für meinen Teil kann nicht Gastfreundschaft genießen, und hinterrücks die Tochter küssen.“
„Ist schon klar, Bernd, bleibt unter uns.“
Bei sich dachte sie, will Nora es erzählen, gut. Will sie es lieber eine Weile mit sich im Busen tragen, umso besser. Claus, ich kenne die Männer, halte ich dumm. Wird nichts aus der Sache, ist nichts gewesen.
Als sie gegangen war, ging Bernd der Gedanke an die Kräuterfrau nicht aus dem Kopf. Er hatte sie nur einmal, als sie mit Mascha aus dem Wald kam, flüchtig gesehen. Nora hatte gesagt, sie sähe zum Fürchten aus. Ich fürchte sie nicht, dachte er, aber ungewöhnlich alt scheint sie zu sein. Verwittert ist ihr Gesicht, verwittert wie altes Gestein, wie die Gesichter von Menschen, die ihr Leben großteils im Freien verbracht.
Mascha scheint fest überzeugt von Klapaidas hohem Alter, ich bezweifle es. Einfache Leute reden gern, verhält sich jemand anders als der Rest. Die neunzigjährige Irma, wird da zu höchst dubioser Zeugin. Soweit die Ratio, könnte es dabei bewenden lassen, doch was hilft‘s, die Alte ist ne Hexe!
Da bleibt alle erworbene Naturwissenschaft auf der Strecke, macht krudem Aberglauben Platz. Nicht zuletzt unterstützt vom Herrn Geheimrat Goethe, mit Faust, Walpurgisnacht und Blocksberg.
Überhaupt Geschriebenes. Sollte man zur Unterhaltung lesen. Meinungen meiden gern Tatsachen. Ob aus Angst, Unwissen, wer kennt sich da aus? Als Arzt den Menschen wie ein Tier betrachten, verschiebt die Perspektive. Der Geheimrat hat von den zwei Seelen gesprochen, die ach in seiner Brust leben. Als Dichter, versteht sich, aber auch als Naturwissenschaftler? Reitet seine Steckenpferde perfekt, der alte Herr. Farbenlehre, Zwischenkieferknochen, Homologie. Die Farbenlehre nicht plausibel, die homologenen Überlegungen stimmen. Jeder, der Mensch und Tier obduziert hat, kann das bestätigen.
Mit den zwei Seelen bewegt er sich auf dem Gebiet des Idealen – steht mir eher fern. Ich spreche lieber vom Greifbaren. Nicht von der Gottnatur des Menschen, mein Interesse gilt ihm als Kreatur, Schlauchsystem Mund-Anus, Flüssigkeitspumpe, Drainage. Seine Assoziationen, Vorstellungswelten faszinieren, insbesondere die knapp anderhalb erstaunlichen Kilo Gehirn, die sich äußerlich kaum von einem Schweinshirn unterscheiden. Allein die Vorstellung den Zeitgenossen nahegebracht, könnte Tätlichkeiten auslösen.
Dabei ist nichts so verkotzt verheuchelt, wie die Vorstellung vom Anspruch der Getauften, auf ewiges Leben. Die Pfaffen, die das unter die Leute bringen, allesamt eine vollgefressene, verlogene Bande. Sprechen bigott und ehrfurchtslos von Gott, als sei der ihnen alltäglicher Tischgenosse.
Der Wahnsinn ist, das Andere, scheinbar Ferne, nicht Erklärbare, liegt so nah. Seit Kopernikus, der nicht weit von hier gelebt hat, wissen wir, unsere Welt ist nicht Mittelpunkt der Schöpfung. Seit seinen klugen Nachfolgern, sie ist Mittelpunkt von gar nichts. Ein Stäubchen unter Millionen tanzender Stäubchen. Herrlich zu betrachten, wie Sonnenstrahlen Welten aufleuchten und tanzen lassen, wenn sie schräg durch die Stube scheinen.
Da scheint es allnächtlich auf uns herab, das unendliche Firmament. Abbild des unendlichen Reigens des noch nicht Erkannten, aber klar und stark Ehrfurcht erheischend. Was sollen mir da die pfäffischen Abstrusitäten, von Gott der Mensch wurde, um sein Blut für uns zu vergießen. In der Sklaverei der Antike für die Entwürdigten Anbetungsobjekt, doch heute dringlichst abzuschaffen.
Nora ist sicher ein fromm lutherisch erzogenes Mädchen, wie ihre Eltern, Großeltern und was sie umgibt. Die schlauen Pfaffen haben ihre Religion so selbstverständlich gemacht, wie die Luft die wir atmen. Kommt niemandem in den Sinn zu zweifeln.
Nora, geküsst habe ich sie. Buchstabiere g-e-k-ü-s-s-t. Meine Frau? Wer ist sie? Eine junge Dame von Stand, und wunderschön. Angenehme Eltern, was sie umgibt, liebenswürdig.
Ihre Augen, changierend zwischen grün und blau. Hellgrün-hellblau. Mal dies mal das. Ihr dunkles Haar, ihre vom Sommer leicht getönte Haut. Scheint Sonne nicht zu fürchten, versucht nicht hell wie Porzellan zu sein, die Dame.
Tritt sicher auf, kostet sie keine Mühe, mit den Eltern und Steinfeld im Rücken. Ist nicht selbstverständlich, kenne manche, die stützt das nicht. Entweder hoch das dumme Näschen, oder rot übergossen den verlorenen Groschen am Boden suchend, wünscht man einen simplen Guten Tag.
Einordnen wollte Nora, was der Kuß in ihr ausgelöst, danach hätte sie Fragen. Ihr erster Kuss, so hatte sie gesagt. Sich vom Cousinchen für alle Fälle Anleitung geholt, was mit den Blicken zu geschehen habe. Aug auf, Aug zu, das ist die Frage. Doch schäkern wollt sie, mir unterstellen, es ging mir um ihr Fleisch. Wie es mir, mein Mädchen, um dein Fleisch geht, ahnst du nicht. Werde alle Bilder von dem süßen Leib verbannen, könnte sein ich würde schwach, darf es nicht denken.
Werde mir ein Pferd ausleihen, reiten bis zur Erschöpfung, täte gut. Unglaublich, wie Geschick sich binnen Stunden ändert. Umziehen, Reitkleidung, ein gutes schnelles Pferd sollt es auf Steinfeld geben. Dann raus, Galopp bis hin zum Horizont, über die weiß glitzernde Ebene. Wird mir den Geist durchlüften, Gedanken und Wünsche sortieren. Eben auf Steinfeld angekommen und schon verzurrt in einem Knäuel von Wünschen. Wünschen, ist Wunsch stark genug?
Das sanfte klingeln, von aneinandergestoßenem Porzellan, weckte Bernd. Er blinzelte, es war dunkel, Kerzen brannten und beleuchteten einen gedeckten Tisch.
„Guten Abend, Bernd! Ich erdreiste mich, Euch so anzusprechen, auf dringendes anraten des Hausherrn, obwohl ich Euch bei Bewußtsein noch nicht begegnet bin,“ Die Stimme kam aus Richtung des Bettes, in dem sein Patient seiner Genesung entgegen schlummern sollte.
„Ich bin Boris Wersten, Doctor, der Euch, wie mir berichtet wurde, sein Leben schuldet, wenn nicht das, so doch sein rechtes Bein.“
Bernd richtete sich auf. Über das Bett von Boris war ein Brett gelegt, Teller und Tasse darauf, ließen ihn an der improvisierten Tafel teilhaben, an der Mascha, Nora und Claus um sein Bett herum saßen.
„Ihr, oder du, Boris," antwortete Bernd, „bist der erstaunlichste Patient, der mir je unter’s Messer kam. Gestern streiften dich noch des Todes Flügel, heute mapfst du nach Herzenslust Kuchen, machst den Damen schöne Augen! Nicht, dass ich Einwände hätte, Schmerzen hast du nicht, unterstelle ich?“
„Ich fühle die Wunde, Doctor, bewege ich das Bein, was ich tunlichst unterlasse. Ansonsten geht es mir, bis auf die Schwäche gut. Mascha, hat eben nach der Wunde gesehen und war zufrieden.“
„Habe neuen Giest aufgelegt,“ nahm die Boris das Wort ab, „und war mit der Heilung höchst zufrieden. Es ist keine Spannung und kaum Rötung zu sehen, ein Mirakel!“
„Sagen wir, es ist gut gegangen“ antwortete Bernd. „Als Boris auf den Tisch kam, war die Wunde sauber ausgeblutet, fast keimfrei. Einen günstigeren Zeitpunkt für die Operation gab es nicht, Muskel mit Sehnen vernähen, die Wunde schließen, Giest drauf, ein Patient, den so leicht nichts umwirft, all das zusammen brachte den Erfolg. Das sollte uns nicht übermütig machen, nach dem Stück Kuchen, Boris, ist Schluss. Hinlegen und weiter zu Kräften kommen, ist jetzt Parole!“
„Werde ein gehorsamer Patient sein, bin bereit für sofortigen Schlaf.“
„Wunderbar, Boris“ Mascha klatschte in die Hände, im Nu war abserviert, die Kerzen bis auf eine ausgeblasen, das Zimmer geräumt.
