2003
Als Nora sich am nächsten Morgen die Augen rieb, war das Bett neben ihr leer. Sie verkroch sich noch einmal in die Kissen, wollte nicht Abschied nehmen von ihrem schönen Traum. Fühlte sich ganz einig mit sich, die Grille vom Abend zirpte nicht mehr. Ich träume ein Leben, mein Leben in einer anderen Zeit. Was mir gestern unheimlich war, heute beglückt es mich. War ja anders, das Seegrund gestern, zerstört, verbrannt, zerstoben. Mein Traum dagegen, mein Bernd in Traum und Wirklichkeit, gleich süß. Kann nicht abreisen, die Hochzeit steht ins Haus, wird nicht auf sich warten lassen, mit Glück träum ich sie heute Nacht. Hochzeit und Hochzeitsnacht! O liebster Bernd, wirst mich dann zweimal entjungfert haben! Werde dir verschweigen, was ich geträumt. Träume sind Schäume, mein Traum darf nicht vor Erfüllung verwehen.
Lag da die Nora, ganz erfüllt von Glück. Könnte mich entäußern sang ihr Herz, mich vergessen, mit Bernd auffliegen in den blauen Himmel, nichts sein als das Glück.
Sie kuschelte sich in das große, weiche, polnische Gänsedaunenbett. O Bett, flüsterte sie, die Lippen kaum bewegend. Bett, wenn du so herrliche Träume vermittelst, sollte ich dich mitnehmen nach Hause, keine Nacht mehr ohne dich sein!
Rogowski mit seiner Bimmel, riss sie aus dem seligen Zustand. Sie sprang auf, nicht noch einmal wollte sie dem alten Knaben, zu Anzüglichkeiten Anlass geben. Durchs Fenster sah sie Bernd sitzen, er winkte Rogowski mit einem Büchlein.
„Schon auf, kleine Schlafmütze,“ neckte er, „der lüsterne Mann kommt!“
„Sofort! Als ich den Alten bimmeln hörte, bin ich aus dem Bett. Werde das Gefühl nicht los, der Bock guckt durch Wände und Bettzeug auf meine Nacktheit. Werde ihn angezogen vor der Tür empfangen!“
„Was ihn nicht hindern wird, Liebste, dir neuen Schabernack zu spielen. Lach drüber, früher waren Männer so. Galten als ungehobelt und schüchtern, zu nichts zu gebrauchen, ohne ständige, versteckte Potenzprotzerei. Habt ihr Gleichberechtigt-Emanzipierten uns ausgetrieben. Bin sicher, kommt wieder. Wird euch auf Dauer was fehlen. Das ständige Geschäckere und Komplimentieren finde ich lustig, lustiger als die neue Sachlichkeit.“
„Magst recht haben, Bernd, nur ist mir der Rogowski zu alt für dererlei Spiele.“
„Liebste, der kann gar nicht anders, hat stets auf Schäckerfuß mit Frauen gestanden. Würdest du ihm sagen, er soll das lassen, der wüsste nicht was du meinst, wäre ihm nicht klar zu machen.“
„Danke für die Belehrung, großer weiser Doktor. Werde zurückschäkern, sollte er mich anmachen!“
„Nein Nora, bloß nicht! Ganz und gar unmöglich. Du hast die Augen niederzuschlagen, hold zu erröten, das wär`s aber schon! Ihm mit gleicher Münze heimzahlen, nie und nimmer! Da kommt er. Guten Morgen, Pan Rogowski!“
„Guten Morgen Komtess, guten Morgen Herr Doktor, gut geschlafen?“
„Herrlich geschlafen!“
„Schön, dann wird der Appetit wohl wieder zurückgekehrt sein. Hab Neunaugen im Korb, sauer eingelegte, und welche leicht paniert in Butter gebraten. Gibt es in ganz Polen nicht mehr, haben wir aufgefressen. Stehen jetzt unter Schutz, dürfen nicht mehr gefangen, geschweige gegessen werden. Aber sie wissen ja, der Zar ist weit sagte man früher, als Polen noch zu Rußland gehörte. Aal ist diesmal nicht, dafür Stinte gebraten, und für den süßen Zahn frisch gebackenes Rosinenweißbrot, vor einer Stunde aus dem Ofen genommen. Weiter frische Butter, war gestern noch Milch, die Aufstriche die Sie schon kennen und Käse. Hab keinen Namen für den Käse, probieren Sie, und sagen Sie mir bitte, wie man den nennen könnte. So genug gefaselt. Guten Appetit und bis auf heute Abend. Sollte ich keine anderen Wünsche hören, gibt es Spanferkel.“
„Na was sagst, Nora, war doch manierlich, unser Kutscher?“
„Ja doch, hat sich beherrscht, der Knacker, hat sich wohl denken können, hold Erröten mit niedergeschlagenen Augen ist nicht! Wüsst ich genau, wenn dem so wäre, wird nie sein, verlass dich drauf! Doch jetzt ran an die Neunaugen, möchte wissen wo die sitzen bei den Viechern? Bernd, schnell beeil dich! Die in Butter gebratenen sind einfach köstlich, beeile dich, sonst fress ich sie dir weg.“
„Bin schon da, mein verfressenes Nörchen, gib mir eins von den Tierchen, ja bitte, direkt auf die Zunge. Mmh köstlich, wo sind die Sauren?“
„Hier, warte, ich fische eins raus. Die eine Hälfte für dich. Was, besser als gebraten? Ok, ich nehme gebraten, du sauer.“
„Fein, lass uns die in Ruhe genießen. Was macht die Grille?“
„Verflogen, Bernd, auf und davon. Weine ihr keine Träne nach. Seegrund war heftig für mich. Ist nicht meins, Stimmungsschwankungen. Könnte es sein, du hast mich geschwängert?“
„Durchaus, bei unseren Aktivitäten, jedoch seh ich dich abends die Pille nehmen. Hab schon Pferde kotzen sehen, in spätestens sechs Wochen werden wir es wissen.“
„Bist du wahnsinnig, ich schwanger! So ruhig, wie du das abhandelst, kann ich das nicht. Ach was, kann gar nicht sein. Einen Moment, hier ist die Pillenfolie. Für jeden Tag fehlt eine, Gott sei Dank. Nicht auszudenken wäre das!“
„Was ist so schrecklich daran? Schwangerschaft ist keine Krankheit! Ohne Schwangerschaften gäb es uns nicht. Die Lust und ihre Wonnen sind in uns angelegt, sonst pflanzten wir uns nicht fort. Ohne Hintersinn geschieht nichts in der Natur. Die Wollust hat sie explizit zur Erhaltung der Art erfunden.“
„Mag sein, hab nichts dagegen. Aber nicht aus heiterem Himmel und nicht ungeplant. Erst baut Klein-Nora ihr Examen, findet einen Job, danach wird eifrige, nimmermüde Wollust gern belohnt.“
„Kann dauern, Nora. Physik ist ein vertracktes Fach, hat sich schon manch einer die Finger verbrannt, die in den Griff zu bekommen.“
„Manch einer, Bernd, doch ich, du weißt es, bin eine. Frauen sind zäher, fleißiger und ehrgeiziger. Jede Wette, ich schaffe das in zehn Semestern.“
„Die Wette gilt, Schönheit, doch was zahlt der Verlierer?“
„Bitte nicht jetzt, soll Spaß, Geplänkel bleiben. Ich lebe in Minuten, Stunden, Tagen, mag nicht in Jahren denken.“
„Weise gesprochen, lassen wir so stehen. Was machen wir mit den Minuten, Stunden, die uns heute geschenkt?“ Bitte nichts, Bernd, lass uns hier auf dem Steg die Zeit verdösen. Wird es uns warm, ein Sprung ins kalte Wasser, wird es uns kalt, ein Sprung ins warme Bett. Was noch könnte des Himmels Gunst uns bieten? Ich könnte stöhnen vor Glück!“
Als Rogowski am Abend, das Spanferkel im Korb, bimmelte, tat sich nichts. Er wartete ein Weilchen, müssen sich voneinander lösen, brummelte er. Dann bimmelte er wieder, diesmal etwas länger. Warten, wieder nichts! Na nu, werden doch zuhaus sein? Er plierte hinüber zur Kate. Sind da, die Tür steht auf. Wären es Polen, wäre ich nicht so sicher, die hauen ab, und lassen alles stehen und liegen. Aber der Doktor, nie und nimmer geht der, ohne die die Tür zu schließen.
Also nochmal heftig gebimmelt. Tut sich nichts, geh ich nachsehen.
Rogowski zögerte, hatte nach dem Bimmeln zweimal bis hundert gezählt. Kann nicht einfach umdrehen, könnt wer weiß was geschehen sein, machte er sich Mut und polterte laut pfeifend den Weg zur Kate hinunter. Auf der Plattform setzte er seinen Korb geräuschvoll ab, verharrte einen Augenblick, doch niemand kam, es blieb still. Tür und Fenster standen weit auf, war gut bei der Hitze, war ein herrlicher Sonnentag gewesen. Was tun? Nachsehen! Auf Zehenspitzen schlich er zum Fenster, sah hinein, zog den Kopf blitzschnell, wie von der Natter gebissen zurück. Was jetzt? hämmerte es in seinen Schläfen. Der Blutdruck, der verdammte hohe Blutdruck. Geschah etwas ausser der Reihe, schwollen ihm die Adern und die Luft blieb weg..
Die Komtess und der Doktor, nackt ineinander verschlungen! Das Gesicht der Komtess, dem Fenster zugewandt, das Lächeln auf ihren Lippen!
Rogowski ging noch einmal hoch, verharrte, saugte jede köstliche Einzelheit des nackten Mädchens in sein Gedächtnis. Mein Gott, diese Titten, die Taille, der Hügel, das fein gelockte dunkle Haar!
Schnell weg hier, was ritt mich zu stören, nicht auszudenken sie würden wach. Mit zitternden Knien kam er bis zur Glocke, dem Ausgangspunkt seines Abenteuers, warf sich auf die Bank, hing da wie erschlagen. Ruhig werden, langsam atmen! Nichts ist geschehen, hast nichts Böses getan, wäre nur furchtbar peinlich gewesen, die Komtess hätte die Augen aufgemacht. Wie wär er dagestanden? Rogowski, der Spanner? Darf es nicht denken! Aber das Bild! Wird es mein Lebtag nicht vergessen, wird ganz meins werden, tief in mir versteckt zu betrachten an besonderen Tagen.
Als er zurück kam mit dem Ferkel, verzog seine Frau das Gesicht. „Nicht gut genug, was ich koch für Hochwohlgeboren?" Rogowski ging nicht ein auf ihr Motzen.
„Stell es kalt, nein besser, wir essen es zur Nacht, unsere Gäste sind nicht da, werden sich melden, sollt sich Appetit regen.
Lass eines der Mädchen mir den Lehnstuhl richten, mit warmen Decken und weichen Kissen vor die Tür stellen. Will heute Nacht den Mars und die Sternschnuppen beobachten, erst in zwei Jahrhunderten wird er uns wieder so nah sein. Halt, mein Fernglas und bitte die Gläser polieren. Das Tischchen brauche ich. Wenn ihr esst, bringt mir vom Ferkel und Bier nach draußen.“
Als Sofia den Stuhl behaglich hergerichtet, deutete sie ihrem Vater einen Kratzfuß an, und wies mit einladender Geste auf den Sitzplatz. Der Papa bedankte sich, bat ihn nicht zu vergessen, beim Bier und Ferkelfleisch.
War nicht das Wichtigste, die Sternschnuppen und der Mars. Wenn er rüberschaute zu den Ferienhäusern, konnte er ohne Glas nicht klar erkennen, was sich dort tat. Werde die Beiden diese Nacht nicht aus den Augen lassen, schwor er sich. War nicht normal, dass sie sich noch nicht gerührt hatten, ihr tiefer Schlaf bei seinem Besuch beunruhigte ihn mehr als ihm lieb war.
1818
Nora und Bernd, vor Erwartung bebende Hochzeiter auf Steinfeld. Hatte schön gepredigt, der steife Pastor. Sich selbst übertroffen, als er ausmalte, wie das junge Paar in Lyck den Schmerzbeladenen beistehen würde. Auf des Doctors Verlangen hatte er von der Apotheke gesprochen, die Gräfin Mascha und die Kräuterfrau Klapaida, einrichten und betreiben würden. War ein schweres Stück Arbeit gewesen, ihn dahin zu bringen, den Namen der Kräuterfrau unter dem gesegneten Dach der Kirche, in den Mund zu nehmen. Bernd hatte gedroht, als der Pastor sich absolut bockig und widerspenstig gab, dann lassen wir uns in Palmiken trauen! Das wirkte, in Palmicken! Neumann verfärbte sich, seine Hängewänglein changierten von rot nach violett.
„Nora," stöhnte er, „an meiner Hand habt Ihr die ersten Schritte zu Gott hin getan. In dieser Kirche seid Ihr getauft und konfirmiert worden! Würdet Ihr mir wirklich das Herz brechen? Seid gewiß, es bräche mir, trautet Ihr in Palmicken!" Nora begegnete seinem fordernden Blick mit sanfter Ergebenheit, gab ihm aber so Bescheid, wie er ihr die Heilige Schrift ausgelegt hatte.
„Lieber Pastor Neumann," gab sie sich besänftigend. „Ihr lehrtet mich, das Weib schulde dem Manne Gehorsam. Nun bringt mich bitte nicht in einen Gewissenskonflikt. Mein künftiger Mann schätzt Klapaida hoch, ebenso meine Mutter, wie Ihr wisst. Ich bitte Euch, gebt nach, denn ich möchte nicht in Palmicken getraut werden."
Doch nun saßen Verwandte, Nachbarn und Freunde, um den festlich gerichteten Hochzeitstisch im großen Saal. Papa nestelte ein Manuskript aus der Tasche, und begann eine vorbereitete Rede vorzutragen. Nach den ersten Sätzen und mehrmaligem Verhaspeln, schob er das Papier unter den vor ihm stehenden Teller, schneuzte sich kurz und verkündet: „Frei von der Leber weg reden, liegt mir mehr! Liebe Gäste, entschuldigt bitte, sollten sich in meinen Vortrag Verwechslungen und Ungereimtheiten einschleichen, sind keine gewollten Fehler, bin Agronom nicht Redner; könnte ja sonst beim Ständetag in Berlin vom Leder ziehen, was, wie wir alle wissen, dringend nottät."
Er kam dann auf das Glück seiner Kinder, das ein Glück für die Gegend sei, bände es doch einen ausgezeichneten Chirurgen und Doctor, der seine Kunst schon mehrfach unter Beweis gestellt habe, an diesen entlegenen Landstrich.
