2003
Nora konnte nicht sprechen, nicht weinen, nicht denken. Seit Bernd nach der Landung in Düsseldorf, das Hospital in Kiel angerufen hatte, war ihre Furcht Gewissheit geworden: Papa war tot, gestorben als sie zwischen Warschau und Düsseldorf in der Luft hingen. Er hat es ihr nicht sagen müssen, sie hatte sein Gesicht nicht aus den Augen gelassen, als er telefonierte, kannte die Hiobsbotschaft, bevor sie über die Lippen brachte. Tot, tot, tot, nur dieses eine Wort hämmerte, raste in ihrem Schädel. Einfach weg, kein Wort mehr gesagt, seit dem Unfall das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Was habe ich getan, warum geschieht mir das jetzt, wo ich mich auf dem Gipfel des Glücks glaubte?
Sie musste nach Kiel zur Beerdigung. Vetter Franz hatte gemahnt: Willst du ihn noch einmal sehen, nimm den nächsten Zug, Morgen wird der Sarg zugemacht. Franz, Franz, feinfühlig wie ein Amboss! Der Sarg, Papa und der Sarg, Papa und das Grab, eng, nass, kalt. O Papa, ich darf es mir nicht vorstellen.
Sie hockte, seit sie die Wohnungstür aufgeschlossen in ihrem Sessel, früher einmal ihr Lieblingssessel, aber wann war früher? Wo bin ich hier, fremd und tot das alles.
Der Mann, der da unschlüssig steht, ist Bernd. Mein Bernd, der vom See? Will mit nach Kiel, mir beistehen. Versteht nicht, ich wiil allein sein will, muss allein sein.
Muss mich von Papa verabschieden, ihn erinnern, wiederbeleben, Stunden,Tage, Wochen nachempfinden, bevor er in der Endgültigkeit versinkt. Endgültig aus, bis dahin muss ich seinem Ratschlag, ach was, Befehl folgen: Treib mich raus, mein Mädchen, behalte nichts von mir in dir. Leb dein Leben, später einmal, wenn du durch bist, darfst du dich erinnern. So, hatte er sie halb im Ernst ermahnt, wird mit dem Tod umgegangen. Der Tod ist der Antipode der Geburt, nicht leicht die Geburt. Mühselig der Eintritt ins Leben, für uns Würmchen. Ähnlich schwer kann der Tod daherkommen, kann, muss nicht. Glück hast gehabt mit dem Adam und mir, würde er gescherzt haben, haben beide wenig mitgekriegt von der Prozedur.
Ist gut, Papa, ich reiß mich zusammen. Werde gefasst an deinem Grab stehen. Wollte dir unbedingt von meinen so sonderbaren Seegrund Träumen erzählen. Ich war nicht Heimat, Papa. Heimat habe ich nicht gefühlt, aber Eigenes. Habe mich geschämt dafür, konnte aber nicht raus aus dem Gefühl.
War turbulen!. Eheschließung und Flitterwochen, Steinfeld und Seegrund, unzerstört und lebendig. Muss nun nicht sprechen, bediene dich einfach aus meiner Erinnerung. So sicher ich meiner Träume bin, so sicher weiß ich, du wirst in mir lesen.
Das blaue Kleid! Ich geb es dir mit, Papa! War das Befehl oder Eingebung? Nora schwankte, doch sei's drum, ich mache dem Zauber ein Ende.
Bernd, der ihr den Rücken zugedreht, aus dem Fenster gestarrt, drehte sich um. „Welchem Zauber ein Ende, Nora,“ fragte er.
Hatte sie geredet? Gleichviel, sie riss den Kleiderschrank auf „Dem hier!“ sie griff nach dem Bügel mit dem blauen Kleid. Doch da war kein blaues Kleid. Schnell schob sie Bügel um Bügel über die Stange, schon in der Gewissheit das Kleid war weg, verschwunden!
Sie suchte ihren Schlüsselbund aus der Handtasche, fummelte nach dem Schlüssel zu ihrem Wandsafe, schloss auf, tastete nach dem Kasten mit der Smaragdparüre, nichts!
Sie richtete sich auf, „Bernd! Mein Kleid und mein Schmuck, verschwunden!“
Bernd war mit einem Schritt bei ihr: „Das gibt es nicht, Nora! Wir beide haben abgeschlossen, das Schloss ist unbeschädigt, der Schlüssel zu Adams Wohnung steckt unverändert umgedreht im Schloss. Lass mich den Safe sehen.“ Bernd ging in die Knie, kroch in den Kleiderschrank.
„Hast du eine Taschenlampe?“
„Ja, hier.“
„Da liegt eine Schmuckschatulle!“ Bernd tauchte wieder auf mit einem Schmuckkasten in der Hand.
„Bitte sieh nach.“
Nora öffnete den Deckel, ein Kollier aus Rubinen und Brillanten glitzerte in der weißen Seide des Kastens.
„Mein Gott, Nora, woher stammen die?“
„Geerbt, Bernd, haben keine abenteurliche Reise hinter sich.“
„Jetzt mal langsam, Nora! Wenn ein Dieb oder Einbrecher, das Smaragdensemble geklaut hat, warum sollte er die Rubine verschmähen, leuchtet absolut nicht ein.“
„Leuchtet absolut nicht ein, stimmt, Bernd.“ Nora sah ihn an: „Weggehext! Kleid und Schmuck weggehext! Gibt keine bessere Erklärung, es sei, wir sind meschugge! Ich traure nicht hinterher. Hatte sowieso vor, das Kleid dem Vater mit ins Grab zu geben. An die Parüre hatte ich nicht gedacht, glaubte die frei von Hexenzauber. Bin eines Besseren belehrt. Wird mir leicht ums Herz.
Bernd, ich nehme den nächsten IC nach Kiel, bring mich bitte zum Bahnhof. Bevor du etwas sagst, ich fahre allein, ohne dich. Geht nicht anders!“
Als sie sich am Bahnsteig verabschiedeten, hatte Nora Mühe seinen Kuss zu erwidern. Bernd sah sie erschreckt an: „Was ist dir, Nora?“ Seine Pupille überschwemmte mit ihrem Schwarz die Iris, ließ, wie bei einer Sonnenfinsternis, nur einen schmalen hellen Rand stehen.
Nora zuckte die Schulter: „Weiß nicht,“ flüsterte sie. „Sei nicht traurig, ich weiß nicht wie mir geschieht.“
Bernd nickte: „Also dann,“ kam es tonlos, „melde dich bitte, wenn du zurück bist.“
Nora drückte seine Hand, sie fühlte Tränen aufsteigen, drehte sich um und stieg in den Wagen. Bernd hatte nicht gewartet, vom Fenster sah sie ihn langsam auf der Rolltreppe versinken, zuletzt war da noch sein Haar.
Aus, fragte sie sich? Vorbei? Sie horcht in sich hinein, die Vergangenheit blockt sie ab, nur das Jetzt wollte sie hören. Aber da rührte sich nichts. Mechanisch öffnet sie ihre Handtasche, nimmt ein Taschentuch, wischt sich die Lippen. Zuletzt zieht sie das Tuch über den Zeigefinger und reibt sich die Zunge. Sie findet ein leeres Abteil, setzt sich. Steht wieder auf und zieht den Mantel aus, verstaut die Reisetasche im Gepäcknetz über ihrem Kopf. Schlafen, denkt sie, schlafen. Doch der Schlaf flieht sie. Wie ein Endlosfilm spult die Szene auf dem Bahnsteig vor ihrem Auge ab. Der Mann, der sie in den Arm nimmt, seinen Mund auf ihren Mund legt, ihr Schaudern. Der Mann fährt zurück, sie sprechen. Sie steigt in den Waggon, der Mann geht ohne sich umzuwenden auf die Rolltreppe des Bahnsteigs zu, verschwindet in der Versenkung.
Ist das so, fragt sie sich? Warum ist das so, warum ist das jetzt so unerträglich? Einen Blick zurück wage ich. Wie geht das zusammen, Ekstase, Euphorie und Abneigung fast Ekel, als er mich küsste? Was ist mit mir?
Verstört, ich bin verstört. Papas plötzlicher Tod, das rätselhafte Verschwinden von Kleid und Schmuck. Bernd ist Arzt, wird sich schnell einen Reim darauf machen. Am Bahnsteig eben hat es ihn aus der Mitte gehoben. Ich brauche Ruhe, Schlaf. Morgen noch, dann der unvermeidliche Schrecken der Beerdigung, und dann? Was dann, Nora? Urlaub, die Semesterferien dauern noch einen Monat. Wohin? Egal, nur nicht jetzt entscheiden, hat Zeit, erst einmal zur Besinnung kommen, Nora werden.
Der Zug ratterte durchs Ruhrgebiet, kaum Fahrt aufgenommen bremste er wieder. Alle naselang eine Großstadt. Endlich gewann er freies Land. Sie sah aus dem Fenster, Weiden, Wäldchen, kleine Orte. Die nächste Station war Münster, dann Osnabrück. Frieden von Münster und Osnabrück, 1648 erster Akt des Völkerrechtes. Geschichte, verliebt in den Lehrer. Sie streckte sich aus auf der Bank, merkte nicht wie sie einschlief, lag einfach da.
Der Schaffner, der ihre Karte kurz hinter Duisburg kontrolliert hatte, wurde erst in Bremen abgelöst, bis dahin blieb sie unbehelligt. Einen Augenblick betrachtete er die erwachsene Frau, im Schlaf zum kleinen Mädchen geworden. Könnte meine Tochter sein, ging's ihm durch den Kopf. Leise schob er die Abteiltür auf, zog die Vorhänge zum Gang zu, liegst nicht so preisgegeben da, nickte er der Schlafenden zu, ging weiter.
Zwischen Hamburg und Bremen wurde Nora geweckt. „Fahrausweiskontrolle!“ „Wie lange noch bis Kiel? Starke zwei Stunden, meine Dame.“
Wenigstens geschlafen, nicht gegrübelt. Dafür der Mund trocken wie die Sahara. Der Speisewagen war direkt nebenan. Schnell hin auf ein Wasser.
Bernd verharrte am Fuß der Rolltreppe, wartete bis er den Zug mit Nora aus der Halle rumpeln hörte. Stand da, ein Hindernis im Strom der vorbeihastenden Menschen. Wurde angerempelt, hastig umlaufen, ward sich minutenlang seiner störenden Position nicht bewusst. Einzig die Vorstellung: Ihr schauderte vor mir, meinem Kuss. Ihr Blick, ihre Miene, war das, was ich sah, Abscheu? Abscheu vor mir? Was war zwischen uns getreten. Seit wann kroch Kälte in uns hoch? Auch in mir diese Eiseskälte.
Er trat heraus aus dem Strom der eiligen Menschen, lehnte sich an eine Telefonzelle, brauchte den Halt, spürte seine weichen Knie. Es galt die Frage zu beantworten, seit wann und warum diese Kälte? Als Rogowski uns durch den Morgen zum Flugplatz kutschierte, lag sie eng an mich gekuschelt in meinem Arm. Auf den Flügen nach Warschau und Düsseldorf sprachen wir wenig, hielten uns nur bei den Händen. Nach der Landung, wir warteten endlos am Band auf unser Gepäck, zog sie mich hinter einen Stützpfeiler, wühlte sich hinein in mich, als ob sie Schutz unter meiner Haut suche. Das letzte Mal küssten wir uns leidenschaftlich im Taxi.
Gut, wie weiter? Nora schloss auf, ich trug die Koffer. Wir gingen die Treppe hoch, Nora öffnete die Wohnungstür, trat ein, lief ins Schlafzimmer, die Küche, das Bad, alles in Ordnung, Liebster. Schnell, stell die Koffer ab, hebst dir noch einen Bruch. Ich trug ihren Koffer bis vor den Kleiderschrank. Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Nora seltsam abwesend in ihrem Sessel. Hockte da, ganz tief in sich verkrochen, sah mit blicklosen Augen an mir vorbei. Ich störte sie nicht, stellte mich ans Fenster. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Ich sah nicht mehr auf die Uhr. Dann Nora: „Ich mache dem Zauber ein Ende.“
Das Kleid sollte mit ins Grab, verschwunden, Schmuck und Kleid. Seit dem, nein anders, schon in der Viertelstunde oder länger, die ich am Fenster stand, sie mich nicht wahrnehmend in ihrem Sessel saß, wurde mir eiskalt. War nichts weiter, fühlte mich überanstrengt, abgeschlagen. Ihre Weigerung, sich von mir nach Kiel begleiten zu lassen verstimmte, mehr nicht.
Einbrecher, Diebe konnten Kleid und Schmuck nicht gestohlen haben. Noras Befund: weggehext. Ging nicht weiter ein auf die Ungeheuerlichkeit, aus Scheu, gar Angst? Wie war das mit dem Oktavheft gewesen? Ich hatte es, als Nora schlief, studiert. War verblüfft, ihre Handschrift und das Porträt, das ganz sie war. Was fehlte, war Noras Timbre, der ihr eigene Schimmer. Die Schrift war Nora, doch der Inhalt Meilen entfernt. Anweisungen, wie und wo Kräuter aufzuspüren, nach dem Pflücken zu behandeln waren.
Interessant, kurios bis hin zum Absurden, doch dann war die Kladde verschwunden, verschwunden wie Kleid, Parüre und die Liebe? Ja, auch die Liebe war so plötzlich weg, wie weggehext. So von gleich auf jetzt vergangen, ins Gegenteil verkehrt. Langsam, Bernd, langsam sein, langsam. Erstmal weg von hier. Raus irgendwohin, wo Himmel ist, hoher unverstellter Himmel.
Er nahm ein Taxi, ließ sich zu den Rheinwiesen nach Oberkassel fahren. Hier war Luft, Raum, kein gedrängtes Nebeneinander und Gegenüber. Gehen, nach Norden gehen, der Rheinströmung folgen, nicht denken, nicht Bernd sein, einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen, unermüdlich weiter, weiter und weiter.
Stunden später fand er sich hinter Kaiserswerth auf der rechten Seite des Rheins. War nicht bei mir, befand er. Bin ohne es zu bemerken mit der Fähre über den Rhein. Er fühlte seine Füsse nicht mehr, eine kleine Rast, die Beine ausstrecken und abschalten, das wär‘s. Da drüben die Häuser waren Wittlaer, da gab es ein Restaurant nahe am Strom.
Hatte geöffnet. Er setzte sich in den Garten, bestellte eine Apfelschorle mit einem Calvados. Hohe alte Linden in voller Blüte, spendeten ausreichend Schatten. Nektar sammelnde Bienen und Hummeln, machten die Bäume mit ihrem Gesumm zur Orgel. Hummelorgel, er streckte sich, lauschte hinein in den von tausenden Flügelpaaren erzeugten Ton. Einzigartig dieses Instrument, klang nach Frieden.
Er trank von dem Schnaps. Zu früh befand er, und schüttete den Rest in die Schorle. Bin ohne mich tief versunken gelaufen, was hat es gebracht? Ja, was nur? Doch, die Hummelorgel, dieses älteste Musikinstrument auf Erden. Erklingt, nein summt, seit Jahrmillionen oder länger.
Ich höre sie heute zum erstenmal, obwohl sicher oft Gelegenheit war, ihr zu lauschen. Säße Nora neben mir, wie beglückte uns das Gebrumm, herrje wäre das Leben schön. Sollte nicht sein, ist tatsächlich wie verhext!
Das war die Quintessenz seines absichtslosen Grübelns: Verhext! War idiotisch, nicht teilbar mit dem Nächsten, doch deshalb nicht weniger wahr. Nicht nur Kleid und Schmuck, auch das Oktavheft, die Alte, die es mir gegeben, ihr Verschwinden.
Wie fanden wir uns, Nora und ich? Wie zündete der Funke so unsagbar heftig in einem Augenblick! Ein Tanz entschied alles. Ein Tanz, den sie elfengleich tanzte. Elfengleich ohne jede Erfahrung. Das Kleid war es, sagte sie später. Ihrer Mutter war es schon Zauberkleid. Könnten wir benutzt worden sein? Gab es ein okkultes Wesen, das sich unserer bediente, bediente für einen bestimmten Zweck, uns vergaß nach Gebrauch? Nachzufragen wofür gebraucht, müßig, doch nachzuahnen was aus der Liebe wurde, lohnt.
Ich schreibe Nora. Zeichne mit dürren Worten, meine Schlussfolgerungen auf, werde sie fragen ob ihr Ähnliches aufgegangen, sie bitten zu kämpfen. Nicht um die vernichtete Liebe, die angehexte; wir sollten uns nochmals begegnen, möglichst bald. Selbst wenn uns die erste Liebe im Hexenmörser zerstoßen wurde, Nora, ich gebe nicht auf.
Zudem, wohin mit der Erinnerung? Die ist mir nicht geraubt, ist lebendig, weich, gespannt. Ich rieche, fühle begehre dich, dich, die es so nicht mehr gibt. Doch ich rede zuviel, liebe Freundin, habe ein Ohr für meine Bitte. Wer weiß, was die Zukunft für solche wie uns, bereit hält?
Ganz mechanisch hatte Bernd ein gefaltetes Din A4 Blatt, aus der Tasche gezogen und aufgeschrieben, was ihm durch den Kopf ging. Als er geendigt, unterschrieb er: Ein von der Liebe verzauberter, waidwunder Kämpfer, Hummelorgel inspiriert.
1818
Die Einräumarbeiten in Lyck liefen reibungslos, wie Mascha vorausgesagt hatte. Nach einer Woche stand dem Grunde nach Ordination, Apotheke und Wohnung. Das Spital, von dem Bernd träumte, würde erst in Angriff genommen, wenn sich seine Arbeit eingespielt hatte.
„Mama,“ entschied Nora, „die Wohnung ist meine Sache, wird sicher noch ein Jahr, eher länger dauern, bis sämtliches so steht und hängt, dass wir uns wohlfühlen. Kommt noch manche Fahrt nach Königsberg auf mich zu. Suchen und hoffentlich Finden. Wolltest du nicht diesen Winter mit Lara vier Wochen dort sein?“
„Wollte ich nicht nur, sondern ich will und werde während der Theatersaison, ich schätze, länger als vier Wochen in Königsberg sein. Habe mir von deinem Vater einen warmen Zobel ausbedungen, den er aus Warschau mitbringen wird, mir die kalten Meerstürme vom Leib zu halten.“
„Kommt Klapaida mit?“
„Nora, Klapaida! Nimmst du sie immer noch nicht ernst? Sie braucht kein Theater, um die Welt zu verstehen, was uns Theater gibt oder geben könnte, ist ihr längst geläufig. Bitte nimm sie an, nimm sie an als unsere gute Fee. Messe sie nicht an ihrem Auftritt, ihrem uralt Kostüm. Sie kann ganz anders. Wer glaubt, sie sei nicht von dieser Welt, liegt falsch. Sie ist mehr als wir, diese Welt! Raubt dir den festen Boden, lässt du dich ein auf den Gedanken.“
„Hat sie es dir gestanden?“
„Kind, wo denkst du hin! Gestanden, allein das Wort auf sie gemünzt, wäre sie uns nicht gewogen, ließ mich um dich fürchten.“
„Ich mein es doch nicht so, Mama, davon ganz abgesehen, weiß das Klapaida.“
„Stimmt, Nora, weiß sie! Mir ist sie eben nicht so selbstverständlich, ist mir nach all den Jahren immer mehr ein Wunder! Doch bitte, lassen wir das jetzt.“
„Siehst du Lara, bevor du nach Steinfeld fährst?“
„Warum?“
„Ich hätte eine Bitte. Du sprachst mir von der Korrespondenz, die Lara zu den Schöngeistern im Lande unterhält. Berlin, Dresden, Hamburg, wenn ich nicht irre?“
„Hamburg meines Wissens nicht, Nora. Aber zwischen Lara und Leuten in Berlin und Dresden, gehen ständig Briefe hin und her.“
„Glaubst du, sie würde mich einbinden in diese Korrepondenz?“
„Ganz sicher, Nora, Lara sucht gleichgesinnte Seelen. Die Schwierigkeit wird sein, du bist nicht adaequat. Mir geht es so. Kant, zu meiner Jugend, Professor in Königsberg, blieb mir ein Buch mit sieben Siegeln. Selbst wenn er auf Steinfeld gelebt hätte, wäre es nicht anders, hab keinen Kopf für Philosophie. Doch Lara ist seinem Denken zutiefst verhaftet. Wobei zu sagen ist, Lara und Moses zieht abstraktes Denken magisch an. Gedanken, manche Tausend Jahre alt, festgehalten in ihrem Pentateuch, wenden und wenden, schafft den beiden Glück.
Ich werde ihr deinen Wunsch nahebringen. Sie unterrichtet Betseba, vielleicht ist sie bereit, dich an deren Unterweisungen teilnehmen zu lassen. Ich möchte dir empfehlen, lass dich nicht zu sehr einbinden. Dich interessiert Kultur, dazu braucht es kein Latein und Hebräisch.“
„Du fragst sie jedenfalls?“
„Versprochen, Nora. Doch geh in den nächsten Tagen selbst vorbei, sprich mit ihr, ich werde dich annoncieren.“
„Ihr so einfach ins Haus platzen, Mama?“
„Lara und Moses sind unsere Freunde, Nora. Moses will nicht, dass es ruchbar wird, fürchtet um sein Geschäft. Lara sieht das nicht so eng, hat kaum Kontakte zu Christen.“
Lara hatte die Kaffeetafel schon gerichtet, als Mascha am Nachmittag vorsprach. Tritt näher, freute sie sich, kann es kaum erwarten unsere Pläne für Königsberg mit dir zu erörtern. Mascha küßte ihre neue und einzige Freundin auf beide Wangen.
„Bin so glücklich, dass es dich gibt, Lara. Bin ganz süchtig, mit dir meine Probleme zu besprechen.“
„Probleme, Mascha?“
„Ach was, keine echten. Verstimmungen möchte ich nennen, was ich oft als Problem empfinde. Liegt an meinem alltäglichen Umgang. Kompetenz kommt nur in männlicher Gestalt vor, das schon ein Leben lang. Hatte mich dreingeschickt, kannte es nicht anders, doch ich bin letzte Instanz für alles und jedes. Ist das vertrackte mit den Männern, Entscheidungen alltäglicher Natur die sie fällen, erfährst du, wenn Folgen daraus erwachsen, Probleme anstehen. Bitte frag nicht, was war, ist zu läppisch es breitzutreten, wollte nur mal ungeniert um mich schlagen.“
Lara lachte: „Schlagt um Euch, Euer Gnaden. Was soll's denn sein, Mokka oder Schokolade?“
„Schokolade, Lara, die besänftigt so schön.“
Lara steckte den Kopf durch die Tür und rief: „Betseba, Schokolade!“ Drehte sich um, ergriff Maschas Hand, und zog sie mit sich in ihr Boudoir. „So jetzt setz dich, erzähle mir, wie weit es mit Noras Wohnung, und eurer Apotheke gediehen ist.“
„Weit, Lara, an sich sind wir fertig. Das heißt, ich bin fertig. Was noch zu tun bleibt, kann Nora allein. Was unsere Apotheke angeht, du kennst die Chefin. Als wir gestern spät aufhörten, sah es chaotisch aus. Ich mochte nicht an Morgen denken. Heute Morgen war sämtliches, nicht dass es mich verblüfft hätte, geregelt. Klapaida hockte am Tisch mit den Mörsern, knetete eine Salbe, sah kaum auf, als ich reinkam. Ich fragte sie, wie es dazu käme, drehte mich ostentativ im Kreise, mein Gesicht ein Fragezeichen. Sie sah durch mich hindurch, nuschelte: „Reg dich nicht auf, war gestern schon kommod, hattest den Überblick verloren.“ Hab mich nicht im geringsten echauffiert, war heilfroh zu sehen, was ich sah.
Noch etwas, Nora bat mich dich zu fragen, ob sie an Betsebas Unterricht teilnehmen dürfe. Es geht ihr weniger um Mathematik und alte Sprachen, angetan hat es ihr deine Korrespondenz, mit den Dresdener und Berliner Koryphäen.“
„Sicher kann sie das, Mascha,“ Lara lächelte. „Hebräisch ist nicht nötig, Latein betreiben sollte sie aber. Was ihr nicht schmecken wird, ist die Mathematik und Naturwissenschaft im allgemeinen, ach ja, und griechisch musssie lernen. Keine Unterhaltung ohne Bezug auf die griechische Antike, Pflanzenkunde, Medizin und Philosophie, rümpf nur die Nase, alle alte und neue Wissenschaft, fußt auf der Sprache des Aristoteles.“
„Pflanzenkunde und Medizin geht nicht ohne griechisch, da kenne ich mich aus, Lara. Hast du eine Ahnung, woher Klapaida ihre griechisch Kenntnisse hat? Habe es nicht bemerkt, bei unseren Streifzügen durch die Wälder. Sie benannte die Kräuter, ich schrieb es in meine Hefte, fertig. Aber jetzt bei der Einrichtung der Apotheke hat sie Töpfe, Gläser, Phiolen mit den deutschen, griechischen oder lateinischen Bezeichnungen beschriftet.“
„Dass du dich das fragst, Mascha? Du weißt doch, Klapaida ist unsere Kräuter...“
Bevor Lara das Wort Kräuter..., mit der verhängnisvollen Endung komplettieren konnte, tat es Mascha und sagte: „Fee, Kräuterfee!“
„Ja, Mascha, alles was Recht ist, wie konnte ich darauf nicht kommen. Sie ist unsere gute Fee, unsere Schmerz lindernde Kräuterfee.“
Betseba kam mit der Schokolade. Lara berichtete von Noras Wunsch sich zu bilden, und löste bei ihrer Tochter händeklatschende Freude aus.
„O das ist wunderschön,“ freute sie sich. „Endlich jemand in meinem Alter, mit dem ich reden kann.“
„Betseba, Nora ist zwei Jahre älter als du und verheiratet,“ wies Lara sie zurecht.
„Mama, lass mich, was sind zwei Jahre? Und verheiratet, was soll das? Werde, davon gehe ich aus, in nicht allzu ferner Zukunft auch verheiratet sein.“
Mascha lachte aus vollem Halse, „unsere Töchter, Lara. Ähnlich wies Nora mich zurecht, als Graf Wersten, mit der Umstände wegen, nicht ausgesprochenen Erwartungen, zu Besuch kam. Den konnte sie sich, seiner Zähne wegen, als Ehemann nicht vorstellen. Hat sich erledigt, Gott sei Dank.“
Beseba war, nachdem sie diesen ersten Vorstoss lanciert hatte, gegangen. Lara indes war nicht zum Lachen. „Mascha, Betsebas Problem ist, wo lernt sie jemanden kennen, der ihr gefallen könnte? Wir sind die einzigen Juden in Lyck. Die nächste Gemeinde ist in Königsberg, mal eben zweihundert Seelen. Beseba meint, warum muss es ein Jud sein? Heirate ich die Religion oder den Mann? Kannst du dir Moses vorstellen, bei diesem Thema?“
„Ich kann, Lara. Du glaubst nicht, wie mich Albträume plagten, als ich bemerkte, wie Nora unserem zweitem Kutscher, dem hübschen Kurt, Avancen machte! Der Junge hat es nicht bemerkt oder so getan, als ob er es nicht bemerkte. Mein Mann auch nicht, wie sagst du: Dem Ewigen sei Dank! Unvorstellbar was geschehen wäre, sie hätte ihren Kopf durchsetzen wollen!“
„Na, dieser Sorge bist du ledig, meine Liebe. Für mich aber wird die Frage mit jedem Tag drängender, wie sag ich‘s meinem Kinde? In Bialystok lebt eine große jüdische Gemeinde. Der dortige Rabbiner weiß, die Lara hat nur eine Tochter geboren, lebt in der Diaspora, unerhört so etwas! Das Mädchen werden wir zur Freude der Großeltern heimholen. Werden sie mit einem frommen Juden verheiraten, ihr die Haare scheren, eine schickliche Person aus ihr machen! Jeden Tag kann der Schadchen vor der Tür stehen. Ich darf nicht daran denken, Mascha, unser Glück wäre zerstört.“
„ Warum redest du nicht mit Moses, Lara? Er ist ein aufgeklärter Mensch! Glaubst du, er überantwortet sein Herzblatt irgend einem fremden Mann, der sie zugrunde richtet?“
„Nein, glaube ich nicht, doch fürchten tu ich den Augenblick. Die Chance für mich und Betseba ist Berlin oder Dresden. In Berlin gibt es liberale Juden. Keine der Damen, mit denen ich korrespondiere, würde sich unter das rabbinische Joch beugen, sich mit einem Unbekannten verheiraten, die Haare scheren lassen. Das Problem, meine Tochter muss noch viel lernen, dazu aus dem Haus, sollte Moses kein Einsehen zeigen.“
„Moses kein Einsehen zeigen, Lara, das begreife ich nicht?“
„Mascha, stell dir vor, Nora wäre schwanger geworden vom Kutscher? Dein Mann, muss nicht weiterreden, sehe deinem Gesicht an, du stellst es dir nicht vor! Auf anderer Ebene, aber vom Problem ähnlich wäre, Moses Tochter wollte einen Goi heiraten.
Ich könnte gut damit leben, hatte enormes Glück, dass der Moses daher kam und mich wollte. Hätte er mich nicht gewollt, hätte es nur gegeben: Mich drein schicken, fliehen oder umbringen! Ich wäre geflohen, wie weit ich gekommen wäre, als mal eben Siebzehnjährige, mag es mir nicht vorstellen. Ich ahnte, wen meine Eltern für mich ausgesucht hatten. Schmul Katzmann hieß er. Achtundvierzig Jahre alt, zweimaliger Witwer, sieben Kinder im Haushalt, der reichste Mann im Stedel. Seine Werbung stand ins Haus, als Moses auftauchte und ihm zuvorkam.“
„Liebste Lara, lass uns von anderem reden, treibt mir den kalten Schweiß auf die Stirn, die Perspektive. Doch sei gewiss, sollte es zu solch unmöglicher Konsequenz kommen, hast du in mir eine Mitstreiterin, ohne wenn und aber! Meine Familie, die Slawinskis, verfügt über beste Verbindungen nach Polen. Die ultima ratio für das Kind, gleichzeitig der absolute Schutz, wäre die Taufe. Auch die Nottaufe gilt, Lara! Ich schüttete ihr Wasser über den Kopf und betete: Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Den möchte sehen, der es wagt, seine Hand auf ein getauftes Mädchen und Patenkind der Gräfin Kelm zu legen!“
„Hört sich schrecklich, aber folgerichtig und daher tröstlich an, Mascha. Kein Jid würd sie mehr wollen. Fortan wäre sie eine Goische. Habe in diese Richtung nie gedacht, dabei liegt es auf der Hand. Flucht, Tod alles Unfug. Daran siehst du, wie weltenfern mir der Gedanke war. Was sich geändert hat, heute bin ich achtunddreißig, keine siebzehn mehr. Heute weiß ich, es gibt viele Religionen, doch nur einen Gott. Religionen sind von Menschen gesetzt, altehrwürdig, was ihre Sittengesetze betrifft, identisch, soweit es sich um Ethik handelt, ansonsten blanker Unfug.