Draußen griff Bernd sich Mascha’s Puls, „Meine liebe Dame,“ er runzelte die Stirn, „ich erinnere, dich vor wenigen Stunden schwach und ermattet angetroffen zu haben? Sollte sich da jemand übernehmen? Nora, was sagst du, zurück ins Bett mit der Mama?“
„Nein, ich glaube nicht, Doctor. Sie hat genau wie du sechs Stunden geschlafen, ist allein aufgewacht und fühlt sich gut. Ich drehe den Spieß einfach um, du hast geschlafen, nur gegessen hast du nichts.“
„So ist es, ich spüre meinen Magen. Nur Süßes wäre nicht das Richtige. Wenn ich einen Wunsch äußern dürfte, Geselchtes vom Schwein oder ähnliches, käme mir zupass.“
„Magst du geräucherte Gans?" bot Nora an. „Eine Spezialität dieser Gegend. Also mir läuft beim Gedanken daran, das Wasser im Mund zusammen.“
„Hast du trotz Kuchen genug Platz im Magen, mir Gesellschaft zu leisten und mitzukauen, Nora?“
„Mitzukauen, Bernd? Warum mitzukauen, ich schluck mit. Gans ist mein Lieblingsgericht. Lauf ich über den Hof beim Gansstall vorbei, drücken sich die Vögel ängstlich in eine Ecke, als ahnten sie meine Vorliebe. Setz dich in den kleinen Raum neben der Küche, ich bring dir einen guten Roten, so leidest du keine Langeweile, während ich den Vogel zerteile.“
„Lass das die Köchin machen, setzt du dich bitte zu mir?“
„Tät ich, doch die ist in Lyck bei ihrer Muhme, Neuigkeiten von Steinfeld austratschen. Macht aber nichts, bin schnell fertig.“
Es dauerte nicht lange und Nora stellte eine randvolle Platte, mit Gänsebrust und süßem Preißelbeerkompott auf den Tisch.
„Das Süße kommt mit dem Geräucherten nicht süß, schmeckt pikant, probier!“
Bernd stippte ein Stück Brust vorsichtig in das Kompott, schnüffelte und steckte es in den Mund.
„Ei,“ strahlte er, „Nora, vorzüglich ist das. Gar nicht der Gansgeschmack, den ich kenne, da weht Wachholder und Bitteres mit rein? Hilf mir, was ist es?“
„Eicheln, die Eicheln, auf die die Schweine so wild sind. Die kommen in kleiner Portion mit ins Feuer, geben dem Rauch den aparten Geschmack. Gut, was wir Hinterwäldler so zu bieten haben, Doctor?“
„Besonders, wenn ich dich Hinterwäldlerin ansehe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Im übertragenen Sinn, versteht sich. Nicht, dass ich dich fressen wollte, an dir knabbern schon.“
„An mir knabbern? Wie soll ich das verstehen, Herr Doctor?“
„Wie schon, schöne Nora, wie ich es gesagt habe. Nein, ich berichtige, nicht wie ich es gesagt, wie ich es geahnt zu haben glaube. Dieses unbestimmte Ziehen in der Brust, schon in Cleve, ich erzählte es dir, als du wissen wolltest, was mich hierher getrieben, gleichzeitig unterstelltest, nur die Liebe könne das bewirkt haben.“
„Ich verstehe, das Clevische Ziehen möchte mich beknabbern ?"
„Wenn du so willst, Nora, ja.“
„Das heißt, du möchtest mich beknabbern?“
„Hab zwar schon einmal ja gesagt, sag’s aber gern nochmal. Ja. Gibt auch anderes als knabbern. Fiel mir so ein, als ich dein süßes Mäulchen die Gans beknabbern sah. Kannst schmeicheln, streicheln, küssen sagen. Egal wie du’s magst, ich möchte es tun.“
„Weißt du, Bernd, meine Cousine, die Trude, ist schon geküsst. Die hat mir angeraten, schließ die Augen sollt es dir geschehen. Ich wollte darauf wissen, der, der’s tut, macht auch die Augen zu? Die Trude darauf: Ich glaube wohl, sehen konnt ich’s nicht. Nun meine Frage an dich. Schließt du die Augen, solltest du mich küssen? Ich denke mal, du sagst ja. Jetzt meine weitere Frage, ich dufte stark nach Gans, könntest du doch eher knabbern, als küssen gemeint haben?“
„Ich überlege es mir, schöne Nora. Die Gans war außerordentlich, jedoch mächtig, satt bin ich, da gibt es keinen Zweifel. Wäre ich noch hungrig, glaub’s mir, der Sinn stände mir nach Fleisch. Lass mich noch einen Schluck vom Roten nehmen, eindeutig, Nora, küssen nicht knabbern. Selbst stärkster Gansduft lässt mich kalt.“
„Aha, da wär ich auf der sicheren Seite. Sag mir noch, wie geht es weiter? Was muss ich tun, außer die Augen schließen?“
Bernd rückte auf der Bank, soweit das Tischbein und die Ecke es erlaubten, zu dem Mädchen hin. Er sah ihr Augen ein wenig größer werden, Erschrecken und Erwartung, beides wohl. Er fasste sie um die schlanke Taille, zog sie an sich, ihr Mund ein wenig offen, halb Staunen und halb kleiner Widerstand. Zart küsste er die weichen Lippen, die sich erst schlossen, dann jedoch sich seinem Mund ergaben. Behutsam tastete er nach ihrer Zunge, die schnell verstand und sich dem Tanz ergab, doch bald schon ihre eignen Wünsche hatte.
Als sie sich voneinander lösten, seufzte Nora tief. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen, wusste die Wallung ihrer Brust kaum zu beherrschen. Dann jedoch, sah sie Bernd ins Auge, sagte nur: „Schön!
Schön, Bernd, das ist gesagt für den Augenblick, sollte der Nachhall vergangen sein, habe ich Fragen. Muss wissen, woher das kommt, das Rauschen im Kopf, im ganzen Leib beim Küssen. Für jetzt ziehe ich mich zurück, muss mich ordnen.“ Sprach‘s und verschwand.
Klapaida.
Hat den Wersten gerettet, der Doctor, und macht sich gut an das Mädchen ran; könnt zufrieden sein, wär’s auch, wär ich den Wersten los. Werde ihn schnellstens gesund machen, dann ab nach Livland mit ihm. Soll mir nicht sterben, hat nichts verbrochen und genug gelitten, für Nichts und wieder Nichts. Wird echt aussehen die Genesung, ohne jeden Ruch von Hexerei.
Die Alte! Seine uralte Mutter! Da trifft nächste Woche ein Kurier ein mit der Todesnachricht. Die kommt ohne den Sohn nicht unter die Erde. Werde ihn kräftigen, den Boris, im Schlitten weich gebettet ist er alsbald nach Hause unterwegs.
Da bin ich völlig aus dem Schneider, käm keiner auf den Gedanken ich hätte meine Finger im Spiel. Ist er erst weg, gilt, aus den Augen aus dem Sinn.
Fügte sich wunderbar, der Bote kam, sank halbtot vom Pferd. „Die Mutter vom gnädigen Herrn verstorben,“ stammelte er bevor ihm die Sinne schwanden.
Mascha war bestürzt, wie bring ich das unserem Patienten schonend bei, ihr erster Gedanke: „Klapaida!“ Die war sofort zur Stelle, mussten nicht lange beratschlagen, die Mascha und sie. War gut beieinander ihr Patient, würde ihn in den nächsten Tagen gestärkt, in der Stube auf und abgehen, sofern der Medicus mitspielte.
Bernd war einverstanden, „hätte es selbst verfügt, meine Damen,“ stimmte er zu. Auch die Fahrt nach Livland, im Schlitten über glatten Schnee, dürfte kein Problem sein. Eine erfahrene Frau sollte mit ihm reisen, die nicht zimperlich ist, den Verband alle Tage wechselt, ihm bei der Notdurft Verrichtung behilflich ist, dabei auf peinlichste Sauberkeit achtet.
Boris trug die Nachricht vom Tode der Mutter mit Fassung. „Es grenzt an ein Wunder, dass sie so alt geworden ist, aber ich muss sie unter die Erde bringen,“ darauf bestand er. „Ich fühl mich nicht krank, ein wenig schwach, jedoch laufen sollt ich, wie soll das sonst gehen, wir brauchen vier Tage und Nächte für die Reise?“
Bevor Mascha erklären konnte, nahm Klapaida das Wort: „Gnädiger Herr, ich weiß was ihr denkt, ein und aussteigen aus dem Schlitten, kommt nicht in Frage. Eine Frau mit entsprechendem Geschirr, wird Euch zur Hand gehen. Sie wird Euch waschen, trocknen, verbinden, alles tun, wozu Ihr nicht im Stande seid. Schickt Euch darein, wie Ihr es hier getan habt und noch tut. Seht den Schlitten als fahrendes Bett.“
Kurt wollte den schnellen Abschied nicht ohne ein Fest leiden, da bedurfte es Bernds Machtwort, mit dem er dem Patienten jeglichen Alkoholgenuss, für die nächsten drei Monate untersagte.
„Claus, alter Freund,“ tröstete in Boris, „was soll ein Fest ohne Wässerchen? Lass uns vernünftig sein. Ich schlage vor, ihr alle besucht mich im nächsten Winter, bis dahin schwinge ich, wenn es so weiter geht mit meiner Genesung, wieder das Tanzbein und ein Besuch in St. Petersburg wäre zu erwägen?
Zehn Tage später, kam zusammen mit der Pflegerin, Nachricht aus Livland. Boris war wohlauf, die Reise gelungen und er freue sich auf ein Wiedersehen.
Klapaida die es schon wusste, freute sich als Mascha es berichtete.