So ging das einige Zeit ganz munter vorwärts, zerrann dann aber zu einem mühsam, von Wort zu Wort springenden Rinnsal, und endete mit einem Toast auf das Brautpaar. Es kamen dann noch einige mehr oder minder interessante Reden. Onkel Fedja flocht lustige Schnurren zwischen seine Sätze. Man lauschte, lachte höflich. Bevor Weitere zu Wort kommen konnten, drängte sich Mascha dazwischen und verkündete:
„Liebe Freunde und Gäste! Genug der schönen Worte, unser Paar hat Besseres zu tun. Kann den schönsten und erlesensten Wortdrexeleien momentan nichts abgewinnen. Wir entlassen sie ins Eheleben! Möge es lange dauern, und glücklich werden!“
Bernd sprang auf, schnappte seine junge Frau um die Taille, und trug sie unter dem fußtrampelnden und händeklatschenden Beifall der Hochzeitsgäste, durch die Tür hinaus auf den Hof, wo ein Einspänner geschmückt mit frischem Grün und weißen Schleifen, bereitstand. Nora schwang sich, ihr Hochzeitskleid missachtend, neben ihren Mann auf den Bock, der trieb das Pferd an und sie waren allein.
„Auf zur Kate am See!“sang Bernd. Nora fiel ein: „Zur Kate, zur Kate! wo Mascha alles aufs Beste gerichtet haben würde, die nächsten Tage gab es nur sie. Alle drei Tage kam Nachschub, verhungern würden sie nicht.“
Als genug Raum zwischen Steinfeld und ihrem Gefährt lag, hielt Bernd das Pferd an. Als der Gaul stand, nahm er Nora in die Arme. Sie flog ihm entgegen. Bevor seine Lippen ihren Mund verschlossen, gelang es ihr noch laut auszurufen : „O ich bin so...!“ Mehr brachte sie nicht heraus, zum erstenmal schlug Leidenschaft, mit heißer verzehrender Flamme bei ihr ein, als sie sich ohne Schranken, an den sich ihr entgegen drängendenden Leib ihres Mannes schmiegte. Nach einer Ewigkeit ließen sie voneinander ab. „Treib den Gaul an, Liebster," keuchte Nora, „ich kann das, was kommt, kaum mehr erwarten."
1818-2003 Hexereien
Rogowski hatte gegessen und getrunken. Als die Dämmerung zur Nacht wurde, brachte seine Frau einen Eimer mit Eiswasser, in dem ein Syphon Bier lag. „Mach nicht allzu lang, Jerzy,“ mahnte sie, „deine Komtess hat dich scheints rein verhext, wir gehen schlafen.“
Ganz Unrecht hat sie nicht, die Alte, gestand sich Rogowski. Seit die Komtess und der Doktor hier sind, ist es um meine Ruhe geschehen. Weiß nicht was mich umtreibt, einerseits führe ich mich auf wie eine Glucke, die um ihre Kücken bangt, andererseits mach ich mir vor, die Nora schon einmal im Arm gehalten zu haben. Blödsinn, pure Einbildung, ist mir klar, gleichwohl hocke ich hier und habe Vorstellungen.
Er setzte den Syphon an den Hals und trank. Als er absetzen wollte war da etwas, das ihn hinderte. Er schluckte und schluckte, es war herrlich, noch nie war ihm Bier so sanft und glatt durch die Kehle geronnen. Als er endlich absetzen konnte, spürte er das Gewicht des Syphons, als ob kein Tropfen fehlte. Er hielt das Glas gegen den strahlend am Himmel stehenden Vollmond. Nichts raus, stellte er fest. Zufrieden leckte er sich den Bierschaum von den Lippen, schob die Drahtlasche über den Verschluss bis der zuschnappte, und versenkte das Gefäß in den Eimer mit Eiswasser.
Sanfte hellsichtige Müdigkeit machte sich in ihm breit. Zuerst waren es die Lippen, dann Zunge und Wangen, die mit einer köstlichen Taubheit belegt wurden. Er gab sich diesem schwerleichten Zustand ganz hin, nahm den im Mondlicht glitzernden See, die Katen, das Rauschen der Bäume, und das laute Platschen der springenden Fische wahr. Irgendwie war er nicht der kleine Kätner Rogowski, sondern ein riesiges alles beobachtendes Auge, sämtliches hörendes Ohr. Er reckte und dehnte sich, spürte eine nie gekannte Leichtigkeit und schaute auf sich, im Stuhl vor seiner Kate sitzend, herab. Besoffen, er machte den Ansatz sich das zu fragen, hielt aber inne, bevor der Gedanke sich seiner bemächtigen konnte. War so viel schöner getragen zu werden von der Luft, auf der er, so schien es ihm, wie auf einem Daunenkissen schwebte.
Er riss seinen Blick von Kate und See los, nutzte die Gelegenheit, aus der Vogelperspektive seine Heimat vor sich ausgebreitet zu sehen, erkannte ganz nah Seegrund, das Herrenhaus, das Geviert der Ställe und Scheunen im Mondglanz hingebreitet, ein Storchennest auf jedem Giebel. Er konnte es gar nicht fassen, was er sah war unzerstört. Sicher träume ich, half er sich, als er jedoch weiter Umschau hielt, lag da, wo er die Ruine von Steinfeld wusste, ein ebenfalls unangetastetes Gehöft, doch nicht im Mondschein wie Seegrund, sondern von heller Sonne beschienen. Jerzy Rogowski, was geschieht hier vor deinen Augen, fragte er sich ohne alle Ängstlichkeit. Sicher, es gab genug Grund zum Fürchten, in Panik zu geraten, er aber fühlte sich aufgehoben wie in Abrahams Schoß. Hier über dem See war Nacht, eine Stunde weiter, wo Steinfeld plötzlich unversehrt erschienen, Tag. War ihm zwar unbegreiflich, aber es hinzunehmen, bereitete ihm kein Ungemach.
Dann bemerkte er, wie ein Einspänner von Steinfeld auf den Weg nach Seegrund hin gelenkt wurde. Er behielt das Gefährt im Auge, erkannte, es kam näher und war geschmückt wie eine Brautkutsche. Bald konnte er die Insassen ausmachen, zu seinem Erstaunen waren es die Komtess und der Doktor, die doch fest ineinander verschlungen, schlafend in der Kate lagen. Er konnte und wollte sich keinen Reim darauf machen, wenn es ihm auch ein wenig den Atem raubte. Zuviel stürmte da in den letzten Minuten, konnte auch sein Stunden, auf ihn ein. Bald schwante ihm, Klapaida, die Alte von der die Weiber raunten, sie sei eine Hexe, mischte hier mit. Quatsch, verwies er sich dererlei Blödsinns, wir leben im Einundzwanzigsten Jahrhundert.
Während Rogowski noch zu klären suchte, wie ihm geschah, war die Kutsche am See angekommen. Bernd hob seine Frau heraus, und trug sie zu einem Nachen, der an einem Pflock am Ufer vertäut lag. Nora ließ sich die Fürsorge mit kätzischem Behagen gefallen, versuchte sogar, ein paar Schnurrlaute zu produzieren. Bernd vertröste sie auf die nächsten Minuten, wo sie ganz und gar sich allein gehören würden, und rief laut nach Jerzy.
Jerzy! hörte Rogowski ihn rufen, sah sich selbst auf die Kutsche zugehen, die ihm der Doctor in Obhut gab. Bitte nicht stören, bis wir uns melden, hörte er ihn befehlen, sich selbst aber aufzählen, was an Eß- und Trinkbarem in der Kate für das Paar bereitstand. Erst jetzt bemerkte er: Alle drei, er selbst, der Doctor und die Komtess, waren gekleidet wie er es von den Bildern kannte, die Feuersbrunst und Zerstörung überlebt hatten, in dem kleinen Museum auf Seegrund zu besichtigen waren.
Auch dass nur eine einzige Kate am See stand, die, weil es keinen Weg gab, nur mit einem Kahn zu erreichen war, fiel ihm auf. Er sah sich die Zügel übernehmen, den Doctor zu Komtess Nora in den Nachen steigen, den er mit kräftigen Ruderschlägen auf den See hinaus und zur Kate hinüber trieb, während er, Jerzy, auf den Bock der Kutsche sprang und das Pferd in Richtung Steinfeld in Trab setzte.
Nicht nur sehen tat er sich, nein, auch im Kopf von Jerzy seinem Ebenbild dort unten auf dem Kutschbock war er zuhaus. Mit Schrecken stieß er auf Hass, Hass der aus Neid geboren, wie ihm schien, Jerzy zerfraß. Missgunst und Neid hatten sich in seinem Herzen vermählt.
Bevor er die Ursache ergründen konnte, schob sich ein Bild über den unter ihm das Pferd antreibenden Jerzy, zeigte Gut Steinfeld bei der Ernte. Auf einem noch nicht voll beladenem, mit vier schweren Gäulen bespannten Erntewagen, stand eine blonde junge Frau, die von Männern mit der Forke hochgestakte Korngarben, annahm und stapelte. Sie hatte die Ärmel ihrer roten Bluse hochgekrempelt, die Röcke bis zu den Knieen geschürzt. Nur so war sie frei genug, um auf dem schwankenden, glatten Grund, beim Annehmen vor- und zurückspringen zu können. Die Männer unter ihr sparten nicht mit Anzüglichkeiten und waren uneins, ob rote Bänder als Knieabschluß ihrer Unterhose, den gelben, die zu sehen waren, nicht vorzuziehen wären.
Tilda, so hieß die Blonde, überhörte das Geschwätz. Wenn jedoch einer zu frech wurde, ihr die Garbe gewollt ungeschickt anreichte, sie zu Fall zu bringen suchte, um so tiefere Einblicke unter ihren Rock zu erlangen, wehrte sie sich mit einem langen Stock. Stieß bedenkenlos auf den scheinbar Ungeschickten ein, ein Veilchen war nicht selten das Resultat.
Einer der jungen Männer beteiligte sich nicht an dem Geschäcker. Unverdrossen stakte er Garbe um Garbe zu Tilda hoch, gab acht, wo sie stand, ihr so die Arbeit erleichternd.
Es musste Mittag sein, Rogowski sah, wie ein leichter Wagen, beladen mit Körben und Kannen, auf eine Baumgruppe inmitten des abgeernteten Feldes zuhielt. Eine kurzes Bimmeln, die Männer warfen die Forken hin, und gingen hinüber zum Rastplatz. Der Ruhige zeigte auf seine Brust, und Tilda sprang ohne Zögern von ihrem Hochsitz herunter in seine ausgebreiteten Arme. Als sie unter den Bäumen lagen, konnte er erkennen, zwischen ihm und den Männern war Raum freigelassen, auch Tilda lag ein wenig abseits..
Alle machten sich über in irdenen Kruken kühl gehaltenes Wasser, und dicke Scheiben Brot mit Speck her. Bald waren die ersten Schnarcher zu hören. Während die Erntemannschaft schlief, zog der Fouragewagen zu den Pferden, die zu saufen und zu fressen bekamen. Nachdem Tier und Mensch getränkt, gesättigt und erquickt waren, zeigte ein Glöckchen das Pausenende an.
Der Fouragier sprang vom Wagen, ging auf den abseits liegenden Mann zu, schien sich instruieren zu lassen. Als er abfuhr, winkte er mit der Peitsche und rief: „Wird erledigt, Herr Graf.“
Aha, dachte Rogowski, der Chef. Alle Achtung, der schuftete wie der letzte seiner Knechte. Während er noch weiteres auszumachen suchte, löschte Dämmerung das Licht und bald darauf war es Nacht.
Ein Mann und eine Frau gingen von Steinfeld weg über Felder, wo Heu auf dreibeinigen Stockgestellen zum Reifen aufgehäuft war. Sie waren nicht lange gegangen, als der Mann anhielt, die Frau in seine Arme zog, sie küsste. Rogowski sah, wie ihre Knie einknickten, ihr Leib sich dem Mann anschmiegte. Beide sanken eng umschlungen ins Heu. Die Frau richtete sich noch einmal auf, stieg aus ihrer Unterhose, deren Beine unter dem Knie mit gelben Bändern zugebunden waren. Offensichlich Tilda. Eine Weile tat sich nichts. Getuschel war zu hören, langgezogene Ohhhs, nein und ja, ja. Dann plötzlich pumpte ein weißer Männerarsch wie wild auf und nieder, und eine Frauenstimme begleitete jeden Stoß mit lauter werdendem ach, ach, ach herrje, ja oh, weiter, weiter. Rogowski war verdammt neugierig, zu welchem Gesicht der Arsch gehörte und tippte auf den Grafen Kelm. Musste seine Neugier noch gute Weile bezähmen, die da unten im Heu kamen erheblich zur Sache. Mal war Tilda oben, mal der Mann. Tilda hatte ihre Bluse weggeworfen und ritt den unter ihr Liegenden mit wippenden Brüsten. Auf dem Höhepunkt sank sie nach vorn, und Rogowski sah ihren süßen Arsch in wildem Stakkato die Stange ihres Liebhabers melken.
Mannchen, dachte er, so jung möchte ich noch mal werden wollen, um mich von solch einem Stutchen reiten zulassen.
Der Mond hatte sein Versteck hinter einer dicken Wolke verlassen, breitete seine volle Leuchtkraft über die Szene. Als die beiden einen Moment voneinander abließen, schien er ihnen ins Gesicht. Kein Zweifel, die fleißigen Ernter vom Mittag, der Graf und Tilda.
Naja, sagte sich Rogowski, zähl ich zwei und zwei zusammen, ist der Jerzy mit seinem Neid, sicher Frucht dieser Liebe. Der Graf hat die Tilda dick gemacht, sie mit einem seiner Knechte, dem Rogowski eben, vermählt. So etwas bleibt nicht verborgen, die Frucht von Tildas und des Grafen Bemühungen, mein Ebenbild, dünkt sich einen halben Grafen und ist doch nur der Knecht Rogowski, daher die Missgunst.
Vielleicht daher meine Obsession, die Komtess Nora betreffend. Möglich, stelle ich mir vor, ich vögele sie so, wie der Kelm meine Urururgroßmutter Tilda hergenommen hat.
Unfug, der hat sie nicht hergenommen, das war Geben und Nehmen. Hat vor Lust gequietscht, meine Urahne, und quietscht schon wieder.