Also werde ich den Kopf aus dem Sande ziehen. Mit meinem geliebten Moses die Klingen kreuzen, ihn dahin bringen, nach Bialystok seinen Eltern zu schreiben: Ihre Enkelin habe sich verheiratet, und mit ihrem Mann nach Amerika eingeschifft. Dies, bevor ein Heiratsvermittler hierher in Marsch gesetzt wird. Dein Notprogramm werde ich nicht preisgeben. Werde ihm meine Pläne für unsere Tochter, anders schmackhaft machen.
Aber wir wollten über Königsberg reden, Mascha, ich sehe keine Hindernisse. Nach dem, was wir besprochen haben, nehme ich Betseba mit. Sie will nicht, werde sie zu überzeugen wissen. Hätte keine ruhige Minute, ohne das Kind in Sichtweite.“
„Warum will sie nicht mitkommen, Lara?“
„Frag mich, Mascha, das Theater sagt sie, interessiere sie nicht. Interessant daran ist, sie war noch nie im Theater.“
„Lara, kenne ich, Backfisch Verstocktheit. Das gibt sich. Ist mal eben erst Frau geworden, körperlich. Da wächst die Seele noch, das dauert. Ich wette, war sie erst einmal im Theater, bekommst du sie nicht mehr raus. Sie wird eine absolute Afficionada werden, nimmt sich die Mama zum Vorbild. Wird sich das nicht eingestehen, um keinen Preis! Jedenfalls nicht in den nächsten zwölf Monaten, danach entspannt sich die Lage.“
„Hoffen wir es, Mascha, ich hab nur die Eine. Erfahrungen konntest du bisher auch nur bei Nora sammeln?“
„Ja, aber mein Bekannten und Verwandtengeflecht, ist verzweigter als deines. Wir treffen uns bei allen möglichen Gelegenheiten, Jagden, Geburtstagen, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen. Immer die selben Leute. Frauen, alle mit Kindern und dem einen Thema, was tun, dass sie lernen, sich benehmen, Ordnung halten. Wer wird wen heiraten, und warum? Will er sie, sie ihn? Früher kein Thema, heute regt sich mehr und mehr Widerstand bei Kuppeleien. Was die Lage bei uns erträglicher macht, man kennt sich. Niemand wird weit weg verschleppt, um wem Fremden Weib zu werden. Liegt an unserer Vielzahl. Nora war nicht bereit, einen ihrer Standesgenossen zu akzeptieren.
Zum Glück tauchte Bernd auf.“
„Stimmt, Mascha, tauchte auf aus heitrem Himmel, wie mein Moses damals in Bialystok.“
„Wo ist Moses, Lara, hat sich die ganze Woche nicht ein einziges Mal sehen lassen.“
„Er sagt in Königsberg, ob es stimmt, bezweifle ich, was hätte er da zu tun. Wenn er Geschäfte im Ausland hat, sind die für mich Königsberg, dass ich mich nicht sorgen möcht. Ist er dann zurück, erzählt er, was gewesen. In letzter Zeit, denkt er oft nach über Amerika. Ein jungfräuliches Land nennt er es, könnte den geknechteten Juden Rußlands Heimstatt werden.“
„Wie stellt er sich das vor, Lara?“
„Ein Land ohne Menschen, Mascha, riesig, in Wahrheit ein Kontinent. Einwanderer werden in Zukunft hochwillkommen sein, ohne Menschen kein Staat, sagt Moses.“
„Verstehe ich, nur was hat Moses davon, will er etwa auswandern?“
„I wo, dazu sind wir zu alt, ist was für junge Leut. Moses ist in der Aufklärung engagiert. Du glaubst nicht, wie ungebildet und rückständig, die Stedeljuden unter der russischen Knute geworden sind. Da herrscht bitterste Armut im Verein mit Rabbinern, denen eine arme, dumme Gemeinde eine fügsame ist.“
„Aber was tut Moses, das zu ändern?“
„Zusammen mit anderen, jenseits der Grenze lebenden Juden, aufklären. Das heißt Rabbiner finden, die gegen Entgelt bereit sind, Jungen und Mädchen russisch schreiben und lesen beizubringen. Die Kinder sind durch die Schul, des Hebräischen in Wort und Schrift mächtig. Eine schwierige Sprache, warum sollten sie sich nicht die kyrillischen Buchstaben dazu aneignen, lesen und schreiben, was sie schon sprechen? Jiddisch ist leicht mit kyrillischen oder lateinischen Buchstaben zu schreiben, leichter als mit dem hebräischen Alphabet, dem die Vokale fehlen. Das wären drei Sprachen, die sie beherrschten, beste Vorausetzung eine vierte, das Englische, dem hinzuzufügen.“
„Allerhand, vier Sprachen in Wort und Schrift zu beherrschen, Lara, da wird tüchtig gepaukt werden.“
„Halb so wichtig, Mascha. Das Leben im Ghetto ist sterbenslangweilig. Ein Tag wie der andere, jeder kennt jeden, da ist lernen willkommene Abwechslung. Vor allem im Wettbewerb, wer wird gewinnen bei der nächsten Prüfung? Ganze Familien fiebern um den Sieg, von Langeweile nichts zu spüren.“
So verging der Nachmittag. Mascha war fasziniert von der lebendigen, ihr so fremden Welt der Juden. Die Bedrückung schafft ihnen Kraft, erkannte sie.
„Das gleiche Phänomen, wie bei den revolutionären Volksheeren der Franzosen, Lara. Ohne tiefgreifende Ausbildung haben die, die geschulten und gedrillten peußischen und östereichischen Heere geschlagen, angetrieben von der Vorstellung ihrer Befreiung vom absolutistischem Joch, das, verloren sie ihre Bataillen, ihnen wieder auferlegt werden würde.“
„Richtig, da leitest du Wasser auf meine, und die Mühlen des Professors Kant, liebe Freundin, der dir so wenig bedeutet.“
„Bitte, Lara, so vermessen bin ich nicht, meiner Meinung, was den Professor angeht, nur die geringste Bedeutung beizumessen. Bei mir reicht's einfach nicht, ihn zu verstehen.“
„Schon gut, Mascha, dir liegt das Theoretische nicht, deine Schlußfolgerungen jedoch, was die Motivation von Menschen unter Bedrückung angeht, treffen ins Schwarze.“
„Entspringt meiner Lernerfahrung, Lara. Mein Elternhaus auf Blumenthal war eine einzige Verwöhnanstalt, was mich, und meine Schwester anging. Wir durften tun und lassen was wir wollten. Lernen kam zu kurz. Als ich nach der Hochzeit mit Claus auf Steinfeld lebte, die große Bibliothek sah, konnte ich nichts damit anfangen, auf Blumenthal gab es kaum Bücher. Zu meinem Glück hat Claus es verstanden, meine Neugier anzuregen, hat mir mit seinen Hinweisen geholfen, die Welt hinter den Büchern zu entdecken. Entstanden ist: Vielseitiges, jedoch flaches Wissen und die Unfähigkeit, tiefe Brunnen zu bohren.“
„Kann ich so nicht stehenlassen, liebe Nora, entspricht nicht meiner Erfahrung mit dir. Gerade dein umfangreiches Wissen ermöglicht dir Folgerungen, die mir mit meinem, um bei deinem Beispiel zu bleiben, Brunnenwissen, nicht in den Sinn kämen. Du fischt mit dem Netz, während ich mich der Angel bediene. Perfekt wäre eine Verknüpfung von beidem.“
„Gelingt uns doch, Lara, das Beispiel: Wie schützen wir Betseba, beweist es.“
An diesem Nachmittag wurden noch manches Tässchen Schokolade getrunken, aber keine Probleme mehr gewälzt. Ganz in den Mittelpunkt der Betrachtung rückte Garderobe. Garderobe, die im Theater und auf den nachfolgenden Empfängen zu präsentieren sein würde.
2003
Bernd wartete schon eine Woche vergeblich auf ein Lebenszeichen von Nora. Er hatte sein spontan am Rhein unter der Linde verfasstes Schreiben an sie, c/o Graf von Kelm Rieseby, abgeschickt und wartete auf Antwort. Die Beerdigung, musste am zweiten Tag nach ihrer Abreise, über die Bühne gegangen sein. Warum meldete sie sich nicht? Bestanden seine Befürchtungen zu Recht? Wie oft hatte er in den vergangenen Nächten alles, was er geschrieben, in Frage gestellt, gehofft, jeden Augenblick ihre Stimme alle seine Bedenken zerstreuend, durchs Telefon zu hören. Einen Tag, schwor er sich, warte ich noch, dann rufe ich an.
Als dieser Tag zu Ende ging, griff er zum Hörer. Doch nicht Nora antwortete am anderen Ende, sondern eine Stimme sagte: Die angewählte Nummer ist ohne Anschluß. Er rief die Telefongesellschaft an, die nur bestätigte, einen Anschluß unter dieser Nummer habe es nie gegeben. Als er einwandte, dies könne nicht sein, er habe Telefonate unter dieser Nummer, noch letzte Woche von Polen nach Kiel in die Städtischen Kliniken geführt, wurde ihm geraten, seine Reklamation schriftlich vorzubringen.
Was tun? Telefoniert worden war, aber mit Noras Handy, da gab es keine Auskunft für ihn, brauchte er sich nicht zu bemühen. Das Krankenhaus in Kiel, da hieß es geschickt sein, einem Fremden und auch noch telefonisch, gaben die keine Auskunft. Er musste in Erfahrung bringen, welches Bestattungsunternehmen die Beerdigung des Grafen Kelm besorgt hat.
Bernd rief die Klinik an, stellte seine Frage: Einen Augenblick bitte, wurde er vertröstet, und dann die Auskunft: Ein Graf Kelm, ist in unserem Hause in den letzten vier Wochen weder behandelt worden noch verstorben. Das war eindeutig. Was sein konnte, Kelm war in einer andere Klinik eingeliefert worden.
Blieb nur Franz von Kelm in Rieseby. Wie hatte Nora den beschrieben? Adelsstolz sei er, erinnerte er sich. Was solls, über die Auskunft hatte er schnell die Nummer und alsbald Franz von Kelm am Apparat.
Eine Cousine Nora habe ich nicht, antwortete er auf Bernds Frage. Bernd fühlte den Abgrund unter sich, doch er riss sich zusammen und sagte: Ach, da scheint eine Verwechslung vorzuliegen, darf ich dennoch eine Frage stellen?
Ja bitte, kam es zuvorkommend rüber, ich helfe gern wenn ich kann.
Ist in der vorigen Woche ist ein, Georg Graf Kelm, nach einem Autounfall in den er einige Tage vorher verwickelt wurde, verstorben und beerdigt worden?
Auch damit kann ich nicht dienen, die Antwort. Aber wenn es Ihnen hilft, mein Onkel Georg Graf Kelm kam als Baby 1945 in die Obhut meiner Großeltern. Er starb vor fünfundzwanzig Jahren nach einem Autounfall. Er war unverheiratet und hatte keine Kinder.
Jetzt habe ich eine Frage, kam es durch die Leitung. Sind sie der Absender des Briefes, an eine Nora von Kelm, der vorige Tage hier ankam?
Ja, Herr von Kelm , der bin ich.
Bernd fand kaum die Kraft, sich bei dem freundlichen Herrn zu bedanken. Was ist das, dröhnte es in seinem Schädel, bin ich schizophren, bilde ich mir alles nur ein, hat es eine Nora je gegeben? Er suchte seinen Reisepaß, blätterte: Einwandfrei mit Datum und Uhrzeit, die Ein- und Ausreisestempel vom Zoll in Warschau. Also in Polen war ich, dann auch mit Nora, was hätte mich allein nach Masuren gezogen. Er dachte nach, ruhig bleiben, ermahnte er sich. Fern, nicht greifbar, schlummerte eine Ahnung, die ihn an die Situation erinnerte, in der er sich befand. Nicht greifbar an Daten gebunden, aber dennoch vorhanden. Er blätterte in Gedanken seine Beziehungen der letzten zehn Jahre durch. Wirklich Ernsthaftes, wie mit Nora war nicht darunter. Und doch war da etwas undeutbar Doppeltes, ein Vexierbild von Nora.
Ich muss mich zusammem nehmen, beschloss er. Es ging nicht anders, es blieb ihm nichts übrig, als wieder und wieder zwei und zwei zusammenzuzählen und das Ergebnis, in seinem Falle fünf, akzeptieren zu lernen. Schnell zog er sich um und einige Minuten später, war er in leichtem Joggingtrab unterwegs zum Wald.
Ganz auf den Rythmus des Laufs konzentriert, verloren die bedrängenden Vorstellungen seiner Situation, langsam Gewicht. Er lauschte in sich hinein, fühlte, als er das Tempo steigerte, eine an Gesang gemahnende Leichtigkeit. Eine Dynamik, die sein Ich aufzuheben begann, ihn zu animalisch glücklicher Laufmaschine machte. Er hatte seinen üblichen Rundweg von zehn Kilometern gewählt. Als er den einmal absoviert hatte, hängte er noch eine zweite Umrundung dran, danach eine dritte. Als er erschöpft und zum ersten mal seit Tagen wirklich müde unter der Dusche stand, war sein einziger Gedanke das Bett.
Als er wach wurde, war das Chaos das seine Denken seit Noras Abreise im Griff gehabt, abgeklungen. Nicht, dass er sich die Illusion machte, es sei überstanden, doch war er bereit, seine Situation mit Dritten zu besprechen, da kam als erste Vicky in Frage. Es dauerte endlos, bis sich endlich ihre verschlafene Stimme meldete.
„Bernd, bist du verrückt geworden, es ist drei Uhr in der Nacht.“
„O verdammt, Vicky, entschuldige, habe ich nicht bemerkt, ich bin total durch den Wind. Nora ist verschwunden.“
„Wie, Nora ist verschwunden, wie soll ich das verstehen, ist sie dir davongelaufen?“
„Vicky, verschwunden, so als ob es sie nie gegeben hätte. Graf Kelm in Rieseby, kennt keine Nora von Kelm. Ihren angeblichen Vater, der vorige Woche einen Autounfall erlitt und danach verstarb, hat der Unfall vor fünfundzwanzig Jahren ereilt, solange ist er tot. Kinderlos tot.“
„Aber Bernd, Adam und Lulu kannten doch die Kelms, er hielt sie offensichtlich für seine Nichte, wie passt das zusammen?“
„Keine Ahnung, Vicky, ich werde morgen Lulu anrufen, kann sein, sie weiß mehr.“
„Heute wirst du sie anrufen, Bernd, und mich schnellstens unterrichten, was sie davon hält.“
„Mach ich, Vicky, einen Moment noch, lege nicht auf. Bitte hilf mir, ich habe eine komische Frage: Hast du irgendwann etwas an Nora bemerkt, das dir suspekt war, irgend eine Kleinigkeit? Oder an mir, meinem Verhalten während der Nora Zeit?“
„Bernd, nein. Einwenden muss ich, wann habe ich euch oder dich getroffen? Ihr ward ein frisch verliebtes Paar, für nicht verliebte, normale Menschen, unauffindbar.“
„Stimmt, Schwesterchen. Lege dich, ich rufe an, sobald ich die Lulu am Apparat hatte.“
Da war also nichts, obwohl seine Ahnung sich verstärkte, als er mit Vicky sprach. Schlafen, befahl er sich, darf mich nicht erneut verrückt machen. Als er nach langem Wälzen endlich wegdämmerte, war das letzte ihm bewusste Bild Noras und Vickys Gesicht nebeneinander.
Es war Mittag, als er wach wurde, er hörte seinen Anrufbeantworter ab, nichts. Die Fonbox, Fehlanzeige. Also duschen, anziehen, raus ins Bistro frühstücken, andere Gesichter sehen.
War nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Als er ein Auto nach einer Parklücke suchend vorbeifahren sah, erkannte er Carla. Nicht noch die, schoss es ihm durch den Kopf. Schnell gab er dem Kellner einen Schein, und machte sich davon.
Zuhause nahm er ohne Zögern den Hörer, und rief Lulu an. Lulu freute sich, war aber erstaunt: „Ich glaubte euch noch in Polen,“ wunderte sie sich.
„Lulu, wir konnten nicht bleiben, Noras Vater ist tödlich verunglückt.“
„Aber doch vor Urzeiten, Bernd, schon nicht mehr wahr. Nora hat ihn garnicht gekannt.“
„Hast du ihn gekannt, Lulu?“
„Ich, nein. Kenne keinen von den Kelms, war Adams Mischpoke.“
„Erinnerst du noch, wie du Nora kennengelernt hast?“
„Natürlich, als Adam und ich uns trennten, sprach er von seiner Nichte, die in Düsseldorf Physik studiere, die wolle er fragen, ob sie in die Einliegerwohnung zöge, dann fühle er sich nicht so allein. Das hat Nora gern angenommen, bei dieser Gelegenheit habe ich sie kennengelernt.“
„Dann ist sie als dort wohnhaft gemeldet?“
„Glaube ich nicht, Bernd. Die Wohnung ist nie vermietet worden, Nora hat keine Miete gezahlt. Hätte Adam sie angemeldet, wäre das Finanzamt über kurz oder lang mit einer Steuerforderung, aus Miete entsprungen, gekommen.“
„An so etwas dachte, Adam?“
„Er war wie alle Ärzte. Du bist doch selbst einer, manche von euch kennen das Steuerrecht besser als ihre Medizin. Aber was fragst du mich das, und was soll es. Ihr seid zurückgekommen, weil Noras Vater tödlich verunglückt ist?“
„Lulu, deshalb rufe ich dich an. Ich weiß von Noras Cousin, Franz Graf Kelm, ihr angeblicher Vater ist vor 25 Jahren durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Kinderlos. Nora ist laut Pass 1983 geboren, kann also seine Tochter nicht sein.“
„Du glaubst, sie ist eine Hochstaplerin, hat sie dich bestohlen, Bernd?“
„Nein, sie hat mir keinen materiellen Schaden zugefügt, Lulu. Ich hatte gehofft, du wüßtest mehr, da hilft nur abwarten, mit Glück klärt sich morgen alles auf. Danke schön, Lulu, für deine Auskunft. Sollte ich was von Nora hören, ruf ich dich an.“
Sein nächster Anruf galt Vicky. Vicky war in Sekundenschnelle am Apparat: „Dass du dich endlich meldest, fauchte sie, was sagt Lulu?“
„Nichts Vicky. Ihr war bekannt, dass Georg von Kelm vor langer Zeit tödlich verunglückte, hielt ihn aber für Noras Vater. Nora selbst hat sie kennengelernt, als sie sich von Adam trennte. Zu den Kelms hat sie keinen Kontakt, waren Adams Leute, meinte sie. Das sind die mageren Tatsachen, Vicky, sind aber keine Tatsachen. Ich habe vier Wochen mit Nora gelebt, Tag und Nacht. Sie hat mir von ihren Eltern erzählt, von der verstorbenen Mutter. Du erinnerts das Kleid und den Schmuck, beides trug sie bei unserer ersten Begegnung.“
„Und ob ich das Kleid erinnere, Bruder. Hatte einige Fragen zu dem Kleid, hätte die gern deiner Nora gestellt.“
„Was für Fragen, Vicky?“
„Nähte, Bernd. Das gute Stück war Handarbeit mit jedem Stich. Hätte mich interessiert, wo so etwas noch gemacht wird, so absolut erstklassig gemacht wird, füge ich hinzu.“
„Vicky, hier nirgendwo, das gute Stück, wie du es nennst, war beinah zweihundert Jahre alt. Ich kenne seine Geschichte. Doch es ist, wie der Schmuck und Nora, verschwunden. Sie führte unseren bravourösen Tanz, für den wir soviel Beifall einheimsten, auf das Kleid zurück. Mein Zauberkleid, habe ihre Mutter es genannt, die es auch schon getragen hatte. Das Kleid kam zusammen mit Schmuck und einem Baby nach Rieseby, versteckt in dem Körbchen, in dem der letzte ostpreußische Kelm lag.“
„Bernd, mir wird bange, lebten wir nicht in unserer Zeit, würde ich an Spuk, ja Hexerei denken.“
„Liegst nicht weit daneben, mit dieser Meinung. Kannst du heute Abend zu mir kommen, ich muss nachdenken, und dir dabei in Ruhe die ganze Geschichte erzählen.“
„Gut Bernd, passt mir, erwarte mich gegen sieben.“
„Noch eins, geh bitte bei Nonn vorbei, und kauf zwei Seiten geräucherten Wildlachs.“
Bernd dekantierte eine Flasche Bordeaux für Vicky, er selbst würde sich an Whisky halten. Muss mich betäuben, redete er sich ein, gleichzeitig wissend: Es gab etwas zu erkennen, etwas gleich neben ihm, greifbar Unsichtbares. Ich habe Vicky gefragt, ob an mir oder Nora auch geringstes Auffälliges zu beobachten gewesen sei, und sie hat das verneint. Warum ist gerade sie mir so wichtig, lässt mich das Gefühl nicht los, sie könnte Erhellendes zu mir und Nora wissen?
Bei Licht betrachtet absurd. Vicky hat uns tatsächlich, seit wir Adam beerdigten, noch ein einziges Mal gesehen. Jedoch ist da ein Bild, ein Bild von Nora und ihr, das es nicht gegeben haben kann. Dieses nicht mögliche Bild rumort in mir. Der Whisky könnte ein guter Helfer sein, es hervorzulocken.
Er deckte den Tisch, platzierte Bestecke und Servietten akkurat, wie seine Schwester es gern sah. Betrachtete sein Werk, befand es in Ordnung. Dazu die beiden Silberleuchter, wenn sie kommt, die Kerzen anzünden, damit der Duft schmelzenden Wachses, für das beschwingende Gefühl der Erwartung sorgt, das einem guten Essen vorausgehen sollte.
Schon schellte es. Er ließ Vicky ein, half ihr aus dem Mantel, nahm ihr den Tragkorb ab, trug ihn in die Küche. Vicky sah sich um, schnupperte.
„Sieht nach einem Festessen aus, Bernd,“ sagt mir meine Nase, „reicht dazu die Stimmung?“
„An sich nicht, Schwester, andererseits aber wohl. Um ehrlich zu sein, es gibt keine Stimmung. Jedenfalls nicht die verzweifelte Stimmung, die normal wäre, wäre das normal, was mir widerfahren. Was ich fühle schwankt zwischen: Es kann nicht wahr sein, daneben Zorn und die Angst, Spielball okkulter Mächte zu sein.
Aber packe bitte deinen Korb aus: Geräucherter Wildlachs geht gut zu den Whiskys, die ich mir genehmigen werde. Komm, ich gehe dir zur Hand, geht schneller, ich weiß, du zügelst deine Neugier nur mühsam.“
„Bernd, es ist nicht Neugier, du magst es so nennen. Was ich fühle, ist besorgte Wissbegier, gemischt mit totaler Verständnislosigkeit, für Noras Verhalten. Ich möchte weiter nichts dazu sagen, höre mir lieber deine Geschichte an.“
„Gut, ich präpariere den Fisch, kümmere du dich bitte um den Rest.“
„Bin dabei, Bruder. Ein Moment, sind deine Hände schon fischig?“
„Nein, warum?“
„Gieße mir bitte ein Glas von dem Bordeaux ein, ich sehe, bist tief in deine Schatzkammer gestiegen.“
„Gern, Vicky.“ Vorsichtig goss er den rot schimmernden Wein, in eines der bauchigen Gläser. „So bitte, nimm, riech den Duft, verwöhn deine Nase.“ Vicky schnupperte, nahm einen Schluck, schloss die Augen, ließ die Köstlichkeit über die Zunge rollen.
„Danke, Bernd, einen Abgang hat der, unendlich!“
Als sie am Tisch sassen, jeder ein ordentliches Stück Fisch auf selbstgebackenem Dinkelbrot vor sich, Bernd einen ersten tiefen Schluck von seinem Schnaps getan hatte, drängte Vicky: „Also, jetzt habe ich mich lange genug bezähmt. Ab sofort bin ich nur noch Ohr.“
Bernd erzählte vom See, der Kate und dem Glück. Von Seegrund, dem Oktavheft, dem Verschwinden der Überbringerin. Von Noras Porträt und Schrift, und wie das Heft plötzlich verschwunden war.
Von Rogowski und Noras instinktiver Abneigung, dem Empfang der Komtess auf Seegrund, deren Schlafzustände. Dem Anruf aus der Klinik in Kiel, seinem Gespräch mit dem behandelnden Arzt, seiner Recherche. Vicky nickte, kannte sie schon.
Bernd lächelte, „hört sich sonderbar an, doch nicht unerklärbar bis jetzt, stimmt's?“
Vicky nickte noch einmal, jetzt eher nachdenklich.
„Also warte bitte mit deinem Kommentar,“ kam Bernd ihr zuvor, bevor sie etwas sagen konnte und, höre weiter zu. „Wo war ich, beim Nachmittag unserer Ankunft..“. und er fuhr fort in seinem Bericht, erzählte, wie Kleid und Schmuck verschwunden, wie Nora meinte weggehext. Von den unbeschädigten Türen, den zurückgelassenen Rubinen und dem kalten Abschied.
Wenn du etwas nicht verstanden hast, frag, forderte Bernd seine Schwester auf. Mir ist klar, bis auf das Verschwinden von Kleid und Schmuck, aus verschlossenen Räumen und Tresor, ist alles andere erklär- oder wenigstens deutbar. Habe die einzelnen Situationen wohl hundermal abgeklopft, ohne weiterzukommen. Halt, noch eine Episode, da kannte ich Nora noch keinen ganzen Tag. Und er erzählte, wie es ihn in den Sternverlag getrieben, um dort ein altes Buch zu erstehen mit dem Titel:
Die tatsächlichen unerhörten Heilerfolge des Chirurgus Graf Bernhard zu Bern, aufgeschrieben von seiner Ehefrau, geborene Gräfin Nora von Kelm. Als ich ihr das Buch gab, sie meinen gegraften Namen neben ihrem las, stieß sie es von sich, als hätte sie eine Natter gebissen, fragte mich aber später, ob es irgendeine Familienbeziehung gäbe. Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts, konnte ich sie beruhigen, waren die nicht adeligen Bern, Knechte und Mägde hier am Niederrhein.
„Verhext, Bernd? Ich zwinge mich einfach, das Undenkbare zu denken. Erste Frage, die ich stelle: War oder ist Nora eine Hexe, und wenn, war es ihr bewusst? Sie bezeichnete, als Kleid und Schmuck verschwunden waren, den Vorgang als Hexerei. Verhext sagte sie, und es erleichterte sie, richtig?“
„Ja, Vicky, präzis: Nora kannte die okkulten Eigenschaften des Kleides, doch hielt die Parüre für harmlos. Sie jammerte dem herrlichen Ensemble keine Träne nach, freute sich beinahe, davon erlöst zu sein. Nein, erlöst ist nicht das richtige Wort. Ich finde kein passendes, interessant ist, in die ablehnende Starre verfiel sie, als wir entdeckt hatten, das Kleid und Parüre verschwunden waren.
Vicky, ich habe dich schon einmal gefragt, ob dir etwas an Nora und mir aufgefallen ist, auch wenn du uns kaum zusammen gesehen hast, so haben wir doch zusammen den toten Adam gefunden, du und Nora habt euch gegenseitig getröstet. Vielleicht seid ihr euch nähergekommen. Hat es ein Gefühl, eine Schwingung, ein Befremden gegeben? Jede kleinste Kleinigkeit ist wichtig, könnte die Vermutung, es sei Okkultes geschehen, bestärken oder mindern.
Nora ist nicht einfach untergetaucht, Nora ist spurlos verschwunden. Für jemanden, der ohne Herz hinschaut, sieht alles nach Hochstapelei oder Erschleichen von Vorteil aus, soweit es Adam oder seine Erbin Lulu angeht.
Andererseits hat Adam nicht im Geringsten ihre Identität angezweifelt. Nora hat zwei Jahre bei ihm gewohnt, sicher wurde über die Familie gesprochen, eine Familie, die es nie gegeben hat? Und Nora? Die hat es gegeben, wie nur, ohne Mutter und Vater? Weiter, warum sollte eine Hochstaplerin Physik studieren? Allein um mietfrei wohnen zu können? Wieso hat sie nicht versucht, Geld von mir zu bekommen? Woher hat sie den wunderschönen Schmuck, woher stammt die dazu passende Legende, woraus speiste sich ihr phänomenal sicheres Auftreten? Ich könnte so fortfahren, Vicky, nur bringt es mich nicht weiter. Ich glaube an Nora, eine Frau, die ich liebe wie noch nie eine vor ihr. Ich habe alles, was hier spontan aus mir heraussprudelt, akribisch notiert. Wenn du mir nicht, mit einem gleich wie entfernten Gedanken helfen kannst, erwäge ich zur Polizei zugehen, um Nora als vermisst zu melden.
Die Schwierigkeit wird sein, erzähle ich meine Geschichte, ernte ich verständnisinnig mildes Lächeln, bin einer von Hunderten, die sich mit dem Verlust eines geliebten Menschen nicht abfinden wollen.
Hinzu kommt, behördlich gesehen habe ich nichts mit Nora zu tun, bin weder verwandt noch verschwägert, wie das so schön heißt.“
„Sehe ich auch so, Bernd. Du fragst mich nach einem Gefühl, einer Ahnung oder Ähnlichem. Mache ich mich ganz frei von erlerntem Betrachten, kannst es Vorurteil nennen, obwohl das trifft es nicht ganz, es gibt etwas in mir, das glaubt, Nora ist hier mit uns im Raum. Jetzt, wo ich es ausspreche, verstärkt es sich. Ich sehe sie hier vor uns, in einem deiner, ihr zu großen Schlafanzüge sitzen und bitterlich weinen.“
„Vicky! Wie das? Sie war nie hier, wir haben uns bei ihr getroffen.“
„Ist schon wieder weg, Bruder. Nur ich schwöre, sie saß dort leibhaftig, wie ich es beschrieb, auf deiner Couch. Mich fröstelt, nicht dass es Furcht ist, bin zu weit weg vom Hexenglauben, doch verdammt, sie saß da!“
„Vicky! Lass dich nicht von mir verrückt machen! Ich kenne das Gefühl, Nora sei um mich, nur zu gut. Du glaubst nicht, wie oft ich mich umdrehe, eben weil ich meinte, sie stände hinter mir. Nervensache, Vicky. Darf das nicht an mich rankommen lassen. Gestern bin ich 30 km gerannt, um den Kopf, ach was, um die Seele frei zu kriegen. Jedenfalls so geht es nicht weiter, deshalb der Gedanke an die Polizei, nur wie sollen die mir helfen? Die laut Lulu, nicht gemeldete Nora, existiert für die erst einmal nicht, die könnten sich auf mich konzentrieren. Anstatt aus dem Schlamassel zu kommen, arbeite ich mich noch tiefer rein.“
„Lieber Bernd, wie soll ich raten? Ich weiß es nicht. Was mich erschreckt: Sie saß tatsächlich dort auf der Couch. Nenn ich es Halluzination, glaub ich mir nicht. Neigte noch nie dazu, Dinge zu sehen, die nicht sichtbar waren, doch die Nora war sichtbar. Sichtbar in allen Einzelheiten, dem Glanz ihrer Haut, dem leuchtenden grün-schwarz Kontrast ihrer Augen, Wimpern, Haar und Brauen.“
„Vicky? Du sagtest, sie weinte bitterlich?“
„Sagte ich, Bernd.Tat sie, trotzdem sah ich ihr Strahlen.“
„Verstehst du nun, in welcher Klemme ich mich befinde? Nach alldem sieht es nicht danach aus, als ob sie mich einfach verlassen hätte. Abgesehen davon, dass es nicht zu unserer zwar kurzen, aber unendlich intensiven Romanze passen würde. Verhext, hat sie gesagt, als sie den Verlust des Kleides zu erklären versuchte, und verhext war es, dafür lege ich nach allem, was geschehen, meine Hand ins Feuer. Allein die Tatsache, dass dem guten Stück sein Alter nicht anzusehen war. Halt! Da war noch etwas.