Düsseldorf 2003
„Bernd, gehst du mit mir zum Ärzteball?“
„Muss das sein, Vicky? Ich erinnere, voriges Jahr nach dem denkwürdigen Ereignis von dir gehört zu haben, nie mehr nähmest du an dem öden Ritual teil.“
„Stimmt, habe ich gesagt, aber mein Chef, Adam Waldeck, hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Du weißt, seine Frau hat sich von ihm getrennt, seine Nichte, die bei ihm wohnt möchte mit und er fühlt sich mit zwei Frauen nicht wohl.“
„Ach, und ich soll den Nichten-Kümmerer abgeben? Nö Vicky, tu mir das nicht an.“
„Bernd, ich habe sie getroffen, sie hat gestern Abend Adam im Institut abgeholt, er hat sie mir vorgestellt, eine Gräfin Kelm. Die Gräfin geschenkt, aber die außergewöhnliche Schönheit der Dame, beachtenswert.“
„Du willst mich ködern, Vicky!“
„Bernd, im Ernst. Diese Gräfin wird Furore machen. Bricht dir doch kein Stein aus der Krone, uns zu begleiten.Tu es mir zu Liebe. Waldeck geht in zwei Jahren, wenn ich seine Nachfolgerin werden soll, brauche ich seine Protektion.“
„Schwesterchen, überredet. Hole mich aber bitte ab.“
„Geht klar, du wirst dir ein wenig Lust antrinken. Ich stehe Punkt acht, morgen Abend, vor deiner Tür.“
„Gut, sei aber bitte pünktlich!“
Außergewöhnliche Schönheit, Vicky würde sie ohne Grund nicht so hoch loben. An schönen Frauen, gebricht es meiner Umgebung tatsächlich. Hübsche, schlagfertige, sportliche Typen, aber Schönheiten? Ist nicht mehr im Schwange, einer Frau Schönheit zuzusprechen. Vicky ist hübsch, klug, sportlich, erfolgreich, chic, aber schön? Jedenfalls hält sie sich nicht für schön, sonst würde sie die Gräfin nicht eine Schönheit nennen.
Nun ja, habe zugesagt, werde die Dame zu Gesicht bekommen. Wie hieß sie noch gleich? Da klang was nach, Kelm, Gräfin Kelm, kenne keinen, der oder die so hieße, dennoch ist da ein Gefühl, als ob ich.... Kelm, Graf Kelm, werde es nicht lösen, kann sie doch morgen fragen, ob es Kelms hier in der Gegend gibt. Halt! Das Telefonbuch. Unter G, Graf ist Namensbestandteil, kein Titel. Nix, Graf und Grafen jede Menge, ach, hier steht ja Graf Waldeck. Wußte gar nicht, dass der ein Graf ist. Macht jedenfalls kein Wesen davon. Unter Kelm? Kelm gibt es. Anne, Jobst, Jörg, Zacharias. Damit hat sich’s.
Also Morgen. Was ist los mit mir? Wieso beunruhigt mich eine unbekannte Gans, der ich den Aushilfsgalan machen soll? Weil sie schön ist? Das darf nicht wahr sein. Vicky findet sie schön, möglich sie ist schön anzusehen, darunter aber nichts als leeres Zimmer. So oder ähnlich. Wüßte nicht, dass es je geklappt hätte, bei einer Empfehlung durch Dritte. Abgesehen davon, wird es dem Mädchen ebenso gehen. Bekommt vom Onkel, wie ich den Alten einschätze, ungefragt einen Begleiter zugeteilt, der der Bruder seiner Assistentin ist. Da die Dame sich gegen die Zwangsehre nicht wehren kann, wird sie allerbester Laune sein.
Also Junge, vermiese dir nicht die Stimmung! Vielleicht ist die Schönheit nymphoman. Beschwätzt dich nach einer halben Stunde zu fliehen. Wohin? Egal, nur fort aus der Ödnis! „Bitte, erretten Sie mich, seien Sie mein Lohengrin, ich bin Ihr Schwan.“ Heissa! Auf geht’s! Du führst sie heim ins eigne Heim. Quatsch! Vicky, kratzte mir die Augen aus.
Vicky war pünktlich. Das übliche Gedränge an der Garderobe. Waldecks weißer Schopf, alle überragend, drehte sich suchend nach Leuchtturm Art. Dann hatte er uns erspäht, eine Hand fliegt hoch, deutet zur Bar hinüber. Ich pumpe eine Faust auf und nieder, signalisiere verstanden. Vicky, in ihrem ausgeschnittenen Kleid, gewährt mir tiefen Einblick, ist plötzlich Frau. Ich reiche ihr den Arm, sie hascht nach meiner Hand.
„Hast du ihn gesehen?“
„Ja doch, er ist zur Bar. Habe ihm verstanden zugemorst.“
„Zugemorst?“
„Ganz sicher, folge mir.“
Vor der Bar wird das Gedränge dichter, plötzlich greift Waldecks Arm nach Vicky.
„Hierher, meine Lieben, ich habe vorgesorgt.“
In dem Gedränge zwei freie Hocker, auf der Theke davor Champagnergläser, daneben Waldeck und die Schönheit. Schönheit, das war sie. Strahlend grüne, schwarz bewimperte Nixenaugen sehen mich an, machen mich sprachlos. Gott sei Dank, der Lärm ringsum kaschiert die Lähmung. Vicky stellt mich vor. Ihre Hand, fester nerviger Druck. Ich lächle, komme mir hilflos vor. Waldeck gestikuliert, beugt sich zu mir, brüllt mir ins Ohr:
„Schon vorige Woche reserviert, den Champagner bestellt, Weisung gegeben einschenken, wenn erste Gäste sich der Bar nähern. Hat geklappt.“
Ich nicke. Die Schöne bewegt die Lippen, ich beuge mich zu ihr hin. „Ich bin Nora," sagt sie, ihr Mund ganz dicht an meinem Ohr, ihr warmer Atem umweht mich. Vicky sieht mich an, kneift mir verschwörerisch ein Auge, ich sehe weg. Verdammt, was ist mit mir, bin wie vom Donner gerührt. Ruhe bewahren, sie ansehen, offen ins Auge sehen. Sie trägt einen wundervollen alten Smaragdschmuck. Feinste Arbeit, müßte ich aus der Nähe betrachten. Auch ihr Kleid fällt aus dem Rahmen. Ich beobachte, wie Vicky nahe an Nora ran geht, das Kleid beinah untersucht. Waldeck spricht mit Vicky. Vicky schlägt mir auf den Arm, sagt etwas, verschwindet mit Waldeck. Ich bin mit Nora allein. Allein in dieser uns umwuselnden Menschentraube. Ich nehme Vicky’s Platz, setze mich neben sie.
„Haben Sie mich verstanden,“ fragt sie. „Ich bin Nora!“
„Ich Bernd,“ antworte ich.
„Bleibt es hier so voll, den ganzen Abend?“ will sie wissen.
„Nein“ antworte ich, „das verläuft sich gleich.“
„Gott sei Dank,“ sagt sie. „den ganzen Abend hielte ich das nicht aus.“
„Wollen wir tanzen,“ frage ich. "Gern," nickt sie. Ich führe sie auf die Tanzfläche. Ich bin ein guter Tänzer, wird mir helfen, mein Gleichgewicht zu justieren. Sie schwebt in meinem Arm, ein herrliches Mädchen. Wie alt sie sein mag? Keine zwanzig, schätze ich, dabei absolut sicher. Ich konzentriere mich auf den Tanz, schalte ab. Muss ganz Rhythmus und Gleichklang sein. Sie reagiert, läßt sich führen, schmiegt sich an mich, ahnt jede meiner Aktionen, geht mit. Perfekt, was wir da machen inmitten des Geschiebes, um uns herum. Sie nickt mir zu. Ihre Lippen formen ein Wort. Fantastisch, lese ich. Ziehe ihre Linke zum Mund, hauche einen Kuss. Sie strahlt mir ein grünes Danke. Die Musik verklingt, ich reiche ihr den Arm, sie nimmt meine Hand. Wie Vicky, geht es mir durch den Kopf. Hat aber wenig schwesterliches an sich, die Dame. Wir gehen zurück zur Bar, Vicky und Waldeck sind nicht da. Warum sollten sie. Wir setzen uns. Sie rückt zu mir ran. „Sie sind ein blendender Tänzer," lobt sie, "die meisten Herren können nur hopsen.“
„Nora,“ knipse ich mein charmantestes Lächeln an, „wenn andere Fußball oder Tennis spielten, habe ich Turniere getanzt. Zuerst wurde ich von meinen Freunden ausgelacht, als ich später bei jedem Ball, jeder Tanzerei, Hahn im Korb bei den Damen war, verging denen das Lachen. Wie bei jeder Sportart, prägen sich auch beim Tanz Bewegungsabläufe ein, werden automatisiert. Ich kann mich ganz auf die Musik, die Partnerin einstellen. So wird, bei einer sensiblen Partnerin, Bewegung und Rhythmus stumme Sprache.“ Ich sah sie an, traute mich mitten hinein in das leuchtende Grün.
„Stumme Sprache," wiederholte sie. „Ja, ich verstehe, Schwingungen, es gab Schwingungen, als wir tanzten.“
Die Musik setzt wieder ein. Ich frage sie mit den Augen, sie gleitet von ihrem Sitz in meinen Arm. Ein Walzer. „Tanzen Sie Walzer?“ Ihre Antwort ein Wiegen, gepaart mit verlangendem Blick. Bevor das Parkett sich füllt, legen wir los. Ich fege, dieses Zauberwesen im Arm quer über die Tanzfläche, aus den Augenwinkeln erkenne ich, man hält sich zurück, überlässt uns das Feld, ist gern Zuschauer. Ich tanze den Walzer meines Lebens, keine Drehung zu gewagt, kein Umschwung zu abrupt, Nora pariert sie. Wir fiegen durch sämtliche Varianten des Wiener Walzers, rechts- und linksherum, streuen Figuren, aus dem Moment geboren ein, jeder muss glauben, wir seien ein seit langem eingespieltes Paar. Bei den letzten Tönen setzt Beifall ein, wir verbeugen uns lachend. Ich nehm sie wie selbstverständlich um die Taille, führe sie zur Bar, hebe sie auf den Sitz und küsse ihren mir einladend hingehaltenen Mund.