Im hellen Mondlicht wälzten sich die zwei im Heu. Des Grafen Stange war ganz in Tildas Hals verschwunden, zum Ausgleich leckte er hingebungsvoll ihre Fröhlichkeit. Bei diesem Durchgang war nichts zu hören. Tilda steilte ihren Körper wie eine Brücke der lüsternen Zunge entgegen. Immer tiefer tauchte der dazugehörige Kopf zwischen die schlanken Säulen ihrer Schenkel. Rogowski sah ihr Fleisch vibrieren, die Brücke brach zusammen, Tilda schob den zu einem Würstchen geschrummpelten Schwanz aus ihrem Mund. Wieder imstande zu sprechen, hörte er sie heiser hecheln: leck, leck, leck tiefer, gleich bin ich soweit, beiß mich Claus, los beiß mich! Ja so, au das tut weh, aber mach, mach, mach und dann ein langer gurgelnder Schrei, und sie sackte buchstäblich zu einem Nichts zusammen. Beide lagen da, unbeweglich wie vom Blitz gefällt. Keines rührte sich, bis nach langer Zeit Tildas Stimme: Claus das tat weh, aber noch nie war es so gut wie heute.
1818
Bernd stieg zu Nora in den Nachen, nahm das Tau vom Pflock und trieb das Schiffchen zügig auf die Hochzeitskate zu. Er hatte geholfen, als Mascha den Fußboden mit warmem Rauchwerk bedeckt hatte. Auf seine Frage wofür die edlen Felle auf den Boden, meinte sie, wart es nur ab, wird sich zeigen.
Überhaupt Mascha, fast wäre er aus dem Takt gekommen, als ihm die Situation der vorigen Woche vor Augen stand. Mascha war in letzter Zeit lebendiger, ja erotischer für ihn geworden. Bin ich ehrlich, erkannte er, ich liebe Mascha wie Nora, Nora wie Mascha. Sofort war da die Frage, ahnten die Frauen? Mutter und Tochter waren engste Freundinnen, gut möglich Mascha spürte die gleiche Neigung wie er, hielt ihrer Tochter gegenüber nicht hinter dem Berg. Ihre Avance, als er und sie allein in der Kate waren, hätte bei anderer Situation sicher zu einer Umarmung, wenn nicht zu mehr geführt.
Gleichviel, erst einmal würde er und Nora ihre Hochzeitsnacht erleben. Das Vertrackte war, er fühlte er sich nicht als Neuling. Er hatte schon einige Nächte mit Frauen verbracht. Sein Gefühl jedoch suggerierte ihm reiche Erfahrung auf diesem Gebiet.
Die Liebe, wie er sie für Nora empfand, Mascha blieb außen vor, war nichts Neues für ihn, obwohl er ihr noch nie begegnet war. Möglich war, die Spannung, diese einzigartige Vorfreude auf Noras Hingabe, verfremdete sein Gefühl. Bernd, rief er sich zur Ordnung, stelle alle Phantasien ab. Fasse all deine Kräfte zusammen, um dieses liebe, wunderschöne Mädchen zu ihrem Recht kommen zu lassen, mit ihr eine Erinnerung zu schaffen, an die wir später immer zurückdenken können.
In seiner neuen Umgebung war ihm niemand nah genug, dass er ihn über die Besonderheit von Hochzeitsnächten hätte aufklären können. Nora war ihm da ein Stück voraus. Die kluge Mascha, hatte sie über die Vertracktheiten des körperlichen Vollzuges der Liebe, unter Zugzwang ins Bild gesetzt. So würde sie nicht erstaunt sein, sollte ihr Ehemann seiner Aufgabe mangels Standfestigkeit nicht nachkommen können. Sie würde ihn weder tröstend in die Arme nehmen, noch ein Wort darüber verlieren. Einfach nicht bemerken würde sie sein Unvermögen, sich an ihn schmiegen, ihn küssen, die Wonne, nackt in einem Bett mit ihm zu liegen einfach genießen.
Endlich hatte Bernd den Nachen ans Ziel gebracht, vertäut, und Nora auf die Beine geholfen. Mehr war nicht nötig, seine Frau hatte ihr Kleid gerafft und war mit einem Satz, der das Boot tüchtig ins Schlingern brachte, auf den Steg gesprungen. Sie stand auf festem Boden und reichte ihm die Hand. Ein Sprung, wie sie ihn getan, konnte ihm nicht gelingen, dafür schauckelte der Kahn zu heftig. Bernd erklomm den Steg an ihrer Hand, richtete sich auf, nahm ihre andere freie Hand, zog sie an sich, sah ihr in die Augen und ihre Lippen fanden sich, mit einem befreiten Seufzer. Lange standen sie da, fest umschlungen, bis Nora fühlte wie ihr Mann in ihren Armen erstarrte.
Bernd hatte sich von Noras Mund gelöst, seine Nase in ihr duftendes Haar gesteckt, genoss seine Frau mit allen Sinnen. Tief atmend wurde er eins mir diesem Duft, der Nora war; und zugleich, nach der turbulenten Zeit seit seiner Abreise aus Cleve, war er sich seiner mit Haut und Haar bewusst. Ein wenig ging er in die Knie, das Glück und seine Geliebte sollten ihn tragen. Als er die Augen öffnete, die herrliche glückselige Welt einzulassen, traf es ihn wie ein Keulenschlag.
Durch die offenstehende Tür sah er in den Wohnraum der Hochzeitskate auf den mit Fellen von Biber, Dachs und Nerz bedeckten Boden. Auf und zwischen den Fellen lagen nackt und kopulierend, Mascha und er, Bernd.
Er sah das Paar sich in höchster Ekstase winden, hörte Maschas Lustschreie, vermischt mit seinem brünstigen Röhren. Die Starre, die ihn befallen, hielt ihn, zusammen mit Noras Armen, die ihn umfingen, aufrecht. Zum Glück sah seine Frau nicht seine Augen, die, hatte er das Gefühl, ihm aus dem Schädel platzen wollten. Sekunden später war das Bild verschwunden. Die Felle lagen da, ein Samowar köchelte im Hintergrund leise vor sich hin, der Tisch war gedeckt.
„Was ist dir, Liebster?“ hörte er Nora fragen und wusste, jetzt galt es alle Kraft zu sammeln, um das Bild zu tilgen.
„Nora, meine starke Nora,“ antwortete er, „ich mag es kaum gestehen, aber eine Schwäche befiel mich plötzlich, mir wurde schwarz vor Augen. Einen Augenblick bitte halt mich noch, es wird schon werden.“
Nora zog ihn fest an sich, und flüsterte ihm ins Ohr: „Geliebter Doctor, du bist ein Fall für die Klapaida. Gegen plötzliche Schwächen und dergleichen, hat die ungezählte Mittel.“
Klapaida, womit habe ich das verdient, du Rabenaas, hätte Bernd, wäre es möglich gewesen, mit der ganzen Kraft seiner Stimme in den Himmel geschrien, denn das Trugbild konnte nur ihr Werk sein, da war er sicher. Zu Nora aber sagte er: „Du magst recht haben, aber ich weiß, dem Menschen kann vor lauter Glück schwach werden, in meinem Falle wage ich die Selbstdiagnose, ist das so.“
2003
Rogowski fand sich allmählich in seinem von der Tochter gerichteten Stuhl wieder. Es geschah nicht abrupt, mit einem Schlage, nein, er meinte von seiner allesüberblickenden himmlischen Position, zäh wie Sirup in seinen Stuhl hinein getropft zu sein. Jedenfalls saß er jetzt da, die Erinnerung an das Gesehene, Erlebte noch im Hirn, gepaart mit der Gewissheit:Traum; aus dem er, über kurz oder lang, erwachen würde. Mit der Rechten suchte er nach dem Eimer, das Wasser noch gut kühl, stellte er fest, und hob voll Freude den Syphon, setzte ihn an den Hals, und wieder war ihm, als ob der erquickende, prickelnde Bierstrom der seine Kehle durchfloß, kein Ende nehmen wolle. Mit einem zufriedenem ahhh setzte er schließlich ab, hielt, wie schon beim ersten Mal, das Gemäß gegen den Mond um erneut befriedigt festzustellen, da fehlte kaum ein Fingerbreit.
Die beseeligende Wirkung des Bieres setzte schnell ein, er ahnte schon die Vorboten auf Lippe und Zunge. Legte sich in seinen Stuhl zurück, bereit zu schwebend glücklichem Grübeln. Seine Lider wurden schwer, ganz entfernt hörte er sich denken: Ach ja, ein Nickerchen könnte nicht schaden, doch daraus wurde nichts.
Ein Donnerschlag, als ob die Erde Amboß, auf den ein ungeheuerer Hammer mit verheerender Wucht schlüge, erschütterte die Luft. Rogowski fand sich samt Stuhl gegen seine Kate geschleudert, deren Wand wie eine angeschlagene Glocke vibrierte. Einen Augenblick, mit aussetzendem Herzschlag, verharrte er mit geschlossenen Augen. Als er die Lider vorsichtig einen Spalt öffnete, stand ihm um ein Haar das Herz still.
Der eben noch im Dunkel kaum erkennbare Horizont, war ein einziger gelbgleißender Blitz. Nein, Blitz war zu schwach, da schoss eine elektrische Erscheinung ihr Licht in die Finsternis. Hunderttausendfaches Elmsfeuer könnte so sein, stellte er sich vor, doch nie war ihm solches vor Augen gewesen. Wieder rollte der Donner über den See, dessen lieblicher Mondlichtspiegel sich zu einem Wellenberg auftürmte, der ihn, Rogowski, die Kate mit der Komtess und dem Doktor, den Wald, das Dorf, jetzt gleich verschlingen würde.
Bei allem Erschrecken behielt er einen kühlen Kopf, ahnte, seine Gelassenheit war nicht sein Werk. Um sich schauend, erkannte er sich inmitten des Infernos auf seinem Stuhl sitzend, wie im Kino vor der Leinwand.
Indessen rollte Unbegreifbares vor ihm ab. Abermals überschaute er die Weite des Landes. Diesmal jedoch nicht nur seine engere Heimat. Sein Blick schweifte bis zu den Nehrungen und dem Meer im Norden, im Westen bis zur Marienburg, nach Osten bis zu den krautigen Sümpfen und Wäldern Sarmatiens.
Was er sah, waren Weiler die sich zu Flecken, Flecken die sich zu Dörfern, deren einige sich zu Städten mauserten. Trassen, wo wegloses Brachland gewesen, befestigte Straßen, wo grundlose Wege ewig einzige Verbindung. Von Westen her schob sich ein Schienenband nach Osten. Die darauf fahrende Dampfbahn verband Königsberg mit Berlin. Lyk, Insterburg, Memel, Tilsit, Allenstein, Gumbinnen, Goldap mit Königsberg und untereinander.
Menschen kamen aus allen Richtungen, fanden Arbeit, richteten sich ein, wurden Bürger.
Die Gutsherrschaften wuchsen. Brachland kam unter den Pflug, zur Erntezeit war das ganze Land wallendes Gold, gesäumt vom Grün der Wälder, gesprenkelt vom Blau der Seen, durchflossen von munteren Bächen, sich träge windenden Flüssen.
Rogowski hockte mit offenem Mund in seinem Stuhl. Was ihm vorgeführt wurde, war ein Teil der Geschichte des Landes. War alles zum Besten gerichtet, befand er, also kam das dicke Ende noch. So war das. Soldaten, in hellen Scharen von Osten einfallend, schoben sich ins Bild. Berittene mit Lanzen und Säbeln, Gespanne von schweren Pferden gezogener Kanonen, ungezählte Panjewagen hoch beladen mit Tornistern, Verpflegung, umschwärmt und angetrieben von Soldaten zu Fuß. Dazwischen Offiziere in Uniformen wie aus dem Modejournal, auf edlen Pferden, Befehle brüllend, mit der Reitpeitsche die Fußsoldaten traktierend.
Dann ein mörderisches Gedröhne und Geschrei. Vorwärts und rückwärts flutende Menschenwogen, die, wenn sie vorüber gerollt, Tote, Verstümmelte, Beine, Arme, kopflose Körper zurückließen. Geschlachtet wird, Rogowski ekelte, eine Schlacht wird geschlagen, gesiegt wird oder verloren, Orden wird es geben. Die Menschen, von der Schlacht zu Stücken gefetzt, vergessen, bevor sie ihre Form endgültig verloren.
Danach Bilder ohne Glanz. Fremde Soldaten waren nicht mehr im Land, auch Schlachten gab es keine. Etwas anderes hielt die Menschen am Hals. War schwer auszumachen, warum ihre ehemals so gutmütigen, lachenden Bauerngesichter verbissenen Masken gewichen. Der Krieg war verloren, es hatte Aderlässe gegeben, doch Städte, Dörfer, die Gutsherrschaften waren heilgeblieben.
Die Leute standen in kleinen Gruppen mit sauren Mienen herum. Scharrten und kratzten wie gluckende Hühner, schienen zu suchen, nicht wissend was.
Doch dann endlich, ging ein Aufatmen durch das Land. Die lachenden Gesichter, plötzlich waren sie wieder da. Man versammelte sich, sang zusammen, war begeistert, schrie Heil, Heil! Noch war nicht auszumachen, wer oder was heil war, oder heil werden sollte. Doch eine Stimmung war, als ob des Messias erscheinen verkündet worden wäre.
Dann war er eines morgens da, der Verkündete.
War ein kleiner Mann mit schwarzem, glattem, links gescheiteltem Haar, eine mickrige Schnurrbartbürste unter der Nase. Die Menschen gebärdeten sich reinweg verrückt. Selbst die Frauen, sonst indifferent was Politik anging, toll wie geile Ratten. Der Mann war Besitzer der Glücksmedizin. Deren Inhalt: Revision und Säuberung. Hieß Schlacht, Mord, Verlust. So kam es. Die Schlacht endete übel, der Mord ward begangen, das Land ging verloren. Gemach, noch ist es nicht soweit.
Der Mann ruderte mit den Armen, wippte seinen Körper im Rhythmus seiner Wörter und Sätze, schrie seine Botschaft mit rollendem „R“ und rollenden Augen, nahm den frenetischen Jubel unbewegt, ja undankbar als ihm gebührend entgegen. Das hinderte die Menschen nicht, sich ihm mit großem Gefühl, mehr noch, mit aller Liebe derer sie fähig waren, anheimzugeben. Zu schliessen aus den, dem Mann entgegengereckten Armen, dem Andrängen der Körper, gegen die von braun gekleideten Parteisoldaten des Messias, gebildeten Absperrketten. Es war ein erschreckendes Bild: Vor Inbrunst glosende Augen, aufgerissene schreiende Münder, vor und zurückwogenden Körper, eine riesige Welle, die den kleinen Mann dort oben am Rednerpult sich ganz zueigen machen, ihn verschlingen wollte.
Die Folge: ein Krieg, der mit noch nie dagewesener Brutalität das Land, Europa und einen großen Teil der Welt verschlang.