Vicky, als ich Nora nach dem Ball nach Hause gebracht hatte, sie in ihrem engen Futteral mit den Augen verschlang, stellte ich mir vor, sie würde sich augenblicklich auf die Couch legen und mich bitten, ihr das Kleid aufzuknöpfen. Das Sonderbare geht mir jetzt eben auf, es war nicht ihre Couch in ihrem Wohnzimmer, sondern meine hier. Ich schließe die Augen und sehe das Bild lebendig vor mir. Nora liegt hier auf meiner Couch und ich knöpfe ihr das Kleid auf. Was ist das, Vicky? Nimm meine Hände! Was fühlst du?“
„Eiseskälte, Bernd, mitten im Sommer!“
Bernd rieb und knetete seine Finger, bis die Kälte wich. Rang sich ein halbes Lächeln ab, als er Vicky erklärte warum er Nora‘s Kleid nicht aufknöpfte. Steht mir bildhaft vor Augen, weil ich Nora fragte, wie sie es geschafft hätte, an die Knöpfe und Schlingen in ihrem Rücken zu kommen. Beichtete ihr meine enttäuschte Erwartung. Das Kleid, das ich halluzinierte, hatte keinen Reißverschluß.
„Sonderbar, seltsam, Bruder. Will die anderen infrage kommenden Adjektive lieber nicht aussprechen. Soll ich heute Nacht bei dir bleiben?“
„Nein Vicky, das schaff ich allein. Kann mich doch nicht zum Mündel machen. Ehrlich gesagt, habe ich keine Angst. Ich finde die Situation höchst ungewöhnlich, ja gruselig, aber nicht schrecklich. Nora nicht mehr bei mir zu haben ist schrecklich, die Umstände muss und werde ich ertragen.“
„Gut, Bernd, es ist schon spät, morgen ist früh Tag für mich. Bin Adams Nachfolgerin auf Bewährung, dürfen mir keine Lapsi unterlaufen. Schlaf gut und nimm die Pille für deine Leber, die Schnapsflasche ist halb leer.“
Als Vicky gegangen war, räumte Bernd den Tisch ab, stellte den Abwasch in die Spüle und machte sich fertig für die Nacht.
Als er im Bad vor dem Spiegel stand und sich die Zähne putzte, sah er Nora direkt ins Gesicht. Erst traute er seinen Augen nicht, stand da wie erstarrt. Doch schnell wich die Starre, es war Nora die ihn aus dem Spiegel ansah, Nora, nach der er sich wie nach nichts sonst sehnte. Sollte er sich umdrehen? Gleichzeitig fürchtete er, das schöne Bild zu verlieren. Was tun Nora? Er dachte es, traute keinem Wort.
Schließ die Augen, Liebster, geh zu Bett, antwortete das Bild im Spiegel.
Er ließ die Zahnbürste fallen, spülte den Mund, fuhr kurz mit dem Handtuch über die Lippen, ging gesenkten Blicks ins Schlafzimmer, kroch unter das Deckbett und knipste das Licht aus. Fieberte er in gespannter Erwartung dem, was folgen mochte, entgegen. Folgen mochte? Ob sie folgen würde? Ihm ins Schlafzimmer, in sein Bett folgen würde? Die Spannung raubte ihm den Atem, er disziplinierte seine hastigen, sich überschlagenden Atemzüge, zwang sie in normale Bahnen.
Ob es die Erregung war, der Schnaps oder all das, was in den letzten Tagen über ihn hereingebrochen: Er schlief ein. Nora in greifbarer Nähe, wenn auch erst als Gesicht, Stimme und Auge im Spiegel, doch sie, ganz gewiss sie. War zuviel Hochspannung gewesen, jetzt wo sich das Rätsel zu lösen schien, knickte er ein.
Etwas ungemein Anregendes, weckte ihn nach Stunden erquickenden Schlafes. Er musste nicht nachdenken, sich nicht orientieren, um sofort zu spüren: Er war nicht allein. Jemand lag mit ihm in seinem Bett, hatte sich an ihn gekuschelt, ach was, hielt ihn mit Arm und Bein umschlungen. Er wagte das so ersehnte nicht zu glauben. Doch sie war es, unzweifelhaft Nora, ihr Duft! Gewissheit, was heißt das schon? Sein Begehren, seine Liebe übernahmen das Handeln. Er zog sie fest an sich und sie folgte ihm willig. Unendlich vorsichtig suchte er ihre Lippen, die sich unter seinem zärtlichen Druck öffneten. Das ganze Mädchen drängte sich noch näher, noch inniger an ihn, Leidenschaft flammte auf, sie suchte, hob ihren Körper, schob sich auf ihn, er fühlte sich tief eingelassen, sie warf ihren Kopf in den Nacken, fiel dann vornüber und beide vergingen in den Zuckungen einer orgiastischen Explosion.
Sie lagen sich unendlich in den Armen, bis ein wisperndes 'Liebster' an sein Ohr drang.
„Ja, hauchte er zurück, Liebste, Allerliebste, sprich.“
„Es ist so, sagte sie, ich bin nicht mehr ganz ich. Bin nicht Tag und Nacht Nora, so wie du Bernd bist. Ich erklär es, doch du darfst nie fragen, warum das so ist. Nie, es sei, du wärest meiner überdrüssig, dann stelle diese einzige Frage, und ich vergehe. Hast du verstanden? Sag nichts, nur nicken, ich fahre dann fort. Gut, du hast verstanden.
Ich will dein sein, wenn du willst, bis an das Ende aller Nächte, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Bevor die Sonne über den Horizont gekrochen bin ich verschwunden, sind ihre letzten Strahlen des Abends verblasst, bin ich zurück. Im Winter heißt das, viele Stunden für uns, im Sommer wenige. Doch es gibt Abhilfe, wir reisen dem Winter hinterher. Leben, wo es lange Nächte gibt. Bei Tag bin ich verschwunden und du schläfst, wirst du wach, bin ich wieder da. Die Wintertage sind kurz und wir machen die Nacht zum Tage.“
„Gut, Nora, doch wovon leben wir? Wir müßten reisen, in fremden Ländern leben, wovon bezahlen?“
„Liebster, das Wichtigste hab ich nicht vergessen? Money makes the world go around. Geld nicht unser Problem, wünsche es und du hast es. Für uns gäbe es keine Beschränkung, weder geldlich, noch in Lebenszeit. Solange du es mit mir aushälst, alterst du nicht. Irgendwann jedoch wird das schönste Leben fad, sei‘s drum, nach fünfzig Jahren genügt dein Wunsch, und du wirst nicht mehr sein.“
„Warum nach fünfzig Jahren, Nora?“
„Bernd, du bist jetzt vierunddreißig? In fünfzig Jahren bist du vierundachtzig, dein natürliches Leben neigt sich dem Ende zu. Bist du seiner überdrüssig, müde, genügt der Wunsch und es ist vorbei. Doch macht`s dir Spaß, bleibst du für immer jung, keine Fragen bitte! Komm, nimm mich in den Arm, grüble nicht, die Nacht ist bald vorbei und der Sommertag wird lang. Ich werde mich nach dir verzehren, jeden Vogel beneiden der den Tag besingt.“
Als ich aufwachte war ich allein. Die Sonne stand im Mittag, kein Wunder mein langer Schlaf, die Nacht war nicht zum Schlafen da, Nora`s Devise. Grüble nicht hatte sie gesagt. Verwunderlich, wie unbedenklich ich ihr folgte, diese unbeschreiblich irrsinnige Situation hinnahm, als ob weiter nichts wäre. Sie ist wieder da! Sieht aus wie Nora, spricht wie Nora, fühlt sich an wie Nora, ist leidenschaftlich wie Nora, doch ist sie Nora? Drehe ich den Spieß um, bin ich Bernd? Dr. med. Bernhard Bernd seit vier Jahren Chirurg am St. Johannes Hospital? Bin ich noch der, oder eher ein Verwirrter, den der Verlust seiner Geliebten um den Verstand gebracht hat? Ich muss mit Vicky sprechen, sie entscheiden lassen, was zu geschehen hat.
Ich machte mich frisch, durchmusterte beim Rasieren mein Gesicht wie zu Jünglingstagen, damals in Erwartung des ersten Flaumes auf der Oberlippe. Da war keine Veränderung, nichts, was auf Chaos und Doppelbödigkeit hinwies. Was, ich schickte mich einfach? Was wäre schlimm daran? War mein Leben vor Nora so einmalig aufregend gewesen? Was zwang mich so weiter zu machen? Was bot Nora an? Sich und ewige Jugend, Wahnsinn? Wieso? Tag und Nacht tauschen, und? Sicher war sie eine Hexe oder ähnliches, Fee, Engel, Teufel? Teufel konnten weiblich sein, hatte uns Kaplan Oslislo im Kommunionsunterricht belehrt. Teufel waren gefallene Engel, einstmals Gott nah. Denk ich an Noras Lippen, ist da was dran. Also langsam, Bernd, vergiss Vicky, geh frühstücken, danach ziehe die Vorhänge zu, schöpfe Kraft für die Nacht.
Der Wecker klingelte um 22.15 Uhr. Ich sprang auf, sah mit einer Andacht wie noch nie im Leben, die Sonne in rot flammender Pracht hinter dem Horizont versinken. Als der letzte Schimmer verglühte, des Tages Farben vergangen, fühlte ich Nora hinter mir.
Sie schlang ihre weichen warmen Arme um mich und flüsterte:
„Ich habe dein Grübeln gefühlt, fürchte mich vor dem Ergebnis.“
„Kannst du meine Entschlüsse nicht lenken, Liebste?“
„Nein, kann ich nicht, Menschen haben einen freien Willen.“
Hier hätte ich fragen können: Menschen, Nora, bist du kein Mensch? Ich fühlte ihre Spannung, wusste, hier gabelte sich der Weg, das falsche Wort und sie war für immer dahin. Ich fühlte mein Herz rasen und war ganz sicher, sie fühlte es auch. Nach einer Weile presste ich hervor:
„Ich habe nachgedacht, die längsten Nächte wären in, Punta Arenas, Chile. Der Ort ist wenig anziehend, dafür sehr lange finster. Dahin könnten wir uns verziehen.“
„Warum verziehen, Bernd? Hört sich so an, als fiele es dir schwer, mit mir die Nacht zum Tag zu machen?“
„Nicht mit dir, Nora. Die Nacht zum Tag zu machen, schon eher. Ich verliere meine Existenz. Wie erkläre ich meine Kündigung, Professor Stap, meinem Chef? Es ist nicht leicht, einen solchen Job zu bekommen. Stap verliert das Vertrauen in die Menscheit, wenn ich die Brocken hinwerfe. Überhaupt, ist nicht nur Stap, mein Lebensplan geht von jetzt auf hier den Bach runter. Ist auf die Schnelle schwer zu verdauen.“
„Aber, Liebster, zerstreue deinen Kleinmut, bedenke, was du, nein, was wir gewinnen. Außerdem, ich kann dich beruhigen. Wird alles, wie sagt man, sozialverträglich vor sich gehen, überlass das mir. Solltest du aus welchem Grund auch immer, in einem, zwei oder fünf Jahren, das Rad zurückdrehen wollen, steigst du ein, wo du aufgehört hast. Keiner wird etwas bemerkt haben, niemand wird fragen. So wie du, Liebster, nicht fragst.“
„Mit anderen Worten, Nora, es genügt ein vorwärts oder auf geht`s, und es ginge los?
Nicht ginge los, Bernd, sag`s und wir sind da!“
1818
Königsberg! Für Mascha eine neue Welt. Nicht die Stadt, die kannte sie. Die Selbständigkeit, das Leben ohne Rückfragen und Rücksichtnahmen, faszinierten und irritierten sie gleichermaßen. Lara und sie wohnten in einem großzügig ausgestattetem Haus, das Moses seit Jahren besaß. Im Erdgeschoss waren die Wohn- und Wirtschaftsräume für das Personal, in der ersten Etage Laras und ihr Schlafzimmer sowie eine Flucht repräsentativer Räume, für Empfänge und andere Gelegenheiten. Alles von gediegenem Geschmack und so hoher Qualität, dass es Mascha in den ersten Stunden nach ihrer Ankunft, die Sprache verschlug. Für sie war Moses schon lange nicht mehr der Viehjud, sie hatte sich längst an seine facettenreiche Belesenheit und Bildung gewöhnt, doch ein solches Stadthaus inmitten von Königsberg, sprengte den Rahmen dessen, was sie sich hat vorstellen können.
Lara, der sie ihre Fassungslosigkeit nicht verbarg, verstand sie nur allzu gut. „Auch mir, Mascha,“ erklärte sie ihrer Freundin, „hat Moses seine materiellen Tresore nur geöffnet, wenn Verschweigen oder Verstecken nicht mehr möglich war. Es ist mir bis heute schleierhaft, aus welchem Grunde er sich hinter dem Viehjud versteckt. Er hat Grundbesitz in Berlin, Warschau und Dresden, ich weiß das, weil ich schon da war. Was nicht offensichtlich wird, verschweigt er. Da ist nichts zu machen. Er kommt mit der Ausflucht, was du nicht weißt macht dich nicht heiß. Sollten sich die Zeiten und Zustände gegen uns kehren, kommt der Viehjud möglich mit einem blauen Aug davon, ein Reicher nimmermehr.“
„Kenne ich, Lara,“ konnte Mascha beipflichten, „unsere Freundschaft hält er geheim, als ob er die schwarzen Pocken bekäme, würde die publik.“
„So ist mein lieber Mann, Mascha. Wir haben alle unsere Marotten und Knicke, du deine Heilkunde, ich meine Korrespondenzen, und Moses seine Geheimniskrämerei.“
„Sicher, Lara, ich kann mich leicht mit den Tatsachen anfreunden, was mich so neugierig macht, woher hat er das alles? Wo hat er seine Kenntnisse her, Reichtum anzuhäufen, und hier handelt es sich offensichtlich um Reichtum, bedarf profunder Kenntnis.“
„Da habe ich eine Ahnung, Mascha. Es ist die sogenannte Libeskindsippe und die Briefe. Es vergeht kein Tag, an dem Moses nicht mehrere Briefe schreibt und empfängt. Seine Verschwägerungen reichen in alle europäischen Länder, wie seine Geschäfte. Schreibt ihm einer seiner Schwäger, sagen wir aus Mailand, und bittet um Beteiligung an einem lohnenden Handel, so kannst du dich darauf verlassen, am nächsten Tag schon, ist ein von Moses gezeichneter Wechsel nach Mailand unterwegs. Das Kuriose, der Schreiber ist nicht sein Schwager, wie sollte er, Moses und seine Mischpoke hat ihn nie zu Gesicht bekommen. Es reicht, er schreibt den Brief mit hebräischen Lettern, auf Jiddisch oder Hebräisch und hat eine Empfehlung, dann ist er Schwager.
Als er an der Finanzierung von Seegrund arbeitete, wird es ähnlich abgelaufen sein. Er hat verschiedene Schwäger angeschrieben, ihnen sein Anliegen erklärt und das Kind war geschaukelt. Die jüdischen Händler sind wie eine große, sich selbst tragende Bank. Moses behauptet, noch nie einen Taler an einen Schwager verloren zu haben.“
„Da kann unsereins nur den Hut lüften, Lara. Ich kümmere mich nicht um die Dinge, die Claus geschäftlich treibt, mir ist aber bekannt, Moses ist der Einzige bei dem ihm ein Handschlag genügt, bei allen anderen wird Papier beschrieben, meist handelt es sich nicht einmal um Geschäfte, jedenfalls nicht in Moses Sinne.
Aber genug von Geschäften und unseren Männern. Ich freue, mich ein gutes Schock Meilen zwischen mir und meinem Eheliebsten zu haben. Genieße geradezu die freie Luft, die es um mich herum zu atmen gibt.
Hast du schon eine Vorstellung, wie wir den Rest des Tages gestalten?“
„Wenn du magst, Mascha, einige. Ich habe fünf Empfehlungsbriefe für Hauskonzerte. Heute Abend könnten wir uns bei Monsieur Windgassen und seiner jungen Frau einladen, geboten wird, wie jeden Donnerstag ein Gesangsabend, diesmal mit Liedern eines jungen Komponisten aus Wien, ein Geheimtipp, Franz Schubert, heißt er. Seine innigen Lieder werden nur in privaten Zirkeln dargeboten. Madame Windgassen hat, laut Moses, eine herrliche Stimme und wird heute Abend Schubertlieder singen.“
„Herrlich, Lara, innige Lieder, da heißt es die Seele putzen. Habe Innigkeit die letzten Jahre nur passiv erfahren, könnte mir guttun, den Sinn dafür zu exhumieren.“
„Mascha, exhumieren!“
„Was denn, liebe Lara, als unser Pastor eine Kapelle an seine Kirche anbauen wollte, Claus ihn fragte, wo er den Platz hernähme; sprach der von Exhumieren. Er meinte, zur ewigen Ruhe Gebettete müssten seiner Kapelle weichen. Faselte vom Recht der Lebenden gegenüber den Toten, und meinte treuherzig, die infrage kommenden Gräber seien alle schon über hundert Jahre alt. Claus hat ihm kräftig heimgeleuchtet: Wenn das deine Ewigkeit ist, Pastor, hat er geknurrt, sparen wir uns in Zukunft den Kirchgang.“
„Da bin ich seiner Meinung, Mascha, aber nur vor dir, könnte mir schlecht bekommen, einen christlichen Pastor zu kritisieren.“
„Dem möchte ich nichts hinzufügen, freuen wir uns lieber auf die Stimme der, wie hieß sie noch?“
„Madame Windgassen, Mascha.“
„Ach ja, Madame Windgassen, und die innigen Tondichtungen des Herrn Schubert, da bin ich gespannt. Hast du eine Ahnung, wessen Texte er vertont hat, oder sind es am Ende eigene Dichtungen?“
„Genau weiß ich es nicht, Mascha. Aber ich glaube, Goethes Gedichte haben es ihm angetan. Sicher weiß ich, der Erlkönig ist darunter und, ja, jetzt fällt es mir ein: Wanderers Nachtlied und Gretchen am Spinnrad. Bitte frag nicht weiter, befinde mich bei Herrn Schubert auf schwankendem Boden.“
„Fein, Lara, ich freue mich, habe schon ewig lange keine Kultur mehr genossen.“
„Geht mir nicht anders. Moses hat mich in den letzten fünf Jahren einmal mit nach Warschau genommen, und zweimal war ich in Königsberg. Nach Warschau kriegen mich keine zehn Pferde mehr. Im Theater saßen wir, weit hinter dem Parkett in der Judenloge. Überhaupt ist das Klima dort, ausgesprochen unfreundlich für unsereins.
In den Kirchen wird alljährlich zu Ostern, mit bösen Tönen den jüdischen Gottesmördern der Prozess gemacht. Auf dem Lande, kommt es danach oft genug zu Übergriffen. Da leben wir im nüchtern, protestantischen Preußen, wie auf einer Insel der Seligen. Aber was soll`s, freuen wir uns auf Madame Windgassen und Franz Schubert.“
„An sich, Lara, wäre es eine Aufgabe, ähnliches in Lyck zu organisieren. Dein Moses ist ein begabter Geiger, ich spiele das Instrument passabel, fehlen uns noch zwei und wir hätten ein Quartett.“
„Ging mir auch durch den Kopf, was wir brauchten wäre jemand, der ausreichend gut Piano spielt. Hätten wir den, könnten wir uns einen Liederabend gönnen.
„Du kennst Stimmen?“
„Du auch, Mascha, die ausschlaggebende ist im Sommer bei dir repariert worden.“
„Die Gensfett?“
„Eben die! Verfügte ihr Lebtag über einen glockenhellen Sopran, der jetzt zum Alter hin etwas nachgedunkelt ist. Aber das Entscheidende ist, sie beherrscht ihr Instrument. Du solltest ihre Kolleraturen hören! Nicht dass mich minutenlanges Trillern und Kollern besonders hinrisse, aber es gibt eine Ahnung vom Können einer Sängerin.“
„Darf ich fragen, weshalb so etwas in deiner Küche verdämmert?“
„Der Kropf, Mascha. Schon in jungen Jahren hat der ihre Atmung behindert, es war äußerlich nichts zu sehen, aber Dr. Feinstein hat, als er ihr in den Hals geschaut, eine Operation kategorisch ausgeschlossen. Das war lange nachdem sie alle Hoffnung auf eine Karriere als Sängerin aufgegeben hatte. Bei mir am Herd hat sie gleichwohl gesungen und uns alle ergötzt. Als Moses sie hörte, bestand er darauf, sie mindestens einmal die Woche ein halbes Stündchen, eben so lange wie ihr Atem reichte, auf der Violine zu begleiten.
Jetzt, nachdem dein Schwiegersohn sie von dem widerlichen Kropfungeheuer befreit hat, solltest du sie hören! Phänomenal, nur für den öffentlichen Auftritt ist sie nicht mehr schön genug. Wäre sie ein Mann, hätte sie eine Chance, aber wir Frauen müssen um goutiert zu werden, tüchtig und reizend dazu sein.“
Lara und Mascha konnten so in endlose Gespräche fallen. Ein Blick auf die Uhr machte ihrer Unterhaltung ein Ende. Eine halbe Stunde für die Toilette sollte uns reichen, entschied Lara, und so standen die Damen als der Schlitten vorfuhr, in warme Pelze gehüllt, wartend an der Haustür.
Windgassens bewohnten ein geräumiges Bürgerhaus mit großzügigen Paterreräumen, in denen die Musikabende zelebriert wurden. Zelebriert, ist das einzig passende Wort für die Art und Weise, wie Winfred Windgassen seine Gäste empfing und sie zu ihren Tischen geleitete.
Winfred, wie er sich vorstellte, und sogleich bat, nur so und nicht Windgassen genannt zu werden, war ein schmächtiger, älterer Herr mit großen, sprühend blauen Augen, in einem dafür zu kleinen Gesicht. Die Damen hatten den Eindruck, von Laternen angestrahlt zu werden, so eindringlich war dies Leuchten.
Winfred blieb, nachdem sie sich gesetzt hatten, noch ein wenig bei ihnen stehen, erkundigte sich nach dem ihm so lieben Moses, und befragte Mascha nach Steinfeld und Seegrund. Ihren zufriedenen Bericht nahm er voll Freude zur Kenntnis, wobei er durchblicken ließ, welche Sorgen ihm, die vormaligen Besitzer von Seegrund bereitet hatten.
Während sie sich unterhielten, war eine schöne junge Dame ans Piano getreten, nahm die bereitliegenden Noten und studierte die Blätter. Sie schaute zu Winfred hinüber. Als sie leicht in die Hände klatsche bemerkte er sie, verabschiedete sich von den Damen mit einer kleinen Verbeugung, die er halb zu der Schönheit am Piano hindrehte, wobei er ihnen zuflüsterte: „Meine Frau!“
Winfred drehte den Schemel vor seinem Instrument in die zu ihm passende Höhe, schlug einen Akkord an und wartete, bis Ruhe einkehrte. Seine Frau hatte die Noten aus der Hand gelegt und sich ihm zugewandt. Winfreds kleines Gesicht war jetzt nur noch Augen, er nickte seiner Frau zu und intonierte Wanderers Nachtlied.
Madame Windgassens Stimme, schwang sich wie auf Schwalbenflügeln durch den Raum, verband sich mit den Klängen des Pianos, und trieb nach kurzer Zeit allen anwesenden Damen, Tränen der Sehnsucht in die Augen. Die romantische Zartheit dieser Töne, hatte in diesen Breiten noch nie ein Ohr vernommen.
Als zum Ende hin das Piano aufdonnerte und dann schwieg, schwang sich Frau Windgassens Stimme noch einmal hoch empor, trug die Gedanken des Franz Schubert in jedes Herz.
Es folgten Gretchen am Spinnrad und der Erlkönig. Letzterer verfolgte Mascha und Lara noch lange mit seiner düstern Metaphorik, den treibenden Rythmen und der an Schreie gemahnenden Interpretation der Sängerin.
Auf dem Nachhauseweg durch dichtes Schneetreiben, welches der Anlass für das vorzeitige Ende des Abends war, verkrochen sich die Damen tief in ihre warmen Pelze, und legten die Arme umeinander. Der Schlitten glitt endlos lange, durch das undurchdringliche Weiß des Schneesturms. Der Kutscher hielt die Pferde alle naselang an, um sich zu orientieren. Endlich ging es weiter, doch die Stadt schien versunken im Schnee.
Kein Kirchturm, kein Licht, kein Laut, kein Haus. Plötzlich scheuten die Pferde, liessen ein erschrecktes Wiehern hören. Der Kutscher sprang vom Bock, versank bis zum Bauch im Schnee und arbeitete sich mühsam zu den Köpfen der Tiere vor.
Mascha sah, wie er einen Arm zum Kopf des Tieres neben ihm ausstreckte, wohl das Halfter suchte, es zu fassen bekam, und Tiere wie Schlitten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zu ziehen trachtete. Erst nach langem Hüha und Drängen, gelang ihm das.
Die Pferde hatten den Schlitten gedreht und standen dampfend in einer breiten Schneekuhle, die, wie zu ahnen war, schnell zugeweht sein würde.
Lara beugte sich vor und schrie den Sturm zu übertönen suchend: „Jonas, Jonas!“ Der Kutscher hörte sie und arbeitete sich zu ihr hin. „Was soll werden, Jonas?“ fragte sie ängstlich.
„Gnädigste, ich nehme den Gäulen die Trensen raus,“ erklärte Jonas. „Die finden den Weg in einen Stall besser als ich. Braucht nicht unser Stall sein, wenn er nur Deckung gibt vor diesem mörderischen Sturm.“
Jonas ging zurück zu den Tieren, tätschelte ihnen Hals und Rücken, versuchte sie zu beruhigen. Nichts war zu hören, neben dem infernalischen Heulen der aufgebrachten Luft. Es ging langsam mit ständigen Unterbrechungen vorwärts, in diesem weißen Gefängnis verschwand das Gefühl für Zeit, weder Lara noch Mascha wussten, wie lange sie unterwegs waren. Voll Angst und um sowenig Wärme wie möglich zu verlieren, klammerten sie sich aneinander und hofften.
Aus dieser am Rande des Bewusstseins schwebenden Halbstarre, rüttelte sie eine rauhe Hand wach. Sie blinzelten in das Gesicht eines Eismannes, aus dem nur ein Wort ihr Ohr traf: „Gerettet!“
Die Pferde hatten nach Hause gefunden. Jetzt ging alles ganz schnell. Die Bediensteten die die halbe Nacht, voll Sorge auf ihre Rückkunft gewartet hatten, hoben sie aus dem Schlitten. Nachdem sich beide aus den eisverkrusteten Pelzen geschält hatten, stellte sich schnell heraus, sie hatten das Abenteuer unbeschadet überstanden. Jonas, ihrem Retter, den sie zu sich baten, war nichts erfroren. Er genoß dankbar ein erstes und noch ein zweites Glas Branntwein. Er wies jedes besondere Verdienst seinerseits weit von sich, beharrte, die Pferde hätten den rettenden Weg zum Stall gefunden. Sein Anteil sei nur ständige Ermunterung und Ansporn gewesen.
„Sei`s drum, Jonas,“ beschied ihn Lara. „Ich werde Moses Libeskind berichten, wem wir Dank schulden, für die Errettung aus den eisigen Fängen des Erlkönigs, er wird es zu richten wissen.“
Jonas schlug die Haken zusammen, machte einen tiefen Diener und ging rückwärts zur Tür, nicht ohne zuvor seine Zunge noch einmal heischend in das Brandweinglas versenkt zu haben. Lara lächelte, nahm die Flasche und gab sie ihm mit den Worten: „Jonas, morgen brauch ich ihn nicht, vergnüg er sich in aller Ruhe mit der Flasche.“
Als er gegangen war, nahm Mascha, die sich bei der Szene Mann und Flasche aus ihrem Sessel erhoben hatte, Lara beim Arm und fragte: „Ich habe doch richtig gehört, du sagtest, errettet aus den eisigen Fängen des Erlkönigs?“
„Ja, Mascha, so empfand ich es. Während der langen Irrfahrt durch den Sturm ging mir der Erlkönig, die Schreie des Knaben, von der Windgassen so natürlich intoniert, nicht aus dem Sinn. Zeitweise befiehl mich die nackte Angst, dem Unhold ausgeliefert zu sein.“
„Du sprichst mir aus dem Herzen, Lara. Es war nicht der Sturm, der mich ängstigte, was mich umwarf, war das meine Seele erschütternde Lied, vom Sterben des Knaben im Arm seines Vaters, die durchklingende Erbarmungslosigkeit seines Peinigers. Hoffentlich lässt er heute Nacht von uns ab.“
„Ich hoffe es wie du, Mascha! Aber horch, der Unhold scheint ausgepustet zu haben, ich höre sein Heulen nicht mehr!“
Wenn auch der Auftakt des Königsberger Aufenthalts erschreckend war, die folgenden Wochen waren ein einziges Fest. Windgassens gaben sich noch zweimal die Ehre, und jedes Mal erschütterten und erfreuten Mascha und Lara ihre Kunst. Was sie beide aber zu tiefem Nachdenken brachte, war die Aufführung von Schillers Kabale und Liebe, am königlichen Theater. Jede kannte Beispiele aus ihrem Kreis, wo ständig an Kabalen mit feinster Nadel gestichelt wurde.
„Auch ich,“ sinnierte Lara, als sie eines nachmittags beim Tee, das sie im Bann haltende Thema Kabale durchnahmen, „bin nicht frei von Ränke. Ehrlich, Mascha, nachdem Kabale mir so nahegebracht wurde, bin ich meinem eigenen Hang begegnet, die Dinge zu meinen Gunsten zu lenken. Selbst bei gnädigster Beurteilung, muss ich das gestehen. Es ist nicht so, dass ich mit festen Willen zur Kabale, an Probleme herangehe; doch unter der Hand gerät es mir oft dazu.“
„Liebe Lara, wir sind alle keine Engel. Betrachte ich mich, gestehe ich ohne Scheu und schlechtes Gewissen, dass eine gehörige Portion Berechnung mein Tun oft leitet. Wäre das nicht so, wo bliebe ich? Um meine vernünftigen und meist berechtigten Wünsche erfüllt zu bekommen, kann ich gar nicht anders als berechnend sein. Mein lieber Claus hat es sich zur Gewohnheit gemacht, seit ich ihn kenne, ich glaube aber zeitlebens, Wünsche, mit einem nicht weiter bedachten Nein, abzuschmettern.