„Es ist schön mit dir, schön wie schon lange nicht mehr,“ strahlt sie mich an, und ich kann nur sagen: „Nora, ich bin sprachlos vor Glück.“
„Fulminant, was ihr da geboten habt!“ Waldeck und Vicky kamen zurück.
„Von Ihnen, Bernd, wußte ich, Sie waren lange Jahre Turniertänzer, sind es noch? Aber dass du, Nora, so mithalten kannst, setzt mich in Erstaunen. Ich hatte keine Ahnung von deiner Tanzkunst.“
„Ich auch nicht, Onkel Adam.“
„Wie, du auch nicht, heißt das, wir sahen eine Premiere?“
„Ob das eine Premiere war? Sicher ist, ohne Bernds Führung und Inspiration, könnte ich so nicht tanzen.“
„Inspiration, wie meinst du das?“
„Schwingungen, Vibrationen, Adam. Bernd führte mich, wie soll ich das erklären, doch, ich hab’s, er lenkte mich, wie man ein Auto lenkt. Ein Auto ohne den Führer am Steuer kann nicht, was es kann. Erst durch den Lenkenden, ist es zu den uns geläufigen Dingen fähig.“
„Stimmt das so, Bernd?“
„Ja und nein. Ohne eine Partnerin, die sich inspirieren lässt, geht es nicht. Wäre es, wie Nora erklärt, müssten die Paartänzer nicht so schweißtreibend trainieren. Es gibt jedoch Gleichklänge von Körper und Seele, die ein Phänomen, wie unseren Tanz eben, möglich werden lassen.“
„Gleichklänge von Körper und Seele, hört sich an, als ob Ihr euch seit Jahren in den Armen läget, und nicht eben zum ersten Mal miteinander tanztet.“
„Liebes Adam Onkelchen, was nicht ist, kann noch werden!“
„Nora! Gehst du nicht ein wenig weit?“
„Finden Sie, Herr von Waldeck? Ich bin da Noras Meinung, was nicht ist, kann werden!“
„Vicky, was sagen Sie dazu?“
„Ich, Chef? Also, der schnellste Blitzeinschlag, sollte die Aussage der beiden nicht nur bon mot sein, den ich je erlebte. Nun ist mein Bruder ein ernsthafter Mensch, das spricht gegen das bon mot.“
„Vicky, das muss ich erst verdauen, gehört der Tanz mir, es wird aufgespielt?“
„Sicher Chef, wir werden hier nicht gebraucht.“
„Was passiert da,Vicky?“
„Chef, verlieben passiert da. Wir sind eben Zeuge eines akuten Emotionsausbruchs geworden. Für meinen Bruder freut es mich. Der hat mir allzu lange den coolen Intellektuellen gegeben. Gegeben, darauf liegt die Betonung. Bernd ist emotional, gar nicht Vernunft gesteuert. Er verbirgt sich hinter seinem Verstand, weil er seine Emotion bisher nicht an die Frau bringen konnte.“
„Soviel ich weiß, Vicky, gab es aber einige Amouren. Wobei ich untertreibe, wenn ich einige sage.“
„Ja doch, Amouren, Oberflächliches, Amouren eben. Das große Erlebnis, die Durchrüttelung von Kopf bis Fuß, hat nie stattgefunden, soweit ich den Durchblick habe. Glaube es aber zu wissen, Bernd und ich sind ziemlich eng miteinander.“
„Ist etwas ganz besonderes, Vicky, wenn der Blitz tief und nachhaltig einschlägt. Wem ist das schon beschieden? Vielen nie, und viele, die dem Glück nah waren verspielen es leichtfertig, erkennen es nicht.“
„Spricht da die Erfahrung, Chef?“
„Wenn Sie so wollen. Doch lass uns nicht zu ernst werden. Die beiden knistern, ob sie wirklich brennen, wir werden es erleben.“
Bernd war ein wenig abwesend, er spürte, etwas Aussergewöhnliches geschah mit ihm. Was tun - das Nächstliegende: „Tanzen, Nora?“ Sie zögerte einen Atemzug, dann glitt sie von ihrem Hocker. Diesmal blieb ihre Gangart verhalten, sie reihten sich ein in das allgemeine Geschiebe. Nora sah ihn nicht an, vermied mit gesenktem Kopf seinen Blick.
Der blöde Professor, Bernd hatte an sich halten müssen. Was mischte der sich ein mit seinem groben Geschwätz, der sollte doch wissen, wie empfindlich und zart, vor jedem kühlem Zug zu schützen, sich erstmals öffnende Blüten sind. Er zog Nora eine Ahnung näher zu sich, sie folgte, beruhigt schob er sie an den Rand der Tanzfläche und ließ sie frei.
„Also Nora, nach dem Geschiebe ist mir nicht,“ sie sah auf, als er das sagte, nickte zustimmend.
Auf dem Weg zur Bar, nahm Bernd den Weg durch die Garderobe. Nora blieb stehen. „Müssen wir dahin zurück?“ fragte sie.
„Nein Nora, ich gewiß nicht, sollen wir?“
„Ja, wir sollten, lachte sie befreit,“ und reichte der Garderobenfrau ihre Marke.
„Ich bin ohne Auto, Nora.“
„Macht nichts, ich habe mein gutes Stück in der Tiefgarage geparkt.“
„Na fein, da kann nichts schiefgehen, bis auf den Onkel, wirst du dich bei ihm abmelden?“
„Nö, ich denke nicht, der ist froh mit Vicky allein zu sein, wird mich schon vergessen haben.“
„So, meinst du? Die sehen sich doch täglich.“
„Schon, aber beruflich. Ich habe den Verdacht, Onkelchen geht auf Freiersfüßen, da ist eine solche Veranstaltung mit Tanz und Champagner ein ideales Anschleichgelände.“
„Glaube ich nicht, Nora. Waldeck ist zwanzig Jahre älter als Vicky, und kennen tun die sich eine Ewigkeit.“
„Tempi mutantur, Bernd. Tantchen ist ihm von der Fahne gegangen. Er kann nicht allein sein, macht ihn verrückt. Deshalb bin ich doch hier. Habe in seinem Hause eine abgeschlossene Wohnung mit eigenem Zugang, der so liegt, dass wir uns tagelang nicht sehen. Stört ihn aber nicht. Hauptsache du bist da, sagt er. Ich kann dich sofort sehen, wenn es nicht anders geht. Ist für ihn auf Dauer keine Lösung. Darum glaube ich, er baggert deine Schwester an.“
„O Gott, wenn er sich da mal nicht vertut.“
„Bernd, der fällt nicht mit der Tür ins Haus. Alter Stratege. Erste Regel: Gelände sondieren. Zweite Regel: Gelände planieren. Soll ich weitermachen?“
„Nein, nein, Nora, lass es. Woher hast du das?“
„Den Blödsinn? Vergiß nicht, ich bin eine junge Dame von Stand und von’s Land. In Rieseby, wo der letzte Zweig derer von Kelm lebt, dem ich ein zugeflogenes Blättchen bin, wird das aristokratische Ritual excessiv gepflegt. Je weniger Einfluß, desto mehr Getue, gilt durchgängig, nicht nur für Aris. Die haben tatsächlich noch den schnarrenden Herrenreiter Gestus drauf, eben solches Geschwätz wie erste Regel etc.“
„Zugeflogenes Blättchen, wie verstehe ich das?“
„Ist eine längere Geschichte, Bernd, sieh, das ist mein geliebter Mini-Cooper, steig ein.“
„Ein schnuckeliges Wägelchen, Nora.“
„Nicht nur schnuckelig, rasant! Eine sagenhafte Straßenlage, nur leider zu teuer. Inspiziere, seitdem er mein ist, kein Schaufenster mehr.“
„Kein Schaufenster mehr? Wie das? Du sitzt neben mir, bist quicklebendig, wie geht das zusammen?“
„Weiß nicht, Bernd. Muss sein. Noch zwölf Monate und er ist bezahlt.“
„Na ja, das ist absehbar. Ich meine das ehrlich, habe eine Schwester.“
„Nie eine Frau gehabt, Bernd?“
„Wenn du wissen willst, ob ich je verheiratet war, nein nie.“
„Standhaft, die meisten deines Alters haben für eine Familie zu sorgen, manche sind dabei, eine zweite zu gründen.“
„Idioten, ich weiß.“
„Wo soll ich hinfahren, hast du eine Ahnung?“
„Du sitzt am Steuer, ich dachte, du hättest ein Ziel.“
„Habe ich, Onkelchen würde sagen, schickt sich das, Nora?“
„Lass mich ihm antworten, warum sollte es sich nicht schicken? Zwei Erwachsene, entweder es geschieht oder nicht. Dies früher oder später, auf jeden Fall. Also, was soll’s.“
„Gute Antwort, Bernd, wir sind gleich da.“
Noras Wohnung war ein fraulich warmes Nest. Bernd fühlte sich auf Anhieb wohl. Nora setzte ihn mit einem Martell in einen Sessel, mit Blick auf den großen Garten des Professors. Sie selbst verschwand, erschien nach einem Viertelstündchen in einem legeren Hausanzug, grünblau, das sich mit der Farbe ihrer Augen traf. Sie goß sich einen Cidre ein, setzte sich zu ihm.