Unter tobendem Donner und knatternd-zischenden Blitzen, zogen seine Darsteller und Komparsen vor Rogowski auf. Die endlosen Kolonnen ostwärts ziehender Panzer, Soldaten und Tross, begleitet in der Luft von Flugzeugschwärmen, bereit, auf jedes sich Regende herabzustürzen, es mit Bomben zu zerschmettern. Später rollende Güterzüge mit eingepferchten Kindern, Frauen und Männern aus beinah allen Ländern Europas, deren Zukunft Gaskammer und Verbrennungsofen war.
Plötzlich kehrte sich das Geschehen um. Jetzt kamen Soldaten, Panzer und Flieger aus dem Osten, die vorher nach Osten unterwegs Gewesenen vor sich hertreibend. Am See hielten sie an. In der gleißenden Wand der Blitze tauchte Seegrund und Steinfeld auf. Die Soldaten sprangen auf ihre Panzer. Drei, vier, fünf, fuhren auf das innere Geviert des Seegrundschen Hofes, ein Panzerturm drehte sich, ein Feuerstrahl fuhr aus der Kanone, sofort stand die gegenüberliegende Scheune in Flammen. Als ob dies Warnung genug sei, drangen die Soldaten in das Herrenhaus ein. Schreie und Feuerstöße waren zu hören, Frauen stürzten, verfolgt von Soldaten, aus der großen Eingangstür, eine stolperte auf der Treppe, fiel. Bevor sie sich aufraffen konnte, waren Soldaten über ihr, schlugen sie mit den Kolben ihrer Waffen, rissen ihr die Kleider vom Leibe, vergingen sich an ihr vor aller Augen.
Dies war erst der Anfang. Rogowski konnte nicht mehr hinsehen, wollte sich abwenden, die Augen schließen, aber wie eine eiserne Klammer wurde sein Kopf auf das Geschehen fixiert, seine geschlossenen Lider ohne sein Zutun geöffnet. Die Frauen, die sich der Scharen ihrer Peiniger zu erwehren suchten, bekamen Gesichter, wurden Sonja, Maria, Sofia. Frau und Töchter. Ein wildes Gewühl entstand, die Soldaten schossen in die Luft, hielten ihre Waffen drohend auf die Frauen gerichtet. Einige legten sich ergeben auf den Boden, streiften freiwillig ihre Schlüpfer ab. Das war nicht genug. Alle! Schrie ein langer Schlacks, dem die zu große Uniform um die Glieder schlackerte. Ein Jüngelchen, hätte Rogowski bei anderer Gelegenheit gelächelt. Aber das hier war nicht andere Gelegenheit. Das Jüngelchen brüllte, zeigte mit dem Lauf seiner Maschinenpistole zur Erde, die Frauen zögerten, konnten sich nicht so schnell aufgeben. Schüsse bellten. Leiber stürzten.
Maria zerbarst zu einem mit den Beinen schlagenden Bündel. Sofia lag da ohne Gesicht. Sonja saß auf dem Boden, hielt sich den Bauch und richtete ein schiefes Lächeln auf ihn, ihren Mann. Da konnte er nicht länger, er schrie, schrie, schrie, starrte Sonja ins Gesicht, sah ihr unverwandt in die Augen, sah sie die Hände vom Leib nehmen, sah ihr Gedärm gelblich rot über die Schürze quellen, sah es hüpfen, das Gedärm, sah es sich winden, auf ihn zuwinden, erkannte, da kroch der Wahnsinn. Bereit, in ihn zu fahren, ihn zu erlösen, die Bilder zu löschen, ihn zu töten, egal was, schrie er, nur sofort, sofort ein Ende machen!
1818
Bernd fasste sich, fühlte die Kraft zurückkehren, nahm seine Braut hoch und trug sie über die Schwelle ins Innere der Kate. Behutsam setzte er sie ab, sah sie lange an, drückte ihren Kopf an seine Brust und sagte:
„Herzlich Willkommen, Gräfin Bern!“
Nora löste seine Finger, befreite sich, schlang ihre Arme um seinen Hals, zog seinen Kopf zu sich herunter, murmelte: „Hier ist jedes weitere Wort Zeitverschwendung,“ bemächtigte sich seiner Lippen, ließ ihrer Leidenschaft freien Lauf, genoß die heiße Lohe der Lust, die sie, jedwedes andere löschend, ergriff.
Ihr Feuer schlug über auf Bernd, sprang ihn an. Mit zitternden Fingern begann er an den Verschlüssen ihres Kleides zu nesteln. Sie half, war geschickter, die Hochzeitsrobe rutschte ihr auf die Füße; doch nicht in ihrer Wäsche stand die Braut da, nein, ein blaues Kleid, sie ungemein reizvoll wie eine zweite Haut umschließend, trug Nora unter ihrem Hochzeitskleid.
Doch Bernd war in keiner Weise überrrascht, ganz im Gegenteil. Er führte seine Frau zu einer im Raum stehenden Ottomane, bat sie sich bäuchlings darauf zu legen, auf das er die für sie unerreichbaren Knöpfe und Schlingen ihres Kleides öffne.
Ich habe in diesem Kleid, nach dem Ball zu Ehren von Graf Wersten, sogar geschlafen, erzählte Nora, weil niemand zur Hand war, die Knöpfe und Schlingen zu lösen.
Bernd machte sich über die Verschlüsse her, brach nach einigen Versuchen ab, knetete seine Finger, die, wie er fühlte, nicht warm und geschmeidig genug für die Aufgabe waren. Als er dann begann, beherrschte er die kleinen Verschlingungen mit seinen geschickten Chirurgenfinger sofort, und hatte Nora bald bis zum Po aufgeknöpft.
Sie hörte ihn flüstern: „Was für ein wunderschönes Mädchen,“ und im weiterknöpfen, mir war, als hätte ich einen üblen blauen Fleck gesehen. Nora wusste, da war vor Monaten ein Fleck gewesen, woher Bernd davon Kenntnis hatte, war ihr schleierhaft. Was soll‘s, noch ein halbes Dutzend Knöpfe und sie stand im Freien.
Das Kleid fiel, Nora stand auf. Bernd verschlug es den Atem, als er seine Frau in ihrer jungen, makellosen Schönheit vor sich sah. Bevor er sie in die Arme nahm, schlüpfte er mit schlangenschneller Geschmeidigkeit aus Jacke, Hemd und Hose, alsbald stand Adam ebenbürtig vor seiner Eva.
Sie stürzten ineinander, küssten sich mit rasenden Herzen, bis Nora sich vorsichtig aus seiner Umarmung löste, ihn bat, mit ihr unter die von Mascha als letzten Schrei installierte Brause zu treten.
„Brause?“ Bernd runzelte die Stirn. „Bitte Liebster,“drängte Nora. „Bitte verzeih, aber ich kann gar nicht anders, als jetzt sofort mit dir unter die Brause gehen. Das Wasser ist nicht kalt, steht in einem großen Behälter auf dem Dach, wird dort seit Tagen von der Sonne gewärmt.“
Bernd ließ sich nicht lange bitten, trat unter den tellergroßen kupfernen Brausenapf, von dem eine Kordel in den Brauseraum herabhing, dessen Boden ein Rost über dem See war. Nora schmiegte sich an ihn, versteckte ihr Gesicht in seiner Halsgrube, bat ihn, die Kordel zu ziehen. Ein Schwall lauwarmen Wassers stürzte auf sie nieder. Nora jauchzte, schüttelte wie ein Hund das Wasser aus dem Haar, zog ihren Mann mit sich zum Bett, war nun ganz bereit, nachdem ihren Spleenen, wie Mascha die Idee mit Kleid und Dusche genannt hatte, genüge getan, sich ihre Jungfernschaft rauben zu lassen.
Es bedurfte nicht der Geduld mit ihrem Liebhaber, die Mascha ihr geraten hatte zu haben, sollte es ihm an Kraft gebrechen. Ihr Mann war ein richtiger Mann. Als er zu ihr ins Bett kroch, sie an sich zog, fühlte sie seinen harten Stock.
Doch er kam nicht gleich zur Sache. Bernd streichelte ihre Brüste, seine Hände kreisten wieder und wieder um ihren Nabel. Sie fühlte, wie aus ihrem Bauch ein Drängen wuchs, das sich langsam in Brust, Rücken ja bis in den Kopf ausbreitete, von dem sehnsüchtigen Ziehen, das zwischen ihren Beinen die Herrschaft übernommen hatte, zu schweigen.
Sie überließ sich, gehüllt in eine Wolke von Erwartung und Ungeduld, seinen Initiativen. Bernd hatte abgelassen von ihrem Bauch, sich an sie gedrängt, ihre Lippen gesucht. Zart und beinah ohne Berührung tanzte seine Zungenspitze um ihren Mund, das kleine Rund ihrer Nasenlöcher, sprang weiter zu den äußeren Augenwinkeln, drang ein in ihr Ohr, fuhr herunter zum Ohrläppchen. Nora schrie auf, die Sensation, die sein Züngeln an ihrem Ohr ausgelöst, hatte sie nicht erwartet.
Schön? hauchte er, und sie, sprachlos vor Glück, überwältigt von der Intensität der Empfindungen, leckte zurück, ihre Zunge tat, was seine ihr gezeigt, ahnte, dies war Ouvertüre, ihr Mann war ein Meisterliebhaber, der sie noch heute auf den höchsten Gipfel der Wollust führen würde.
Klapaida
Klapaida saß mit Rumpel auf einem Zweig der alten Eiche, die ihre Äste wie schützend über die Kate am See gebreitet. „Was denkst, alter Vogelvögler, von meiner Inzenierung, knappte Klapaida mit dem Schnabel, die wie ihr Gefährte Uhugestalt angenommen hatte.“
„Großartig Klapaida, doch erkläre bitte, warum hast du den Rogowski, den Toren, so maßlos erschreckt? Hat doch nicht zu tun, mit deinen Verstrickungen und Obsessionen?“
„Meinst, Rumpel? Glaubst mich so blöd? Unterstellst, ich quäl den Wurm aus purer Lust? Weißt doch, ich brauch die Zeitverschiebung. Muss aufeinanderlegen, verzwirnen, vernähen heute und gestern. Wie sonst soll ich Rogar kirren?“
„Sicher Klapaida, aber kirrst Rogar so? und nochmal, warum schreckst den Rogowski?
„Zwei Fragen in einer, Rumpel. Den Rogar überlass mir. Was den Jerzy angeht, mit dem hatte ich noch eine Rechnung offen. Nicht von Gestern. Passte mir in den Kram, ihn mit dem Gestern, fürs Vorgestern zu schrecken.
Jerzy hat mich vernommen, ach was vernommen, hat mich gefoltert sich an mir vergangen, mir Fuß und Fingernägel abgequetscht. Ging damals als schöne Maid. Bin in die Kräuter mit den Hebammen, hab sie gelehrt, was heilt, was schadet, was tötet, war Zeitvertreib für mich.“
„Ich weiß, Klapaida, hab damals schon den Kopf geschüttelt.“
„Hast immer den Kopf geschüttelt, Rumpel, magst keine Menschen. Also der Jerzy, jedenfalls Teil von dem heutigen, war geil auf mich. Wollt mich bespringen. Ich hab ihn zwischen Hoffen und Bangen, Nähe und Ferne, Glut und Kälte, gesotten, gefroren, zerrieben.
Nie durft er mich berühren, aber träumen hab ich ihn lassen. Träume durft er bis zur Neige genießen. Aufgewacht, erkannte er genarrt, genasführt, verlacht! Ich trieb mein Spiel, wollt wissen, wess er fähig. Es gab nichts, was er nicht getan hätte, verschiss mich bei den Pfaffen.
Ich fühlte keinen Schmerz unter der Folter, behielt das für mich. In meiner gespielten Qual gab ich mich ihm hin, nachdem er versprach, mich gehen zu lassen. Seh ihn noch vor mir, riss sich das Beinkleid auf, wabbernd vor Gier, stürzte sich auf mich, direkt hinein in das Wespennest, in das ich mein Kätzchen verwandelt. Sah ihm in die Augen, sah sein ungläubiges Entsetzen, als er die Pein der Stiche spürte, gleichzeitig erkannte, was ich war. Grinste ihn an, mit Klapaidas Gesicht, warf ihn ab, ließ den Wespenschwarm los, war nur noch gelbschwarz zuckendes Leuchten, der Jerzy, bis er verreckte.“
„Aha! Hast du nie erzählt Klapaida!“
„Weißt manches nicht, Rumpel. Was den Rogowski angeht, hat er diesmal stellvertretend gelitten. Wie Jesus, weißt du. Seine Art, die Jerzys der Menschenwelt, sind zahllos geworden. Grausame Mordbrenner mit bestem Gewissen. Die schlachten betend, schänden betend, nur wirklich beten, nie! Sind Verlorene, werden sich bald gerichtet haben.“
„Aber Herrin, so einer ist Rogowski nicht, der tut keinem was zuleide!“
„Rumpel, stimmt. Ich sagte, Teil von ihm. Teil von ihm stammt vom Folterknecht! Nu hör schon auf, wird aufwachen und vergessen. Hatte das beste Bier der Welt. Durft saufen, soviel in ihn reinging. Wobei ich mich frage, was kümmerts dich? Was sorgst dich pötzlich um Menschenpack?“
„Schon gut, Klapaida, schon gut. Der Jerzy hat Knappknapp, das einzige Junge von Großaug, im Wald gefunden, lag da mit gebrochener Schwinge. Hat den Flügel geschient, die Schwinge verheilte, und Knappknapp sitzt wieder bei meiner süßen Großaug.“
„Nicht zu glauben, Rumpel, darf ich wissen, warum du Knappknapp nicht selbst gefunden und geheilt hast? War dir doch klar, was geschehen?“
„Großaug, Klapaida, hat keinen Schimmer, dass ich weiß. Großaug....“
„Hihihi lass mich weiter machen, Großaug ahnt nicht, was du bist. Nein, ahnt es schon, will es nicht wahrhaben! Hihihi, da machst du mir Vorschriften meiner Menschenverstrickungen wegen, kannst nicht einmal deine Uhufrau in Schach halten!“
„Herrin, wie geht es weiter?“
„Wie weiter, Rumpel?“
„Na, da unter uns!“
„Siehst du doch, wird gevögelt, dass die Haare fliegen.“
„Sicher, Klapaida, aber du wolltest doch, du und Mascha?“
„Wer sagt dir denn, Tor, dass ich nicht? Warum sitz ich hier?“
„Versteh, Klapaida, mach mich weg.“
„Gut so, streich ab!“
Klapaida spreizte die vom Stamm nicht eingeengte Schwinge, harkte mit den nadelspitzen Krallen des Fangs die Schwungfedern, plusterte sich auf, schüttelte sich, war verschwunden.