Wer sollte mir verargen, ihm, was ich will, so zuzubereiten, bis er es als identisch mit seinen Vorstellungen empfindet. Dazu kommt noch der passende Ort, verbunden mit der passende Zeit des Vortrages.“
„Mit letzterem, Mascha, meinst du intime Situation und intimen Ort?“
„Lara, sicher! Die größte Macht über das andere Geschlecht verleiht uns das Bett. Seit altersher der Ort, an dem das weibliche Prinzip das männliche, im übertragenen Sinne und realiter nieder zwingt.“
„Sicher ist mir das bekannt, liebe Freundin. Nicht nur bekannt, ich nutze es, was mir andererseits den Kopf macht. Mein Moses ist ein liebenswürdiger Gatte, ich bin ihm von Herzen zugetan. Auch macht unser Treiben im Bett mir große Freude, ja läßt mich manchmal vor Verwirrung schier aus der Haut fahren.
Doch zum Eigentlichen. Es belastet mich, nachdem ich es in meinem Kopf wälze, wie schnöd, ja schnöd, ich wüsste kein anderes Wort, ich ihm abschmeichele, wonach mich gelüstet. Unseren Aufenthalt hier, abgeschmeichelt. Die Empfehlungen, die meine Korrespondenzen ermöglichen, abgeschmeichelt. Unsere Verbindung, abgeschmeichelt!“
„Liebe Lara, nun ist aber Schluss! Was du da vorbringst unter dem Rubrum abgeschmeichelt, sind die legitimen Wünsche der Ehefrau, eines reichen Mannes mit Einfluss. Dass er gern den Viehjud gibt, sollte dich nicht veranlassen ihm nachzueifern! Was unsere Verbindung angeht, kannst du sie ihm nicht abgeschmeichelt haben, was wäre gewesen, wir hätten uns nicht gemocht?“
„Aber letztlich hat er uns zusammengebracht, Mascha, und ich habe ihn darum gebeten.“
„Sicher, aber was solls? Bedenke bitte, ich war und bin wöchentlicher Gast in eurem Hause, wie hätte er dich vor mir verbergen sollen? Sicher hätte ich die Madame Libeskind, über kurz oder lang kennenlernen wollen. Kurz und gut, ich meine, unsere Plaudereien über das nicht so glockenhell, engelhafte unserer Seelen sind höchst lehrreich, belasten mich jedoch in keiner Weise! Umgekehrt wird ein Schuh daraus, Lara! Der Dichter zeigt uns, wir sind nicht allein mit unseren Versuchungen, was bedeutet, allzu selten können die nicht sein. Ich für meinen Teil lebe ungeniert damit, und bitte dich, es mir gleichzutun.“
„Schön und erfrischend ist das, Mascha, wie du die Dinge siehst und meisterst. Kann sein, die Schul und der Rabbi in Bialystok, haben mich noch allzu sehr im Griff.“
„Das könnte der Fall sein, Lara. Ich bin erst seit meiner Heirat keine Katholikin mehr. Du würdest staunen, was der geistliche Herr, der sich vor meiner Ehe für mein Seelenheil verantwortlich fühlte, Abstruses über Keuschheit und Tugend zu berichten wusste. Damals war ich ein Gör, hatte keine Ahnung, wovon der Mensch sprach, das heißt Ahnung schon, aber jenseits aller Wirklichkeit. Mit heutigem Wissen würde ich ihn fragen, wie er sich das Kindermachen vorstelle?“
Lara schnappte nach Luft. Ein sparsames Lachen zuerst, dann brach es laut und unbezwingbare aus ihr heraus. Zwischen Lachkaskaden stieß sie hervor: „Kindermachen! Noch nie gehört, aber herrlich zutreffend das Kindermachen,“ während ihr die blanken Lachtränen die Wangen herab kullerten.
Nachdem sie sich beruhigt, die Augen ausgewischt, schüttelte sie den Kopf, immer noch mit leisen Lacheruptionen ringend, wiederholte sie: „Kindermachen! Ja, Mascha, ein treffendes Wort. Bezeichnend, in welcher Abgeschiedenheit von der Welt ein jüdisches Mädchen groß wird. Deine Nora kennt das Wort?“
„Gewiß, seit ihrem ersten Unwohlsein kennt sie den Unterschied zwischen Mann und Weib. Ich besitze eine Schautafel aus Holland, auf der die Anatomien beider Geschlechter in Farbe täuschend echt abgemalt sind. Ob ich Kindermachen gesagt habe, bei meinen Erklärungen? Eher nicht. Wir leben von den Tieren, züchten sie, das heißt, vom Zeugen, Springen und Machen von Nachwuchs, wird alltäglich geredet.“
„Mascha, du besitzt ein Bild, auf der die gewissen, ich kann es nicht ausdrücken, abgebildet sind?“
„Ja doch, in allen Einzelheiten und farbig.“
„Farbig? Gewalt geschrieen! Darf ich das, nein das will ich sehen! Auch unseres?“
„Sicher, mit allen Lippen und Öffnungen von außen und von innen.“
„Und Nora hast du das gezeigt, da war sie, ich schätz mal, vierzehn?“
„Um den Dreh, Lara, genau erinnere ich das nicht.“
„Aber sie war noch ein Kind?“
„Lara, ist deine hübsche Betseba ein Kind? Ich erinnere mich doch recht, einen vollen Busen, eine schlanke Taille bei ihr beobachtet zu haben. Daraus schließe ich, sie blutet jeden Monat?“
„Sie hat eine wunderschöne Figur, Mascha, sicher, sie ist körperlich eine Frau.“
„So? Erinnerst du dich unseres Gesprächs über den Schadgen, den Ehevermittler? Deshalb ist sie doch mit uns nach Königsberg gekommen? Was stellst du dir vor geschieht, wenn das Mädchen unaufgeklärt einem Fremden verheiratet wird, der leicht zwanzig Jahre älter ist als sie? Ich antworte für dich: Sie wird ruiniert. Gebrochen an Leib und Seele. Der Körper erholt sich, aber ihre Seele bleibt verschattet.
Davon abgesehen, Lara. Nach der ersten Demarche sind Mädchen Frauen, können Kinder empfangen und gebären. Es geschieht jeden Tag, dass Fünfzehnjährige verheiratet werden. Also müssen sie vorher erfahren, was im Bett mit ihnen geschieht, und wie es geschieht. Sie müssen, bevor das Glied ihres Ehemanns in sie einfährt, wissen, es macht nach kleinem ersten Schmerz, Freude und Kinder. Sie müssen ihre Öffnungen kennen, um Klapaidas Mittelchen, sollten die Tröpfchen nicht langen, richtig zu deponieren. Die behüten sie vor jahrzehntelangem dicken Bauch. Du tust das doch auch, Lara?“
„Ja, Klapaida meint, ich sei zu zart, um noch ein Kind zu bekommen, es könnte mich das Leben kosten.“
„Recht hat sie, was nutzen dem Moses zwei Waisen.“
„Mascha, könntest du meiner Betseba die Bilder zeigen und erklären? Ich schaffe das nicht. Ich will sie sehen, aber nicht zusammen mit ihr. Ist ihr sicher auch lieber.“
„Seht ihr euch nackt, Lara?“
„Eigentlich nicht, nein. Als sie letzten Winter so furchtbar darniederlag, habe ich sie stündlich, von Kopf bis Fuß mit Klapaidas Tropfen eingerieben, da war sie nackt. Sonst aber nicht.“
„Darf ich indiskret sein, Liebes?“
„Ja darfst du, Mascha.“
„Moses? Sieht der dich nackt?“
„Ja doch, manchmal schon. Aber eher fühlt er mich nackt. In seinen Armen bin ich nackt.“
„Gut so, Lara. Das mit Betseba halten wir so. Sobald wir zurück sind, kläre ich sie über die Wirklichkeiten des Lebens auf.“
„Danach mich bitte. Kann nicht vor meiner Tochter ins Hintertreffen geraten.“
„Darf ich mit ihr über unser Gespräch, die Anatomie betreffend, reden?“
„Bitte Mascha, darfst und solltest du. Vielleicht durchbricht das die Mauer der Körperscham zwischen Mutter und Tochter. Ihr habt da keine Hemmungen, schätze ich?“
„Zwischen meinen Töchtern, mir und allen anderen Frauen auf Steinfeld gibt es keine Schamschranke. Wir gehen jede Woche in der kalten Zeit zusammen ins Dampfbad.“
„Von dem Schwitzbad hat Moses mir erzählt, nach der Zecherei bei euch, sei er mit deinem Mann im finnischen Bad gewesen. Habe ihm gut getan.“
„Siehst du, Lara. Also zuerst wird aufgeklärt, danach kommt ihr beide mich besuchen, und wir gehen zusammen ins Dampfbad.“
„Da muss ich den Moses fragen.“
„Wieso? Der darf nicht mit uns Frauen ins Dampfbad, möchte sich aufregen!“
„Nicht doch, das will er sicher nicht. Fragen werd ich ihn, ob ich nach Steinfeld darf. Deine Obermamsell, wird er fürchten, wird es durch Lyck tragen, wenn die Jiddsche vom Viehjud, beim Grafen Kelm im Dampfbad saß.“
„Liebe Lara, würdest du mir gestatten, das mit Moses auszufechten? Er kann, solange er mag, in Sack und Asche wandeln, doch warum sollten Frau und Tochter ihm folgen. Glaubst du, es wäre nicht längst rum, dass ich einmal die Woche mit ihm musiziere? Wie stellt er sich sein Verhältnis zu Nora und ihrem Mann vor? Ihr wohnt am gleichen Ort, seid die einzigen Menschen mit Kultur? Euch ignorieren? Da kennst du den Bernd, und meine Nora schlecht. Ganz abgesehen davon hast du mir versprochen, Nora zusammen mit Betseba zu unterrichten. Ganz und gar nicht geheimzuhalten.“
„Das mag stimmen, doch...“
„Lara! Das mag nicht stimmen, das ist so! Und setze deinen Satz nicht mit doch fort! Die hochwohlgeborenen Familien der Grafen zu Bern und von Kelm, werden mit der Familie des Viehjud Libeskind verkehren, und wenn er sich auf den Kopf stellt! Wird doch von den Übelwollern als Schwäche gedeutet, wenn etwas nicht zu Verbergendes verheimlicht wird. Glaubst du im Ernst, es wäre den Lyckern entgangen, dass die Gensfett bei uns operiert wurde, der Moses sich mit dem gnädigen Herrn besoffen, und nackt mit ihm in der Sauna gesessen ist, nachdem er ihm das herrliche Gut Seegrund zugeschustert hat? Dies ist Originalton Klatsch, wie er uns zugetragen wurde, Lara. Nicht zusammenhängend in einem Satz, sondern stückchenweise und mit vielen 'stimmt das' und 'muss das wirklich sein' versehen.“
„Mascha, das erschreckt mich. Kannst du mir sagen, wer so über uns redet?“
„Aber sicher, du Unschuldslamm! Alle, einfach alle! Gefragt worden sind wir von unseren Standesgenossen, nur die trauen sich das. Als Claus bei einem solchen Gelegenheit fragte, woher die Mär, waren es die lieben Spatzen, die es von den Dächern gepfiffen. Also genug der Heimlichtuerei! Noch etwas, hatte Moses Einbußen bei seinen Geschäften in letzter Zeit, hat er geklagt?“
„Nein, hat er nicht, jedenfalls mir hat er nicht geklagt. Hätte es sicher getan, liefe etwas schlecht oder bemerkte er Behinderung. Nein, nichts von alledem.“
„Vergessen wir es, mag er mit seinem Frosch wie eh und je über Land ziehen, tut unserer Freundschaft keinen Abbruch, sofern er euch nicht einschränkt.“
„Ich werde es ihm auseinandersetzen müssen, Mascha. Wird nicht leicht, aber letztlich wird er ein Einsehen haben, ist ein vernünftiger Mensch, mein Moses.“
„Kann ich unterschreiben, Lara. Was ich noch fragen wollte, wo ist dein Goldstück abgeblieben? Drückt sich erfolgreich vorm Theater und all den schönen Abenden, hat sie was Besseres zu tun?“
„Nehme es an. Ich erzählte dir von der jüdischen Gemeinde hier, alles in allem zweihundert Seelen. Familie Wolfsohn stellt davon zwölf. Ein Elternpaar, sechs Mädchen und vier Knaben. Zwei der Mädchen und ein Knabe sind in ihrem Alter, du glaubst nicht, wie glücklich sie ist, endlich einmal unter ihresgleichen zu sein.
Sie wohnt teilweise bei den Wolfsohns, übernachtet da. Soll sie es genießen, tut ihrer kleinen Seele wohl.“
„Könnt es sein, sie wird da aufgeklärt, und meine Unterweisung unnötig?“
„Mascha, gleich stürzt du mich in den nächsten Lachanfall. Wie stellst du dir das bei frommen Juden vor? Vermehren tun die sich wie alle anderen, sicher mit Begeisterung, aber ebenso sicher mit schlechtem Gewissen. Uns Frauen werden, sind wir erst verheiratet, die Haare ratzekahl vom Kopf geschoren und durch eine widerliche Perücke ersetzt, damit wir keinen Liebreiz ausstrahlen möchten! Zum Glück widersetzen sich immer mehr Mädchen dieser Prozedur, bei den Strenggläubigen jedoch gibt es da kein Pardon. Stell dir unter diesen Umständen Aufklärung vor. Was unter Röcken und Hosen verborgen ist, wird nur bei Zeugung und Geburt wahrgenommen.“
„Na ja, Lara, so anders ist das bei Christen nicht. Jedenfalls bei der großen Mehrheit, Ausnahmen bestätigen die Regel.“
„Im Grunde, Mascha, bin ich dafür. Ist der einzige Weg wie Patoren und Rabbis Gottesfurcht vermitteln können. Die einfachen Leute wissen nichts von Ethik, was sie im Zaum hält ist ein strafender Gott, der ihnen die ewige Seligkeit oder das himmlische Jerusalem verweigert. Unsere Geistlichen nehmen sie beim Wickel, wo die meiste und liebste Sünde geschieht, alles andere wird in einem Aufwasch dazugepackt. Wir haben in Paris erlebt was geschah, nachdem die lieben Leute sich von der geistlichen Bedrückung befreiten.
Erst verloren die Majestäten den Kopf, dann fraß die Guillotine sich tiefer und tiefer. Zuletzt wackelte ganz Frankreich der Kopf auf den Schultern. Die Furcht vor der ewigen Verdammnis ist den Leuten Kandarre, gibst du ihnen Raum, verlieren sie jedes Maß.“
„So gesehen ist der Kategorische Imperativ unseres Königsberger Philosophen Kandarre, Lara?“
„Sicher nicht für den, der imstande ist, sich aus Eigenem zu zügeln, doch gibt es davon genug?“
„Sollte es geben, Lara. Ich bin erst durch meine Ehe Protestantin geworden. Bevor ich den anderen Glauben annahm, habe ich nach den Unterschieden zu meinem angestammten Glauben gegraben. Als ich die erkannte, war das ein Aha-Erleben für mich. Getrennt von dem Schnickschnack, den die Pfaffen auch dem Protestantismus angehängt haben, bleibt eins fundamental, mit Luther lernst du begreifen, zwischen dir und deinem Schöpfer steht nichts. Du stehst ihm gegenüber mit all deiner Schuld und Hoffnung, Hoffnung auf seine Milde. Gleichzeitig ist dir klar, es gibt keine Gegenleistung für den Glauben, der Glaube ist nicht zu hinterfragender Imperativ.“
„Ähnlich ist das mit Adonai, dem Ewigen, dessen Namen wir nicht aussprechen. Bei ihm gilt unverblümt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Also, ob Protestant oder Jud, im Hintergrund könnte Rache lauern. Ich sag dir, ist Humbug. Das Ewige ist Prinzip, nicht Person. Den ansprechbaren Gott, gibt es nicht.“
„O liebste Freundin, du bist, wie ich eine arge Ketzerin! Danken wir dem ewigen Prinzip, dass wir erst jetzt auf Erden wandeln, hätte früher übel ausgehen können.“
„Nu Mascha, solche Erkenntnis binde ich nicht jedem auf die Nase. Selbst mein Moses will nichts davon wissen. Gleichwohl bin ich dafür, dass fleißig gebetet und sich gefürchtet wird, ich sagte es schon.“
2003
Sag`s und wir sind schon da, hatte Nora gesagt. Na gut, dachte Bernd, na gut, mit soviel Vollkasko kann nichts schiefgehen, er nickte. Nora, die hinter ihm stand, ihn umschlungen hielt, drückte ihn ein wenig fester. „Und?“ hörte er sie sagen, und sich antworten: „Hab genickt, bin bereit! Nur zu!“
Punta Arenas! O Gott, durchfuhr es Bernd, als der eisige Sturm ihn packte, der durch die von geduckten Hütten gesäumte Straße fetzte.
Keine Bange, Liebster, in Noras Stimme vibrierte Freude, haben wir gleich im Griff, folge mir um die Ecke. Um voran zu kommen, lehnten sie sich beinah waagerecht gegen die fauchenden Böen, versuchten mit rudernden Armen Gleichgewicht zuhalten, um endlich die Ecke, wie Nora das windschiefe Huck genannt hatte, zu erreichen.
Einmal geschafft, war es schlagartig aus mit dem Wind. Bernd rieb sich die Augen. Vor ihnen lag breit hingelagert ein riesiges Iglu.
„Iglu hier, Nora, tief im Süden?“
„Was kümmerts uns, Liebster, komm schnell rein, bevor der Wind uns wieder packt.“ Innen schien jede Begrenzung aufgehoben. Sie standen in einem von angenehm sanftem Dämmerlicht beherrschten Raum. Bernd suchte nach Noras Hand, zog sie in seine Arme, flüsterte ihr ins Ohr:
„Als du verschwandest, Liebste, verlor die Welt für mich jede Farbe. Als du im Spiegel meines Bades auftauchtest, explodierte ich, dehne mich immer noch aus. Den Mann, der ich einmal gewesen, hast du in eine fliehende Wolke verwandelt. Versteh, ich fasse es nicht, selbst deine Zusicherungen, verunsichern mich nur noch mehr.“
„Pst! Sprich nicht weiter, vertraue mir! Das Unfassbare wird fassbar werden, Geduld! Du wirst der Bernd, der du warst, den ich liebe. Was sollte ich mit einem Wolkenmann? Selbst als leuchtender Stern am Firmament, wärest du, bei aller Erhabenheit, nicht mein Bernd. Freue dich an meinem Glück, erwarte deins. Glaube mir, schlafe, tanke Kraft und dein Selbstvertrauen kehrt zurück. Es wird hell, verlasse dich für kurze Zeit, doch sei gewiss, verlier dich nie aus dem Auge.“
Als sie verschwunden war, suchte ich ein Bett. Schlafen, Kraft tanken, sicher plausibel. Doch wie zur Ruhe kommen, mit den Turbulenzen in meinem Kopf. Klarheit schaffen oder verrückt werden, war das die Alternative? Wohl nicht. Nora, so sehr ich ihr verfallen, ist Nora und doch nicht Nora. Mit ihr im Bett zu rasen ist höchste Lust, was störte mich? Was schon, sie ist kein Mensch. Ist Wesen zwar von Fleisch und Blut, fühlt sich so an, sieht so aus, doch meine Wirklichkeit ist sie nicht. Wo, wer bin ich? Wo ist Gewissheit? Ist die von Nöten?
Einfach hinnehmen was geschieht, als unglaubliche Erfahrung genießen? Austieg zu jeder Zeit möglich, gib dich hin, Junge, mach dich lang, finde Ruhe. Freue dich auf das Zauberwesen, gib, was ihr mangelt, sofern du weißt, wonach sie hungert.
Doch so tick ich nicht, fühle ich nicht, bin ich nicht!
Wirklichkeit, was heißt das? Bin ich wirklich, die Welt, die Luft, mein Hunger, die Liebe, mein Hand und Fuß, Wirklichkeit? Wo der Beweis? Zweifel, überall Zweifel, Zweifel umstellt steh ich da, soll Bernd sein, ihr Bernd. Was ist, sie erkennt, durchschaut mein Bangen, Zagen, verlöre ihr Interesse, schubste mich zurück in mein Berndsches Dasein, ins graue, niederdrückende Nichts! Ja so wäre das: Niederdrückendes noraloses Nichts.
Muss mich sammeln, mir klar werden. Nicht nur die Lust, ihr Körper, der vorher nie erlebte Taumel in ihren Armen, besetzen mein Denken. Dahinter ist Anderes. Liebe, matte Umschreibung für das mein Sein beherrschende, nur mit ihrem Namen zu artikulierende Sehnen. Nichts gilt mehr, wenn nicht verschmolzen mit ihr, ein Körper die Nora, der Bernd. Ein Kopf, ein Herz, ein alles. Schlafen, schlafen. Träumen, von ihr und mit ihr träumen.
„Bernd wach auf, bin zurück!“
Da steht sie vor meinem Bett, lächelt auf mich herab, übergießt mich mit dem grünen Glanz ihrer Augen.
„Hast gegrübelt, Liebster, die Antwort zu finden gesucht auf die Frage, die du nicht stellen darfst. Vertrau mir, bitte, nein nicht einfach bitte, inständig bitte ich um dein Vertrauen. Lass einfach los, gib dich deiner Sehnsucht, die auch meine ist, hin. Lass uns gemeinsam entgrenzen, was eingesperrt uns bewohnt, beherrscht. Lass uns die Sehnsucht artikulieren, buchstabieren. Lass sie uns schälen, präparieren, sie befreien aus ihrem Wortgefängnis, geben wir ihr Leib, Wärme, Blut! Wir wissen, sie ist mehr als die Buchstaben, die sie beschreiben. Sie ist uns Leben, Antrieb, alle vorstellbare Süße, zu eng gepackt in ihren Buchstabenleib, zu regelhaft, zu erdacht, zu abstrakt. Körper soll sie werden, unser Körper, unser beider Leib. Unbegrenzt, schwerelos, schwer nur vom Duft der Wehmut, die uns befallen könnte, angesichts nicht mehr möglicher Steigerung allumfassenden Glücks.
Ich leite dich Liebster, zu diesem Höchsten! Erlaube mir voranzugehen, gib mir deine Hand. Schalt alle Fragen ab, lass Bernhard Bern Hülle, Hülse sein. Soll uns nicht folgen, nicht teilhaben, an unsererem grenzenlosen Sein.“
So sprach sie, ich lag und lauschte, badete im grünen Feuer ihrer Blicke, glaubte ihr jedes Wort, war zu allem bereit, und doch, ja doch, tief in mir regte sich das Menschlein. Antworten wollte ich, sie erinnern an vorgestern, den See, den Wald, die zum Tag mit Wasser und Luft sich vermählende Sonne. Den Duft von Moderholz und lebendigem Fisch, das tagein, tagaus den Steg umwerbende, glucksende Plätschern des Wassers. O Nora, ich will es dir sagen, doch weiß ich, du weißt, bevor ich es gedacht. Bernd Hülse, Hülle, stimmt. Jedoch Bernd, Bernd Mensch. Erdenschwer aus Lehm geformt, dem Staub vermählt. Staub, des unendlichen Endes Vehikel. Das unterscheidet uns, Nora, ich bin entgrenzt ohne mich, anonym die Rückkehr ins Unbewußte. Sag mir, dein Wunsch und mein Vermögen, wie willst du uns in Einklang bringen? Wird Bernd, erdverhaftet, nicht stören? Mit dir jubeln, wie gern, wie hingerissen lausche ich dir, doch bin ich im Stande?
Kleinmütig, sicher, was sonst. Bin noch nicht fertig, Liebste, was wird, wird aus mir Menschlein. Bin dir verfallen, nur dich denke ich. Doch sorg mich auch. Was wäre, Liebe sprengte mir das Hirn?
Als wir uns trafen, die Nacht, bevor Adam starb, war ich der, der dich behüten, lieben, leiten wollte. Das blieb so, bis du verschwandest. Dein Spiegelbild hob mich erst gestern, empor aus tiefstem Unglück, grausigem Seelenschmerz. Bedenk, wie schnell, wie blitzgeschwind ich mich verändern, adaptieren soll. Bedenke was geschieht, wie mein Verstand das sieht. Jenseits von Leidenschaft und Liebe, wohlgemerkt. Wenn du mich nicht als deinen Spielball willst, drossele das Tempo, gib mir Zeit um zwei und zwei zu vier zu machen. Du sprachst vom Ende aller Zeit, für mich ein unfassbares Wort! Betrachte mich mit meinen Augen, siehst du, wie es um mich bestellt ist?“
„Ich verstehe, Bernd. Werde mein Ungestüm zügeln. Ungestüm nur deinetwegen, Liebster. Kanns einfach nicht erwarten, dich befreit zu sehen, befreit von all der Schwere, die du beschrieben. Fürchte nichts, ich bringe dich zurück, sollte dir, wie fürchtetest du? dein Hirn zerspringen.“
Klapaida
„Da bist du ja wieder, Klapaida, alte Hexe. Noch nicht genug von deinen Erdenwürmern? Leuchtest wie`n Nordlicht, kannst dich nicht bekriegen?“
„Ach Rumpel, halt`s Maul, hast keine Ahnung. Gibt`s was Neues?“
„Wenn du schon fragst, Klapaida, doch, Neues dreut.“
„Dreut? Was soll das, alter Uhu, willst mir drohen?“
„Ich? Beileibe! Wie sollt, nein könnt ich? Rogar ist unmutig, um nicht bitter bös zu sagen. Besprach sich mit dem Wassermacher, deinem alten Kreischer. Weiß nicht was die heckten, doch sicher ist`s nichts Gutes mit Verlaub, liebste Dame.“
„Sollt mich das stören, Rumpel? Den Kreischer kriegt Rogar nimmer frei, was könnte er mir tun?“
„Stimmt, allein den frei zu kriegen hoffnungslos, doch wenn alle hülfen? Könnt doch sein, du hast Gunst verspielt, bei dem Gelichter. Wohin ich flieg, hör ich Geraune, seh grame Mienen. Rogar wühlt und hetzt, denunziert dich als Menschenhure, stänkst geradezu nach deren faulem Fleisch!“
„Rogar! Rogar! Werde ihn bannen, das bringt ihm den Verstand zurück!“
„Zu spät, Klapaida! Du bannst Rogar nimmermehr, vielmehr bannen wir dich, bis dein Verstand dir wiederkehrt, sagen wir für ein Äon?“
„Kreischer, wie kommst du hierher?!“
„Bin dir Abtrünnigen nicht Rechenschaft schuldig, hab nur den Auftrag dich zu bannen! Leg dir Allmutter Klapaida, aus freiem Willen meine Ketten an, die mich ungezählte Äonen banden! Du wirst nur nur ein Äon lang in dich gehen müssen, wirst dich danach gefunden haben, glaubt mit mir, voll Ehrfurcht dein Gelichter.“
„Rumpel! Klapaida schreit es laut, wie Donner sollte es die Luft erschüttern, doch nichts als zages Flüstern ist zu hören. Rumpel?“
„Ich höre, Herrin, und kann gar nicht helfen. Es ward beschlossen, ist schon durchgeführt! Ich sehe und höre dich nicht mehr, obwohl, das Herz liegt mir versteinert in der Brust. Ich bleibe Uhu bist du wiederkehrst, überlass die Hütt im Erlengrund dem Sturm und Regen. Verspreche, verwein mein steinern Herz dir in memoriam, leb nur dem Augenblick des Wiedersehens!“
2003
Bernd wachte auf und griff nach seinem Kopf. O Gott, was für ein Rathaus! Er schloß die Augen und dachte nach. Vicky war da gewesen, sie hatten gegessen, getrunken, beratschlagt. Eine halbe Flasche Schnaps hatte er intus. Was hatten sie beschlossen? Was war gewesen? Nichts! Keine Erinnerung. Er sah auf die Uhr, Mittag! Schluß mit dem Lotterleben, er sprang aus dem Bett. Schnell unter die Dusche. Da lag Zahnbürste und Zahncremetube am Boden. So geht das nicht weiter, schwor er.
Das Telefon brummte.
„Hallo Vicky, ja eben erst aufgewacht. Neue Erkenntnisse? Ja ganz bestimmt! Schluß mit dem Lotterleben, Morgen melde ich mich zum Dienst zurück. Nora? Was soll sein mit Nora? Offensichtlich hat sie mich über. Na und? Soll sie, andere Mütter haben auch schöne....Wie, Vicky? Was mach ich mir zu einfach? Also ich bitte dich, müssen wir das am Telefon besprechen? Wann können wir uns sehen? Du hast mich dicke, jedenfalls die nächsten vierzehn Tage? Aber Vicky, sicher, Nora ist wer Besonderes, aber du kennst doch den Spruch, alles hat ein End nur die Wurst... eingehängt. Weiber! Im Grunde sind sie alle gleich, kommt ein normaler Mann nie mit zu Rande.“
1818
Als Mascha und Lara aus Königsberg zurückkamen, freudig erregt, zum überlaufen voll, von dem Erlebten zu erzählen, mit ihren Lieben zu diskutieren, vorzuspielen. Das hatten sie sich geschworen, Lyck würde eine Bühne haben. Was anderswo ging, sollte auch in Lyck gelingen. Figuren hatten sie genug, das erste Stück stand ihnen schon vor Augen, geschrieben zwar noch nicht, doch Handlung und Ende angerissen: Des Sysiphos Stein in Lyck durch Feld und Flur gerollt, das gut Gewollte, so schlecht Vollbrachte, und all das mild beschienen vom Licht des guten Willens.
Als sie jedoch, ihrer Freude über die Rückkunft in die liebe Heimat, kaum beherrschend könnend aus dem Wagen sprangen, stutzten beide. Bernd, Nora und Moses standen vor dem neu erbauten Haus des jungen Paares, seltsam leblos. Mascha eilte auf sie zu und rief: „ Was steht ihr da so grau? Was ist euch?“ Lara, ganz verschreckt, nahm ihres Moses Arm, legt sich den um den Hals, ihn so ermunternd zum Willkommenskuss. Doch statt des Kusses sagte Moses: „Klapaida ist tot, sie liegt in der Apotheke, wir fanden sie jetzt eben, als ihr kamt.“
Sie stürzten die wenigen Schritte hin zum Laden, die Tür stand auf, doch nirgendwo Klapaida?
„Moses, Bernd, Nora?! Hier liegt sie nicht, ihr saht sie liegen?“
„Hier lag sie, eine kleine dunkle Wolke stieg auf aus ihrem Mund. Zwölf schlug die Uhr im Turm, so wahr mir Gott helfe,“ flüsterte Bernd kaum hörbar und bekreuzigte sich.