„Schön gepflegter Garten, den Onkelchen da hat,“
„Ist sein Hobby, Bernd. Adam ist ein begeisterter Gärtner. Um die Ecke, von hier nicht zu sehen, steht sein Gewächshaus. Beheizt, mit Lüftung und allen Schikanen. Sicher mit ein Grund, warum Lulu ihn verlassen hat. Er kommt aus der Klinik, bindet sich seine grüne Schürze um, verschwindet in Garten oder Gewächshaus. Deshalb stört es ihn wenig, mich nicht zu sehen, Hauptsache ich bin in Reichweite.“
„Schöne Aussichten für eine künftige Ehefrau.“
„Gar nicht mal, Bernd. Ihm schwebt keine Liebesheirat vor. Die Dame soll ihm das Gefühl geben nicht allein zu sein, und ihn bei gesellschaftlichen Ereignissen begleiten.“
„Du bist doch da und begleitest ihn.“
„Genügt ihm aber nicht. Eines Tages habe ich mich an dich gewöhnt und dann haust du ab, jammert er ständig.“
„Ich bin eher skeptisch, ob er bei Vicky ankommt. Ich nehme an, die weiß von seiner Lebensweise, hat doch die Lulu gut gekannt. Seine Stellung möchte sie erben, da bin ich sicher, aber sonst? Ist Adam dein echter Onkel?“
„Nicht ganz aber ungefähr, Adam Leberecht Gottfried Joseph Friedrich Graf Waldeck. Mit den Kelm’s mehrfach versippt und verschwägert. In unserem Herdbuch genauestens verzeichnet und nachzulesen.“
„Eurem Herdbuch?“
„Unserem Stamm und Zuchtbuch, dem Gotha. Da steht drin, wie die einzelnen Linien miteinander gekreuzt wurden, ist der Beweis warum so viel Idioten, Debile und einfach Untüchtige, hochwohlgeborener Abstammung sind. Übrigens, Waldeck enthält sich jeglicher Aristokratirerei.“
„Nora, deshalb fragte ich, ob er dein echter Onkel ist. Es wurde gemunkelt, er sei ein Graf, von ihm war aber nichts herauszukriegen, von Lulu auch nicht.“
„Die Lulu ist eine Gräfin Westphalen, so viel ich weiß, haben die sich in jungen Jahren bei einer Adelszusammenkunft, vulgo Heiratsmarkt, kennengelernt und sich ineinander verliebt. Lulu hat mit dem Adelstamtam auch nichts am Hut.“
„Du wolltest erzählen, wie du dem Clan der Kelms zugeflogen bist.“
„Wollte ich das? Nun gut, wenn wir schon mal dran sind. Die Kelms waren seit Jahrhunderten in Masuren, in der Nähe von Lyck auf Gut Steinfeld, ansässig. Heute gehört das Gebiet zu Polen. Ende des zweiten Weltkrieges war mein Vater ein Baby. Die Kelms flüchteten vor den russischen Armeen nach Westen.
Meine Großmutter hatte meinem Vater Schmuck und Kleid, beides trug ich zum Ball, und das Familenregister derer von Kelm in den Tragkorb gepackt, in dem er die lange Reise nach Schleswig machte. Halt, nicht zu vergessen, ins Kleid fest eingenäht die Geschichte von Schmuck und Kleid.
Eine alte Magd ist wochenlang mit dem Kind durch das Land geirrt, bis sie auf die Schleswiger Kelms stieß, denen sie ihr Fleisch und Blut, mit den herzlichsten Grüßen und einem großen „Danke Schön“ von der gnädigen Frau, anvertraute.
Man versorgte die völlig Entkräftete, packte sie ins Bett und hoffte wohl auf den nächsten Tag, um mehr zu erfahren. Als sie geweckt werden sollte, der Tag neigte sich schon, war sie tot. Von den Eltern meines Vaters hat sich jede Spur in dem großen Zusammenbruch des Deutschen Reiches verloren. Das ist es, mehr kann ich nicht berichten.“
„Was ich nicht verstehe, Nora, ist das mit dem Kleid? Den Schmuck hab ich schon bewundert, sieht nach Ende des siebzehnten Jahrhunderts aus, unschätzbare Stücke. Doch das Kleid, es ist so gut erhalten. Wenn es in der Trage lag, mit der dein Vater befördert wurde, ist es über sechzig Jahre alt?“
„Wenn dies das einzige Rätsel wäre, Bernd, könnt ich mich dreinschicken. Das Unverständliche, Unheimliche ist, das Kleid stammt von Material und Machart, aus der Zeit Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts. Es müßte verfärbt, stockig, muffig, von Motten angefressen sein. Nichts von alledem, es hängt wie ein normales Kleid im Schrank. Es verändert sich nicht. Meine Mutter hat es oft getragen, sie nannte es ihr Zauberkleid. Nie Nora, hat sie mir gestanden, war ich mehr Frau als in diesem Kleid. Bestimmt war es nicht ich, die eben so elegant und gekonnt tanzte, es war der Zauber des Kleides, Bernd.“
Bernd nahm einen Schluck von seinem Cognac, ließ ihn langsam auf der Zunge zergehen, genoß das Brennen. Da saß dieses atemberaubende Mädchen und erzählte eine noch atemberaubendere Geschichte. Eine Geschichte, die nicht wahr sein konnte, nicht wahr sein durfte.
„Nora, du studierst?“
„Ja, Physik, wegen des Kleides. Folgte ich meiner ersten Neigung, wäre Tiermedizin mein Fach gewesen, so aber, mit dem Kleid, wählte ich Physik. Du bist der einzige, außer meinem Vater, meine Mutter ist tot, der von den Eigenschaften des Kleides weiß.
Warum ich es dir erzählte, ist mir ein Rätsel, ich musste es einfach. Nein, denke nichts Falsches. Hat mit uns nichts zu tun. Wie könnte ein so unvorstellbares Geheimnis bewahrt bleiben, machte man es von zufälligen Sympathien abhängig.
Da ist etwas nicht Erkenn- oder Deutbares in mir. Etwas verschlossen, Bedrückendes. Eben, als ich das Geheimnis preisgab, durchzuckte mich eine Empfindung. Durchzuckte ist richtig, ich bezweifelte die Wortwahl einen Moment, nein, ich bleibe bei durchzuckte. Zurück bleibt eine Öffnung, nein ein Riss. Ich sehe ihn, er schließt sich, die Empfindung vergeht. Bernd, du hälst mich bitte nicht für eine abgedrehte Esoterikerin?“
„Nein, tu ich nicht, obwohl, wäre da nicht das Kleid, es läge nahe. Könnte noch sein, du hast die Story erfunden, nur warum solltest du? Aufmerksamkeit musst du nicht auf dich ziehen, bist ohne die, Paradiesvogel genug. Ich hab Vicky beobachtet, wie sie das Kleid bei dem Gedränge an der Bar, als sie eine Weile hinter dir stand, genauestens unter die Lupe nahm. Es hätte nur noch gefehlt, sie hätte den Stoff zwischen den Fingern gerieben, um die Konsistenz zu ergründen. Ist ihr Beruf genau hinzuschauen, nur sind Ballkleider in der Regel nicht Objekte ihrer Zuwendung.“
„Würde mich brennend interessieren, was sie zu sagen hat, wenn sie überhaupt etwas dazu sagt. Vielleicht könntest du sie provozieren, fragen, was an meinem Kleid so interessant war, warum sie so genau hingeschaut hat?“
„Verlass dich drauf, ich frage. Was mich noch beschäftigt, du willst Physik studieren oder bist schon dabei....“
„Im zweiten Semester.“
„Im zweiten Semester? da hat man meist eine Ahnung, ob man richtig liegt. Wie ist es bei dir, Sehnsucht nach den Vetrinären?“
„Du wirst dich wundern, nein, keine Sehnsucht. Ich mag Physik, ist präzis aber lässt Raum für Spekulation. Nicht Erfahrungswissenschaft wie bei den Fächern, die es mit dem Leben zu tun haben. Das Schöne, ich bin erst am Anfang. Muss jetzt Bekanntes zu meinem machen, also lernen. Schmerzt jedoch nicht, bei der Aussicht auf die ungeheuren Möglichkeiten der Spekulation, bei der theoretischen und vor allem der Astrophysik.“
„Da kommt die Initialmotivation aber ins Hintertreffen, ich glaube kaum, dass Okkultes in der Physik geklärt werden kann.“
„Da bin ich ganz anderer Meinung. Okkultes, so wie wir es in des Wortes Bedeutung verstehen, hat in der Physik keinen Platz. Okkultes als Phänomen schon. Jedwedes Unerklärliche ist erst mal Phänomen. Erst wenn es sich der Einordnung widersetzt, wir es nicht verstehen, keine uns deutbare Eigenschaft erkennen, machen wir es zum Okkulten. Mein Kleid kann so betrachtet, nicht okkult sein. Es ist vorhanden, begreif- und tragbar. Die einzige uns nicht geheure Eigenschaft, scheinbar ist es immun gegen die Zeit. Wohl deshalb, weil es nichts gibt, was nicht altert. Doch ich bin sicher, das Kleid altert, nur eben, in von uns nicht zu beobachtenden Zeitspannen.“
„Gut erklärt, Nora. Ja so kann man es sehen. Also Kleid, schlafe ruhig in deinem Kleiderkasten, freue dich auf den nächsten Ball, bei dem ich deine Herrin oder soll ich sagen deinen Schützling, von dir inspiriert über das Parkett schweben lassen werde.
Noch eine Frage, vorher aber gebe ich ein wenig von mir preis, wo ich so viel von den Kelms weiß, soll mich das nicht stören.