Gestaltlos lagerte sie auf dem Katenboden, von weichen Fellen umschmeichelt. Hochbeglückt sah sie Nora und Bernd sich lieben, lächelte in freudiger Erwartung, als sie Bernd sein Werkzeug, zwischen den weit gespreizten Beinen seiner Frau, in Stellung bringen sah. Verweile Augenblick, der Anfang der Goethezeilen inspirierte sie, und augenblicklich versteinerte das Bild der Liebenden zu marmorner Schönheit.
Sie erhob sich in Maschas Gestalt, betastete die Skulptur, vermaß des Mannes Geschlecht, nahm es in beide Hände, holte es zurück ins Leben, beleckte es, schob ihre Lippen über den prallen blau schimmernden Kopf, drückte, saugte und nahm den heißen Erguss gierig schluckend in sich auf.
Leckte sich, befühlte Nora, fuhr den Finger durch ihre Furche, nahm der Kräuterfrau Gestalt an. Bernd, der sie hinderte, nahe an das Mädchen heranzukommen, stieß sie weg. Krachend landete die Skulptur auf dem Boden, lag da in Erlesenheit erstarrt. Noch einmal strich sie leichthin über Noras Möse. Unter ihren Händen blühte aus dem kalten Marmor krauses, dunkles Haar, formte ein Dreieck, kroch auf die großen Lippen, wurde schwarzes Gekräusel.
Klapaida kniete nieder, ihr Mund saugte das zartes Fleisch in sich hinein, ihr schwarzer Rock verging, verschwunden Mieder und Kopftuch. Bernd war es, der seine Frau vor dem endgültigen Stoß noch einmal auf den Gipfel der Lust entführen sollte. Langsam wurden Noras Beine lebendig, ihr Po, Bauch, die Brüste färbten sich rosig. Ihre Beine umschlangen die Berndgestalt, sie wand sich unter den Liebkosungen seiner Zunge, fühlte wie ihr Kätzchen wuchs, sich in einen triefend feuchten Schwamm verwandelte, unter der emsig tupfenden Zunge, zu einem zuckenden Stück Fleisch explodierte.
All dies ohne Seufzer, Stöhnen, Lustschrei. Klapaida hatte Noras Kopf marmorn belassen. Keine bewußte Erinnerung sollte die Kleine beschweren, wenn ihr jetzt geschah, was nur sie, Klapaida, zu bieten imstande war. Sicher würde die unbewußte Erinnerung, sie für lange Jahre zu einer willigen, süchtig begehrenden Partnerin der Lust machen.
Hab gelernt bei den Böcken und Ricken, kicherte sie. Hab erlebt, wie die Tierchen ausschlugen, fühlten sie meinen dreifachen, vielgelenkigen Stösser. Wirst es jetzt erfahren, kleine Nora. Mach nach dem Stoss dein Jungfernhäutchen wieder heil, soll dem Bernd gehören, die Erinnerung. Sie brachte sich in Stellung, stieß zu und blieb ganz still. Kein vor und zurück, nur ganz dicht hielt sie Bernds Arsch an der zuckenden, bald um sich tretenden Nora. Es war so, als ob Haut, Haar, Arme, Beine und Bauch, ein jedes für sich allein sein wollte. In bebender Raserei verwandelte sich der Bauch zu einer hochgesteilten, wandernden Welle. Angesteckt davon begannen die Muskeln an Arm und Bein strudelnde Drehungen. Ihre Brüste, die Knöspchen, blähten sich, wuchsen, fielen zusammen und ragten bald wieder auf zu steilen harten kleinen Hügeln. Schrecklich ruhig lag ihr Kopf. Kein Atemzug bewegte den steinernen Mund.
Nur ihr Körper nahm Teil an dem rasenden Reigen.
So Bernd, ein leises Bedauern färbte Klapaidas Stimme. So Bernd, flüsterte sie, jetzt kriegst dein Füllen zurück, mach dir und ihr Freud, ab und an schau ich mal vorbei, und weg war sie.
Als ob nie eine Unterbrechung gewesen, als ob das eben Geschehene nie stattgefunden, war das Paar wieder Fleisch und Blut, lag Nora bereit, ihrem Mann Einlass zu gewähren, ihn einfahren, sich auf den, wie sie glaubte, noch nie erfahrenen Gipfel der Lust treiben zu lassen.
Bernd schob sich hinein in ihre Grotte, fühlte die angstfreie Erwartung seiner Frau, stieß zu, ein kleiner Widerstand schnell überwunden, machte die Bahn frei, beide verschmolzen zu einer Haut, pressten sich aneinander im Rhythmus der Lust, des fiebrigen Rein und Raus, höher steigen, fliegen, atemlos frei werden, über sich selbst schweben, sich vergessen, zu keuchender unfassbar, seliger Lustmaschine werden.
Klapaida strich ab, war jetzt Greif. Drehte eine langsame Runde über den See, stieß einen miauenden Bussardschrei aus, und verschwand.
Im Erlengrund neben Rumpel am Tisch, feixte sie den vor Neugier hippeligen, kleinen Kerl an. „Was hast, Vogelvögler? Willst erzählt haben, was war? Weißt es doch. Ach, durch meinen Mund willst es erfahren, so ist das. Na war gut, geiler Bock! Saugut, und der Zeitriss ist geschlossen. Ratsch wie ein Reißverschluß, nur der tuts ohne Donner, Blitz und Geschichte. Was das ist, ein Reißverschluß? Uninteressant für dich, Menschenwerk stinkt, glaubst du doch. Doch der Rogar ists zufrieden, hat sich getrollt. Tolle Vorstellung, Klapaida, hat er in seinen Schweinsbart gegrummelt, tolle Vorstellung, nu lass gut sein.“
„Was heißt das, Klapaida? Nu lass gut sein, traust du dem Schwein?“
„Rumpel, sicher, so wie er mir. Will keine Fehde, Kampf. Sind versöhnt er und ich, kein ewiger Streit nach Menschenart.“
„Aha gibst es zu. Zänkisch und mörderisch sind sie, deine geliebten Wesen. Nanntest sie doch Wesen, oder irr ich?“
„Nein, irrst nicht, sind zänkisch wie du, Rumpel, will dich nicht mörderisch nennen.“
„Kannst du nicht, liebe Herrin. Noch nie, ich sag`s dreimal, nie, nie, nie, hat Rumpel Seinesgleichen getötet. Doch was wird jetzt aus deiner Bagage? Leben die weiter? Vergessen, sind ein Fleisch, leben getrennt? Oder wischst ein Paar weg von der Tafel? Trockener Lappen, Kreidestaub, nie was gewesen?“
„Rumpel, lass mich, bin müd. Hat Kraft gekostet der Feuerzauber. Halt mir alles und jedes vom Leib, bin bald zurück.“
2003
Als Bernd seine Nora am nächsten Morgen wecken wollte, fauchte sie wie eine Katze, wollte sich partout nicht aus dem Schlaf lösen.
„Hallo, Liebste!“ Sein Weckruf dicht an ihrem Ohr erntete Füßestrampeln.
„Willst weiter träumen?“ fragte er. Nora nickte, zog sich die Decke über den Kopf.
„Mir ist mulmig, Nora,“ sagte er halblaut, sie musste es hören, konnt sich auch taubstellen. „Ich spring ins Wasser, wird mich munter machen.“ Als er auf dem Steg stand, konnte er den Kontrast zwischen seinen gedämpften Gefühlen, und dem blitzblanken See; von einer warmen Sonne in helles Licht getaucht, gar nicht in Einklang bringen. Ihm war, als ob sein Schädel zentnerschwer, seine Arme und Beine mit Blei behangen. Unerklärlich war das, nach dem harmonischen, gestrigen Tag und dem herrlichen Abend.
Er stand auf dem Steg, beide Hände an die Schläfen gepreßt, versuchte einzufangen, was geschehen. Je schärfer er nachdachte, umso mehr brach seine Vorstellung von dem was gewesen, zusammen. Grübeln bringt nicht weiter, sah er ein und sprang mit gewaltigem Schwung, in den er seinen ganzen Frust packte, in den See.
Das Kalte sprang ihn an, wrang ihm den Atem aus der Brust. Kennen wir schon, hielt er dagegen und zog mit kräftigen Armschlägen, unterstützt von Fuß und Beinwirbel, zur Plattform hinüber.
Als er sich hochgezogen, die heißen Bretter unter sich fühlte, pumpte er erst eimal Luft in die Lungen, fühlte dann schnell die brennende Hitze, die das Holz gespeichert. War heiß wie auf dem Grill, er sprang zurück in den See, schaufelte mit kräftigen Armhüben Wasser über die Plattform. Als er sich wieder legte, war es erträglich, das Wasser verdampfte schnell, nahm die stechende Hitze mit in die Wolken.
Ist mir wohler? grübelte er. Ein wenig, aber wohl war ihm nicht.
Ausruhen und nochmal schwimmen, anstrengen und ausruhen, das zwei drei Mal, würde kurieren. Nachdem sein Atem sich beruhigt, das Herz normal schlug, ging es in die zweite Runde. Hin zur Kate, dort einen Blick durch die offene Tür, vom Wasser gut einzusehen, und zurück zur Plattform. Nora lag noch in den Federn, gut so, brauchte nicht seine Missstimmung teilen.
Er gründelte, suchte, nichts half. Er beruhigte sich, weder an ihm noch an Nora lag es. Blieb also nur die Begegnung mit dem alten Weib, ihrer Gabe, das Oktavheft mit Noras Bild und Schrift.
Siedendheiß fiel ihm ein, er hatte gestern in dem vermalmedeiten Heft gelesen, das Ding auf einen Stuhl gelegt und vergessen. Wie der Blitz war er im Wasser, schwamm so schnell er konnte zurück. Hoffentlich hat Nora es nicht gefunden, gelesen, und die Hexe hat sie in einen Traum geschickt, von dem sie sich nicht zu lösen vermochte.
Im Haus lag es nirgendwo. Aber Nora war wach, blinzelte ihn an, freute sich: „Bernd,“ sie dehnte sich, „schön dass du da bist. Mir ist nicht nach Kälte und Schwimmen. Wie spät ist es, Rogowski wird jeden Moment mit dem Frühstück kommen?“
Kaum ausgesprochen, ging die Bimmel. Bernd trat vor die Tür, rief Ahoi und das Frühstück war unterwegs.
„Wunderbar, Rogowski,“ empfing ihn Bernd. „Uns peinigt ein Bärenhunger, haben die Uhr rund geschlafen. Das ist die Erholung, hätte meine Mutter gesagt. Nach ein paar Tagen aufgekratzt sein, brauchen Körper und Geist Ruhe, die holen sie sich aus tiefem und langem Schlaf.“
„Tiefen und langen Schlaf, das kann ich nur bestätigen.“ Rogowski machte ein Schafsgesicht. „Habe gestern Abend die Bimmel abgerissen, aber Sie haben nichts gehört. Hatte schon angefangen mir Sorgen zu machen. Na, ist ja gut jetzt. Ich hoffe, Sie haben einen solch ordentlichen Hunger, wie Sie tiefen Schlaf hatten. Das Unwetter, das über uns hergefallen, haben Sie nicht bemerkt?“
„Unwetter?“ Bernd sah Nora an, „hast du was gehört?“ Nora schüttelte den Kopf. „Wenn ich ehrlich bin,“ fuhr Rogowski fort, „ich auch nicht allzuviel, obwohl ich vor dem Haus auf der Veranda schlief. Na, ich werde paar Bier mehr als ich sollte getrunken haben, das lässt tief schlafen und beruhigt ungemein.
Also dann will ich mal wieder, kann ich den Korb von vorgestern mitnehmen?“
„Aber sicher, Rogowski.“ Nora gab ihm den Korb und er verabschiedete sich. Während Rogowski erzählte, hatte Bernd sich noch einmal unauffällig überall umgeschaut, aber nirgendwo lag die Kladde. Nora deckte den Tisch, er hatte Gelegenheit die Schlafkammer zu inspizieren, ohne Erfolg, wie er schnell einsah. Konnte sein, die Alte hatte das Buch eskamotiert, den Unfug unterstellt, sie war eine Hexe? Gleichwohl, das verdammte Ding war verschwunden, Nora hat es nie gesehen, mehr braucht nicht.
Da rief sie schon: „Tisch gedeckt, komm schnell Liebster, ich vergehe vor Hunger.“
1818
Nora wurde geweckt von Tassen und Tellergeklingel. Langsam löste sie sich aus erquickendem seligem Schlaf. Vorsichtig linste sie über das Plümeau, es war Bernd der da fröhlich aber leise vor sich hinpfeifend, den Tisch deckte. Bernd, ihr Ehemann und Liebhaber der vergangenen Nacht. Voll Behagen streckte sie streckte Rücken, Arme, Schenkel und Bauch, fühlte ihre Muskeln schmerzhaft rebellieren.
Auah, stöhnte sie, rief ihren Bernd, fragte und bot ihm gleichzeitig ihre Lippen: „Was hast du mit mir gemacht? Fühle mich, als hätte ich Tag und Nacht im Sattel verbracht!“
„Was zuerst, Liebste, Kuss oder Erklärung?“ fragte er, nahm sie in den Arm, wartete nicht auf Antwort, ihre Lippen verschmolzen, er griff unter das Oberbett, fühlte seine nackte Nora, schlüpfte hinein zu ihr, nuschelte zwischen Atem und Kuss: „Warum erklären, ich zeig dir, was war.“
„Ja, ja zeigs mir.“ Nora umschlang ihn mit Armen und Beinen, fühlte wieder das große Harte an ihre Lippen stoßen, spreizte sich, drängte entgegen, fühlte den sehnenden Sog ihrer Höhle, konnte es kaum erwarten. Dann drang er ein, füllte sie aus, entfaltete ihr Inneres, spannte sie, stieß an, begann den Tanz des Rein und Raus und sie tanzte mit. Kam ihm entgegen auf seiner Fahrt nach innen. Zog zurück, war er nach draußen unterwegs. Der Tanz wurde schneller, rasender. Sein Kolben wuchs, wurde dicker, berührte etwas in ihr. Klopfte an, öffnete, was es noch nie gegeben, brach ein in Kammern, entdeckte. Mit jeder Entdeckung schwoll ihr Begehren, ihre Lust auf mehr, tiefer, dicker, länger, sie ritt auf einer Welle, sah den Himmel, einen Stern, nein die Sonne, Sonnen, die in unzählige rote, grüne, silberne, blaue, violette, goldene Kugeln zerbarsten.