Nora konnte nicht sprechen, nicht weinen, nicht denken. Seit Bernd nach der Landung in Düsseldorf, das Hospital in Kiel angerufen hatte, war ihre Furcht Gewissheit geworden: Papa war tot, gestorben als sie zwischen Warschau und Düsseldorf in der Luft hingen. Er hat es ihr nicht sagen müssen, sie hatte sein Gesicht nicht aus den Augen gelassen, als er telefonierte, kannte die Hiobsbotschaft, bevor sie über die Lippen brachte. Tot, tot, tot, nur dieses eine Wort hämmerte, raste in ihrem Schädel. Einfach weg, kein Wort mehr gesagt, seit dem Unfall das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Was habe ich getan, warum geschieht mir das jetzt, wo ich mich auf dem Gipfel des Glücks glaubte?
Sie musste nach Kiel zur Beerdigung. Vetter Franz hatte gemahnt: Willst du ihn noch einmal sehen, nimm den nächsten Zug, Morgen wird der Sarg zugemacht. Franz, Franz, feinfühlig wie ein Amboss! Der Sarg, Papa und der Sarg, Papa und das Grab, eng, nass, kalt. O Papa, ich darf es mir nicht vorstellen.
Sie hockte, seit sie die Wohnungstür aufgeschlossen in ihrem Sessel, früher einmal ihr Lieblingssessel, aber wann war früher? Wo bin ich hier, fremd und tot das alles.
Der Mann, der da unschlüssig steht, ist Bernd. Mein Bernd, der vom See? Will mit nach Kiel, mir beistehen. Versteht nicht, ich wiil allein sein will, muss allein sein.
Muss mich von Papa verabschieden, ihn erinnern, wiederbeleben, Stunden,Tage, Wochen nachempfinden, bevor er in der Endgültigkeit versinkt. Endgültig aus, bis dahin muss ich seinem Ratschlag, ach was, Befehl folgen: Treib mich raus, mein Mädchen, behalte nichts von mir in dir. Leb dein Leben, später einmal, wenn du durch bist, darfst du dich erinnern. So, hatte er sie halb im Ernst ermahnt, wird mit dem Tod umgegangen. Der Tod ist der Antipode der Geburt, nicht leicht die Geburt. Mühselig der Eintritt ins Leben, für uns Würmchen. Ähnlich schwer kann der Tod daherkommen, kann, muss nicht. Glück hast gehabt mit dem Adam und mir, würde er gescherzt haben, haben beide wenig mitgekriegt von der Prozedur.
Ist gut, Papa, ich reiß mich zusammen. Werde gefasst an deinem Grab stehen. Wollte dir unbedingt von meinen so sonderbaren Seegrund Träumen erzählen. Ich war nicht Heimat, Papa. Heimat habe ich nicht gefühlt, aber Eigenes. Habe mich geschämt dafür, konnte aber nicht raus aus dem Gefühl.
War turbulen!. Eheschließung und Flitterwochen, Steinfeld und Seegrund, unzerstört und lebendig. Muss nun nicht sprechen, bediene dich einfach aus meiner Erinnerung. So sicher ich meiner Träume bin, so sicher weiß ich, du wirst in mir lesen.
Das blaue Kleid! Ich geb es dir mit, Papa! War das Befehl oder Eingebung? Nora schwankte, doch sei's drum, ich mache dem Zauber ein Ende.
Bernd, der ihr den Rücken zugedreht, aus dem Fenster gestarrt, drehte sich um. „Welchem Zauber ein Ende, Nora,“ fragte er.
Hatte sie geredet? Gleichviel, sie riss den Kleiderschrank auf „Dem hier!“ sie griff nach dem Bügel mit dem blauen Kleid. Doch da war kein blaues Kleid. Schnell schob sie Bügel um Bügel über die Stange, schon in der Gewissheit das Kleid war weg, verschwunden!
Sie suchte ihren Schlüsselbund aus der Handtasche, fummelte nach dem Schlüssel zu ihrem Wandsafe, schloss auf, tastete nach dem Kasten mit der Smaragdparüre, nichts!
Sie richtete sich auf, „Bernd! Mein Kleid und mein Schmuck, verschwunden!“
Bernd war mit einem Schritt bei ihr: „Das gibt es nicht, Nora! Wir beide haben abgeschlossen, das Schloss ist unbeschädigt, der Schlüssel zu Adams Wohnung steckt unverändert umgedreht im Schloss. Lass mich den Safe sehen.“ Bernd ging in die Knie, kroch in den Kleiderschrank.
„Hast du eine Taschenlampe?“
„Ja, hier.“
„Da liegt eine Schmuckschatulle!“ Bernd tauchte wieder auf mit einem Schmuckkasten in der Hand.
„Bitte sieh nach.“
Nora öffnete den Deckel, ein Kollier aus Rubinen und Brillanten glitzerte in der weißen Seide des Kastens.
„Mein Gott, Nora, woher stammen die?“
„Geerbt, Bernd, haben keine abenteurliche Reise hinter sich.“
„Jetzt mal langsam, Nora! Wenn ein Dieb oder Einbrecher, das Smaragdensemble geklaut hat, warum sollte er die Rubine verschmähen, leuchtet absolut nicht ein.“
„Leuchtet absolut nicht ein, stimmt, Bernd.“ Nora sah ihn an: „Weggehext! Kleid und Schmuck weggehext! Gibt keine bessere Erklärung, es sei, wir sind meschugge! Ich traure nicht hinterher. Hatte sowieso vor, das Kleid dem Vater mit ins Grab zu geben. An die Parüre hatte ich nicht gedacht, glaubte die frei von Hexenzauber. Bin eines Besseren belehrt. Wird mir leicht ums Herz.
Bernd, ich nehme den nächsten IC nach Kiel, bring mich bitte zum Bahnhof. Bevor du etwas sagst, ich fahre allein, ohne dich. Geht nicht anders!“
Als sie sich am Bahnsteig verabschiedeten, hatte Nora Mühe seinen Kuss zu erwidern. Bernd sah sie erschreckt an: „Was ist dir, Nora?“ Seine Pupille überschwemmte mit ihrem Schwarz die Iris, ließ, wie bei einer Sonnenfinsternis, nur einen schmalen hellen Rand stehen.
Nora zuckte die Schulter: „Weiß nicht,“ flüsterte sie. „Sei nicht traurig, ich weiß nicht wie mir geschieht.“
Bernd nickte: „Also dann,“ kam es tonlos, „melde dich bitte, wenn du zurück bist.“
Nora drückte seine Hand, sie fühlte Tränen aufsteigen, drehte sich um und stieg in den Wagen. Bernd hatte nicht gewartet, vom Fenster sah sie ihn langsam auf der Rolltreppe versinken, zuletzt war da noch sein Haar.
Aus, fragte sie sich? Vorbei? Sie horcht in sich hinein, die Vergangenheit blockt sie ab, nur das Jetzt wollte sie hören. Aber da rührte sich nichts. Mechanisch öffnet sie ihre Handtasche, nimmt ein Taschentuch, wischt sich die Lippen. Zuletzt zieht sie das Tuch über den Zeigefinger und reibt sich die Zunge. Sie findet ein leeres Abteil, setzt sich. Steht wieder auf und zieht den Mantel aus, verstaut die Reisetasche im Gepäcknetz über ihrem Kopf. Schlafen, denkt sie, schlafen. Doch der Schlaf flieht sie. Wie ein Endlosfilm spult die Szene auf dem Bahnsteig vor ihrem Auge ab. Der Mann, der sie in den Arm nimmt, seinen Mund auf ihren Mund legt, ihr Schaudern. Der Mann fährt zurück, sie sprechen. Sie steigt in den Waggon, der Mann geht ohne sich umzuwenden auf die Rolltreppe des Bahnsteigs zu, verschwindet in der Versenkung.
Ist das so, fragt sie sich? Warum ist das so, warum ist das jetzt so unerträglich? Einen Blick zurück wage ich. Wie geht das zusammen, Ekstase, Euphorie und Abneigung fast Ekel, als er mich küsste? Was ist mit mir?
Verstört, ich bin verstört. Papas plötzlicher Tod, das rätselhafte Verschwinden von Kleid und Schmuck. Bernd ist Arzt, wird sich schnell einen Reim darauf machen. Am Bahnsteig eben hat es ihn aus der Mitte gehoben. Ich brauche Ruhe, Schlaf. Morgen noch, dann der unvermeidliche Schrecken der Beerdigung, und dann? Was dann, Nora? Urlaub, die Semesterferien dauern noch einen Monat. Wohin? Egal, nur nicht jetzt entscheiden, hat Zeit, erst einmal zur Besinnung kommen, Nora werden.
Der Zug ratterte durchs Ruhrgebiet, kaum Fahrt aufgenommen bremste er wieder. Alle naselang eine Großstadt. Endlich gewann er freies Land. Sie sah aus dem Fenster, Weiden, Wäldchen, kleine Orte. Die nächste Station war Münster, dann Osnabrück. Frieden von Münster und Osnabrück, 1648 erster Akt des Völkerrechtes. Geschichte, verliebt in den Lehrer. Sie streckte sich aus auf der Bank, merkte nicht wie sie einschlief, lag einfach da.
Der Schaffner, der ihre Karte kurz hinter Duisburg kontrolliert hatte, wurde erst in Bremen abgelöst, bis dahin blieb sie unbehelligt. Einen Augenblick betrachtete er die erwachsene Frau, im Schlaf zum kleinen Mädchen geworden. Könnte meine Tochter sein, ging's ihm durch den Kopf. Leise schob er die Abteiltür auf, zog die Vorhänge zum Gang zu, liegst nicht so preisgegeben da, nickte er der Schlafenden zu, ging weiter.
Zwischen Hamburg und Bremen wurde Nora geweckt. „Fahrausweiskontrolle!“ „Wie lange noch bis Kiel? Starke zwei Stunden, meine Dame.“
Wenigstens geschlafen, nicht gegrübelt. Dafür der Mund trocken wie die Sahara. Der Speisewagen war direkt nebenan. Schnell hin auf ein Wasser.
Bernd verharrte am Fuß der Rolltreppe, wartete bis er den Zug mit Nora aus der Halle rumpeln hörte. Stand da, ein Hindernis im Strom der vorbeihastenden Menschen. Wurde angerempelt, hastig umlaufen, ward sich minutenlang seiner störenden Position nicht bewusst. Einzig die Vorstellung: Ihr schauderte vor mir, meinem Kuss. Ihr Blick, ihre Miene, war das, was ich sah, Abscheu? Abscheu vor mir? Was war zwischen uns getreten. Seit wann kroch Kälte in uns hoch? Auch in mir diese Eiseskälte.
Er trat heraus aus dem Strom der eiligen Menschen, lehnte sich an eine Telefonzelle, brauchte den Halt, spürte seine weichen Knie. Es galt die Frage zu beantworten, seit wann und warum diese Kälte? Als Rogowski uns durch den Morgen zum Flugplatz kutschierte, lag sie eng an mich gekuschelt in meinem Arm. Auf den Flügen nach Warschau und Düsseldorf sprachen wir wenig, hielten uns nur bei den Händen. Nach der Landung, wir warteten endlos am Band auf unser Gepäck, zog sie mich hinter einen Stützpfeiler, wühlte sich hinein in mich, als ob sie Schutz unter meiner Haut suche. Das letzte Mal küssten wir uns leidenschaftlich im Taxi.
Gut, wie weiter? Nora schloss auf, ich trug die Koffer. Wir gingen die Treppe hoch, Nora öffnete die Wohnungstür, trat ein, lief ins Schlafzimmer, die Küche, das Bad, alles in Ordnung, Liebster. Schnell, stell die Koffer ab, hebst dir noch einen Bruch. Ich trug ihren Koffer bis vor den Kleiderschrank. Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Nora seltsam abwesend in ihrem Sessel. Hockte da, ganz tief in sich verkrochen, sah mit blicklosen Augen an mir vorbei. Ich störte sie nicht, stellte mich ans Fenster. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Ich sah nicht mehr auf die Uhr. Dann Nora: „Ich mache dem Zauber ein Ende.“
Das Kleid sollte mit ins Grab, verschwunden, Schmuck und Kleid. Seit dem, nein anders, schon in der Viertelstunde oder länger, die ich am Fenster stand, sie mich nicht wahrnehmend in ihrem Sessel saß, wurde mir eiskalt. War nichts weiter, fühlte mich überanstrengt, abgeschlagen. Ihre Weigerung, sich von mir nach Kiel begleiten zu lassen verstimmte, mehr nicht.
Einbrecher, Diebe konnten Kleid und Schmuck nicht gestohlen haben. Noras Befund: weggehext. Ging nicht weiter ein auf die Ungeheuerlichkeit, aus Scheu, gar Angst? Wie war das mit dem Oktavheft gewesen? Ich hatte es, als Nora schlief, studiert. War verblüfft, ihre Handschrift und das Porträt, das ganz sie war. Was fehlte, war Noras Timbre, der ihr eigene Schimmer. Die Schrift war Nora, doch der Inhalt Meilen entfernt. Anweisungen, wie und wo Kräuter aufzuspüren, nach dem Pflücken zu behandeln waren.
Interessant, kurios bis hin zum Absurden, doch dann war die Kladde verschwunden, verschwunden wie Kleid, Parüre und die Liebe? Ja, auch die Liebe war so plötzlich weg, wie weggehext. So von gleich auf jetzt vergangen, ins Gegenteil verkehrt. Langsam, Bernd, langsam sein, langsam. Erstmal weg von hier. Raus irgendwohin, wo Himmel ist, hoher unverstellter Himmel.
Er nahm ein Taxi, ließ sich zu den Rheinwiesen nach Oberkassel fahren. Hier war Luft, Raum, kein gedrängtes Nebeneinander und Gegenüber. Gehen, nach Norden gehen, der Rheinströmung folgen, nicht denken, nicht Bernd sein, einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen, unermüdlich weiter, weiter und weiter.
Stunden später fand er sich hinter Kaiserswerth auf der rechten Seite des Rheins. War nicht bei mir, befand er. Bin ohne es zu bemerken mit der Fähre über den Rhein. Er fühlte seine Füsse nicht mehr, eine kleine Rast, die Beine ausstrecken und abschalten, das wär‘s. Da drüben die Häuser waren Wittlaer, da gab es ein Restaurant nahe am Strom.
Hatte geöffnet. Er setzte sich in den Garten, bestellte eine Apfelschorle mit einem Calvados. Hohe alte Linden in voller Blüte, spendeten ausreichend Schatten. Nektar sammelnde Bienen und Hummeln, machten die Bäume mit ihrem Gesumm zur Orgel. Hummelorgel, er streckte sich, lauschte hinein in den von tausenden Flügelpaaren erzeugten Ton. Einzigartig dieses Instrument, klang nach Frieden.
Er trank von dem Schnaps. Zu früh befand er, und schüttete den Rest in die Schorle. Bin ohne mich tief versunken gelaufen, was hat es gebracht? Ja, was nur? Doch, die Hummelorgel, dieses älteste Musikinstrument auf Erden. Erklingt, nein summt, seit Jahrmillionen oder länger.
Ich höre sie heute zum erstenmal, obwohl sicher oft Gelegenheit war, ihr zu lauschen. Säße Nora neben mir, wie beglückte uns das Gebrumm, herrje wäre das Leben schön. Sollte nicht sein, ist tatsächlich wie verhext!
Das war die Quintessenz seines absichtslosen Grübelns: Verhext! War idiotisch, nicht teilbar mit dem Nächsten, doch deshalb nicht weniger wahr. Nicht nur Kleid und Schmuck, auch das Oktavheft, die Alte, die es mir gegeben, ihr Verschwinden.
Wie fanden wir uns, Nora und ich? Wie zündete der Funke so unsagbar heftig in einem Augenblick! Ein Tanz entschied alles. Ein Tanz, den sie elfengleich tanzte. Elfengleich ohne jede Erfahrung. Das Kleid war es, sagte sie später. Ihrer Mutter war es schon Zauberkleid. Könnten wir benutzt worden sein? Gab es ein okkultes Wesen, das sich unserer bediente, bediente für einen bestimmten Zweck, uns vergaß nach Gebrauch? Nachzufragen wofür gebraucht, müßig, doch nachzuahnen was aus der Liebe wurde, lohnt.
Ich schreibe Nora. Zeichne mit dürren Worten, meine Schlussfolgerungen auf, werde sie fragen ob ihr Ähnliches aufgegangen, sie bitten zu kämpfen. Nicht um die vernichtete Liebe, die angehexte; wir sollten uns nochmals begegnen, möglichst bald. Selbst wenn uns die erste Liebe im Hexenmörser zerstoßen wurde, Nora, ich gebe nicht auf.
Zudem, wohin mit der Erinnerung? Die ist mir nicht geraubt, ist lebendig, weich, gespannt. Ich rieche, fühle begehre dich, dich, die es so nicht mehr gibt. Doch ich rede zuviel, liebe Freundin, habe ein Ohr für meine Bitte. Wer weiß, was die Zukunft für solche wie uns, bereit hält?
Ganz mechanisch hatte Bernd ein gefaltetes Din A4 Blatt, aus der Tasche gezogen und aufgeschrieben, was ihm durch den Kopf ging. Als er geendigt, unterschrieb er: Ein von der Liebe verzauberter, waidwunder Kämpfer, Hummelorgel inspiriert.
1818
Die Einräumarbeiten in Lyck liefen reibungslos, wie Mascha vorausgesagt hatte. Nach einer Woche stand dem Grunde nach Ordination, Apotheke und Wohnung. Das Spital, von dem Bernd träumte, würde erst in Angriff genommen, wenn sich seine Arbeit eingespielt hatte.
„Mama,“ entschied Nora, „die Wohnung ist meine Sache, wird sicher noch ein Jahr, eher länger dauern, bis sämtliches so steht und hängt, dass wir uns wohlfühlen. Kommt noch manche Fahrt nach Königsberg auf mich zu. Suchen und hoffentlich Finden. Wolltest du nicht diesen Winter mit Lara vier Wochen dort sein?“
„Wollte ich nicht nur, sondern ich will und werde während der Theatersaison, ich schätze, länger als vier Wochen in Königsberg sein. Habe mir von deinem Vater einen warmen Zobel ausbedungen, den er aus Warschau mitbringen wird, mir die kalten Meerstürme vom Leib zu halten.“
„Kommt Klapaida mit?“
„Nora, Klapaida! Nimmst du sie immer noch nicht ernst? Sie braucht kein Theater, um die Welt zu verstehen, was uns Theater gibt oder geben könnte, ist ihr längst geläufig. Bitte nimm sie an, nimm sie an als unsere gute Fee. Messe sie nicht an ihrem Auftritt, ihrem uralt Kostüm. Sie kann ganz anders. Wer glaubt, sie sei nicht von dieser Welt, liegt falsch. Sie ist mehr als wir, diese Welt! Raubt dir den festen Boden, lässt du dich ein auf den Gedanken.“
„Hat sie es dir gestanden?“
„Kind, wo denkst du hin! Gestanden, allein das Wort auf sie gemünzt, wäre sie uns nicht gewogen, ließ mich um dich fürchten.“
„Ich mein es doch nicht so, Mama, davon ganz abgesehen, weiß das Klapaida.“
„Stimmt, Nora, weiß sie! Mir ist sie eben nicht so selbstverständlich, ist mir nach all den Jahren immer mehr ein Wunder! Doch bitte, lassen wir das jetzt.“
„Siehst du Lara, bevor du nach Steinfeld fährst?“
„Warum?“
„Ich hätte eine Bitte. Du sprachst mir von der Korrespondenz, die Lara zu den Schöngeistern im Lande unterhält. Berlin, Dresden, Hamburg, wenn ich nicht irre?“
„Hamburg meines Wissens nicht, Nora. Aber zwischen Lara und Leuten in Berlin und Dresden, gehen ständig Briefe hin und her.“
„Glaubst du, sie würde mich einbinden in diese Korrepondenz?“
„Ganz sicher, Nora, Lara sucht gleichgesinnte Seelen. Die Schwierigkeit wird sein, du bist nicht adaequat. Mir geht es so. Kant, zu meiner Jugend, Professor in Königsberg, blieb mir ein Buch mit sieben Siegeln. Selbst wenn er auf Steinfeld gelebt hätte, wäre es nicht anders, hab keinen Kopf für Philosophie. Doch Lara ist seinem Denken zutiefst verhaftet. Wobei zu sagen ist, Lara und Moses zieht abstraktes Denken magisch an. Gedanken, manche Tausend Jahre alt, festgehalten in ihrem Pentateuch, wenden und wenden, schafft den beiden Glück.
Ich werde ihr deinen Wunsch nahebringen. Sie unterrichtet Betseba, vielleicht ist sie bereit, dich an deren Unterweisungen teilnehmen zu lassen. Ich möchte dir empfehlen, lass dich nicht zu sehr einbinden. Dich interessiert Kultur, dazu braucht es kein Latein und Hebräisch.“
„Du fragst sie jedenfalls?“
„Versprochen, Nora. Doch geh in den nächsten Tagen selbst vorbei, sprich mit ihr, ich werde dich annoncieren.“
„Ihr so einfach ins Haus platzen, Mama?“
„Lara und Moses sind unsere Freunde, Nora. Moses will nicht, dass es ruchbar wird, fürchtet um sein Geschäft. Lara sieht das nicht so eng, hat kaum Kontakte zu Christen.“
Lara hatte die Kaffeetafel schon gerichtet, als Mascha am Nachmittag vorsprach. Tritt näher, freute sie sich, kann es kaum erwarten unsere Pläne für Königsberg mit dir zu erörtern. Mascha küßte ihre neue und einzige Freundin auf beide Wangen.
„Bin so glücklich, dass es dich gibt, Lara. Bin ganz süchtig, mit dir meine Probleme zu besprechen.“
„Probleme, Mascha?“
„Ach was, keine echten. Verstimmungen möchte ich nennen, was ich oft als Problem empfinde. Liegt an meinem alltäglichen Umgang. Kompetenz kommt nur in männlicher Gestalt vor, das schon ein Leben lang. Hatte mich dreingeschickt, kannte es nicht anders, doch ich bin letzte Instanz für alles und jedes. Ist das vertrackte mit den Männern, Entscheidungen alltäglicher Natur die sie fällen, erfährst du, wenn Folgen daraus erwachsen, Probleme anstehen. Bitte frag nicht, was war, ist zu läppisch es breitzutreten, wollte nur mal ungeniert um mich schlagen.“
Lara lachte: „Schlagt um Euch, Euer Gnaden. Was soll's denn sein, Mokka oder Schokolade?“
„Schokolade, Lara, die besänftigt so schön.“
Lara steckte den Kopf durch die Tür und rief: „Betseba, Schokolade!“ Drehte sich um, ergriff Maschas Hand, und zog sie mit sich in ihr Boudoir. „So jetzt setz dich, erzähle mir, wie weit es mit Noras Wohnung, und eurer Apotheke gediehen ist.“
„Weit, Lara, an sich sind wir fertig. Das heißt, ich bin fertig. Was noch zu tun bleibt, kann Nora allein. Was unsere Apotheke angeht, du kennst die Chefin. Als wir gestern spät aufhörten, sah es chaotisch aus. Ich mochte nicht an Morgen denken. Heute Morgen war sämtliches, nicht dass es mich verblüfft hätte, geregelt. Klapaida hockte am Tisch mit den Mörsern, knetete eine Salbe, sah kaum auf, als ich reinkam. Ich fragte sie, wie es dazu käme, drehte mich ostentativ im Kreise, mein Gesicht ein Fragezeichen. Sie sah durch mich hindurch, nuschelte: „Reg dich nicht auf, war gestern schon kommod, hattest den Überblick verloren.“ Hab mich nicht im geringsten echauffiert, war heilfroh zu sehen, was ich sah.
Noch etwas, Nora bat mich dich zu fragen, ob sie an Betsebas Unterricht teilnehmen dürfe. Es geht ihr weniger um Mathematik und alte Sprachen, angetan hat es ihr deine Korrespondenz, mit den Dresdener und Berliner Koryphäen.“
„Sicher kann sie das, Mascha,“ Lara lächelte. „Hebräisch ist nicht nötig, Latein betreiben sollte sie aber. Was ihr nicht schmecken wird, ist die Mathematik und Naturwissenschaft im allgemeinen, ach ja, und griechisch musssie lernen. Keine Unterhaltung ohne Bezug auf die griechische Antike, Pflanzenkunde, Medizin und Philosophie, rümpf nur die Nase, alle alte und neue Wissenschaft, fußt auf der Sprache des Aristoteles.“
„Pflanzenkunde und Medizin geht nicht ohne griechisch, da kenne ich mich aus, Lara. Hast du eine Ahnung, woher Klapaida ihre griechisch Kenntnisse hat? Habe es nicht bemerkt, bei unseren Streifzügen durch die Wälder. Sie benannte die Kräuter, ich schrieb es in meine Hefte, fertig. Aber jetzt bei der Einrichtung der Apotheke hat sie Töpfe, Gläser, Phiolen mit den deutschen, griechischen oder lateinischen Bezeichnungen beschriftet.“
„Dass du dich das fragst, Mascha? Du weißt doch, Klapaida ist unsere Kräuter...“
Bevor Lara das Wort Kräuter..., mit der verhängnisvollen Endung komplettieren konnte, tat es Mascha und sagte: „Fee, Kräuterfee!“
„Ja, Mascha, alles was Recht ist, wie konnte ich darauf nicht kommen. Sie ist unsere gute Fee, unsere Schmerz lindernde Kräuterfee.“
Betseba kam mit der Schokolade. Lara berichtete von Noras Wunsch sich zu bilden, und löste bei ihrer Tochter händeklatschende Freude aus.
„O das ist wunderschön,“ freute sie sich. „Endlich jemand in meinem Alter, mit dem ich reden kann.“
„Betseba, Nora ist zwei Jahre älter als du und verheiratet,“ wies Lara sie zurecht.
„Mama, lass mich, was sind zwei Jahre? Und verheiratet, was soll das? Werde, davon gehe ich aus, in nicht allzu ferner Zukunft auch verheiratet sein.“
Mascha lachte aus vollem Halse, „unsere Töchter, Lara. Ähnlich wies Nora mich zurecht, als Graf Wersten, mit der Umstände wegen, nicht ausgesprochenen Erwartungen, zu Besuch kam. Den konnte sie sich, seiner Zähne wegen, als Ehemann nicht vorstellen. Hat sich erledigt, Gott sei Dank.“
Beseba war, nachdem sie diesen ersten Vorstoss lanciert hatte, gegangen. Lara indes war nicht zum Lachen. „Mascha, Betsebas Problem ist, wo lernt sie jemanden kennen, der ihr gefallen könnte? Wir sind die einzigen Juden in Lyck. Die nächste Gemeinde ist in Königsberg, mal eben zweihundert Seelen. Beseba meint, warum muss es ein Jud sein? Heirate ich die Religion oder den Mann? Kannst du dir Moses vorstellen, bei diesem Thema?“
„Ich kann, Lara. Du glaubst nicht, wie mich Albträume plagten, als ich bemerkte, wie Nora unserem zweitem Kutscher, dem hübschen Kurt, Avancen machte! Der Junge hat es nicht bemerkt oder so getan, als ob er es nicht bemerkte. Mein Mann auch nicht, wie sagst du: Dem Ewigen sei Dank! Unvorstellbar was geschehen wäre, sie hätte ihren Kopf durchsetzen wollen!“
„Na, dieser Sorge bist du ledig, meine Liebe. Für mich aber wird die Frage mit jedem Tag drängender, wie sag ich‘s meinem Kinde? In Bialystok lebt eine große jüdische Gemeinde. Der dortige Rabbiner weiß, die Lara hat nur eine Tochter geboren, lebt in der Diaspora, unerhört so etwas! Das Mädchen werden wir zur Freude der Großeltern heimholen. Werden sie mit einem frommen Juden verheiraten, ihr die Haare scheren, eine schickliche Person aus ihr machen! Jeden Tag kann der Schadchen vor der Tür stehen. Ich darf nicht daran denken, Mascha, unser Glück wäre zerstört.“
„ Warum redest du nicht mit Moses, Lara? Er ist ein aufgeklärter Mensch! Glaubst du, er überantwortet sein Herzblatt irgend einem fremden Mann, der sie zugrunde richtet?“
„Nein, glaube ich nicht, doch fürchten tu ich den Augenblick. Die Chance für mich und Betseba ist Berlin oder Dresden. In Berlin gibt es liberale Juden. Keine der Damen, mit denen ich korrespondiere, würde sich unter das rabbinische Joch beugen, sich mit einem Unbekannten verheiraten, die Haare scheren lassen. Das Problem, meine Tochter muss noch viel lernen, dazu aus dem Haus, sollte Moses kein Einsehen zeigen.“
„Moses kein Einsehen zeigen, Lara, das begreife ich nicht?“
„Mascha, stell dir vor, Nora wäre schwanger geworden vom Kutscher? Dein Mann, muss nicht weiterreden, sehe deinem Gesicht an, du stellst es dir nicht vor! Auf anderer Ebene, aber vom Problem ähnlich wäre, Moses Tochter wollte einen Goi heiraten.
Ich könnte gut damit leben, hatte enormes Glück, dass der Moses daher kam und mich wollte. Hätte er mich nicht gewollt, hätte es nur gegeben: Mich drein schicken, fliehen oder umbringen! Ich wäre geflohen, wie weit ich gekommen wäre, als mal eben Siebzehnjährige, mag es mir nicht vorstellen. Ich ahnte, wen meine Eltern für mich ausgesucht hatten. Schmul Katzmann hieß er. Achtundvierzig Jahre alt, zweimaliger Witwer, sieben Kinder im Haushalt, der reichste Mann im Stedel. Seine Werbung stand ins Haus, als Moses auftauchte und ihm zuvorkam.“
„Liebste Lara, lass uns von anderem reden, treibt mir den kalten Schweiß auf die Stirn, die Perspektive. Doch sei gewiss, sollte es zu solch unmöglicher Konsequenz kommen, hast du in mir eine Mitstreiterin, ohne wenn und aber! Meine Familie, die Slawinskis, verfügt über beste Verbindungen nach Polen. Die ultima ratio für das Kind, gleichzeitig der absolute Schutz, wäre die Taufe. Auch die Nottaufe gilt, Lara! Ich schüttete ihr Wasser über den Kopf und betete: Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Den möchte sehen, der es wagt, seine Hand auf ein getauftes Mädchen und Patenkind der Gräfin Kelm zu legen!“
„Hört sich schrecklich, aber folgerichtig und daher tröstlich an, Mascha. Kein Jid würd sie mehr wollen. Fortan wäre sie eine Goische. Habe in diese Richtung nie gedacht, dabei liegt es auf der Hand. Flucht, Tod alles Unfug. Daran siehst du, wie weltenfern mir der Gedanke war. Was sich geändert hat, heute bin ich achtunddreißig, keine siebzehn mehr. Heute weiß ich, es gibt viele Religionen, doch nur einen Gott. Religionen sind von Menschen gesetzt, altehrwürdig, was ihre Sittengesetze betrifft, identisch, soweit es sich um Ethik handelt, ansonsten blanker Unfug.