Als wir eben hier ankamen, hoffte ich als Mann, dir beim Ausziehen des Kleides helfen zu müssen. Die Szene stand vor meinem inneren Auge. Ich nahm an, frag nicht warum, du würdest dich bäuchlings auf die Couch dort legen, mich bitten, dich aus deinem Kleid herauszuknöpfen. Ich stand schon hier, du hast es nicht bemerkt, massierte meine Finger, wärmte sie auf, um nicht allzu ungeschickt zu sein. Bitte erklär mir, wie entkamst du dem Futteral ohne Hilfe?“
„Ganz einfach, Bernd, mit Hilfe eines Reißverschlusses. Die Knöpfe und Schlingen sind nurmehr Zierde, ohne Funktion. Eine geschickte Schneiderin hat das so umkonstruiert, dass Frau ohne Mann dem Futteral entsteigen kann. Diese Konstruktion hatte das gute Stück schon, als es auf mich kam. Liegt auf der Hand, Männer gab es schon immer, ebenso Männerfantasien. Wäre fatal die männliche Hilfestellung, das Futteral lässt Unterwäsche nur allersparsamst zu.“
„Hochdelikat, Nora, das Kleidungsstück. Kann mich nicht erinnern, je so intensiv und kurzweilig über ein Kleid geplaudert zu haben. Noch eins, ich verspüre, kann es sein du auch, einen kleinen Appetit? Nichts Großes. Auf der Herfahrt, sind wir zwei Ecken weiter, an einem Inder vorbeigekommen.“
„Vergiß es, Bernd. Der Inder taugt nicht. Es gibt hervorragende Inder in der Stadt, ich esse gern dort, aber der hier ist nix. Doch verzage nicht, ich habe, vorsorglich Sushis aus dem Kühler genommen, die sind jetzt aufgetaut. Du magst doch Sushis?“
„Ob ich Sushis mag? Ich liebe sie. Hast Du den scharfen Original-Meerrettich und die richtige Sojasoße?“
„Ich hoffe doch, hier sieh mal.“
„Ja, den Meerrettich nehme ich auch, Sojasoße habe ich andere, aber davon gibt es viele Sorten. Hauptsache sie schmeckt.“
„Hauptsache, Bernd, du sagst nicht nein zu dem Sake hier, mit dem ich die Sushis herunterspülen möchte.“
„Nein, bist du wahnsinnig, lass mich riechen, herrlich und hat genau die richtige Temperatur. Komm, setz dich, fangen wir an. Ich habe einen japanischen Freund, habe ihn beim Chirurgenkongress in Phuket kennengelernt. Mit dem japanisch Essengehen, ist ein Erlebnis. Wenn wir genügend Sake drin hatten, wollte der mich füttern. Bestellt etwas Undefinierbares, isst selbst, und füttert mich. Ist ein Zeichen besonderer Wertschätzung bei den Japsen.
Ich berichtige den Freund. Freunde in unserem Sinne sind wir nicht. Die Sprachen sind da vor, auch die Mentalität, bin ich sicher. Aber jolly good fellows, so wie die Engländer das singen, sind wir bei jedem Treffen.“
„Freundschaft, Bernd, jeder meint seine Freundschaft. Ist gängige Münze geworden, der Begriff. Denk nur an den Spruch, Freundschaft zwischen Mann und Frau ginge nicht, ist doch absoluter Blödsinn!“
„Wär mir da nicht so sicher, Nora. Du magst das anders sehen. Verlangtest du von mir, dich nicht als Frau zu sehen, hätte ich ein Problem.“
„Verlange ich nicht, und tue es mir bitte nicht an.“
„Hört sich gut an, schöne Nora.“
„Wo Männerfantasie so herrlich mit den Knöpfen meines Kleides spielte.“
„Danke für dein Verständnis, Schönheit, ich glaube, die Fantasie ist es, die der Liebe Beine macht, doch auch der Sake ist nicht zu verachten!
Wobei der Sake mich noch mal an Okabe-san, meinen japanischen Chirurgenfreund, erinnert. Okabes Großvater war, mit der japanisch kaiserlichen Armee, Besatzer in Thailand. Als Stadtkommandant im Range eines Obersten, Herr von Phuket. Als der Großvater hörte, sein Enkel flöge zu einem Kongress dorthin, verlangte er ihn zu sprechen.
Okabe-san machte sich auf zum Hause der Großeltern, wurde von der Großmutter mit nicht endenden Ahs und Ohs empfangen, und flugs dem Großvater überstellt. Der saß auf seiner Tatami, winkte seinem Enkel sich zu ihm zu setzen, während er seine Frau, die Großmutter, mit unwirschem Handschlenkern hinausscheuchte.
Mein Kleiner, sagte er zu dem sechsunvierzigjährigen Okabe, Sohn meines Sohnes, schön dass du gekommen bist. Du fliegst nach Siam, hörte ich, nach Phuket?
Ja, Großvater, du hörtest richtig.
Ja Enkelsohn, dachte es mir, hören tu ich noch gut. Also, ich habe ein Anliegen.
Damals, als ich auf Befehl unseres göttlichen Kaisers, in den glorreichen Krieg zog, in dessen frühen Verlauf wir Ostasien zu einem japanischen Imperium machten, war ich eine gewisse Zeit Chef der Stadt Phuket. Wenn ich eine gewisse Zeit sage, meine ich etwas mehr als zwei Jahre, bis diese nichtswürdigen, stinkenden Großaffen aus Amerika, uns unterjochten.
Zu Beginn dieser zwei Jahre begab es sich, dass ich eine entzückende Dame von siamesischem Geblüt kennenlernte. Die Dame hatte schwer unter dem Krieg gelitten, sie litt noch, als ich sie traf. Es ist nun nicht so, Enkel, wie dir sicher in der Schule auf Befehl der stinkenden Affen aus Amerika eingebläut wurde, dass wir herzlose Eroberer gewesen wären, die, die ihnen Anheimgefallenen auspressten wie Papajas, nein, so waren wir nicht!
Ich für meinen Teil jedenfalls nahm mich der lieblichen Schönheit an, ließ sie rund füttern, bis die Rippen nicht mehr durch ihre Seidenhaut traten. Jeden Tag verfügte sich die Köchin, der ich sie anvertraut hatte, zu mir, um mich vom Fortschritt der Fütterung zu unterrichten.
Endlich war es soweit, ein Mensch stand vor mir, ein Mädchen, lieblicher als der Mond im Oktober. Ich hieß sie ihren Sarong ablegen, wollte sehen was gutes Futter ausgerichtet.
Zu meinem Erstaunen weigerte sie sich. Warum bist du undankbar? Bin ich nicht dein Wohltäter? Ich fragte sie das mit Tränen in der Stimme.
Sie antwortete, wobei sie mich ihre Mandelaugen funkelnd fixierten: Eher sterb ich, als dass ein anderer, als mein Ehemann mich unbekleidet sähe.
Was sollte ich machen? Ihre Fütterung hatte Zeit gekostet. Ich hatte mich auf sie gespitzt, wollte, musste sie haben. Ganz zu schweigen von meinem Gesicht! Täglich erkundigte man sich nach ihr. Okabe-san, Herr Oberst, Herr Statthalter, was macht die kleine Hure, die sie päppeln? Schon geritten das Pferdchen? Muss außerordentlich sein, das Lärvchen! Soviel Mühe, Okabe-san, soviel Wertschätzung!
Du willst also, dass ich dich heirate? fragte ich.
Nein, ihre Antwort. Ich sagte, nur mein Ehemann sieht mich unbekleidet!
Bist also schon verheiratet? ich freundlich, obwohl mir die Galle kochte.
Sie entgegnete: Nein, bin ledig. Du fragtest, Offizier, ob ich will, dass du mich heiratest. Nein, will ich nicht, würde mir Scherereien einhandeln.
Scherereien, jetzt wurde ich böse, wer wagt hier, Scherereien zu machen, sag mir das?
Sie kess, mir ins Gesicht: Herr Offizier, das Leben dauert nicht nur ein paar Jahre. Ein Leben kann lang sein. Wenn sie sind längst zurück in Japan sind, hab ich die Scherereien.
Ich schnaubte sie an: Wir bleiben, Mädchen, Japan wird euch auf ewig beschützen!
Da lachte sie mir lauthals ins Gesicht.
Du magst daran erkennen, Enkelsohn, so schreckliche Eroberer konnten wir nicht gewesen sein. Nach den Unterstellungen der stinkenden, großäffischen Massenmörder aus Amerika, hätte ich spätestens jetzt mein Schwert gezogen und sie enthauptet. Was habe ich getan? Hab einen Bonzen holen lassen, und sie geheiratet.
Was dann kam, war eine Zeit der Kirschblüte, der Weidenzweige, im stillen Wasser des Kranichs Spiegelbild. Zeit ohne Zeit.
Enkelsohn, jetzt das Geheimnis: Als ich, du siehst ich senke noch heute mein Antlitz vor Scham, in Gefangenschaft geriet, blieb sie mit zwei Kindern, Zwillings-Mädchen, zurück. Die Ketten in die wir gelegt wurden, lockerte der Großaffe, jetzt unser Freund, erst nach Jahren.
Sofort versuchte ich Kontakt zu ihr aufzunehmen, vergeblich. Du erinnerst sicher die große Reise, die ich nach Europa unternahm, von der ich ohne Fotos heimkam?
Sicher, alle waren bestürzt, Großvater, deine Fotoausrüstung war dir gestohlen worden.
Lüge, Enkelsohn, Lüge! Ich war in Phuket. Habe die Stadt abgegrast, mit ehemaligen Dienern der Kommandantur gesprochen, was nicht leicht war, die taten, als ob es uns nie gegeben hätte. Auch Bakschisch half nicht, ich kehrte heim, ohne Erfolg.
Jetzt, kurz bevor ich mich aus dem Staub mache, höre ich, du fliegst dorthin. Ich habe mit den Leuten nur über Dolmetscher sprechen können, du aber sprichst, wie heutzutag alle Welt, das Affenidiom. Die in Phuket quälten mich dauernd mit ihrem spik inklis, spik inklis. Vielleicht kommst du weiter. Mir ist klar, lebt sie noch, ist sie eine alte Frau, wird mich vergessen haben. Aber die Kinder oder Enkel?