Als sie wieder zu Atem gekommen, ihre schweißglatten Körper aneinander rieben, brauchte es keine Erklärung. „Geht das nun immer und immer so weiter?“ wollte sie wissen. „Kann das sein? Nächte, Wochen, Monate, Jahre? Nein Liebster, schweig,“ sie legte eine Hand auf seinen Mund. „Warum auf dumme Fragen klug antworten. Wir sprachen schon darüber, als wie uns vor Libeskinds Haus erstmals küssten.
Es ist so unsagbar schön, neu auf die Welt zu kommen. All die Jahre, die ich Nora war, lernte, mich freute, ängstigte. Mein Frauwerden erlebte, fühlte, da war etwas nicht komplett, es gab einen Mangel. Doch wie sollte ich ahnen, was mir begegnen, mich herausreißen würde aus meiner Haut, mich blitzgleich in den Himmel schießen, mit dem glücklichen Wahnsinn mich vermählen würde.“
„Schön beschreibst du das, Liebste. Anfügen möchte ich, nicht jede erlebt es wie du. Für manche ist es nicht Sensation, eher Last. Drum schweig, vertrau es keinem an, wie du erlebst. Lass es unser Geheimnis sein. Lass nur uns um den Schlüssel zu den geheimen Grotten wissen. Lass uns nie vergessen, ihn zu benützen, die Wollust immer unser Fest sein.“
Auf Steinfeld war es ruhig geworden, die Hochzeitsgäste aufgebrochen, Mascha, nach langen Tagen endlich wieder Herrin ihrer Zeit. Auch Claus atmete auf. „Ist von anderer Qualität, eine Tochter zu verheiraten, als das Ausrichten eines Balls, verbunden mit einer Jagd. Geht tiefer, lassen dich nicht los, die Gedanken an das Kind,“ erklärte er sich seiner Frau, um fortzufahren: „Mascha, ich habe einen Wunsch. Möchte ein wenig Abstand gewinnen, könnte mich bei Fedja zur Jagd einladen. Wäre in vierzehn Tagen zurück.“
„Lieber Mann, lachte die, gern kannst du das tun. Nur erkläre mir, warum du dich bei Fedja einlädst, wo der dich doch sicher schon eingeladen hat?“
„Pardon, Mascha!“ Claus haschte nach ihrer Hand, küsste sie. „Entschuldige meine Eselei, natürlich bin ich mit Fedja verabredet.“
„Darf ich weiterfragen, Claus?“
„Sicher, frag nur.“
„Eingeladen nur zur Jagd, oder geht es weiter nach Warschau? Ich frage, weil vierzehn Tage, solltet ihr wirklich nach Warschau wollen, nicht ausreichen. Andererseits habe ich einen Wunsch. Ich habe eine Adresse von Moses, besser eine Empfehlung für eine erste Adresse, einen jüdischen Pelzhändler in Warschau. Dieser Herr, versichert mir Moses, ist der Zobelkönig des Ostens. Bei ihm gibt es die feinsten Felle, und größte Auswahl. Mein Wunsch: Einen schwarzen Mantel bis auf die Füß, von dem feinen Rauchwerk. Moses Empfehlung wird den Preis erträglich machen.“
„Ei Mascha, das erste Mal in all den Jahren unserer Ehe, dass dir der Sinn nach Luxus steht, gibt es einen Grund?“
„Ja, den gibt es, lieber Claus. Diesen Winter bin ich mit Lara Libeskind verabredet, einen Teil der Theatersaison in Königsberg zu verleben. Wir werden vier Wochen bleiben, Moses besitzt dort eine Wohnung. Wir werden ins Theater gehen, am kulturellen Leben der Stadt teilnehmen. Meine Garderobe reicht dafür aus, nur brauche ich Warmes, um den kalten Wind, der vom Meer herüberpfeift abzuhalten. Da kommt mir deine Jagdreise nach Warschau gelegen, fühle mich jetzt schon geborgen, denke ich an die feinen, dichten Felle.“
„Wunderbar, Mascha, gestatte mir aber bitte zu fragen: Wisst ihr, was euch erwartet? Von dir weiß ich, du kannst es nicht wissen. Hätte fragen sollen, hat Lara eine Ahnung?“
„Ja Claus, Lara hat. Sie korrespondiert seit Jahren mit den Damen und Herren, die in Berlin, aber vor allem in Dresden, tonangebend in den schöngeistigen Salons sind. Durch meine Violinstunden bei Moses, bin ich ihr näher gekommen. Sie hat mich an ihrer Korrespondenz teilnehmen lassen, mir das, was im Augenblick zur Diskussion steht oder aufgeführt wird, erklärt und mich interessiert. So habe ich einen Überblick, der Aufenthalt in Königsberg soll meine Kenntnisse vertiefen.“
„Potztausend Mascha, die Jidden! Die Frau vom Viehjud korrespondiert mit den Schöngeistern der Metropolen! Ich sag das nicht abschätzig, nein hochachtungsvoll. Moses hat mich aufgeklärt, über den Scharfsinn von Seinesgleichen und dessen Quelle. Wäre für uns Gojim ein Lehrstück, doch steht uns dogmatischer Hochmut im Wege.“
„Ich weiß, Claus. Lara hockt mit Moses abendelang klärend, wie sie das nennt, haarspaltend über dem Pentateuch. Ist kurzweilig, hat sie mich belehrt, hält den Verstand frisch.“
„O Mascha, da können wir nicht mit. Unser Neues Testament schreibt eindeutig fest, was wir zu glauben haben. Sollte einer wagen, daran herumzudeuteln, der Zorn Gottes und aller schwarzen, klerikalen Bratenröcke käm über ihn.“
„Mag gar nicht daran denken.“ Mascha lachte aus vollem Halse. „Wie dämlich hat der Neumann sich wegen Klapaida angestellt. Nur Bernds nicht zu beugender Wille, verbunden mit der Drohung, die Trauung fände, sollte er nicht beidrehen in Palmicken statt, hat ihn kirre gemacht.
An sich tuen wir uns keinen Gefallen, den schwarzen Vögeln soviel durchgehen zu lassen. Schließlich überlassen wir ihnen die unschuldigen Seelen unserer Kinder, bei der Vorbereitung zur Konfirmation. Bei Nora, die früh helle war, habe ich mir das geleistet. Ob ich bei Griseldis und den Jungens, die leichter zu beeindrucken sind, noch einmal so verfahre, ist mir noch nicht klar. Schließlich sind es doch Kübel von Unsinn, die über die jungen Gemüter ausgeschüttet werden. Was geschieht einem kindlichen Geist, dem eingebläut wird, dass die höchste Instanz, Gott, Blödsinn verzapft?“
„Liebe, liebe Frau. Da geht wieder dein katholisch-liberaler Geist mit dir durch. Kannst nicht verwinden, dass die Kinder reformiert erzogen werden? Wir waren uns doch einig, reformiert aus Staatsräson. Hätte den Grafen Kelm schlecht angestanden, katholisch im reformierten Preußen zu sein. Halt! Ich kenne deinen Einwand: Des Alten Fritz Maxime, in seinem Staat könne jeder nach seiner Facon selig werden. Pflichte dir und ihm bei, aber er lebt nicht mehr. Bitte, das Fass machen wir nicht auf. Wir waren uns doch einig, Katholen und Reformierte, beide äußerst dubios.“
„Lassen wir es dabei bewenden, Claus. Geht zwar am Thema vorbei, muss ich dir nicht erklären. Ist eben deine Methode, dir die Metaphysik vom Leibe zu halten.“
Nach drei Tagen kamen die Brautleute aus den Flitterwochen zu Besuch. Jerzy der Fourage gebracht hatte, hockte mit saurer Miene im Fond des leichten Einspänners, Nora und Bernd auf dem Bock kutschierten.
„Ihr kommt schon zurück? Flitterwochen perdu?“ staunte Mascha.
„Aber, nein Mama!“ Noras Augen blitzten vor Übermut und Freude. „Perdu! Wo denkst du hin. Wir brauchen was kleines Fahrbares, zusammen mit einem genügsamen Zugtier. Ich denke an das Pony und den kleinen Wagen. Die Jungs werden uns den sicher für kurze Zeit leihen. Dann sind wir nicht nur auf den Kahn und Schusters Rappen angewiesen. Das Mäxchen ist genügsam, findet genug zu fressen am Seeufer und im Wald.“
„Sicher leihen die euch das Mäxchen, aber kommt erst mal rein, wir wollten gerade unseren Tee nehmen.“
„Mama! Was erzählst du? Kaum verheiratet und schon wird erklärt, was einem seit Kindsbeinen Routine ist. Die Kelms nehmen um vier ihren Tee.“
„Nora, Nora, ich merke schon, dir geht es wieder zu gut. Wirst du ihrer Herr, Bernd?“
„Ach Mascha, uns geht es so gut, am liebsten schnappte ich dich, und wirbelte mit dir durch den Salon. Immer rund und rund, bis uns kein Atem mehr blieb, vor Dankbarkeit und Freude, weil du mir solch ein Juwel von Tochter geboren und großgezogen hast.“
„Und ich, Bernd, moserte Claus, mein Anteil? Wenn auch zugegeben gering, im Vergleich zu Mascha‘s.“
„Claus, ist mir nur zu geläufig, werde in Zukunft selbst nicht mehr als Vater sein können. Nur sollen wir uns das verdrießen lassen? Ich für meinen Teil, nehme mir vor ein stolzer Vater zu sein.“
„Genug des Geplänkels,“ unterbrach Mascha, „kommt, der Tee wird kalt.“
Nicht lange danach waren Nora und Bernd unterwegs mit ihrer Kinderkutsche; gezogen von Mäxchen, der sich trotz seiner kleinen Schritte ordentlich Mühe gab ein Pferd zu sein.
2003
Rogowski hatte am Morgen ein Telegrammbote eine Depesche für Frau Nora von Kelm überbracht.
„Ich muss sofort hin,“ sagte er zu seiner Frau. Die protestierte, „aber nicht ohne Frühstück! Möchte was Dringliches drinstehen in der Depesche. Angenommen, die beiden reisen ungefrühstückt ab, wer zahlt mich dann?“
„Herrje Frau, du alte Pfennigfuchse,“ schimpfte Rogowski, aber stimmt, komm, richte rasch den Korb, müssen was im Leib haben, sollt unwillkommene Nachricht depeschiert worden sein.“
Zu ungewöhnlich früher Zeit stand Rogowski an der Bimmel, ließ nicht nach mit Radaumachen.
Endlich fuhr Bernd wutschnaubend in seine Hosen und brüllte zu ihm rüber: „Bist verrückt geworden, wir schlafen noch!“
Nutzte nichts, von der Bimmel tönte es zurück: „Depesche für die Komtess, aus Deutschland!“
Bernd fragte zur Schlafstube hinein, „Nora, eine Depesche für dich?“
Nora gähnte. „Für mich? Wer sollte? Lass den Rogowski kommen, hört sich nicht gut an.“
Bernd winkte und schrie: „Komm!“
Er machte die Tür zur Schlafstube zu, zog sich ein Shirt über, da stand der Rogowski schon vor der Tür.
„Hab Frühstück mitgebracht,“ entschuldigte er sich, „möchte was Unangenehmes vorgekommen sein, sie müssen zurück, besser nicht mit leerem Magen.“
Bernd nahm das Telegramm, bedeutete Rogowski, sich zu setzen und verschwand zu Nora.
„Soll ich aufmachen,“ fragte er?
Nora nickte, er brach den Umschlag mit dem Finger auf, las die Nachricht vor:
„Liebe Nora, dein Vater gestern von einem Auto angefahren worden. Liegt im Krankenhaus in Kiel. Es besteht Lebensgefahr. Der leitende Arzt dort ist unter 0170 4578397 zu erreichen. Franz.“
„O Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Nora sprang aus dem Bett, kramte ihr Handy aus dem Koffer und wählte.
Der Ruf ging durch, kein Funkloch, kaum zu glauben, wunderte sich Bernd.
Nora verlangte den Arzt, wartete. Als der sich meldete erklärte sie, sie sei die Tochter des Herrn von Kelm, sie übergäbe das Gespräch an ihren Partner, der Chirurg sei.
Bernd übernahm, stellte sich vor, ließ sich erklären, fragte einige Male nach. Der Arzt in Kiel erkannte an den Fragen, er sprach mit einem Kollegen, gab erschöpfend Auskunft. Bernd bat ihn, bei Änderung des Zustandes des Verletzten anzurufen.
Während des Gesprächs, hatte Nora die Bettdecke über den Kopf gezogen und gewartet. Bernd legte das Handy weg, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: „Bin gleich zurück, schicke den Rogowski weg.“
Draußen erklärte er dem ihn voll neugieriger Erwartung entgegensehenden Mann, was er eben gehört hatte.
„Komtess Noras Vater ist schwer verunglückt, er wird, so sieht es aus, seinen Verletzungen erliegen. Auf jeden Fall müssen wir sofort zurück. Erledigen Sie das für uns, Rogowski?“
„Selbstverständlich, Herr Doktor. Ich würde sagen, so aus dem Stand, morgen früh um acht mit der Maschine von Lyck nach Warschau, von da fliegt jede Stunde eine nach Köln oder Düsseldorf. Ich erledige das. Müsst nur noch einsteigen, abfliegen und bitte nächstes oder übernächstes Jahr wiederkommen, möchte ich mir wünschen.“ Damit stand er auf, schlug die Haken zusammen brummte, Scheiße, Scheiße verdammte, und ging.
Nora war ein wenig bleich um die Nase, als Bernd sich zu ihr aufs Bett setzte. „Nörchen,“ begann er, „eine schlechte Nachricht. Wir müssen abbrechen, zurück nach Deutschland.“
„Ist es so schlimm?“sie sah ihn mit erschreckten Augen an.
„Schlimm genug, wenn nicht noch schlimmer.“
„O Gott!“ Nora zog sich wieder die Decke über den Kopf. Bernd hörte sie weinen, sah ihre Schultern zucken.
Er suchte ihre Hand, drückte sie fest und wartete. Es dauerte, aber irgendwann hatte sie sich gefasst.