Also werde ich den Kopf aus dem Sande ziehen. Mit meinem geliebten Moses die Klingen kreuzen, ihn dahin bringen, nach Bialystok seinen Eltern zu schreiben: Ihre Enkelin habe sich verheiratet, und mit ihrem Mann nach Amerika eingeschifft. Dies, bevor ein Heiratsvermittler hierher in Marsch gesetzt wird. Dein Notprogramm werde ich nicht preisgeben. Werde ihm meine Pläne für unsere Tochter, anders schmackhaft machen.
Aber wir wollten über Königsberg reden, Mascha, ich sehe keine Hindernisse. Nach dem, was wir besprochen haben, nehme ich Betseba mit. Sie will nicht, werde sie zu überzeugen wissen. Hätte keine ruhige Minute, ohne das Kind in Sichtweite.“
„Warum will sie nicht mitkommen, Lara?“
„Frag mich, Mascha, das Theater sagt sie, interessiere sie nicht. Interessant daran ist, sie war noch nie im Theater.“
„Lara, kenne ich, Backfisch Verstocktheit. Das gibt sich. Ist mal eben erst Frau geworden, körperlich. Da wächst die Seele noch, das dauert. Ich wette, war sie erst einmal im Theater, bekommst du sie nicht mehr raus. Sie wird eine absolute Afficionada werden, nimmt sich die Mama zum Vorbild. Wird sich das nicht eingestehen, um keinen Preis! Jedenfalls nicht in den nächsten zwölf Monaten, danach entspannt sich die Lage.“
„Hoffen wir es, Mascha, ich hab nur die Eine. Erfahrungen konntest du bisher auch nur bei Nora sammeln?“
„Ja, aber mein Bekannten und Verwandtengeflecht, ist verzweigter als deines. Wir treffen uns bei allen möglichen Gelegenheiten, Jagden, Geburtstagen, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen. Immer die selben Leute. Frauen, alle mit Kindern und dem einen Thema, was tun, dass sie lernen, sich benehmen, Ordnung halten. Wer wird wen heiraten, und warum? Will er sie, sie ihn? Früher kein Thema, heute regt sich mehr und mehr Widerstand bei Kuppeleien. Was die Lage bei uns erträglicher macht, man kennt sich. Niemand wird weit weg verschleppt, um wem Fremden Weib zu werden. Liegt an unserer Vielzahl. Nora war nicht bereit, einen ihrer Standesgenossen zu akzeptieren.
Zum Glück tauchte Bernd auf.“
„Stimmt, Mascha, tauchte auf aus heitrem Himmel, wie mein Moses damals in Bialystok.“
„Wo ist Moses, Lara, hat sich die ganze Woche nicht ein einziges Mal sehen lassen.“
„Er sagt in Königsberg, ob es stimmt, bezweifle ich, was hätte er da zu tun. Wenn er Geschäfte im Ausland hat, sind die für mich Königsberg, dass ich mich nicht sorgen möcht. Ist er dann zurück, erzählt er, was gewesen. In letzter Zeit, denkt er oft nach über Amerika. Ein jungfräuliches Land nennt er es, könnte den geknechteten Juden Rußlands Heimstatt werden.“
„Wie stellt er sich das vor, Lara?“
„Ein Land ohne Menschen, Mascha, riesig, in Wahrheit ein Kontinent. Einwanderer werden in Zukunft hochwillkommen sein, ohne Menschen kein Staat, sagt Moses.“
„Verstehe ich, nur was hat Moses davon, will er etwa auswandern?“
„I wo, dazu sind wir zu alt, ist was für junge Leut. Moses ist in der Aufklärung engagiert. Du glaubst nicht, wie ungebildet und rückständig, die Stedeljuden unter der russischen Knute geworden sind. Da herrscht bitterste Armut im Verein mit Rabbinern, denen eine arme, dumme Gemeinde eine fügsame ist.“
„Aber was tut Moses, das zu ändern?“
„Zusammen mit anderen, jenseits der Grenze lebenden Juden, aufklären. Das heißt Rabbiner finden, die gegen Entgelt bereit sind, Jungen und Mädchen russisch schreiben und lesen beizubringen. Die Kinder sind durch die Schul, des Hebräischen in Wort und Schrift mächtig. Eine schwierige Sprache, warum sollten sie sich nicht die kyrillischen Buchstaben dazu aneignen, lesen und schreiben, was sie schon sprechen? Jiddisch ist leicht mit kyrillischen oder lateinischen Buchstaben zu schreiben, leichter als mit dem hebräischen Alphabet, dem die Vokale fehlen. Das wären drei Sprachen, die sie beherrschten, beste Vorausetzung eine vierte, das Englische, dem hinzuzufügen.“
„Allerhand, vier Sprachen in Wort und Schrift zu beherrschen, Lara, da wird tüchtig gepaukt werden.“
„Halb so wichtig, Mascha. Das Leben im Ghetto ist sterbenslangweilig. Ein Tag wie der andere, jeder kennt jeden, da ist lernen willkommene Abwechslung. Vor allem im Wettbewerb, wer wird gewinnen bei der nächsten Prüfung? Ganze Familien fiebern um den Sieg, von Langeweile nichts zu spüren.“
So verging der Nachmittag. Mascha war fasziniert von der lebendigen, ihr so fremden Welt der Juden. Die Bedrückung schafft ihnen Kraft, erkannte sie.
„Das gleiche Phänomen, wie bei den revolutionären Volksheeren der Franzosen, Lara. Ohne tiefgreifende Ausbildung haben die, die geschulten und gedrillten peußischen und östereichischen Heere geschlagen, angetrieben von der Vorstellung ihrer Befreiung vom absolutistischem Joch, das, verloren sie ihre Bataillen, ihnen wieder auferlegt werden würde.“
„Richtig, da leitest du Wasser auf meine, und die Mühlen des Professors Kant, liebe Freundin, der dir so wenig bedeutet.“
„Bitte, Lara, so vermessen bin ich nicht, meiner Meinung, was den Professor angeht, nur die geringste Bedeutung beizumessen. Bei mir reicht's einfach nicht, ihn zu verstehen.“
„Schon gut, Mascha, dir liegt das Theoretische nicht, deine Schlußfolgerungen jedoch, was die Motivation von Menschen unter Bedrückung angeht, treffen ins Schwarze.“
„Entspringt meiner Lernerfahrung, Lara. Mein Elternhaus auf Blumenthal war eine einzige Verwöhnanstalt, was mich, und meine Schwester anging. Wir durften tun und lassen was wir wollten. Lernen kam zu kurz. Als ich nach der Hochzeit mit Claus auf Steinfeld lebte, die große Bibliothek sah, konnte ich nichts damit anfangen, auf Blumenthal gab es kaum Bücher. Zu meinem Glück hat Claus es verstanden, meine Neugier anzuregen, hat mir mit seinen Hinweisen geholfen, die Welt hinter den Büchern zu entdecken. Entstanden ist: Vielseitiges, jedoch flaches Wissen und die Unfähigkeit, tiefe Brunnen zu bohren.“
„Kann ich so nicht stehenlassen, liebe Nora, entspricht nicht meiner Erfahrung mit dir. Gerade dein umfangreiches Wissen ermöglicht dir Folgerungen, die mir mit meinem, um bei deinem Beispiel zu bleiben, Brunnenwissen, nicht in den Sinn kämen. Du fischt mit dem Netz, während ich mich der Angel bediene. Perfekt wäre eine Verknüpfung von beidem.“
„Gelingt uns doch, Lara, das Beispiel: Wie schützen wir Betseba, beweist es.“
An diesem Nachmittag wurden noch manches Tässchen Schokolade getrunken, aber keine Probleme mehr gewälzt. Ganz in den Mittelpunkt der Betrachtung rückte Garderobe. Garderobe, die im Theater und auf den nachfolgenden Empfängen zu präsentieren sein würde.
2003
Bernd wartete schon eine Woche vergeblich auf ein Lebenszeichen von Nora. Er hatte sein spontan am Rhein unter der Linde verfasstes Schreiben an sie, c/o Graf von Kelm Rieseby, abgeschickt und wartete auf Antwort. Die Beerdigung, musste am zweiten Tag nach ihrer Abreise, über die Bühne gegangen sein. Warum meldete sie sich nicht? Bestanden seine Befürchtungen zu Recht? Wie oft hatte er in den vergangenen Nächten alles, was er geschrieben, in Frage gestellt, gehofft, jeden Augenblick ihre Stimme alle seine Bedenken zerstreuend, durchs Telefon zu hören. Einen Tag, schwor er sich, warte ich noch, dann rufe ich an.
Als dieser Tag zu Ende ging, griff er zum Hörer. Doch nicht Nora antwortete am anderen Ende, sondern eine Stimme sagte: Die angewählte Nummer ist ohne Anschluß. Er rief die Telefongesellschaft an, die nur bestätigte, einen Anschluß unter dieser Nummer habe es nie gegeben. Als er einwandte, dies könne nicht sein, er habe Telefonate unter dieser Nummer, noch letzte Woche von Polen nach Kiel in die Städtischen Kliniken geführt, wurde ihm geraten, seine Reklamation schriftlich vorzubringen.
Was tun? Telefoniert worden war, aber mit Noras Handy, da gab es keine Auskunft für ihn, brauchte er sich nicht zu bemühen. Das Krankenhaus in Kiel, da hieß es geschickt sein, einem Fremden und auch noch telefonisch, gaben die keine Auskunft. Er musste in Erfahrung bringen, welches Bestattungsunternehmen die Beerdigung des Grafen Kelm besorgt hat.
Bernd rief die Klinik an, stellte seine Frage: Einen Augenblick bitte, wurde er vertröstet, und dann die Auskunft: Ein Graf Kelm, ist in unserem Hause in den letzten vier Wochen weder behandelt worden noch verstorben. Das war eindeutig. Was sein konnte, Kelm war in einer andere Klinik eingeliefert worden.
Blieb nur Franz von Kelm in Rieseby. Wie hatte Nora den beschrieben? Adelsstolz sei er, erinnerte er sich. Was solls, über die Auskunft hatte er schnell die Nummer und alsbald Franz von Kelm am Apparat.
Eine Cousine Nora habe ich nicht, antwortete er auf Bernds Frage. Bernd fühlte den Abgrund unter sich, doch er riss sich zusammen und sagte: Ach, da scheint eine Verwechslung vorzuliegen, darf ich dennoch eine Frage stellen?
Ja bitte, kam es zuvorkommend rüber, ich helfe gern wenn ich kann.
Ist in der vorigen Woche ist ein, Georg Graf Kelm, nach einem Autounfall in den er einige Tage vorher verwickelt wurde, verstorben und beerdigt worden?
Auch damit kann ich nicht dienen, die Antwort. Aber wenn es Ihnen hilft, mein Onkel Georg Graf Kelm kam als Baby 1945 in die Obhut meiner Großeltern. Er starb vor fünfundzwanzig Jahren nach einem Autounfall. Er war unverheiratet und hatte keine Kinder.
Jetzt habe ich eine Frage, kam es durch die Leitung. Sind sie der Absender des Briefes, an eine Nora von Kelm, der vorige Tage hier ankam?
Ja, Herr von Kelm , der bin ich.
Bernd fand kaum die Kraft, sich bei dem freundlichen Herrn zu bedanken. Was ist das, dröhnte es in seinem Schädel, bin ich schizophren, bilde ich mir alles nur ein, hat es eine Nora je gegeben? Er suchte seinen Reisepaß, blätterte: Einwandfrei mit Datum und Uhrzeit, die Ein- und Ausreisestempel vom Zoll in Warschau. Also in Polen war ich, dann auch mit Nora, was hätte mich allein nach Masuren gezogen. Er dachte nach, ruhig bleiben, ermahnte er sich. Fern, nicht greifbar, schlummerte eine Ahnung, die ihn an die Situation erinnerte, in der er sich befand. Nicht greifbar an Daten gebunden, aber dennoch vorhanden. Er blätterte in Gedanken seine Beziehungen der letzten zehn Jahre durch. Wirklich Ernsthaftes, wie mit Nora war nicht darunter. Und doch war da etwas undeutbar Doppeltes, ein Vexierbild von Nora.
Ich muss mich zusammem nehmen, beschloss er. Es ging nicht anders, es blieb ihm nichts übrig, als wieder und wieder zwei und zwei zusammenzuzählen und das Ergebnis, in seinem Falle fünf, akzeptieren zu lernen. Schnell zog er sich um und einige Minuten später, war er in leichtem Joggingtrab unterwegs zum Wald.
Ganz auf den Rythmus des Laufs konzentriert, verloren die bedrängenden Vorstellungen seiner Situation, langsam Gewicht. Er lauschte in sich hinein, fühlte, als er das Tempo steigerte, eine an Gesang gemahnende Leichtigkeit. Eine Dynamik, die sein Ich aufzuheben begann, ihn zu animalisch glücklicher Laufmaschine machte. Er hatte seinen üblichen Rundweg von zehn Kilometern gewählt. Als er den einmal absoviert hatte, hängte er noch eine zweite Umrundung dran, danach eine dritte. Als er erschöpft und zum ersten mal seit Tagen wirklich müde unter der Dusche stand, war sein einziger Gedanke das Bett.
Als er wach wurde, war das Chaos das seine Denken seit Noras Abreise im Griff gehabt, abgeklungen. Nicht, dass er sich die Illusion machte, es sei überstanden, doch war er bereit, seine Situation mit Dritten zu besprechen, da kam als erste Vicky in Frage. Es dauerte endlos, bis sich endlich ihre verschlafene Stimme meldete.
„Bernd, bist du verrückt geworden, es ist drei Uhr in der Nacht.“
„O verdammt, Vicky, entschuldige, habe ich nicht bemerkt, ich bin total durch den Wind. Nora ist verschwunden.“
„Wie, Nora ist verschwunden, wie soll ich das verstehen, ist sie dir davongelaufen?“
„Vicky, verschwunden, so als ob es sie nie gegeben hätte. Graf Kelm in Rieseby, kennt keine Nora von Kelm. Ihren angeblichen Vater, der vorige Woche einen Autounfall erlitt und danach verstarb, hat der Unfall vor fünfundzwanzig Jahren ereilt, solange ist er tot. Kinderlos tot.“
„Aber Bernd, Adam und Lulu kannten doch die Kelms, er hielt sie offensichtlich für seine Nichte, wie passt das zusammen?“
„Keine Ahnung, Vicky, ich werde morgen Lulu anrufen, kann sein, sie weiß mehr.“
„Heute wirst du sie anrufen, Bernd, und mich schnellstens unterrichten, was sie davon hält.“
„Mach ich, Vicky, einen Moment noch, lege nicht auf. Bitte hilf mir, ich habe eine komische Frage: Hast du irgendwann etwas an Nora bemerkt, das dir suspekt war, irgend eine Kleinigkeit? Oder an mir, meinem Verhalten während der Nora Zeit?“
„Bernd, nein. Einwenden muss ich, wann habe ich euch oder dich getroffen? Ihr ward ein frisch verliebtes Paar, für nicht verliebte, normale Menschen, unauffindbar.“
„Stimmt, Schwesterchen. Lege dich, ich rufe an, sobald ich die Lulu am Apparat hatte.“
Da war also nichts, obwohl seine Ahnung sich verstärkte, als er mit Vicky sprach. Schlafen, befahl er sich, darf mich nicht erneut verrückt machen. Als er nach langem Wälzen endlich wegdämmerte, war das letzte ihm bewusste Bild Noras und Vickys Gesicht nebeneinander.
Es war Mittag, als er wach wurde, er hörte seinen Anrufbeantworter ab, nichts. Die Fonbox, Fehlanzeige. Also duschen, anziehen, raus ins Bistro frühstücken, andere Gesichter sehen.
War nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Als er ein Auto nach einer Parklücke suchend vorbeifahren sah, erkannte er Carla. Nicht noch die, schoss es ihm durch den Kopf. Schnell gab er dem Kellner einen Schein, und machte sich davon.
Zuhause nahm er ohne Zögern den Hörer, und rief Lulu an. Lulu freute sich, war aber erstaunt: „Ich glaubte euch noch in Polen,“ wunderte sie sich.
„Lulu, wir konnten nicht bleiben, Noras Vater ist tödlich verunglückt.“
„Aber doch vor Urzeiten, Bernd, schon nicht mehr wahr. Nora hat ihn garnicht gekannt.“
„Hast du ihn gekannt, Lulu?“
„Ich, nein. Kenne keinen von den Kelms, war Adams Mischpoke.“
„Erinnerst du noch, wie du Nora kennengelernt hast?“
„Natürlich, als Adam und ich uns trennten, sprach er von seiner Nichte, die in Düsseldorf Physik studiere, die wolle er fragen, ob sie in die Einliegerwohnung zöge, dann fühle er sich nicht so allein. Das hat Nora gern angenommen, bei dieser Gelegenheit habe ich sie kennengelernt.“
„Dann ist sie als dort wohnhaft gemeldet?“
„Glaube ich nicht, Bernd. Die Wohnung ist nie vermietet worden, Nora hat keine Miete gezahlt. Hätte Adam sie angemeldet, wäre das Finanzamt über kurz oder lang mit einer Steuerforderung, aus Miete entsprungen, gekommen.“
„An so etwas dachte, Adam?“
„Er war wie alle Ärzte. Du bist doch selbst einer, manche von euch kennen das Steuerrecht besser als ihre Medizin. Aber was fragst du mich das, und was soll es. Ihr seid zurückgekommen, weil Noras Vater tödlich verunglückt ist?“
„Lulu, deshalb rufe ich dich an. Ich weiß von Noras Cousin, Franz Graf Kelm, ihr angeblicher Vater ist vor 25 Jahren durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Kinderlos. Nora ist laut Pass 1983 geboren, kann also seine Tochter nicht sein.“
„Du glaubst, sie ist eine Hochstaplerin, hat sie dich bestohlen, Bernd?“
„Nein, sie hat mir keinen materiellen Schaden zugefügt, Lulu. Ich hatte gehofft, du wüßtest mehr, da hilft nur abwarten, mit Glück klärt sich morgen alles auf. Danke schön, Lulu, für deine Auskunft. Sollte ich was von Nora hören, ruf ich dich an.“
Sein nächster Anruf galt Vicky. Vicky war in Sekundenschnelle am Apparat: „Dass du dich endlich meldest, fauchte sie, was sagt Lulu?“
„Nichts Vicky. Ihr war bekannt, dass Georg von Kelm vor langer Zeit tödlich verunglückte, hielt ihn aber für Noras Vater. Nora selbst hat sie kennengelernt, als sie sich von Adam trennte. Zu den Kelms hat sie keinen Kontakt, waren Adams Leute, meinte sie. Das sind die mageren Tatsachen, Vicky, sind aber keine Tatsachen. Ich habe vier Wochen mit Nora gelebt, Tag und Nacht. Sie hat mir von ihren Eltern erzählt, von der verstorbenen Mutter. Du erinnerts das Kleid und den Schmuck, beides trug sie bei unserer ersten Begegnung.“
„Und ob ich das Kleid erinnere, Bruder. Hatte einige Fragen zu dem Kleid, hätte die gern deiner Nora gestellt.“
„Was für Fragen, Vicky?“
„Nähte, Bernd. Das gute Stück war Handarbeit mit jedem Stich. Hätte mich interessiert, wo so etwas noch gemacht wird, so absolut erstklassig gemacht wird, füge ich hinzu.“
„Vicky, hier nirgendwo, das gute Stück, wie du es nennst, war beinah zweihundert Jahre alt. Ich kenne seine Geschichte. Doch es ist, wie der Schmuck und Nora, verschwunden. Sie führte unseren bravourösen Tanz, für den wir soviel Beifall einheimsten, auf das Kleid zurück. Mein Zauberkleid, habe ihre Mutter es genannt, die es auch schon getragen hatte. Das Kleid kam zusammen mit Schmuck und einem Baby nach Rieseby, versteckt in dem Körbchen, in dem der letzte ostpreußische Kelm lag.“
„Bernd, mir wird bange, lebten wir nicht in unserer Zeit, würde ich an Spuk, ja Hexerei denken.“
„Liegst nicht weit daneben, mit dieser Meinung. Kannst du heute Abend zu mir kommen, ich muss nachdenken, und dir dabei in Ruhe die ganze Geschichte erzählen.“
„Gut Bernd, passt mir, erwarte mich gegen sieben.“
„Noch eins, geh bitte bei Nonn vorbei, und kauf zwei Seiten geräucherten Wildlachs.“
Bernd dekantierte eine Flasche Bordeaux für Vicky, er selbst würde sich an Whisky halten. Muss mich betäuben, redete er sich ein, gleichzeitig wissend: Es gab etwas zu erkennen, etwas gleich neben ihm, greifbar Unsichtbares. Ich habe Vicky gefragt, ob an mir oder Nora auch geringstes Auffälliges zu beobachten gewesen sei, und sie hat das verneint. Warum ist gerade sie mir so wichtig, lässt mich das Gefühl nicht los, sie könnte Erhellendes zu mir und Nora wissen?
Bei Licht betrachtet absurd. Vicky hat uns tatsächlich, seit wir Adam beerdigten, noch ein einziges Mal gesehen. Jedoch ist da ein Bild, ein Bild von Nora und ihr, das es nicht gegeben haben kann. Dieses nicht mögliche Bild rumort in mir. Der Whisky könnte ein guter Helfer sein, es hervorzulocken.
Er deckte den Tisch, platzierte Bestecke und Servietten akkurat, wie seine Schwester es gern sah. Betrachtete sein Werk, befand es in Ordnung. Dazu die beiden Silberleuchter, wenn sie kommt, die Kerzen anzünden, damit der Duft schmelzenden Wachses, für das beschwingende Gefühl der Erwartung sorgt, das einem guten Essen vorausgehen sollte.
Schon schellte es. Er ließ Vicky ein, half ihr aus dem Mantel, nahm ihr den Tragkorb ab, trug ihn in die Küche. Vicky sah sich um, schnupperte.
„Sieht nach einem Festessen aus, Bernd,“ sagt mir meine Nase, „reicht dazu die Stimmung?“
„An sich nicht, Schwester, andererseits aber wohl. Um ehrlich zu sein, es gibt keine Stimmung. Jedenfalls nicht die verzweifelte Stimmung, die normal wäre, wäre das normal, was mir widerfahren. Was ich fühle schwankt zwischen: Es kann nicht wahr sein, daneben Zorn und die Angst, Spielball okkulter Mächte zu sein.
Aber packe bitte deinen Korb aus: Geräucherter Wildlachs geht gut zu den Whiskys, die ich mir genehmigen werde. Komm, ich gehe dir zur Hand, geht schneller, ich weiß, du zügelst deine Neugier nur mühsam.“
„Bernd, es ist nicht Neugier, du magst es so nennen. Was ich fühle, ist besorgte Wissbegier, gemischt mit totaler Verständnislosigkeit, für Noras Verhalten. Ich möchte weiter nichts dazu sagen, höre mir lieber deine Geschichte an.“
„Gut, ich präpariere den Fisch, kümmere du dich bitte um den Rest.“
„Bin dabei, Bruder. Ein Moment, sind deine Hände schon fischig?“
„Nein, warum?“
„Gieße mir bitte ein Glas von dem Bordeaux ein, ich sehe, bist tief in deine Schatzkammer gestiegen.“
„Gern, Vicky.“ Vorsichtig goss er den rot schimmernden Wein, in eines der bauchigen Gläser. „So bitte, nimm, riech den Duft, verwöhn deine Nase.“ Vicky schnupperte, nahm einen Schluck, schloss die Augen, ließ die Köstlichkeit über die Zunge rollen.
„Danke, Bernd, einen Abgang hat der, unendlich!“
Als sie am Tisch sassen, jeder ein ordentliches Stück Fisch auf selbstgebackenem Dinkelbrot vor sich, Bernd einen ersten tiefen Schluck von seinem Schnaps getan hatte, drängte Vicky: „Also, jetzt habe ich mich lange genug bezähmt. Ab sofort bin ich nur noch Ohr.“
Bernd erzählte vom See, der Kate und dem Glück. Von Seegrund, dem Oktavheft, dem Verschwinden der Überbringerin. Von Noras Porträt und Schrift, und wie das Heft plötzlich verschwunden war.
Von Rogowski und Noras instinktiver Abneigung, dem Empfang der Komtess auf Seegrund, deren Schlafzustände. Dem Anruf aus der Klinik in Kiel, seinem Gespräch mit dem behandelnden Arzt, seiner Recherche. Vicky nickte, kannte sie schon.
Bernd lächelte, „hört sich sonderbar an, doch nicht unerklärbar bis jetzt, stimmt's?“
Vicky nickte noch einmal, jetzt eher nachdenklich.
„Also warte bitte mit deinem Kommentar,“ kam Bernd ihr zuvor, bevor sie etwas sagen konnte und, höre weiter zu. „Wo war ich, beim Nachmittag unserer Ankunft..“. und er fuhr fort in seinem Bericht, erzählte, wie Kleid und Schmuck verschwunden, wie Nora meinte weggehext. Von den unbeschädigten Türen, den zurückgelassenen Rubinen und dem kalten Abschied.
Wenn du etwas nicht verstanden hast, frag, forderte Bernd seine Schwester auf. Mir ist klar, bis auf das Verschwinden von Kleid und Schmuck, aus verschlossenen Räumen und Tresor, ist alles andere erklär- oder wenigstens deutbar. Habe die einzelnen Situationen wohl hundermal abgeklopft, ohne weiterzukommen. Halt, noch eine Episode, da kannte ich Nora noch keinen ganzen Tag. Und er erzählte, wie es ihn in den Sternverlag getrieben, um dort ein altes Buch zu erstehen mit dem Titel:
Die tatsächlichen unerhörten Heilerfolge des Chirurgus Graf Bernhard zu Bern, aufgeschrieben von seiner Ehefrau, geborene Gräfin Nora von Kelm. Als ich ihr das Buch gab, sie meinen gegraften Namen neben ihrem las, stieß sie es von sich, als hätte sie eine Natter gebissen, fragte mich aber später, ob es irgendeine Familienbeziehung gäbe. Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts, konnte ich sie beruhigen, waren die nicht adeligen Bern, Knechte und Mägde hier am Niederrhein.
„Verhext, Bernd? Ich zwinge mich einfach, das Undenkbare zu denken. Erste Frage, die ich stelle: War oder ist Nora eine Hexe, und wenn, war es ihr bewusst? Sie bezeichnete, als Kleid und Schmuck verschwunden waren, den Vorgang als Hexerei. Verhext sagte sie, und es erleichterte sie, richtig?“
„Ja, Vicky, präzis: Nora kannte die okkulten Eigenschaften des Kleides, doch hielt die Parüre für harmlos. Sie jammerte dem herrlichen Ensemble keine Träne nach, freute sich beinahe, davon erlöst zu sein. Nein, erlöst ist nicht das richtige Wort. Ich finde kein passendes, interessant ist, in die ablehnende Starre verfiel sie, als wir entdeckt hatten, das Kleid und Parüre verschwunden waren.
Vicky, ich habe dich schon einmal gefragt, ob dir etwas an Nora und mir aufgefallen ist, auch wenn du uns kaum zusammen gesehen hast, so haben wir doch zusammen den toten Adam gefunden, du und Nora habt euch gegenseitig getröstet. Vielleicht seid ihr euch nähergekommen. Hat es ein Gefühl, eine Schwingung, ein Befremden gegeben? Jede kleinste Kleinigkeit ist wichtig, könnte die Vermutung, es sei Okkultes geschehen, bestärken oder mindern.
Nora ist nicht einfach untergetaucht, Nora ist spurlos verschwunden. Für jemanden, der ohne Herz hinschaut, sieht alles nach Hochstapelei oder Erschleichen von Vorteil aus, soweit es Adam oder seine Erbin Lulu angeht.
Andererseits hat Adam nicht im Geringsten ihre Identität angezweifelt. Nora hat zwei Jahre bei ihm gewohnt, sicher wurde über die Familie gesprochen, eine Familie, die es nie gegeben hat? Und Nora? Die hat es gegeben, wie nur, ohne Mutter und Vater? Weiter, warum sollte eine Hochstaplerin Physik studieren? Allein um mietfrei wohnen zu können? Wieso hat sie nicht versucht, Geld von mir zu bekommen? Woher hat sie den wunderschönen Schmuck, woher stammt die dazu passende Legende, woraus speiste sich ihr phänomenal sicheres Auftreten? Ich könnte so fortfahren, Vicky, nur bringt es mich nicht weiter. Ich glaube an Nora, eine Frau, die ich liebe wie noch nie eine vor ihr. Ich habe alles, was hier spontan aus mir heraussprudelt, akribisch notiert. Wenn du mir nicht, mit einem gleich wie entfernten Gedanken helfen kannst, erwäge ich zur Polizei zugehen, um Nora als vermisst zu melden.
Die Schwierigkeit wird sein, erzähle ich meine Geschichte, ernte ich verständnisinnig mildes Lächeln, bin einer von Hunderten, die sich mit dem Verlust eines geliebten Menschen nicht abfinden wollen.
Hinzu kommt, behördlich gesehen habe ich nichts mit Nora zu tun, bin weder verwandt noch verschwägert, wie das so schön heißt.“
„Sehe ich auch so, Bernd. Du fragst mich nach einem Gefühl, einer Ahnung oder Ähnlichem. Mache ich mich ganz frei von erlerntem Betrachten, kannst es Vorurteil nennen, obwohl das trifft es nicht ganz, es gibt etwas in mir, das glaubt, Nora ist hier mit uns im Raum. Jetzt, wo ich es ausspreche, verstärkt es sich. Ich sehe sie hier vor uns, in einem deiner, ihr zu großen Schlafanzüge sitzen und bitterlich weinen.“
„Vicky! Wie das? Sie war nie hier, wir haben uns bei ihr getroffen.“
„Ist schon wieder weg, Bruder. Nur ich schwöre, sie saß dort leibhaftig, wie ich es beschrieb, auf deiner Couch. Mich fröstelt, nicht dass es Furcht ist, bin zu weit weg vom Hexenglauben, doch verdammt, sie saß da!“
„Vicky! Lass dich nicht von mir verrückt machen! Ich kenne das Gefühl, Nora sei um mich, nur zu gut. Du glaubst nicht, wie oft ich mich umdrehe, eben weil ich meinte, sie stände hinter mir. Nervensache, Vicky. Darf das nicht an mich rankommen lassen. Gestern bin ich 30 km gerannt, um den Kopf, ach was, um die Seele frei zu kriegen. Jedenfalls so geht es nicht weiter, deshalb der Gedanke an die Polizei, nur wie sollen die mir helfen? Die laut Lulu, nicht gemeldete Nora, existiert für die erst einmal nicht, die könnten sich auf mich konzentrieren. Anstatt aus dem Schlamassel zu kommen, arbeite ich mich noch tiefer rein.“
„Lieber Bernd, wie soll ich raten? Ich weiß es nicht. Was mich erschreckt: Sie saß tatsächlich dort auf der Couch. Nenn ich es Halluzination, glaub ich mir nicht. Neigte noch nie dazu, Dinge zu sehen, die nicht sichtbar waren, doch die Nora war sichtbar. Sichtbar in allen Einzelheiten, dem Glanz ihrer Haut, dem leuchtenden grün-schwarz Kontrast ihrer Augen, Wimpern, Haar und Brauen.“
„Vicky? Du sagtest, sie weinte bitterlich?“
„Sagte ich, Bernd.Tat sie, trotzdem sah ich ihr Strahlen.“
„Verstehst du nun, in welcher Klemme ich mich befinde? Nach alldem sieht es nicht danach aus, als ob sie mich einfach verlassen hätte. Abgesehen davon, dass es nicht zu unserer zwar kurzen, aber unendlich intensiven Romanze passen würde. Verhext, hat sie gesagt, als sie den Verlust des Kleides zu erklären versuchte, und verhext war es, dafür lege ich nach allem, was geschehen, meine Hand ins Feuer. Allein die Tatsache, dass dem guten Stück sein Alter nicht anzusehen war. Halt! Da war noch etwas.