Wir sind wohlhabend. Gern würfe ich ein Steinchen in den Zeitteich, noch lieber wässerte ich ein Floß.
Okabe-san hat sie gefunden, es war nicht einmal schwer, sagte er. Man erinnerte sich noch an den Japaner, der mit einem Dolmetsch, der nichts taugte, herumzog und ein Mädchen suchte.
Niemand brachte damals Frau Srandir, mit der Frau des Stadtkommandanten der Japaner in Verbindung. Keiner erkannte in dem suchenden Japaner den ehemaligen Oberst. Die Episode der Besetzung war einfach zu kurz gewesen.
Jedenfalls war Frau Srandir, eine alte Witwe, höchst überrascht von Okabe-san zu hören, er sei der Enkelsohn ihres japanischen Gemahls. Ja, räumte sie nach einigem Zögern ein, sie sei mit Oberst Okabe verheiratet gewesen, seine Töchter lebten beide, hätten ihrerseits Kinder.
Beide, wie überhaupt alle hier, hätten keine Ahnung von ihrer Mutter japanischem Abenteuer. Damals sei sie froh gewesen, dass die Episode in den Nachkriegswirren unterging. Sie war eine Witwe mit zwei Kindern, deren Mann verschollen war, ein tausendfältiges Schicksal. Danach habe sie wieder geheiratet.
Oberst Okabe hatte vier Enkel in Thailand. Die zwei Jungen unterstützte er beim Studium, den beiden Mädchen half er bei der Gründung eines eigenen Hausstandes. Frau Srandir war glücklich und dankbar, die Zuwendung wurde als Lottereigewinn getarnt.
Sagen Sie dem Oberst, trug sie Okabe-san auf, ich habe nicht vergessen: Spiegelbild des Kranichs, Zeit ohne Zeit.
Als Okabe-san seinem Großvater berichtete, wie erfolgreich er gewesen war, überzog dessen Gesicht ein Ausdruck von Ruhe, wie sein Enkelsohn es noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Er erhob sich lautlos von der Tatami, auf der er neben dem Oberst gehockt hatte, und zog sich zurück. Am nächsten Morgen rief die Großmutter an, der Großvater sei in der Nacht verstorben. Als sie wach wurde, habe er schon kalt auf seiner Schlafmatte neben ihr gelegen.“
„Eine interessante Geschichte, Bernd.“
„Ja Nora, doch während ich erzählte, heult es in meinem Hirn unentwegt: Code Red! Code Red!“
„Code Red, warum, Code Red, Bernd? Höchster Alarm heißt das doch?“
„Richtig, Schönheit. Übersetzten lässt sich Code Red so: Hör auf blöden Mist zu faseln! Siehst du nicht, wer neben dir sitzt? Gibt es keine anderen Themen? Wie willst du aus der Suppe, die du da kochst, rauskommen. Für heute tendieren deine Aussichten gegen Null. Dünnbrettbohrer! Du bist bei ihr zuhaus, du Niete!“
„Soll ich lachen oder weinen, Bernd? Warum bist du nur so ein verdammter Dünnbrettbohrer!? Hast du keine Ahnung von Frauen, ihren geheimen Wünschen? Erzählst von Leuten die lange tot sind? Sieh mich an, ich sitze neben dir!“
„Ich sehe es, Schönheit, was aufregender ist, ich fühle es!“
„Ach ja, du fühlst dich aufgeregt, oder wolltest du sagen angeregt?“
„Lass mich nachdenken, Nora, oder hilf mir, wenn ich Falsches sage.Ich bin beides, auf- und an.“
„Wenn ich helfen darf. Ich würde nicht auf und an sagen, ich entschied mich für drauf und dran.“
Innerlich nahm ich Haltung an. Nehmen Sie Haltung an, hieß das beim Militär. Dann stand ich langsam auf, wobei ich behutsam den Stuhl auf dem ich gesessen, zurück schob, behutsam, um keinen Lärm zu machen, nichts sollte die nächsten Sekunden entweihen. Endlich aufrecht, drehte ich mich zu ihr, die, wie ich jetzt bemerkte, meiner langsamen Routine gefolgt, sich mir zudrehte. Wir standen uns gegenüber, Aug in Aug. Ich hob synchron im Zeitlupentempo beide Arme, die ich dann auf Höhe ihrer Schultern ausbreitete. Nora glitt, ihren Kopf und Oberkörper langsam aus der Lotrechten nach vorn kippend, auf mich zu, ich musste sie nur noch fest umschlingen.
Unsere Lippen fanden sich augenblicklich. Ich verlor die Kontrolle, wollte alles gleichzeitig. Doch das einzigartige Mädchen scheute. Scheute wie eine Stute, die zum ersten Mal den Sattel fühlt. Ich zügelte mein Verlangen. Sie spürte meine Zurückhaltung, ließ sich augenblicklich fallen, zwang mich, ihrer Leidenschaft mit noch mehr Feuer Paroli zu bieten. So kämpften wir, zogen uns fiebernd vor Verlangen die Kleider vom Leib.
Als wir auftauchten, dämmerte es. Fragte sich nur, ob Morgen oder Abenddämmerung. „Warten wir auf die Sonne,“ empfahl Nora. „Blutrot und rund ist abends, weite Morgenröte ohne Ball ist morgens.“ Ich zog sie an mich, sie kuschelte sich in meinen Arm.
Nora, wollt ich beginnen, unterbrach mich, warum reden. Doch es konnte sein, sie erwartete es. Also begann ich nocheinmal:
„Nora, mir schien ich war dein Erster?“
„Ja.“
Nichts sonst, einfach ja. Warum mehr, aus ihrer Sicht völlig normal, einer war immer der Erste. Ich küßte sie, sie küßte gern, es wurde ein langer Kuß. Als er zu Ende ging, stieg die Sonne über den Horizont, den Morgen zu verkünden. Merkwürdig, ohne Hahnenschrei. In Kleve begrüßten die Hähne den Morgen.
Ich fragte meine Geliebte, ob sie die Hähne vermisse? Sie schüttelte den Kopf, murmelte, schon wieder in den zweiten Schlaf unterwegs: „Nö, gar nicht, lassen einen nicht schlafen, die Biester.“ Weg war sie.
Steinfeld 1817
Mascha setzte sich zu Bernd, der, als Nora ihn verlassen, langsam den Rest des Roten leerte. „Schmeckt dir die geräucherte Gans“ fragte sie, nach einer Einleitung für ihr Vorhaben suchend „eine masurische Spezialität.“ Wartete seine Antwort nicht ab, leitete sofort über zu Boris und der gestrigen Operation.
„Bernd,“ sagte sie und sah ihn mit den grünen Augen ihrer Tochter an. „Bernd, ich mache mir Gedanken. Was du an Boris tatest, lässt mich nicht ruhen. Ich habe durch die Freundschaft mit unserer Kräuterfrau Klapaida gewisse Einblicke. Habe schon Amputationen beigewohnt, viehische Schlächtereien im Vergleich zu deinem Tun. Nicht nur hast du Boris den Schmerz genommen, nein, du hast die Wunde, den Muskel, die Adern in einer noch nie dagewesenen Weise behandelt! Ich hab noch jeden Handgriff vor Augen, es verblüffte mich unsagbar, wie dir das von der Hand ging. Mit welcher Sicherheit und Ruhe du eins nach dem anderen erledigtest, grenzte an Hexerei. Jetzt bin ich, wohin ich wollte, Bernd, Hexerei.
Klapaida ist hier als Hexe verschrien. Sie hilft jedem, der sie darum bittet, und erntet nur Undank. So, jetzt komme ich langsam zum Eigentlichen. Als mir nicht wohl war, du mir das Bett verordnetest, kam ich mit Klapaida aus dem Wald.
Nichts Ungewöhnliches, wir gehen jede Woche in die Kräuter. Nur diesmal war es anders. Klapaida war nicht meine belehrende Freundin, sondern eine vor mir herjagende Furie. Ich konnte kaum mithalten, so raste sie über Stubben und Wurzeln. Bedenke ich, wie alt sie ist, besser zu sein scheint, eine nicht zu begreifende Kraft, die ihr innewohnt.
In der Mitte des Dickichts, da wo der Keiler Boris anfiel, blieb sie stehen. Herrschte mich an, mich nicht zu rühren. Zur Salzsäule erstarrt verharrst du, fauchte sie, und warf sich auf den Boden über den von Boris stammenden blutigen Fleck. Sie lag da und murmelte etwas, so leise, dass ich nichts verstand. Plötzlich brach ein Riesenkeiler durch den Busch auf uns zu, stieß mir seinen Rüssel bis dicht vors Gesicht, beschnupperte mich, ohne zu touchieren. Plötzlich ließ er ab von mir, warf sich auf die am Boden liegende Klapaida. Jetzt kommt es, Bernd, das Biest flüsterte mir unverständliche, jedoch artikulierte Worte, an ihrem Ohr. Was mir die Sinne raubte war, Klapaida antwortete. Ich verstand, bevor es Nacht um mich wurde, den Satz: 'Verzeih Rogar, verzeih!'
Als ich zu mir kam, lag ich, den Kopf in ihren Schoß gebettet. War ein böser Traum, versucht sie mich zu trösten. Auf dem Heimweg erschlug uns um ein Haar ein Blitz aus heiterem Himmel! Klapaidas Gesicht sagte mir, wir waren noch mal davongekommen. Was mir klar ist, ich war davongekommen.