„Bernd,“ sie sah ihn an, und ihre Stimme schwankte. „Noch schlimmer bedeutet, er stirbt?“
„Nora, ich kann nur weitergeben, was ich gehört habe. Ärzte eiern in solchen Situationen gern. Nach den Informationen, die Dr. Weber mir gab, besteht kaum Hoffnung. Er hat, bevor er behandelt werden konnte, fast sein ganzes Blut verloren. Abgesehen von seinen Verletzungen, genügt das allein für eine schlechte Prognose.“
„Viel Tod in letzter Zeit,“ schniefte Nora. „Der Onkel, jetzt vielleicht der Vater. Dagegen aufzurechnen das Glück, das Glück mit dir. Doch sind das zwei Ebenen, erkenne ich. Das Glück, das mich zeitgleich mit Adams Tod überraschte, hat den Schock abgefedert. Jetzt trifft es mich anders. Bin schon Teil von dem Glück mit dir. Ist schon Alltag, das Glück. Versteh mich, nicht die berauschende, unersättliche Sehnsucht, die ist nicht, kann nie Alltag sein. Nein, ich meine meinen Anspruch, erkenne, da nistet sich eine Glücksgewissheit ein, ein Gewächs, das ich so nicht mag. Lieber Papa, solltest du wirklich tot sein, wäre deine letzte Botschaft Ermahnung? Ich danke dir dafür, weiß ich doch, wie sorgfältig du die Gefühle derer, die dir nahe standen, gepflegt hast. Ich weiß noch genau wie du...“
Die letzten Worte gingen in Schluchzen und Tränen unter. Bernd nahm sie fest in den Arm, legte sich zu ihr, streichelte, tröstete, drückte. Trocknete ihre Tränen, half ihr die total zugeweinte Nase auszupusten, wärmte sie, bis sie endlich erschöpft einschlief.
Gegen Mittag weckte er sie vorsichtig. Vor dem Bett hatte er alles Leckere aus dem Frühstückskorb aufgebaut. „So Mädchen,“ mahnte er, „gegessen muss werden. Ich habe schon mit Packen begonnen, also mein Zeug. Dir habe ich Jeans, den blauen Pullover, die bequemen Mephistos bereitgestellt. Lässt du mich, erledige ich die gesamte Packerei.“
„Bernd, danke schön, lass mich dich drücken, aber ich mach das. An sich gehöre ich nicht zur Fraktion der Heulsusen. Kam etwas plötzlich, kann es noch nicht glauben. Hoffe vorerst, wird sich zum Guten wenden. Das hilft mir, trauern kann ich noch, sollte aus Befürchtung Tatsache geworden sein.“
„Schön Nora, ist ein Standpunkt. Es stimmt, du kannst es nicht ändern. Ich als Arzt kann dich unterstützen, habe schon unglaubliche Dinge erlebt. Patienten, die für tot vom Operationstisch getragen wurden, haben nach vier Wochen auf eigenen Beinen das Hospital verlassen. Nicht nur einmal, das kommt öfter vor. Manche Menschen mobilisieren eine ungeheure Energie, geht es darum, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Haben nichts mit Medizin zu tun, solche Ereignisse. Das ist pure Natur, die sich wehrt, die Mittel findet, sich zu wehren.“
„Danke Liebster, für den Trost. Vielleicht ist Papa in der Lage sich durchzubeißen. Ich hoffe es einfach.
Lass das, mit der Packerei. Ich mache das, lenkt mich ab. Du geh zum Rogowski abrechnen. Bring uns bitte eine Flasche von seinem Selbstgebrannten mit, heute brauch ich den, werde mir tüchtig die Nase begießen.“
Bernd zog los. Schlenderte am Seeufer vorbei, genoss den herben Duft der Luft. Könnte hier leben, ging es ihm durch den Sinn, nur wovon? Das ganze Jahr Fische fressen ging nicht, müsste was anderes touristisches dazukommen. Ging nicht, schnell würde Rogowski in mir den Konkurrenten sehen, da gäbe es nichts mehr zu lachen. War nur ein Gedanke. Später, wenn Polen in der EU angekommen ist, könnte man was kaufen, als Rentner den Sommer hier verbringen.
Er wischte die Spekulationen beiseite. Quatsch mit Soße, läuft noch viel Wasser den Rhein runter, bis wir pensioniert sind. Wir? Hab wir gedacht. Hab Nora mit einbezogen in den alten Tag. Sieht so aus, als ob ich mit ihr zusammenbleiben will. Jedenfalls mein Unbewußtes scheint so zu denken. Was könnte mir Besseres geschehen, als mit diesem wunderbaren Mädchen mein Leben zu verbringen. Bin zwar vierzehn Jahre älter, ist aber noch im Limit. Er blieb stehen, hoch über seinem Kopf hatte er einen Fischadler entdeckt, der gleich zum Sturzflug ansetzen würde, um Beute zu machen.
Da ging es los, mit der Sonne im Rücken stieß der große Vogel auf den See hinunter, fing unmittelbar über der Oberfläche den rasenden Sturz mit weit gespreizten Schwingen ab, gleichzeitig stießen seine Fänge ins Wasser und zogen einen großen Fisch heraus. Die von der Bremsung gestaute Luft unter den Fittichen gab ihm genügend Auftrieb, sich mit kräftigen Flügelschlägen vom Wasser zu lösen, mit seiner Beute Höhe zu gewinnen.
Nora war schnell fertig. Mit wenigen Handgriffen hatte sie ihre Sachen sortiert und in den Koffer gelegt, Bernds sparsame Garderobe verstaut. Fertig, dachte sie, fertig. Sofort waren ihre Gedanken wieder in Kiel, alles was Bernd gesagt hatte, war Tröstung. Kein Arzt spricht vom Unvermeidlichen, wenn es nicht ins Haus steht. So wie die Dinge liegen, ist Papa tot, bis ich in Kiel ankomme.
Sie warf sich aufs Bett. Nur nicht weinen jetzt, versuchte sie sich in den Griff zu bekommen. Für mich lebt er noch, noch ist nicht Gewissheit, was ich fürchte. Bin allein, wenn er stirbt. Erst Adam, jetzt Papa. Es ist furchtbar. Endlich begegne ich dem Glück, der Liebe und kaum zu glaubender Faszination; dem überschwänglichen Akkord von Körper und Geist, dann das!
Der Tod. Adam war er ein milder Fährmann, holte ihn hinüber zu sich, ohne ihn zu wecken, der Lohn für ein Leben, wie er es gelebt? Blume oder Baum wird er nicht werden können, aber als Mineral Nahrung, Lebensstütze, Farbe? Was macht die Blumen in den Farben des Spektrums leuchten? Ich werde es nachlesen, Adam hätte es sicher gewusst. Nur Mineral, Asche, sind nicht Adam. Genau so könnte jemand an Gott, und die ewige Seligkeit an seiner Seite, nach dem Jüngsten Tag glauben.
Tot ist tot. Wir sind schon im Himmel. Wollen es nicht wahrhaben in unsere Unersättlichkeit, unserer Gier nach mehr und Besserem. Sternstaub nach Milliarden Jahren, in uns Bewusstsein geworden. Sich selbst betrachtende Materie, ist da nicht Gott gleich um die Ecke? Mehr braucht nicht zu sein. So gesehen, lieber Papa und lieber Adam, lieber Bernd und liebe Lulu und mich selbst nicht zu vergessen, sind und waren wir für den Bruchteil einer Nanosekunde Gott. Das ist das Geheimnis. Sollte es ein Wesen über uns geben, lässt es uns dieses Fünkchen Zeit zur Selbstbetrachtung. Was soll es schon bedeuten im Meer der Zeit, ein Zeitpartikelchen erlebt sich, auf einem Staubkorn in den Weiten des Alls.
Stimmt alles, nur was nutzt es. Hilft mir nicht, meine Trauer zu tragen. Sicher auch nicht, wenn ich einmal vom Leben Abschied nehmen muss. Eben deshalb hat der Mensch die abstrusen Religionen erfunden, kann schlecht leben und sterben mit dem Gedanken, nicht mehr zu sein.
Wie wird es weitergehen mit Bernd? Was bin ich für ihn, er für mich? Sein Vorsprung an Lebenserfahrung, den ich erkenne , sobald wir uns unterhalten. Kann ich das aushalten, werde ich mit der Zeit gleichziehen? Würde das ein Hase- und Igelrennen, könnte ich mich schwertun. Andererseits, warum nicht andere Kompetenzen erlangen. Die vierzehn Jahre, die er mehr gelebt hat, wird er mir stets voraushaben. Kann schlecht erwarten, er bliebe stehen. Wäre nicht mein Liebster. Musst reinhauen Nora, hätte Papa gesagt. Hätte, sehe ich ihn schon vergangen? Reiß dich zusammen, hör ich ihn sagen. Seh ihn vor dem Bett stehen, nach meinem schlimmen Sturz vom Pferd, reiß dich zusammen, sagt er auch jetzt. Also weg mit den Tränen. Keine Weinerlichkeit zulassen, nach Morgen schauen.
Rogowski komplimentierte den Herrn Doktor in seine gute Stube, rückte ihm den Sessel zurecht, bat Platz zu nehmen. „Ist traurig, das mit dem Vater von der Komtess, aber auch für mich, weil Sie schon gehen. Habe mir, als das Gewitter so über alle Maßen tobte, schon große Sorgen um Sie gemacht. Ich sehe Sie staunen, Sie sagten es schon, haben nichts mitbekommen von dem Spektakel.“
Bernd schüttelte den Kopf, „nein, nichts gehört, haben geschlafen wie die Bären in der Winterhöhle.“
„Ja, ist man gut,“ Rogowski schaute ein wenig ungläubig. Sollten die wirklich das alles verpennt haben? Mit gleichem Atem fragten er sich, was alles, Alter? Was sollen die verpennt haben? Nimmst deinen Traum für bare Wirklichkeit! Suchst nach Zeugen. Sollte es so gewesen sein, wie du vermutest, wie konntest du morgens im Stuhl aufwachen, trocken am Leib, wie von der Wäscheleine? Machst dir was vor. Wie hatte Sofia geschimpft? Hexenpastor hatte sie ihn genannt. Werd es gut sein lassen, doch wohl ist mir nicht.
„Pan Rogowski,“ unterbrach Bernd seine Gedanken, „ich will bezahlen und noch eine Flasche vom Selbstgebrannten, mit nach Haus nehmen. Nicht ganz die Hälfte wird wohl heute Abend draufgehen, den Rest trinken wir in Deutschland und denken an Sie.“
„Nein, Herr Doktor, so nicht. Also, die Flasche, die Sie mitnehmen, die kommt auf die Rechnung. Die halbe zur Tröstung gedachte, die spendiere ich.“
„Danke, mein Bester, werden einige Toasts auf Sie ausbringen. Was das Wiederkommen angeht, nur zu gern. War eine herrliche Zeit bei Ihnen. Das Wasser, der Wald, die Ruhe, das Essen.“
„Darf ich Herrn Doktor an die Liebe erinnern,“ Rogowski blinzelte Bernd, zwischen Vertraulichkeit und Respekt, schwankend an. „Die Liebe, Herr Doktor, sagt man in Deutschland wie in Polen, ist bei allem das Salz in der Suppe. Währt leider nicht ewig, muss sich der Mensch sputen, solange sie währt, genug heiße Asche zu sammeln, dass er sich den Rest seiner Tage daran wärmen kann.“
„Magst Recht haben, Rogowski, dagegen ist zu halten, alles zu seiner Zeit. Ich darf die Komtess nicht warten lassen, mach die Rechnung fertig.“
„Bitte schön, Herr Doktor.“
„Am liebsten bar, denke ich mir?“
„Danke für den Durchblick, ja bar wär gut.“
„So, hier die zwei Scheine, der Rest für die persönliche Fürsorge, die uns wohlgetan hat.“
„Danke Herr Doktor, richten sie bitte der Komteß unser herzliches Mitgefühl aus. Sagt man so?“
„Habe schon verstanden. Auch Ihren Damen unseren Dank.“
„Geht in Ordnung, also bis morgen. Um sechs Uhr häng ich an der Bimmel!“
„Alles klar, also bis dann.“
Gibt nichts zu berichten vom Rückflug. Lief wie am Schnürchen, um 15 Uhr landeten sie in Düsseldorf.
Klapaida
„Hast den Vater von der Nora umgebracht, willst sie vom Halse haben, Klapaida?“
„Ach Rumpel, du mit deiner ewigen zwei und zwei Zusammenzählerei! Meinst, ich müsst ihn eigens vor ein Auto stossen, ihn umzubringen? Kenn ihn nicht, hat mir nichts getan, warum ihn leiden lassen, zudem, er starb vor fünfundzwanzig Jahren. Hat sich schwer getan beim Sterben. Versteh die Ärzte nicht, lag doch auf der Hand, der würd nicht mehr aufstehen! Warum um alles in der Welt beatmen die Moribunde?“
„Mori was, Klapaida?“
„Moribunde sind dem Tod geweihte, Rumpel. Solche wo feststeht, nichts geht mehr.“
„Ach ja, versteh schon. Du hast also nicht nachgeholfen, sagst du?“
„Hör mal du, willst mich wütend sehen?“
„Nein, nein, bloß nicht. Dacht nur, weil es dir so gut in den Kram paßt, die plötzliche Abreise. Hätt sein können, nicht du hast geschubst, jemand anderer hat. Du hast es nicht getan, nicht gewollt, war nur ein kurzer winziger Abwäg und Wunschgedanke in dir, sofort verworfen, doch leider zu spät?“
„Rumpel, findest du, es geht uns nicht mehr gut, hier im Erlengrund?“
„Nein, finde ich nicht, was soll die Frage?“
„Versteh ich richtig, du meinst es ginge uns gut?“
„Ja doch, Klapaida, es geht uns gut! Hör auf zu fragen, und droh mir bitte nicht hinterhältig. Ich frag dich was unter vier Augen, und du benimmst dich, als ob wer weiß was wär!“
„Rumpel, es lag kein Grund vor, Noras Vater sterben zu lassen. Um sie hier wegzubringen gab es leichtere Wege. Du kennst meinen Akkord mit Rogar, der Fall ist gegessen.“
„O Herrin, ich meint doch nur, weil du beide Paare am See hattest. Vier Leute zur gleichen Zeit, beinah hätte ich Zeitriss gesagt. Normal ist das nicht? Was ist, der Rogar kommt dir auf die Schliche?“
„Zerbrichst dir wieder einmal meinen Kopf, Rumpel? Rogar gab mir Frist, das in Ordnung zu bringen. Heute ist ein Paar abgereist, mit ihm seine Zeit, zufrieden? Noras Vater ist gestorben, jedoch lange vor ihrer Geburt.“
„Ja, nur wie hast du die plötzliche Abreise veranlasst, Klapaida?“
„Habe ich nicht veranlasst, wollte veranlassen, als der Zufall zur Hilfe kam.“
„Herr Zufall? Aha kapiert. Keine weiteren Fragen, Herrin.“
1818
Bernd schirrte das Mäxchen am Ufer aus, gab ihm einen Klapps. Geh und friss, ermunterte er das kleine Pferdchen, wir rufen, sobald wir dich brauchen. Dann besann er sich, warte sagte er, nahm es beim Halfter und führte es zur Höhle unter der mächtigen Eiche. Das Blätterdach war so dicht gewachsen, dass weder Regen noch Wind es durchdrangen, selbst das Sonnenlicht wurde zu dämmrigem Schimmer. In einer Bucht lag ein Laubhaufen trocken und weich. Das Mäxchen steckte die Nüstern rein und schnaubte. Gut? fragte Bernd, und ehe er es sich versah, hatte Mäxchen es sich bequem gemacht.