Vicky, als ich Nora nach dem Ball nach Hause gebracht hatte, sie in ihrem engen Futteral mit den Augen verschlang, stellte ich mir vor, sie würde sich augenblicklich auf die Couch legen und mich bitten, ihr das Kleid aufzuknöpfen. Das Sonderbare geht mir jetzt eben auf, es war nicht ihre Couch in ihrem Wohnzimmer, sondern meine hier. Ich schließe die Augen und sehe das Bild lebendig vor mir. Nora liegt hier auf meiner Couch und ich knöpfe ihr das Kleid auf. Was ist das, Vicky? Nimm meine Hände! Was fühlst du?“
„Eiseskälte, Bernd, mitten im Sommer!“
Bernd rieb und knetete seine Finger, bis die Kälte wich. Rang sich ein halbes Lächeln ab, als er Vicky erklärte warum er Nora‘s Kleid nicht aufknöpfte. Steht mir bildhaft vor Augen, weil ich Nora fragte, wie sie es geschafft hätte, an die Knöpfe und Schlingen in ihrem Rücken zu kommen. Beichtete ihr meine enttäuschte Erwartung. Das Kleid, das ich halluzinierte, hatte keinen Reißverschluß.
„Sonderbar, seltsam, Bruder. Will die anderen infrage kommenden Adjektive lieber nicht aussprechen. Soll ich heute Nacht bei dir bleiben?“
„Nein Vicky, das schaff ich allein. Kann mich doch nicht zum Mündel machen. Ehrlich gesagt, habe ich keine Angst. Ich finde die Situation höchst ungewöhnlich, ja gruselig, aber nicht schrecklich. Nora nicht mehr bei mir zu haben ist schrecklich, die Umstände muss und werde ich ertragen.“
„Gut, Bernd, es ist schon spät, morgen ist früh Tag für mich. Bin Adams Nachfolgerin auf Bewährung, dürfen mir keine Lapsi unterlaufen. Schlaf gut und nimm die Pille für deine Leber, die Schnapsflasche ist halb leer.“
Als Vicky gegangen war, räumte Bernd den Tisch ab, stellte den Abwasch in die Spüle und machte sich fertig für die Nacht.
Als er im Bad vor dem Spiegel stand und sich die Zähne putzte, sah er Nora direkt ins Gesicht. Erst traute er seinen Augen nicht, stand da wie erstarrt. Doch schnell wich die Starre, es war Nora die ihn aus dem Spiegel ansah, Nora, nach der er sich wie nach nichts sonst sehnte. Sollte er sich umdrehen? Gleichzeitig fürchtete er, das schöne Bild zu verlieren. Was tun Nora? Er dachte es, traute keinem Wort.
Schließ die Augen, Liebster, geh zu Bett, antwortete das Bild im Spiegel.
Er ließ die Zahnbürste fallen, spülte den Mund, fuhr kurz mit dem Handtuch über die Lippen, ging gesenkten Blicks ins Schlafzimmer, kroch unter das Deckbett und knipste das Licht aus. Fieberte er in gespannter Erwartung dem, was folgen mochte, entgegen. Folgen mochte? Ob sie folgen würde? Ihm ins Schlafzimmer, in sein Bett folgen würde? Die Spannung raubte ihm den Atem, er disziplinierte seine hastigen, sich überschlagenden Atemzüge, zwang sie in normale Bahnen.
Ob es die Erregung war, der Schnaps oder all das, was in den letzten Tagen über ihn hereingebrochen: Er schlief ein. Nora in greifbarer Nähe, wenn auch erst als Gesicht, Stimme und Auge im Spiegel, doch sie, ganz gewiss sie. War zuviel Hochspannung gewesen, jetzt wo sich das Rätsel zu lösen schien, knickte er ein.
Etwas ungemein Anregendes, weckte ihn nach Stunden erquickenden Schlafes. Er musste nicht nachdenken, sich nicht orientieren, um sofort zu spüren: Er war nicht allein. Jemand lag mit ihm in seinem Bett, hatte sich an ihn gekuschelt, ach was, hielt ihn mit Arm und Bein umschlungen. Er wagte das so ersehnte nicht zu glauben. Doch sie war es, unzweifelhaft Nora, ihr Duft! Gewissheit, was heißt das schon? Sein Begehren, seine Liebe übernahmen das Handeln. Er zog sie fest an sich und sie folgte ihm willig. Unendlich vorsichtig suchte er ihre Lippen, die sich unter seinem zärtlichen Druck öffneten. Das ganze Mädchen drängte sich noch näher, noch inniger an ihn, Leidenschaft flammte auf, sie suchte, hob ihren Körper, schob sich auf ihn, er fühlte sich tief eingelassen, sie warf ihren Kopf in den Nacken, fiel dann vornüber und beide vergingen in den Zuckungen einer orgiastischen Explosion.
Sie lagen sich unendlich in den Armen, bis ein wisperndes 'Liebster' an sein Ohr drang.
„Ja, hauchte er zurück, Liebste, Allerliebste, sprich.“
„Es ist so, sagte sie, ich bin nicht mehr ganz ich. Bin nicht Tag und Nacht Nora, so wie du Bernd bist. Ich erklär es, doch du darfst nie fragen, warum das so ist. Nie, es sei, du wärest meiner überdrüssig, dann stelle diese einzige Frage, und ich vergehe. Hast du verstanden? Sag nichts, nur nicken, ich fahre dann fort. Gut, du hast verstanden.
Ich will dein sein, wenn du willst, bis an das Ende aller Nächte, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Bevor die Sonne über den Horizont gekrochen bin ich verschwunden, sind ihre letzten Strahlen des Abends verblasst, bin ich zurück. Im Winter heißt das, viele Stunden für uns, im Sommer wenige. Doch es gibt Abhilfe, wir reisen dem Winter hinterher. Leben, wo es lange Nächte gibt. Bei Tag bin ich verschwunden und du schläfst, wirst du wach, bin ich wieder da. Die Wintertage sind kurz und wir machen die Nacht zum Tage.“
„Gut, Nora, doch wovon leben wir? Wir müßten reisen, in fremden Ländern leben, wovon bezahlen?“
„Liebster, das Wichtigste hab ich nicht vergessen? Money makes the world go around. Geld nicht unser Problem, wünsche es und du hast es. Für uns gäbe es keine Beschränkung, weder geldlich, noch in Lebenszeit. Solange du es mit mir aushälst, alterst du nicht. Irgendwann jedoch wird das schönste Leben fad, sei‘s drum, nach fünfzig Jahren genügt dein Wunsch, und du wirst nicht mehr sein.“
„Warum nach fünfzig Jahren, Nora?“
„Bernd, du bist jetzt vierunddreißig? In fünfzig Jahren bist du vierundachtzig, dein natürliches Leben neigt sich dem Ende zu. Bist du seiner überdrüssig, müde, genügt der Wunsch und es ist vorbei. Doch macht`s dir Spaß, bleibst du für immer jung, keine Fragen bitte! Komm, nimm mich in den Arm, grüble nicht, die Nacht ist bald vorbei und der Sommertag wird lang. Ich werde mich nach dir verzehren, jeden Vogel beneiden der den Tag besingt.“
Als ich aufwachte war ich allein. Die Sonne stand im Mittag, kein Wunder mein langer Schlaf, die Nacht war nicht zum Schlafen da, Nora`s Devise. Grüble nicht hatte sie gesagt. Verwunderlich, wie unbedenklich ich ihr folgte, diese unbeschreiblich irrsinnige Situation hinnahm, als ob weiter nichts wäre. Sie ist wieder da! Sieht aus wie Nora, spricht wie Nora, fühlt sich an wie Nora, ist leidenschaftlich wie Nora, doch ist sie Nora? Drehe ich den Spieß um, bin ich Bernd? Dr. med. Bernhard Bernd seit vier Jahren Chirurg am St. Johannes Hospital? Bin ich noch der, oder eher ein Verwirrter, den der Verlust seiner Geliebten um den Verstand gebracht hat? Ich muss mit Vicky sprechen, sie entscheiden lassen, was zu geschehen hat.
Ich machte mich frisch, durchmusterte beim Rasieren mein Gesicht wie zu Jünglingstagen, damals in Erwartung des ersten Flaumes auf der Oberlippe. Da war keine Veränderung, nichts, was auf Chaos und Doppelbödigkeit hinwies. Was, ich schickte mich einfach? Was wäre schlimm daran? War mein Leben vor Nora so einmalig aufregend gewesen? Was zwang mich so weiter zu machen? Was bot Nora an? Sich und ewige Jugend, Wahnsinn? Wieso? Tag und Nacht tauschen, und? Sicher war sie eine Hexe oder ähnliches, Fee, Engel, Teufel? Teufel konnten weiblich sein, hatte uns Kaplan Oslislo im Kommunionsunterricht belehrt. Teufel waren gefallene Engel, einstmals Gott nah. Denk ich an Noras Lippen, ist da was dran. Also langsam, Bernd, vergiss Vicky, geh frühstücken, danach ziehe die Vorhänge zu, schöpfe Kraft für die Nacht.
Der Wecker klingelte um 22.15 Uhr. Ich sprang auf, sah mit einer Andacht wie noch nie im Leben, die Sonne in rot flammender Pracht hinter dem Horizont versinken. Als der letzte Schimmer verglühte, des Tages Farben vergangen, fühlte ich Nora hinter mir.
Sie schlang ihre weichen warmen Arme um mich und flüsterte:
„Ich habe dein Grübeln gefühlt, fürchte mich vor dem Ergebnis.“
„Kannst du meine Entschlüsse nicht lenken, Liebste?“
„Nein, kann ich nicht, Menschen haben einen freien Willen.“
Hier hätte ich fragen können: Menschen, Nora, bist du kein Mensch? Ich fühlte ihre Spannung, wusste, hier gabelte sich der Weg, das falsche Wort und sie war für immer dahin. Ich fühlte mein Herz rasen und war ganz sicher, sie fühlte es auch. Nach einer Weile presste ich hervor:
„Ich habe nachgedacht, die längsten Nächte wären in, Punta Arenas, Chile. Der Ort ist wenig anziehend, dafür sehr lange finster. Dahin könnten wir uns verziehen.“
„Warum verziehen, Bernd? Hört sich so an, als fiele es dir schwer, mit mir die Nacht zum Tag zu machen?“
„Nicht mit dir, Nora. Die Nacht zum Tag zu machen, schon eher. Ich verliere meine Existenz. Wie erkläre ich meine Kündigung, Professor Stap, meinem Chef? Es ist nicht leicht, einen solchen Job zu bekommen. Stap verliert das Vertrauen in die Menscheit, wenn ich die Brocken hinwerfe. Überhaupt, ist nicht nur Stap, mein Lebensplan geht von jetzt auf hier den Bach runter. Ist auf die Schnelle schwer zu verdauen.“
„Aber, Liebster, zerstreue deinen Kleinmut, bedenke, was du, nein, was wir gewinnen. Außerdem, ich kann dich beruhigen. Wird alles, wie sagt man, sozialverträglich vor sich gehen, überlass das mir. Solltest du aus welchem Grund auch immer, in einem, zwei oder fünf Jahren, das Rad zurückdrehen wollen, steigst du ein, wo du aufgehört hast. Keiner wird etwas bemerkt haben, niemand wird fragen. So wie du, Liebster, nicht fragst.“
„Mit anderen Worten, Nora, es genügt ein vorwärts oder auf geht`s, und es ginge los?
Nicht ginge los, Bernd, sag`s und wir sind da!“
1818
Königsberg! Für Mascha eine neue Welt. Nicht die Stadt, die kannte sie. Die Selbständigkeit, das Leben ohne Rückfragen und Rücksichtnahmen, faszinierten und irritierten sie gleichermaßen. Lara und sie wohnten in einem großzügig ausgestattetem Haus, das Moses seit Jahren besaß. Im Erdgeschoss waren die Wohn- und Wirtschaftsräume für das Personal, in der ersten Etage Laras und ihr Schlafzimmer sowie eine Flucht repräsentativer Räume, für Empfänge und andere Gelegenheiten. Alles von gediegenem Geschmack und so hoher Qualität, dass es Mascha in den ersten Stunden nach ihrer Ankunft, die Sprache verschlug. Für sie war Moses schon lange nicht mehr der Viehjud, sie hatte sich längst an seine facettenreiche Belesenheit und Bildung gewöhnt, doch ein solches Stadthaus inmitten von Königsberg, sprengte den Rahmen dessen, was sie sich hat vorstellen können.
Lara, der sie ihre Fassungslosigkeit nicht verbarg, verstand sie nur allzu gut. „Auch mir, Mascha,“ erklärte sie ihrer Freundin, „hat Moses seine materiellen Tresore nur geöffnet, wenn Verschweigen oder Verstecken nicht mehr möglich war. Es ist mir bis heute schleierhaft, aus welchem Grunde er sich hinter dem Viehjud versteckt. Er hat Grundbesitz in Berlin, Warschau und Dresden, ich weiß das, weil ich schon da war. Was nicht offensichtlich wird, verschweigt er. Da ist nichts zu machen. Er kommt mit der Ausflucht, was du nicht weißt macht dich nicht heiß. Sollten sich die Zeiten und Zustände gegen uns kehren, kommt der Viehjud möglich mit einem blauen Aug davon, ein Reicher nimmermehr.“
„Kenne ich, Lara,“ konnte Mascha beipflichten, „unsere Freundschaft hält er geheim, als ob er die schwarzen Pocken bekäme, würde die publik.“
„So ist mein lieber Mann, Mascha. Wir haben alle unsere Marotten und Knicke, du deine Heilkunde, ich meine Korrespondenzen, und Moses seine Geheimniskrämerei.“
„Sicher, Lara, ich kann mich leicht mit den Tatsachen anfreunden, was mich so neugierig macht, woher hat er das alles? Wo hat er seine Kenntnisse her, Reichtum anzuhäufen, und hier handelt es sich offensichtlich um Reichtum, bedarf profunder Kenntnis.“
„Da habe ich eine Ahnung, Mascha. Es ist die sogenannte Libeskindsippe und die Briefe. Es vergeht kein Tag, an dem Moses nicht mehrere Briefe schreibt und empfängt. Seine Verschwägerungen reichen in alle europäischen Länder, wie seine Geschäfte. Schreibt ihm einer seiner Schwäger, sagen wir aus Mailand, und bittet um Beteiligung an einem lohnenden Handel, so kannst du dich darauf verlassen, am nächsten Tag schon, ist ein von Moses gezeichneter Wechsel nach Mailand unterwegs. Das Kuriose, der Schreiber ist nicht sein Schwager, wie sollte er, Moses und seine Mischpoke hat ihn nie zu Gesicht bekommen. Es reicht, er schreibt den Brief mit hebräischen Lettern, auf Jiddisch oder Hebräisch und hat eine Empfehlung, dann ist er Schwager.
Als er an der Finanzierung von Seegrund arbeitete, wird es ähnlich abgelaufen sein. Er hat verschiedene Schwäger angeschrieben, ihnen sein Anliegen erklärt und das Kind war geschaukelt. Die jüdischen Händler sind wie eine große, sich selbst tragende Bank. Moses behauptet, noch nie einen Taler an einen Schwager verloren zu haben.“
„Da kann unsereins nur den Hut lüften, Lara. Ich kümmere mich nicht um die Dinge, die Claus geschäftlich treibt, mir ist aber bekannt, Moses ist der Einzige bei dem ihm ein Handschlag genügt, bei allen anderen wird Papier beschrieben, meist handelt es sich nicht einmal um Geschäfte, jedenfalls nicht in Moses Sinne.
Aber genug von Geschäften und unseren Männern. Ich freue, mich ein gutes Schock Meilen zwischen mir und meinem Eheliebsten zu haben. Genieße geradezu die freie Luft, die es um mich herum zu atmen gibt.
Hast du schon eine Vorstellung, wie wir den Rest des Tages gestalten?“
„Wenn du magst, Mascha, einige. Ich habe fünf Empfehlungsbriefe für Hauskonzerte. Heute Abend könnten wir uns bei Monsieur Windgassen und seiner jungen Frau einladen, geboten wird, wie jeden Donnerstag ein Gesangsabend, diesmal mit Liedern eines jungen Komponisten aus Wien, ein Geheimtipp, Franz Schubert, heißt er. Seine innigen Lieder werden nur in privaten Zirkeln dargeboten. Madame Windgassen hat, laut Moses, eine herrliche Stimme und wird heute Abend Schubertlieder singen.“
„Herrlich, Lara, innige Lieder, da heißt es die Seele putzen. Habe Innigkeit die letzten Jahre nur passiv erfahren, könnte mir guttun, den Sinn dafür zu exhumieren.“
„Mascha, exhumieren!“
„Was denn, liebe Lara, als unser Pastor eine Kapelle an seine Kirche anbauen wollte, Claus ihn fragte, wo er den Platz hernähme; sprach der von Exhumieren. Er meinte, zur ewigen Ruhe Gebettete müssten seiner Kapelle weichen. Faselte vom Recht der Lebenden gegenüber den Toten, und meinte treuherzig, die infrage kommenden Gräber seien alle schon über hundert Jahre alt. Claus hat ihm kräftig heimgeleuchtet: Wenn das deine Ewigkeit ist, Pastor, hat er geknurrt, sparen wir uns in Zukunft den Kirchgang.“
„Da bin ich seiner Meinung, Mascha, aber nur vor dir, könnte mir schlecht bekommen, einen christlichen Pastor zu kritisieren.“
„Dem möchte ich nichts hinzufügen, freuen wir uns lieber auf die Stimme der, wie hieß sie noch?“
„Madame Windgassen, Mascha.“
„Ach ja, Madame Windgassen, und die innigen Tondichtungen des Herrn Schubert, da bin ich gespannt. Hast du eine Ahnung, wessen Texte er vertont hat, oder sind es am Ende eigene Dichtungen?“
„Genau weiß ich es nicht, Mascha. Aber ich glaube, Goethes Gedichte haben es ihm angetan. Sicher weiß ich, der Erlkönig ist darunter und, ja, jetzt fällt es mir ein: Wanderers Nachtlied und Gretchen am Spinnrad. Bitte frag nicht weiter, befinde mich bei Herrn Schubert auf schwankendem Boden.“
„Fein, Lara, ich freue mich, habe schon ewig lange keine Kultur mehr genossen.“
„Geht mir nicht anders. Moses hat mich in den letzten fünf Jahren einmal mit nach Warschau genommen, und zweimal war ich in Königsberg. Nach Warschau kriegen mich keine zehn Pferde mehr. Im Theater saßen wir, weit hinter dem Parkett in der Judenloge. Überhaupt ist das Klima dort, ausgesprochen unfreundlich für unsereins.
In den Kirchen wird alljährlich zu Ostern, mit bösen Tönen den jüdischen Gottesmördern der Prozess gemacht. Auf dem Lande, kommt es danach oft genug zu Übergriffen. Da leben wir im nüchtern, protestantischen Preußen, wie auf einer Insel der Seligen. Aber was soll`s, freuen wir uns auf Madame Windgassen und Franz Schubert.“
„An sich, Lara, wäre es eine Aufgabe, ähnliches in Lyck zu organisieren. Dein Moses ist ein begabter Geiger, ich spiele das Instrument passabel, fehlen uns noch zwei und wir hätten ein Quartett.“
„Ging mir auch durch den Kopf, was wir brauchten wäre jemand, der ausreichend gut Piano spielt. Hätten wir den, könnten wir uns einen Liederabend gönnen.
„Du kennst Stimmen?“
„Du auch, Mascha, die ausschlaggebende ist im Sommer bei dir repariert worden.“
„Die Gensfett?“
„Eben die! Verfügte ihr Lebtag über einen glockenhellen Sopran, der jetzt zum Alter hin etwas nachgedunkelt ist. Aber das Entscheidende ist, sie beherrscht ihr Instrument. Du solltest ihre Kolleraturen hören! Nicht dass mich minutenlanges Trillern und Kollern besonders hinrisse, aber es gibt eine Ahnung vom Können einer Sängerin.“
„Darf ich fragen, weshalb so etwas in deiner Küche verdämmert?“
„Der Kropf, Mascha. Schon in jungen Jahren hat der ihre Atmung behindert, es war äußerlich nichts zu sehen, aber Dr. Feinstein hat, als er ihr in den Hals geschaut, eine Operation kategorisch ausgeschlossen. Das war lange nachdem sie alle Hoffnung auf eine Karriere als Sängerin aufgegeben hatte. Bei mir am Herd hat sie gleichwohl gesungen und uns alle ergötzt. Als Moses sie hörte, bestand er darauf, sie mindestens einmal die Woche ein halbes Stündchen, eben so lange wie ihr Atem reichte, auf der Violine zu begleiten.
Jetzt, nachdem dein Schwiegersohn sie von dem widerlichen Kropfungeheuer befreit hat, solltest du sie hören! Phänomenal, nur für den öffentlichen Auftritt ist sie nicht mehr schön genug. Wäre sie ein Mann, hätte sie eine Chance, aber wir Frauen müssen um goutiert zu werden, tüchtig und reizend dazu sein.“
Lara und Mascha konnten so in endlose Gespräche fallen. Ein Blick auf die Uhr machte ihrer Unterhaltung ein Ende. Eine halbe Stunde für die Toilette sollte uns reichen, entschied Lara, und so standen die Damen als der Schlitten vorfuhr, in warme Pelze gehüllt, wartend an der Haustür.
Windgassens bewohnten ein geräumiges Bürgerhaus mit großzügigen Paterreräumen, in denen die Musikabende zelebriert wurden. Zelebriert, ist das einzig passende Wort für die Art und Weise, wie Winfred Windgassen seine Gäste empfing und sie zu ihren Tischen geleitete.
Winfred, wie er sich vorstellte, und sogleich bat, nur so und nicht Windgassen genannt zu werden, war ein schmächtiger, älterer Herr mit großen, sprühend blauen Augen, in einem dafür zu kleinen Gesicht. Die Damen hatten den Eindruck, von Laternen angestrahlt zu werden, so eindringlich war dies Leuchten.
Winfred blieb, nachdem sie sich gesetzt hatten, noch ein wenig bei ihnen stehen, erkundigte sich nach dem ihm so lieben Moses, und befragte Mascha nach Steinfeld und Seegrund. Ihren zufriedenen Bericht nahm er voll Freude zur Kenntnis, wobei er durchblicken ließ, welche Sorgen ihm, die vormaligen Besitzer von Seegrund bereitet hatten.
Während sie sich unterhielten, war eine schöne junge Dame ans Piano getreten, nahm die bereitliegenden Noten und studierte die Blätter. Sie schaute zu Winfred hinüber. Als sie leicht in die Hände klatsche bemerkte er sie, verabschiedete sich von den Damen mit einer kleinen Verbeugung, die er halb zu der Schönheit am Piano hindrehte, wobei er ihnen zuflüsterte: „Meine Frau!“
Winfred drehte den Schemel vor seinem Instrument in die zu ihm passende Höhe, schlug einen Akkord an und wartete, bis Ruhe einkehrte. Seine Frau hatte die Noten aus der Hand gelegt und sich ihm zugewandt. Winfreds kleines Gesicht war jetzt nur noch Augen, er nickte seiner Frau zu und intonierte Wanderers Nachtlied.
Madame Windgassens Stimme, schwang sich wie auf Schwalbenflügeln durch den Raum, verband sich mit den Klängen des Pianos, und trieb nach kurzer Zeit allen anwesenden Damen, Tränen der Sehnsucht in die Augen. Die romantische Zartheit dieser Töne, hatte in diesen Breiten noch nie ein Ohr vernommen.
Als zum Ende hin das Piano aufdonnerte und dann schwieg, schwang sich Frau Windgassens Stimme noch einmal hoch empor, trug die Gedanken des Franz Schubert in jedes Herz.
Es folgten Gretchen am Spinnrad und der Erlkönig. Letzterer verfolgte Mascha und Lara noch lange mit seiner düstern Metaphorik, den treibenden Rythmen und der an Schreie gemahnenden Interpretation der Sängerin.
Auf dem Nachhauseweg durch dichtes Schneetreiben, welches der Anlass für das vorzeitige Ende des Abends war, verkrochen sich die Damen tief in ihre warmen Pelze, und legten die Arme umeinander. Der Schlitten glitt endlos lange, durch das undurchdringliche Weiß des Schneesturms. Der Kutscher hielt die Pferde alle naselang an, um sich zu orientieren. Endlich ging es weiter, doch die Stadt schien versunken im Schnee.
Kein Kirchturm, kein Licht, kein Laut, kein Haus. Plötzlich scheuten die Pferde, liessen ein erschrecktes Wiehern hören. Der Kutscher sprang vom Bock, versank bis zum Bauch im Schnee und arbeitete sich mühsam zu den Köpfen der Tiere vor.
Mascha sah, wie er einen Arm zum Kopf des Tieres neben ihm ausstreckte, wohl das Halfter suchte, es zu fassen bekam, und Tiere wie Schlitten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zu ziehen trachtete. Erst nach langem Hüha und Drängen, gelang ihm das.
Die Pferde hatten den Schlitten gedreht und standen dampfend in einer breiten Schneekuhle, die, wie zu ahnen war, schnell zugeweht sein würde.
Lara beugte sich vor und schrie den Sturm zu übertönen suchend: „Jonas, Jonas!“ Der Kutscher hörte sie und arbeitete sich zu ihr hin. „Was soll werden, Jonas?“ fragte sie ängstlich.
„Gnädigste, ich nehme den Gäulen die Trensen raus,“ erklärte Jonas. „Die finden den Weg in einen Stall besser als ich. Braucht nicht unser Stall sein, wenn er nur Deckung gibt vor diesem mörderischen Sturm.“
Jonas ging zurück zu den Tieren, tätschelte ihnen Hals und Rücken, versuchte sie zu beruhigen. Nichts war zu hören, neben dem infernalischen Heulen der aufgebrachten Luft. Es ging langsam mit ständigen Unterbrechungen vorwärts, in diesem weißen Gefängnis verschwand das Gefühl für Zeit, weder Lara noch Mascha wussten, wie lange sie unterwegs waren. Voll Angst und um sowenig Wärme wie möglich zu verlieren, klammerten sie sich aneinander und hofften.
Aus dieser am Rande des Bewusstseins schwebenden Halbstarre, rüttelte sie eine rauhe Hand wach. Sie blinzelten in das Gesicht eines Eismannes, aus dem nur ein Wort ihr Ohr traf: „Gerettet!“
Die Pferde hatten nach Hause gefunden. Jetzt ging alles ganz schnell. Die Bediensteten die die halbe Nacht, voll Sorge auf ihre Rückkunft gewartet hatten, hoben sie aus dem Schlitten. Nachdem sich beide aus den eisverkrusteten Pelzen geschält hatten, stellte sich schnell heraus, sie hatten das Abenteuer unbeschadet überstanden. Jonas, ihrem Retter, den sie zu sich baten, war nichts erfroren. Er genoß dankbar ein erstes und noch ein zweites Glas Branntwein. Er wies jedes besondere Verdienst seinerseits weit von sich, beharrte, die Pferde hätten den rettenden Weg zum Stall gefunden. Sein Anteil sei nur ständige Ermunterung und Ansporn gewesen.
„Sei`s drum, Jonas,“ beschied ihn Lara. „Ich werde Moses Libeskind berichten, wem wir Dank schulden, für die Errettung aus den eisigen Fängen des Erlkönigs, er wird es zu richten wissen.“
Jonas schlug die Haken zusammen, machte einen tiefen Diener und ging rückwärts zur Tür, nicht ohne zuvor seine Zunge noch einmal heischend in das Brandweinglas versenkt zu haben. Lara lächelte, nahm die Flasche und gab sie ihm mit den Worten: „Jonas, morgen brauch ich ihn nicht, vergnüg er sich in aller Ruhe mit der Flasche.“
Als er gegangen war, nahm Mascha, die sich bei der Szene Mann und Flasche aus ihrem Sessel erhoben hatte, Lara beim Arm und fragte: „Ich habe doch richtig gehört, du sagtest, errettet aus den eisigen Fängen des Erlkönigs?“
„Ja, Mascha, so empfand ich es. Während der langen Irrfahrt durch den Sturm ging mir der Erlkönig, die Schreie des Knaben, von der Windgassen so natürlich intoniert, nicht aus dem Sinn. Zeitweise befiehl mich die nackte Angst, dem Unhold ausgeliefert zu sein.“
„Du sprichst mir aus dem Herzen, Lara. Es war nicht der Sturm, der mich ängstigte, was mich umwarf, war das meine Seele erschütternde Lied, vom Sterben des Knaben im Arm seines Vaters, die durchklingende Erbarmungslosigkeit seines Peinigers. Hoffentlich lässt er heute Nacht von uns ab.“
„Ich hoffe es wie du, Mascha! Aber horch, der Unhold scheint ausgepustet zu haben, ich höre sein Heulen nicht mehr!“
Wenn auch der Auftakt des Königsberger Aufenthalts erschreckend war, die folgenden Wochen waren ein einziges Fest. Windgassens gaben sich noch zweimal die Ehre, und jedes Mal erschütterten und erfreuten Mascha und Lara ihre Kunst. Was sie beide aber zu tiefem Nachdenken brachte, war die Aufführung von Schillers Kabale und Liebe, am königlichen Theater. Jede kannte Beispiele aus ihrem Kreis, wo ständig an Kabalen mit feinster Nadel gestichelt wurde.
„Auch ich,“ sinnierte Lara, als sie eines nachmittags beim Tee, das sie im Bann haltende Thema Kabale durchnahmen, „bin nicht frei von Ränke. Ehrlich, Mascha, nachdem Kabale mir so nahegebracht wurde, bin ich meinem eigenen Hang begegnet, die Dinge zu meinen Gunsten zu lenken. Selbst bei gnädigster Beurteilung, muss ich das gestehen. Es ist nicht so, dass ich mit festen Willen zur Kabale, an Probleme herangehe; doch unter der Hand gerät es mir oft dazu.“
„Liebe Lara, wir sind alle keine Engel. Betrachte ich mich, gestehe ich ohne Scheu und schlechtes Gewissen, dass eine gehörige Portion Berechnung mein Tun oft leitet. Wäre das nicht so, wo bliebe ich? Um meine vernünftigen und meist berechtigten Wünsche erfüllt zu bekommen, kann ich gar nicht anders als berechnend sein. Mein lieber Claus hat es sich zur Gewohnheit gemacht, seit ich ihn kenne, ich glaube aber zeitlebens, Wünsche, mit einem nicht weiter bedachten Nein, abzuschmettern.