Dich frage ich, und erzähl dir das, weil ich wissen muss ob du mit ihr im Bunde bist. Der Doctor, ein Zauberer aus einer anderen Welt?“
„Mascha, viel erzählt und wirklich Gruseliges. Doch von mir fürchte nichts. Was ich kann, wird gelehrt in Paris, Bologna, München, Zürich und Berlin. Nicht an jeder Universität alles, aber überall ein Teil. Ein fleißiger Arzt, dem seine Patienten am Herzen liegen, fügt die Teile zusammen und rettet dem Boris das Bein.“
„Ich möchte ein Gebet sprechen vor Erleichterung, Bernd, meine Nora ist dabei sich in dich zu verlieben, soll sie, gehört zur Jugend. Nur wärest du ein Hexenmeister, könnte ich es nicht ertragen.“
„Glaubst du tatsächlich, deine Kräuterfreundin ist eine Hexe, und wenn, wirst du sie nicht mehr sehen?“
„Nein! Das heißt, ja, sie ist eine Hexe, die ich aber weiter sehen werde. Sie ist mir eine teure, ans Herz gewachsene Freundin. Eine Hexe ist sie schon ihres Alters wegen. Vor zehn Jahren ist unsere Magd Irma, im gesegneten Alter von über neunzig, verstorben. Irma war Klapaidas Freundin. Von ihr weiß ich, was es mit der Kräuterfrau auf sich hat.
Komm runter zu meinem Mund mit deinem Ohr, Gnädigste, flüsterte die Irma, als ich sie kurz vor ihrem Tod besuchte. Ich habe ein Geheimnis, will das loswerden, traue mich sonst nicht zu sterben. Die alte Klapaida, wisperte sie kaum hörbar, war schon die alte Klapaida meiner Mutter, und die ist ebenso alt geworden wie ich. Das ist noch nicht alles. Klapaida war mit meiner Großmutter und Urgroßmutter in den Kräutern. Sicher ist, ausehen tat sie wie jetzt, trug stets das schwarze Kleid mit schwarzem Mieder, das rote Kopftuch. Einmal sollte sie verbrannt werden, flog ihren Häschern durch die Luft davon. Frage sie nichts, Gnädigste, möchte sonst bös werden, die Klapaida.
Bernd, wenn ich die zehn Jahre, seit Irma tot ist, mit deren Alter zusammenzähle, komm ich auf hundert Jahre. Packe ich die Mutter, Großmutter und Urgroßmutter dazu, auf vierhundert. Soll es um hundert gar zweihundert Jahre differieren, es bleibt Hexerei.“
„Mascha, du siehst es so. Aber wer garantiert die zwei oder vierhundert Jahre?“
„Spielen keine Rolle, Bernd, hundertfünfzig tun es.“
„Ich strecke mich, Mascha, wenn auch verblüfft. Was deine Nora angeht, von der du sagst, sie verliebte sich in mich, mir geht es nicht anders. Viel mehr erfüllt mich das Gefühl, ich bin Noras wegen zu euch gekommen. Lache nicht, bin zwar, wie du mir glauben wirst, kein Hexer, hatte jedoch Nora im Herzen, bevor ich ihr begegnete. Ich gestehe, eben, bevor du erschienst, haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Nora zog sich zurück, muss das mit mir besprechen, hat sie gemeint.
Bitte, sage ihr nicht, dass ich dich unterrichtet, sie könnte es missverstehen. Ich für meinen Teil kann nicht Gastfreundschaft genießen, und hinterrücks die Tochter küssen.“
„Ist schon klar, Bernd, bleibt unter uns.“
Bei sich dachte sie, will Nora es erzählen, gut. Will sie es lieber eine Weile mit sich im Busen tragen, umso besser. Claus, ich kenne die Männer, halte ich dumm. Wird nichts aus der Sache, ist nichts gewesen.
Als sie gegangen war, ging Bernd der Gedanke an die Kräuterfrau nicht aus dem Kopf. Er hatte sie nur einmal, als sie mit Mascha aus dem Wald kam, flüchtig gesehen. Nora hatte gesagt, sie sähe zum Fürchten aus. Ich fürchte sie nicht, dachte er, aber ungewöhnlich alt scheint sie zu sein. Verwittert ist ihr Gesicht, verwittert wie altes Gestein, wie die Gesichter von Menschen, die ihr Leben großteils im Freien verbracht.
Mascha scheint fest überzeugt von Klapaidas hohem Alter, ich bezweifle es. Einfache Leute reden gern, verhält sich jemand anders als der Rest. Die neunzigjährige Irma, wird da zu höchst dubioser Zeugin. Soweit die Ratio, könnte es dabei bewenden lassen, doch was hilft‘s, die Alte ist ne Hexe!
Da bleibt alle erworbene Naturwissenschaft auf der Strecke, macht krudem Aberglauben Platz. Nicht zuletzt unterstützt vom Herrn Geheimrat Goethe, mit Faust, Walpurgisnacht und Blocksberg.
Überhaupt Geschriebenes. Sollte man zur Unterhaltung lesen. Meinungen meiden gern Tatsachen. Ob aus Angst, Unwissen, wer kennt sich da aus? Als Arzt den Menschen wie ein Tier betrachten, verschiebt die Perspektive. Der Geheimrat hat von den zwei Seelen gesprochen, die ach in seiner Brust leben. Als Dichter, versteht sich, aber auch als Naturwissenschaftler? Reitet seine Steckenpferde perfekt, der alte Herr. Farbenlehre, Zwischenkieferknochen, Homologie. Die Farbenlehre nicht plausibel, die homologenen Überlegungen stimmen. Jeder, der Mensch und Tier obduziert hat, kann das bestätigen.
Mit den zwei Seelen bewegt er sich auf dem Gebiet des Idealen – steht mir eher fern. Ich spreche lieber vom Greifbaren. Nicht von der Gottnatur des Menschen, mein Interesse gilt ihm als Kreatur, Schlauchsystem Mund-Anus, Flüssigkeitspumpe, Drainage. Seine Assoziationen, Vorstellungswelten faszinieren, insbesondere die knapp anderhalb erstaunlichen Kilo Gehirn, die sich äußerlich kaum von einem Schweinshirn unterscheiden. Allein die Vorstellung den Zeitgenossen nahegebracht, könnte Tätlichkeiten auslösen.
Dabei ist nichts so verkotzt verheuchelt, wie die Vorstellung vom Anspruch der Getauften, auf ewiges Leben. Die Pfaffen, die das unter die Leute bringen, allesamt eine vollgefressene, verlogene Bande. Sprechen bigott und ehrfurchtslos von Gott, als sei der ihnen alltäglicher Tischgenosse.
Der Wahnsinn ist, das Andere, scheinbar Ferne, nicht Erklärbare, liegt so nah. Seit Kopernikus, der nicht weit von hier gelebt hat, wissen wir, unsere Welt ist nicht Mittelpunkt der Schöpfung. Seit seinen klugen Nachfolgern, sie ist Mittelpunkt von gar nichts. Ein Stäubchen unter Millionen tanzender Stäubchen. Herrlich zu betrachten, wie Sonnenstrahlen Welten aufleuchten und tanzen lassen, wenn sie schräg durch die Stube scheinen.
Da scheint es allnächtlich auf uns herab, das unendliche Firmament. Abbild des unendlichen Reigens des noch nicht Erkannten, aber klar und stark Ehrfurcht erheischend. Was sollen mir da die pfäffischen Abstrusitäten, von Gott der Mensch wurde, um sein Blut für uns zu vergießen. In der Sklaverei der Antike für die Entwürdigten Anbetungsobjekt, doch heute dringlichst abzuschaffen.
Nora ist sicher ein fromm lutherisch erzogenes Mädchen, wie ihre Eltern, Großeltern und was sie umgibt. Die schlauen Pfaffen haben ihre Religion so selbstverständlich gemacht, wie die Luft die wir atmen. Kommt niemandem in den Sinn zu zweifeln.
Nora, geküsst habe ich sie. Buchstabiere g-e-k-ü-s-s-t. Meine Frau? Wer ist sie? Eine junge Dame von Stand, und wunderschön. Angenehme Eltern, was sie umgibt, liebenswürdig.
Ihre Augen, changierend zwischen grün und blau. Hellgrün-hellblau. Mal dies mal das. Ihr dunkles Haar, ihre vom Sommer leicht getönte Haut. Scheint Sonne nicht zu fürchten, versucht nicht hell wie Porzellan zu sein, die Dame.
Tritt sicher auf, kostet sie keine Mühe, mit den Eltern und Steinfeld im Rücken. Ist nicht selbstverständlich, kenne manche, die stützt das nicht. Entweder hoch das dumme Näschen, oder rot übergossen den verlorenen Groschen am Boden suchend, wünscht man einen simplen Guten Tag.
Einordnen wollte Nora, was der Kuß in ihr ausgelöst, danach hätte sie Fragen. Ihr erster Kuss, so hatte sie gesagt. Sich vom Cousinchen für alle Fälle Anleitung geholt, was mit den Blicken zu geschehen habe. Aug auf, Aug zu, das ist die Frage. Doch schäkern wollt sie, mir unterstellen, es ging mir um ihr Fleisch. Wie es mir, mein Mädchen, um dein Fleisch geht, ahnst du nicht. Werde alle Bilder von dem süßen Leib verbannen, könnte sein ich würde schwach, darf es nicht denken.
Werde mir ein Pferd ausleihen, reiten bis zur Erschöpfung, täte gut. Unglaublich, wie Geschick sich binnen Stunden ändert. Umziehen, Reitkleidung, ein gutes schnelles Pferd sollt es auf Steinfeld geben. Dann raus, Galopp bis hin zum Horizont, über die weiß glitzernde Ebene. Wird mir den Geist durchlüften, Gedanken und Wünsche sortieren. Eben auf Steinfeld angekommen und schon verzurrt in einem Knäuel von Wünschen. Wünschen, ist Wunsch stark genug?