Wer sollte mir verargen, ihm, was ich will, so zuzubereiten, bis er es als identisch mit seinen Vorstellungen empfindet. Dazu kommt noch der passende Ort, verbunden mit der passende Zeit des Vortrages.“
„Mit letzterem, Mascha, meinst du intime Situation und intimen Ort?“
„Lara, sicher! Die größte Macht über das andere Geschlecht verleiht uns das Bett. Seit altersher der Ort, an dem das weibliche Prinzip das männliche, im übertragenen Sinne und realiter nieder zwingt.“
„Sicher ist mir das bekannt, liebe Freundin. Nicht nur bekannt, ich nutze es, was mir andererseits den Kopf macht. Mein Moses ist ein liebenswürdiger Gatte, ich bin ihm von Herzen zugetan. Auch macht unser Treiben im Bett mir große Freude, ja läßt mich manchmal vor Verwirrung schier aus der Haut fahren.
Doch zum Eigentlichen. Es belastet mich, nachdem ich es in meinem Kopf wälze, wie schnöd, ja schnöd, ich wüsste kein anderes Wort, ich ihm abschmeichele, wonach mich gelüstet. Unseren Aufenthalt hier, abgeschmeichelt. Die Empfehlungen, die meine Korrespondenzen ermöglichen, abgeschmeichelt. Unsere Verbindung, abgeschmeichelt!“
„Liebe Lara, nun ist aber Schluss! Was du da vorbringst unter dem Rubrum abgeschmeichelt, sind die legitimen Wünsche der Ehefrau, eines reichen Mannes mit Einfluss. Dass er gern den Viehjud gibt, sollte dich nicht veranlassen ihm nachzueifern! Was unsere Verbindung angeht, kannst du sie ihm nicht abgeschmeichelt haben, was wäre gewesen, wir hätten uns nicht gemocht?“
„Aber letztlich hat er uns zusammengebracht, Mascha, und ich habe ihn darum gebeten.“
„Sicher, aber was solls? Bedenke bitte, ich war und bin wöchentlicher Gast in eurem Hause, wie hätte er dich vor mir verbergen sollen? Sicher hätte ich die Madame Libeskind, über kurz oder lang kennenlernen wollen. Kurz und gut, ich meine, unsere Plaudereien über das nicht so glockenhell, engelhafte unserer Seelen sind höchst lehrreich, belasten mich jedoch in keiner Weise! Umgekehrt wird ein Schuh daraus, Lara! Der Dichter zeigt uns, wir sind nicht allein mit unseren Versuchungen, was bedeutet, allzu selten können die nicht sein. Ich für meinen Teil lebe ungeniert damit, und bitte dich, es mir gleichzutun.“
„Schön und erfrischend ist das, Mascha, wie du die Dinge siehst und meisterst. Kann sein, die Schul und der Rabbi in Bialystok, haben mich noch allzu sehr im Griff.“
„Das könnte der Fall sein, Lara. Ich bin erst seit meiner Heirat keine Katholikin mehr. Du würdest staunen, was der geistliche Herr, der sich vor meiner Ehe für mein Seelenheil verantwortlich fühlte, Abstruses über Keuschheit und Tugend zu berichten wusste. Damals war ich ein Gör, hatte keine Ahnung, wovon der Mensch sprach, das heißt Ahnung schon, aber jenseits aller Wirklichkeit. Mit heutigem Wissen würde ich ihn fragen, wie er sich das Kindermachen vorstelle?“
Lara schnappte nach Luft. Ein sparsames Lachen zuerst, dann brach es laut und unbezwingbare aus ihr heraus. Zwischen Lachkaskaden stieß sie hervor: „Kindermachen! Noch nie gehört, aber herrlich zutreffend das Kindermachen,“ während ihr die blanken Lachtränen die Wangen herab kullerten.
Nachdem sie sich beruhigt, die Augen ausgewischt, schüttelte sie den Kopf, immer noch mit leisen Lacheruptionen ringend, wiederholte sie: „Kindermachen! Ja, Mascha, ein treffendes Wort. Bezeichnend, in welcher Abgeschiedenheit von der Welt ein jüdisches Mädchen groß wird. Deine Nora kennt das Wort?“
„Gewiß, seit ihrem ersten Unwohlsein kennt sie den Unterschied zwischen Mann und Weib. Ich besitze eine Schautafel aus Holland, auf der die Anatomien beider Geschlechter in Farbe täuschend echt abgemalt sind. Ob ich Kindermachen gesagt habe, bei meinen Erklärungen? Eher nicht. Wir leben von den Tieren, züchten sie, das heißt, vom Zeugen, Springen und Machen von Nachwuchs, wird alltäglich geredet.“
„Mascha, du besitzt ein Bild, auf der die gewissen, ich kann es nicht ausdrücken, abgebildet sind?“
„Ja doch, in allen Einzelheiten und farbig.“
„Farbig? Gewalt geschrieen! Darf ich das, nein das will ich sehen! Auch unseres?“
„Sicher, mit allen Lippen und Öffnungen von außen und von innen.“
„Und Nora hast du das gezeigt, da war sie, ich schätz mal, vierzehn?“
„Um den Dreh, Lara, genau erinnere ich das nicht.“
„Aber sie war noch ein Kind?“
„Lara, ist deine hübsche Betseba ein Kind? Ich erinnere mich doch recht, einen vollen Busen, eine schlanke Taille bei ihr beobachtet zu haben. Daraus schließe ich, sie blutet jeden Monat?“
„Sie hat eine wunderschöne Figur, Mascha, sicher, sie ist körperlich eine Frau.“
„So? Erinnerst du dich unseres Gesprächs über den Schadgen, den Ehevermittler? Deshalb ist sie doch mit uns nach Königsberg gekommen? Was stellst du dir vor geschieht, wenn das Mädchen unaufgeklärt einem Fremden verheiratet wird, der leicht zwanzig Jahre älter ist als sie? Ich antworte für dich: Sie wird ruiniert. Gebrochen an Leib und Seele. Der Körper erholt sich, aber ihre Seele bleibt verschattet.
Davon abgesehen, Lara. Nach der ersten Demarche sind Mädchen Frauen, können Kinder empfangen und gebären. Es geschieht jeden Tag, dass Fünfzehnjährige verheiratet werden. Also müssen sie vorher erfahren, was im Bett mit ihnen geschieht, und wie es geschieht. Sie müssen, bevor das Glied ihres Ehemanns in sie einfährt, wissen, es macht nach kleinem ersten Schmerz, Freude und Kinder. Sie müssen ihre Öffnungen kennen, um Klapaidas Mittelchen, sollten die Tröpfchen nicht langen, richtig zu deponieren. Die behüten sie vor jahrzehntelangem dicken Bauch. Du tust das doch auch, Lara?“
„Ja, Klapaida meint, ich sei zu zart, um noch ein Kind zu bekommen, es könnte mich das Leben kosten.“
„Recht hat sie, was nutzen dem Moses zwei Waisen.“
„Mascha, könntest du meiner Betseba die Bilder zeigen und erklären? Ich schaffe das nicht. Ich will sie sehen, aber nicht zusammen mit ihr. Ist ihr sicher auch lieber.“
„Seht ihr euch nackt, Lara?“
„Eigentlich nicht, nein. Als sie letzten Winter so furchtbar darniederlag, habe ich sie stündlich, von Kopf bis Fuß mit Klapaidas Tropfen eingerieben, da war sie nackt. Sonst aber nicht.“
„Darf ich indiskret sein, Liebes?“
„Ja darfst du, Mascha.“
„Moses? Sieht der dich nackt?“
„Ja doch, manchmal schon. Aber eher fühlt er mich nackt. In seinen Armen bin ich nackt.“
„Gut so, Lara. Das mit Betseba halten wir so. Sobald wir zurück sind, kläre ich sie über die Wirklichkeiten des Lebens auf.“
„Danach mich bitte. Kann nicht vor meiner Tochter ins Hintertreffen geraten.“
„Darf ich mit ihr über unser Gespräch, die Anatomie betreffend, reden?“
„Bitte Mascha, darfst und solltest du. Vielleicht durchbricht das die Mauer der Körperscham zwischen Mutter und Tochter. Ihr habt da keine Hemmungen, schätze ich?“
„Zwischen meinen Töchtern, mir und allen anderen Frauen auf Steinfeld gibt es keine Schamschranke. Wir gehen jede Woche in der kalten Zeit zusammen ins Dampfbad.“
„Von dem Schwitzbad hat Moses mir erzählt, nach der Zecherei bei euch, sei er mit deinem Mann im finnischen Bad gewesen. Habe ihm gut getan.“
„Siehst du, Lara. Also zuerst wird aufgeklärt, danach kommt ihr beide mich besuchen, und wir gehen zusammen ins Dampfbad.“
„Da muss ich den Moses fragen.“
„Wieso? Der darf nicht mit uns Frauen ins Dampfbad, möchte sich aufregen!“
„Nicht doch, das will er sicher nicht. Fragen werd ich ihn, ob ich nach Steinfeld darf. Deine Obermamsell, wird er fürchten, wird es durch Lyck tragen, wenn die Jiddsche vom Viehjud, beim Grafen Kelm im Dampfbad saß.“
„Liebe Lara, würdest du mir gestatten, das mit Moses auszufechten? Er kann, solange er mag, in Sack und Asche wandeln, doch warum sollten Frau und Tochter ihm folgen. Glaubst du, es wäre nicht längst rum, dass ich einmal die Woche mit ihm musiziere? Wie stellt er sich sein Verhältnis zu Nora und ihrem Mann vor? Ihr wohnt am gleichen Ort, seid die einzigen Menschen mit Kultur? Euch ignorieren? Da kennst du den Bernd, und meine Nora schlecht. Ganz abgesehen davon hast du mir versprochen, Nora zusammen mit Betseba zu unterrichten. Ganz und gar nicht geheimzuhalten.“
„Das mag stimmen, doch...“
„Lara! Das mag nicht stimmen, das ist so! Und setze deinen Satz nicht mit doch fort! Die hochwohlgeborenen Familien der Grafen zu Bern und von Kelm, werden mit der Familie des Viehjud Libeskind verkehren, und wenn er sich auf den Kopf stellt! Wird doch von den Übelwollern als Schwäche gedeutet, wenn etwas nicht zu Verbergendes verheimlicht wird. Glaubst du im Ernst, es wäre den Lyckern entgangen, dass die Gensfett bei uns operiert wurde, der Moses sich mit dem gnädigen Herrn besoffen, und nackt mit ihm in der Sauna gesessen ist, nachdem er ihm das herrliche Gut Seegrund zugeschustert hat? Dies ist Originalton Klatsch, wie er uns zugetragen wurde, Lara. Nicht zusammenhängend in einem Satz, sondern stückchenweise und mit vielen 'stimmt das' und 'muss das wirklich sein' versehen.“
„Mascha, das erschreckt mich. Kannst du mir sagen, wer so über uns redet?“
„Aber sicher, du Unschuldslamm! Alle, einfach alle! Gefragt worden sind wir von unseren Standesgenossen, nur die trauen sich das. Als Claus bei einem solchen Gelegenheit fragte, woher die Mär, waren es die lieben Spatzen, die es von den Dächern gepfiffen. Also genug der Heimlichtuerei! Noch etwas, hatte Moses Einbußen bei seinen Geschäften in letzter Zeit, hat er geklagt?“
„Nein, hat er nicht, jedenfalls mir hat er nicht geklagt. Hätte es sicher getan, liefe etwas schlecht oder bemerkte er Behinderung. Nein, nichts von alledem.“
„Vergessen wir es, mag er mit seinem Frosch wie eh und je über Land ziehen, tut unserer Freundschaft keinen Abbruch, sofern er euch nicht einschränkt.“
„Ich werde es ihm auseinandersetzen müssen, Mascha. Wird nicht leicht, aber letztlich wird er ein Einsehen haben, ist ein vernünftiger Mensch, mein Moses.“
„Kann ich unterschreiben, Lara. Was ich noch fragen wollte, wo ist dein Goldstück abgeblieben? Drückt sich erfolgreich vorm Theater und all den schönen Abenden, hat sie was Besseres zu tun?“
„Nehme es an. Ich erzählte dir von der jüdischen Gemeinde hier, alles in allem zweihundert Seelen. Familie Wolfsohn stellt davon zwölf. Ein Elternpaar, sechs Mädchen und vier Knaben. Zwei der Mädchen und ein Knabe sind in ihrem Alter, du glaubst nicht, wie glücklich sie ist, endlich einmal unter ihresgleichen zu sein.
Sie wohnt teilweise bei den Wolfsohns, übernachtet da. Soll sie es genießen, tut ihrer kleinen Seele wohl.“
„Könnt es sein, sie wird da aufgeklärt, und meine Unterweisung unnötig?“
„Mascha, gleich stürzt du mich in den nächsten Lachanfall. Wie stellst du dir das bei frommen Juden vor? Vermehren tun die sich wie alle anderen, sicher mit Begeisterung, aber ebenso sicher mit schlechtem Gewissen. Uns Frauen werden, sind wir erst verheiratet, die Haare ratzekahl vom Kopf geschoren und durch eine widerliche Perücke ersetzt, damit wir keinen Liebreiz ausstrahlen möchten! Zum Glück widersetzen sich immer mehr Mädchen dieser Prozedur, bei den Strenggläubigen jedoch gibt es da kein Pardon. Stell dir unter diesen Umständen Aufklärung vor. Was unter Röcken und Hosen verborgen ist, wird nur bei Zeugung und Geburt wahrgenommen.“
„Na ja, Lara, so anders ist das bei Christen nicht. Jedenfalls bei der großen Mehrheit, Ausnahmen bestätigen die Regel.“
„Im Grunde, Mascha, bin ich dafür. Ist der einzige Weg wie Patoren und Rabbis Gottesfurcht vermitteln können. Die einfachen Leute wissen nichts von Ethik, was sie im Zaum hält ist ein strafender Gott, der ihnen die ewige Seligkeit oder das himmlische Jerusalem verweigert. Unsere Geistlichen nehmen sie beim Wickel, wo die meiste und liebste Sünde geschieht, alles andere wird in einem Aufwasch dazugepackt. Wir haben in Paris erlebt was geschah, nachdem die lieben Leute sich von der geistlichen Bedrückung befreiten.
Erst verloren die Majestäten den Kopf, dann fraß die Guillotine sich tiefer und tiefer. Zuletzt wackelte ganz Frankreich der Kopf auf den Schultern. Die Furcht vor der ewigen Verdammnis ist den Leuten Kandarre, gibst du ihnen Raum, verlieren sie jedes Maß.“
„So gesehen ist der Kategorische Imperativ unseres Königsberger Philosophen Kandarre, Lara?“
„Sicher nicht für den, der imstande ist, sich aus Eigenem zu zügeln, doch gibt es davon genug?“
„Sollte es geben, Lara. Ich bin erst durch meine Ehe Protestantin geworden. Bevor ich den anderen Glauben annahm, habe ich nach den Unterschieden zu meinem angestammten Glauben gegraben. Als ich die erkannte, war das ein Aha-Erleben für mich. Getrennt von dem Schnickschnack, den die Pfaffen auch dem Protestantismus angehängt haben, bleibt eins fundamental, mit Luther lernst du begreifen, zwischen dir und deinem Schöpfer steht nichts. Du stehst ihm gegenüber mit all deiner Schuld und Hoffnung, Hoffnung auf seine Milde. Gleichzeitig ist dir klar, es gibt keine Gegenleistung für den Glauben, der Glaube ist nicht zu hinterfragender Imperativ.“
„Ähnlich ist das mit Adonai, dem Ewigen, dessen Namen wir nicht aussprechen. Bei ihm gilt unverblümt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Also, ob Protestant oder Jud, im Hintergrund könnte Rache lauern. Ich sag dir, ist Humbug. Das Ewige ist Prinzip, nicht Person. Den ansprechbaren Gott, gibt es nicht.“
„O liebste Freundin, du bist, wie ich eine arge Ketzerin! Danken wir dem ewigen Prinzip, dass wir erst jetzt auf Erden wandeln, hätte früher übel ausgehen können.“
„Nu Mascha, solche Erkenntnis binde ich nicht jedem auf die Nase. Selbst mein Moses will nichts davon wissen. Gleichwohl bin ich dafür, dass fleißig gebetet und sich gefürchtet wird, ich sagte es schon.“
2003
Sag`s und wir sind schon da, hatte Nora gesagt. Na gut, dachte Bernd, na gut, mit soviel Vollkasko kann nichts schiefgehen, er nickte. Nora, die hinter ihm stand, ihn umschlungen hielt, drückte ihn ein wenig fester. „Und?“ hörte er sie sagen, und sich antworten: „Hab genickt, bin bereit! Nur zu!“
Punta Arenas! O Gott, durchfuhr es Bernd, als der eisige Sturm ihn packte, der durch die von geduckten Hütten gesäumte Straße fetzte.
Keine Bange, Liebster, in Noras Stimme vibrierte Freude, haben wir gleich im Griff, folge mir um die Ecke. Um voran zu kommen, lehnten sie sich beinah waagerecht gegen die fauchenden Böen, versuchten mit rudernden Armen Gleichgewicht zuhalten, um endlich die Ecke, wie Nora das windschiefe Huck genannt hatte, zu erreichen.
Einmal geschafft, war es schlagartig aus mit dem Wind. Bernd rieb sich die Augen. Vor ihnen lag breit hingelagert ein riesiges Iglu.
„Iglu hier, Nora, tief im Süden?“
„Was kümmerts uns, Liebster, komm schnell rein, bevor der Wind uns wieder packt.“ Innen schien jede Begrenzung aufgehoben. Sie standen in einem von angenehm sanftem Dämmerlicht beherrschten Raum. Bernd suchte nach Noras Hand, zog sie in seine Arme, flüsterte ihr ins Ohr:
„Als du verschwandest, Liebste, verlor die Welt für mich jede Farbe. Als du im Spiegel meines Bades auftauchtest, explodierte ich, dehne mich immer noch aus. Den Mann, der ich einmal gewesen, hast du in eine fliehende Wolke verwandelt. Versteh, ich fasse es nicht, selbst deine Zusicherungen, verunsichern mich nur noch mehr.“
„Pst! Sprich nicht weiter, vertraue mir! Das Unfassbare wird fassbar werden, Geduld! Du wirst der Bernd, der du warst, den ich liebe. Was sollte ich mit einem Wolkenmann? Selbst als leuchtender Stern am Firmament, wärest du, bei aller Erhabenheit, nicht mein Bernd. Freue dich an meinem Glück, erwarte deins. Glaube mir, schlafe, tanke Kraft und dein Selbstvertrauen kehrt zurück. Es wird hell, verlasse dich für kurze Zeit, doch sei gewiss, verlier dich nie aus dem Auge.“
Als sie verschwunden war, suchte ich ein Bett. Schlafen, Kraft tanken, sicher plausibel. Doch wie zur Ruhe kommen, mit den Turbulenzen in meinem Kopf. Klarheit schaffen oder verrückt werden, war das die Alternative? Wohl nicht. Nora, so sehr ich ihr verfallen, ist Nora und doch nicht Nora. Mit ihr im Bett zu rasen ist höchste Lust, was störte mich? Was schon, sie ist kein Mensch. Ist Wesen zwar von Fleisch und Blut, fühlt sich so an, sieht so aus, doch meine Wirklichkeit ist sie nicht. Wo, wer bin ich? Wo ist Gewissheit? Ist die von Nöten?
Einfach hinnehmen was geschieht, als unglaubliche Erfahrung genießen? Austieg zu jeder Zeit möglich, gib dich hin, Junge, mach dich lang, finde Ruhe. Freue dich auf das Zauberwesen, gib, was ihr mangelt, sofern du weißt, wonach sie hungert.
Doch so tick ich nicht, fühle ich nicht, bin ich nicht!
Wirklichkeit, was heißt das? Bin ich wirklich, die Welt, die Luft, mein Hunger, die Liebe, mein Hand und Fuß, Wirklichkeit? Wo der Beweis? Zweifel, überall Zweifel, Zweifel umstellt steh ich da, soll Bernd sein, ihr Bernd. Was ist, sie erkennt, durchschaut mein Bangen, Zagen, verlöre ihr Interesse, schubste mich zurück in mein Berndsches Dasein, ins graue, niederdrückende Nichts! Ja so wäre das: Niederdrückendes noraloses Nichts.
Muss mich sammeln, mir klar werden. Nicht nur die Lust, ihr Körper, der vorher nie erlebte Taumel in ihren Armen, besetzen mein Denken. Dahinter ist Anderes. Liebe, matte Umschreibung für das mein Sein beherrschende, nur mit ihrem Namen zu artikulierende Sehnen. Nichts gilt mehr, wenn nicht verschmolzen mit ihr, ein Körper die Nora, der Bernd. Ein Kopf, ein Herz, ein alles. Schlafen, schlafen. Träumen, von ihr und mit ihr träumen.
„Bernd wach auf, bin zurück!“
Da steht sie vor meinem Bett, lächelt auf mich herab, übergießt mich mit dem grünen Glanz ihrer Augen.
„Hast gegrübelt, Liebster, die Antwort zu finden gesucht auf die Frage, die du nicht stellen darfst. Vertrau mir, bitte, nein nicht einfach bitte, inständig bitte ich um dein Vertrauen. Lass einfach los, gib dich deiner Sehnsucht, die auch meine ist, hin. Lass uns gemeinsam entgrenzen, was eingesperrt uns bewohnt, beherrscht. Lass uns die Sehnsucht artikulieren, buchstabieren. Lass sie uns schälen, präparieren, sie befreien aus ihrem Wortgefängnis, geben wir ihr Leib, Wärme, Blut! Wir wissen, sie ist mehr als die Buchstaben, die sie beschreiben. Sie ist uns Leben, Antrieb, alle vorstellbare Süße, zu eng gepackt in ihren Buchstabenleib, zu regelhaft, zu erdacht, zu abstrakt. Körper soll sie werden, unser Körper, unser beider Leib. Unbegrenzt, schwerelos, schwer nur vom Duft der Wehmut, die uns befallen könnte, angesichts nicht mehr möglicher Steigerung allumfassenden Glücks.
Ich leite dich Liebster, zu diesem Höchsten! Erlaube mir voranzugehen, gib mir deine Hand. Schalt alle Fragen ab, lass Bernhard Bern Hülle, Hülse sein. Soll uns nicht folgen, nicht teilhaben, an unsererem grenzenlosen Sein.“
So sprach sie, ich lag und lauschte, badete im grünen Feuer ihrer Blicke, glaubte ihr jedes Wort, war zu allem bereit, und doch, ja doch, tief in mir regte sich das Menschlein. Antworten wollte ich, sie erinnern an vorgestern, den See, den Wald, die zum Tag mit Wasser und Luft sich vermählende Sonne. Den Duft von Moderholz und lebendigem Fisch, das tagein, tagaus den Steg umwerbende, glucksende Plätschern des Wassers. O Nora, ich will es dir sagen, doch weiß ich, du weißt, bevor ich es gedacht. Bernd Hülse, Hülle, stimmt. Jedoch Bernd, Bernd Mensch. Erdenschwer aus Lehm geformt, dem Staub vermählt. Staub, des unendlichen Endes Vehikel. Das unterscheidet uns, Nora, ich bin entgrenzt ohne mich, anonym die Rückkehr ins Unbewußte. Sag mir, dein Wunsch und mein Vermögen, wie willst du uns in Einklang bringen? Wird Bernd, erdverhaftet, nicht stören? Mit dir jubeln, wie gern, wie hingerissen lausche ich dir, doch bin ich im Stande?
Kleinmütig, sicher, was sonst. Bin noch nicht fertig, Liebste, was wird, wird aus mir Menschlein. Bin dir verfallen, nur dich denke ich. Doch sorg mich auch. Was wäre, Liebe sprengte mir das Hirn?
Als wir uns trafen, die Nacht, bevor Adam starb, war ich der, der dich behüten, lieben, leiten wollte. Das blieb so, bis du verschwandest. Dein Spiegelbild hob mich erst gestern, empor aus tiefstem Unglück, grausigem Seelenschmerz. Bedenk, wie schnell, wie blitzgeschwind ich mich verändern, adaptieren soll. Bedenke was geschieht, wie mein Verstand das sieht. Jenseits von Leidenschaft und Liebe, wohlgemerkt. Wenn du mich nicht als deinen Spielball willst, drossele das Tempo, gib mir Zeit um zwei und zwei zu vier zu machen. Du sprachst vom Ende aller Zeit, für mich ein unfassbares Wort! Betrachte mich mit meinen Augen, siehst du, wie es um mich bestellt ist?“
„Ich verstehe, Bernd. Werde mein Ungestüm zügeln. Ungestüm nur deinetwegen, Liebster. Kanns einfach nicht erwarten, dich befreit zu sehen, befreit von all der Schwere, die du beschrieben. Fürchte nichts, ich bringe dich zurück, sollte dir, wie fürchtetest du? dein Hirn zerspringen.“
Klapaida
„Da bist du ja wieder, Klapaida, alte Hexe. Noch nicht genug von deinen Erdenwürmern? Leuchtest wie`n Nordlicht, kannst dich nicht bekriegen?“
„Ach Rumpel, halt`s Maul, hast keine Ahnung. Gibt`s was Neues?“
„Wenn du schon fragst, Klapaida, doch, Neues dreut.“
„Dreut? Was soll das, alter Uhu, willst mir drohen?“
„Ich? Beileibe! Wie sollt, nein könnt ich? Rogar ist unmutig, um nicht bitter bös zu sagen. Besprach sich mit dem Wassermacher, deinem alten Kreischer. Weiß nicht was die heckten, doch sicher ist`s nichts Gutes mit Verlaub, liebste Dame.“
„Sollt mich das stören, Rumpel? Den Kreischer kriegt Rogar nimmer frei, was könnte er mir tun?“
„Stimmt, allein den frei zu kriegen hoffnungslos, doch wenn alle hülfen? Könnt doch sein, du hast Gunst verspielt, bei dem Gelichter. Wohin ich flieg, hör ich Geraune, seh grame Mienen. Rogar wühlt und hetzt, denunziert dich als Menschenhure, stänkst geradezu nach deren faulem Fleisch!“
„Rogar! Rogar! Werde ihn bannen, das bringt ihm den Verstand zurück!“
„Zu spät, Klapaida! Du bannst Rogar nimmermehr, vielmehr bannen wir dich, bis dein Verstand dir wiederkehrt, sagen wir für ein Äon?“
„Kreischer, wie kommst du hierher?!“
„Bin dir Abtrünnigen nicht Rechenschaft schuldig, hab nur den Auftrag dich zu bannen! Leg dir Allmutter Klapaida, aus freiem Willen meine Ketten an, die mich ungezählte Äonen banden! Du wirst nur nur ein Äon lang in dich gehen müssen, wirst dich danach gefunden haben, glaubt mit mir, voll Ehrfurcht dein Gelichter.“
„Rumpel! Klapaida schreit es laut, wie Donner sollte es die Luft erschüttern, doch nichts als zages Flüstern ist zu hören. Rumpel?“
„Ich höre, Herrin, und kann gar nicht helfen. Es ward beschlossen, ist schon durchgeführt! Ich sehe und höre dich nicht mehr, obwohl, das Herz liegt mir versteinert in der Brust. Ich bleibe Uhu bist du wiederkehrst, überlass die Hütt im Erlengrund dem Sturm und Regen. Verspreche, verwein mein steinern Herz dir in memoriam, leb nur dem Augenblick des Wiedersehens!“
2003
Bernd wachte auf und griff nach seinem Kopf. O Gott, was für ein Rathaus! Er schloß die Augen und dachte nach. Vicky war da gewesen, sie hatten gegessen, getrunken, beratschlagt. Eine halbe Flasche Schnaps hatte er intus. Was hatten sie beschlossen? Was war gewesen? Nichts! Keine Erinnerung. Er sah auf die Uhr, Mittag! Schluß mit dem Lotterleben, er sprang aus dem Bett. Schnell unter die Dusche. Da lag Zahnbürste und Zahncremetube am Boden. So geht das nicht weiter, schwor er.
Das Telefon brummte.
„Hallo Vicky, ja eben erst aufgewacht. Neue Erkenntnisse? Ja ganz bestimmt! Schluß mit dem Lotterleben, Morgen melde ich mich zum Dienst zurück. Nora? Was soll sein mit Nora? Offensichtlich hat sie mich über. Na und? Soll sie, andere Mütter haben auch schöne....Wie, Vicky? Was mach ich mir zu einfach? Also ich bitte dich, müssen wir das am Telefon besprechen? Wann können wir uns sehen? Du hast mich dicke, jedenfalls die nächsten vierzehn Tage? Aber Vicky, sicher, Nora ist wer Besonderes, aber du kennst doch den Spruch, alles hat ein End nur die Wurst... eingehängt. Weiber! Im Grunde sind sie alle gleich, kommt ein normaler Mann nie mit zu Rande.“
1818
Als Mascha und Lara aus Königsberg zurückkamen, freudig erregt, zum überlaufen voll, von dem Erlebten zu erzählen, mit ihren Lieben zu diskutieren, vorzuspielen. Das hatten sie sich geschworen, Lyck würde eine Bühne haben. Was anderswo ging, sollte auch in Lyck gelingen. Figuren hatten sie genug, das erste Stück stand ihnen schon vor Augen, geschrieben zwar noch nicht, doch Handlung und Ende angerissen: Des Sysiphos Stein in Lyck durch Feld und Flur gerollt, das gut Gewollte, so schlecht Vollbrachte, und all das mild beschienen vom Licht des guten Willens.
Als sie jedoch, ihrer Freude über die Rückkunft in die liebe Heimat, kaum beherrschend könnend aus dem Wagen sprangen, stutzten beide. Bernd, Nora und Moses standen vor dem neu erbauten Haus des jungen Paares, seltsam leblos. Mascha eilte auf sie zu und rief: „ Was steht ihr da so grau? Was ist euch?“ Lara, ganz verschreckt, nahm ihres Moses Arm, legt sich den um den Hals, ihn so ermunternd zum Willkommenskuss. Doch statt des Kusses sagte Moses: „Klapaida ist tot, sie liegt in der Apotheke, wir fanden sie jetzt eben, als ihr kamt.“
Sie stürzten die wenigen Schritte hin zum Laden, die Tür stand auf, doch nirgendwo Klapaida?
„Moses, Bernd, Nora?! Hier liegt sie nicht, ihr saht sie liegen?“
„Hier lag sie, eine kleine dunkle Wolke stieg auf aus ihrem Mund. Zwölf schlug die Uhr im Turm, so wahr mir Gott helfe,“ flüsterte Bernd kaum hörbar und bekreuzigte sich.