„Ist er einverstanden,“ fragte Nora, als er die Arme ausstreckte, sie vom Wagen zu heben. „Es scheint so,“ lachte Bernd, wobei er seine Frau wie ein Karussel im Kreis herum schleuderte.
„Genug, genug“ kreischte Nora. „Ich will runter, mir wird schwindelig.“ „Ach Kleines,“ Bernd stellte sie zurück auf den Boden, stützte sie ein wenig, denn sie schwankte tatsächlich. „Kleines,“ wiederholte er, „mit dir zusammen sein, macht mich Tag und Nacht schwindelig. Stell dir vor, immer, immer schwindelig sein, die Senkrechte vergeblich suchen, wie soll ich das ein Leben durchstehen?“
„Heißt das,“ Liebster, „du kündigst mir, nach kaum einer Woche? Oder war es die Aufforderung, auf schnellstem Wege dich von deinen Qualen zu befreien, indem wir uns in die waagerechte Position bringen?“
„Nörchen, weil ich schon zweimal immer gesagt habe, sag ich es ein drittesmal, nein noch öfter: Musst du, immer und immer, so absolut scharfsinnig sein? Kaum habe ich etwas gedacht, es mir gewünscht, schon kommst du heraus damit, als ob mein Wunsch in deinem Kopf entstanden sei.“
„Doctorchen, ich muss dich rügen, es scheint mir, noch hast du nicht erkannt: Deine und meine Wünsche sind Zwillinge. Keine Zwillinge, denen du allenthalben begegnest, nein, Zwillinge, wie sie im fernen Siam geboren werden, untrennbar miteinander verbunden, lebenslänglich! Was das Eine tut, hat das Andere zu mögen, sonst stehen schwere Zeiten ins Haus. Was bei den Siamesen der Körper bewirkt, macht bei uns die Liebe. Die Liebe entscheidet über unser tägliches Tun und Lassen, im Moment jedenfalls! Also komm, führe mich schnellstens dorthin, wo ich ganz die Deine sein kann, gewärmt von dir, und den weichen Fellen von Otter, Marder, Fuchs und Dachs!“
Als sie die Tür der verschwiegenen Kate am See hinter sich zugezogen hatten, begann Bernd mit nervösen Fingern Nora aus den Kleidern zu helfen. Sie drückte ihn ein wenig von sich weg, und sagte: „Eins noch, Geliebter: Ich nenne dich Liebster, Geliebter, dabei fällt mir auf, über das Wesen, das innerste Wesen der Liebe, haben wir noch nie geredet. Irgendwo habe ich von Leidenschaft und Liebe gehört oder gelesen, sie seien Geschwister verschiedener Natur. Leidenschaft bedinge nicht unbedingt die Liebe, während Liebe ohne Leidenschaft nicht ginge. Was wir miteinander erlebten und erleben, ist vordergründig der Leidenschaft zuzuordnen, oder sollte ich irren?“
„Vordergründig, Frauchen, kann ich stehenlassen, sofern es Leidenschaft betrifft, doch du sagtest schon, keine Liebe ohne Leidenschaft. Ich liebe dich, seit es dich für mich gibt, will sagen, als ich dich zum ersten Mal sah, war da Gefühl. Zuerst beunruhigte es mich nur wenig, dachte mir, die neue Situation, Aufregungen, fremde Menschen, die plötzlich unversehens nah. Behielt das Gefühl im Hintergrund, behinderte es nicht, gab ihm Zeit, beobachtete nicht ohne größte Neugier, was werden würde. Dann kam der Tag der Gans, wir küssten uns, du liefst weg, sagtest, wolltest dich ordnen.
Ich verstand das gut, kam mir entgegen, hatte noch kein Fundament im fremden Land. Womit ich nicht gerechnet hatte war die Sehnsucht. Zuerst kam sie geschlichen wie ein Mäuschen, das hielt ich aus. Doch wuchs der Drang in mir von Tag zu Tag, begann mich zu beherrschen. Ich wusste mir nicht zu helfen, so war mir noch nie geschehen, ich floh deine Gegenwart. Vertraute mich jedoch der Mascha an. Erklärte ihr das meine Abwesenheiten, der Gründung einer Existenz zu Gute kämen. Mehr konnte ich nicht sagen, weißt du, die Augen deiner Mutter sahen mich an wie deine. Ich war verwirrt, zog mich zurück, ritt wie ein Wilder nach Lyck, nach Königsberg. Fand in Moses einen geschickten Makler, der mit Lippe umgehen konnte. Der Bürgermeister, ein wandelnder Bratenrock, ein an den Hüften eingeknickter Kasperl, geht es um vorgesetzte Obrigkeit, war zu nichts nutze.
Na, das ist es schon. Den Rest hast du miterlebt. Meine Bestrebungen gediehen, meine Forderungen wurden erfüllt, du und ich fahren nach Lyck, der Moses ruft und winkt, ich nehme Kenntnis, bin vor Freude aus dem Häuschen, bitte dich, mich zu nehmen, du nickst, wir küssen uns, Moses schreit: Verlobt, verlobt auf der Straße vor meinem Haus!“
„Ja, Bernd, danach ging es schnell, fast zu schnell, weil die Zeit der Erwartung so prickelnd aufregend war. Du hast von der dich bedrängenden Sehnsucht gesprochen, im Vergleich dazu wenig von der Liebe. Leidenschaft, Sehnsucht, Liebe, was haben sie gemeinsam und was unterscheidet sie? Oder ist es ein Gefühl, dem die Namen je nach Stimmung gegeben werden?“
„Liebste, schwer zu beantwortende Fragen, die du uns stellst, ich kann nicht mit klarer Antwort dienen. Am leichtesten wäre, uns beide für befangen zu erklären. Wir stecken mitten drin in Liebe, Sehnsucht, Leidenschaft. Sehnsucht ergreift mich, sobald ich dich eine halbe Stunde nicht sehe, Leidenschaft, kommst du mir näher als zwei Schritt und Liebe, ich möchte glauben, ich bestehe nur aus Liebe. Mein Denken, Handeln und Tun geschieht nie allein, immer bist du in meinen Gedanken, selbst der Schlaf ist nicht mehr meiner, stets träumt mich von dir.“
„O Liebster, dankeschön. Eine Liebeserklärung, die mir die Knie weich macht, bisher hattest du dich mir noch nie in dieser Weise erklärt. Knöpfe bitte weiter an meinem Kleid, die Sehnsucht nach der Leidenschaft macht mich atemlos.“
Als sie später selig und erschöpft auftauchten aus der Freude, die sie sich bereitet, schlug die alte Standuhr zehn, die Mascha in das Liebesnest hat transportieren lassen. . „Zehn Uhr, Bernd,“ flüsterte sie ihrem Geliebten ins Ohr, „was macht dein Hunger?“
„Hunger? Hunger, was ist das,“ stöhnte der. „Wird nicht aller Hunger, der mich je befallen, endlos in deinen Armen gestillt?“
„Schon, Liebster, aber ich reflektiere auf gewisse Körperteile, die wir nicht vernachlässigen sollten. Stell dir vor, es gebräche dir unversehens an Kraft, du könntest nicht mehr da wirken, wo du unbedingt vonnöten bist? Dein Nora-Kätzchen könnte nicht mehr fauchen und miauen, wenn du es so unglaublich verwirrst, dass es der menschlichen Sprache nicht mehr mächtig ist. Darf das geschehen? Nein, darf und wird nicht, weil ich jetzt sofort für Abhilfe sorgen werde.“
Keine halbe Stunde dauerte es, und appetitlicher Duft stieg Bernd in die Nase. Schnell stand er auf, schlüpfte in seinen Morgenrock, sah seiner Frau einen Augenblick beim eifrigen Hantieren mit Pfanne und Feuer zu, dann deckte er den Tisch exact nach Vorschrift. Dekorierte Messer, Gabel, Teller und Terrinen, rückte zwei Stühle heran, öffnete eine Flasche Rotspon und einen Riesling, den er in einen Kühler mit frisch geschöpftem Seewasser versenkte.
Tüchtig, lobte ihn seine Frau, bin gleich fertig. Bitte, stelle das kleine Tischchen aus der Ecke an den Tisch, damit ich die heiße Kasserolle abstellen kann.
Zehn Minuten später, saßen sie zu Tisch und Nora freute sich über Bernds Hunger, den er wölfisch nannte.
„Nörchen, fabelhaft, hatte noch gar nicht an diesen erquickenden Aspekt der Ehe gedacht, behagt mir ungeheuer, Donnerwetter, sag ich!“
„Du kennst doch das Sprichwort, lieber Mann, Liebe geht durch den Magen. Seit drei Jahren sehe ich der Mamsell jede Woche einen ganzen Tag zu, wie sie die Mahlzeiten zubereitet und Vorkehrungen trifft, die Speisekammer stets mit den nötigen Vorräten bestückt zu halten. Das heißt, ich sehe nicht nur zu, seit einem Jahr koche ich selbständig. Sind nicht zwei Essen wie hier für uns, zur Erntezeit stopfen wir oft sechzig und mehr Mäuler.“
„Du kochst für so viele Menschen?“
„Nein, Bernd, auch die Mamsell nicht, die gibt acht, dass alles seine Richtigkeit hat, nicht geschlurt wird, nichts anbrennt, alles proper ist. Die Leute arbeiten hart bei der Ernte, da müssen sie was Ordentliches im Magen haben.“
„Da bist du gut vorbereitet worden, auf die Pflichten einer Landedelfrau mit großem Haushalt, kann nicht schaden, bei uns wirst du jedoch in der Hinsicht kaum gefordert werden.“
„Beschrei es nicht, Liebster, machen wir so weiter, sind wir bald nicht mehr allein.“
„Ach Kätzchen, da war dein Kater vor.“
„Wie vor? Wie soll ich das verstehen?“
„Vor, einfach vor, Kätzchen!“
„Bitte Bernd, erkläre dich!“
„Je nun, das liegt doch auf der Hand. Was tun wir beide von allem, was wir tun könnten, am liebsten?“
„Soll ich antworten, Liebster? Schamlos antworten?“
„Nur zu!“
„Nackt beieinander, nein aufeinander, nein ineinander liegen, nein rasen! Nie genug haben, immer und immer mehr wollen, ohne Ende!“
„Siehst du, schamlose Person, besser hätte ich es nicht sagen können. Weil dein, dir an Alter und an Erfahrung überlegener Mann voraussah, dass geschehen würde, was uns geschieht, fiel ihm die Dame ein, an die du in der Beziehung schon gedacht hast. Diese Dame Klapaida, der Name Hilfreich stünde ihr besser an, hat mir ein Tinktürchen gegeben.“
„Hat dir ein Tinktürchen gegeben, bitte, lass mich fortfahren, welches, unbemerkt von mir, jemand in den Wein oder das Wasser praktizierte, das ich trank?“
„Erraten! Dieses getaufte Wasser, es war Wasser, Alkohol hätte der Wirkung geschadet, verhütet dicken Bauch!“
„Bernd! Bernd! Stimmt das?! O Gott, wie wunderbar, ich bangte schon den Stunden bis zum ersten Erbrechen entgegen. Verhütet dicken Bauch! Wie lange?“
„Ja Liebste, wenn ich dir das gestehe, bist du sicher entäuscht.“
„Komm sag schon, deinem Gesicht, ach was, deiner Visage seh ich an, es wird nicht weit her sein mit meiner Enttäuschung. Raus mit der Sprache!“
„Wenns denn sein muss, Kätzchen. Weißt du, ich habe mir dein Wöchnerinnenzimmer schon ausgemalt. Ein rosafarbenes, friedlich nuckelndes Bübchen oder Mädchen an der prallen Milchbrust.“
„Halt ein! Sofort! Nimm die pralle Milchbrust zurück! Sag wie lange kein solches Zimmer, mag das Wort davor nicht sagen.“
„Nun gut: Ein Jahr!“
„Ein Jahr? Ein ganzes, langes, zwölfmonatiges, zweiundfünfzig wöchiges Jahr, mit dreihunderfünfundsechzig Tagen voller Wollust! Halt, zweiundneunzig Tage sind verloren, bleiben immer noch zweihundertdreiundsiebzig“.
„Ich mach weiter, Nörchen, voller Wollust, Wollust, Wollust! Ist aber noch nicht alles!
Wie nicht alles? Was kommt noch?“
„Aus dem Fläschchen, ich nenne es lieber eine Flasche, fehlen fünf Tropfen. Bedeutet, wir und nicht der Zufall im Bunde mit der Raserei, bestimmen, wann und wie oft wir schwanger werden wollen. Liegen demnach, Liebste, unbemessene Tage voll Liebesrausch vor uns. Es wird nachlassen, das jetzt alles zur Seite drängende Verlangen, lässt uns mit Ruhe den Zeitpunkt der Geburt von einem, höchstens zwei Nachkommen bestimmen.“
„Höchstens zwei, Bernd? Keine vier, fünf, sechs? O Liebster, wie segne ich den Tag, als du auf Steinfeld eintrafst. Zwei! Zwei! Zwei bedeutet, du siehst dein Kätzchen nicht als Zuchtstute, willst kein von ständigen Schwangerschaften ausgemergeltes Klappergestell!“
„Da sei Gott vor, mein Kätzchen!“
„Schönster, geliebtester, umsichtigster Mann, das wird gefeiert! Auf ins Bett, in deine Arme, wie werde ich dich genießen, ohne die ständige Vorstellung vom dicken Bauch.“
So vergingen die Wochen. Eines mittags, als sie den Fourage-Korb unter der Eiche, wohin Mascha ihn dreimal die Woche bringen ließ, abholten, lag obenauf ein Brief.
Liebe Flitterwöchner, lautete die Überschrift, genug geflittert! Klapaida und ich brauchen euch. Dich, Doctor, bei der Einrichtung von Apotheke und Ordination, und ohne dich, mein Kind, geht nichts, was die Wohnräume angeht. Was wir bestellten, ist eingetroffen und lagert auf Steinfeld. Also reißt euch voneinander los, die Arbeit ruft. PS: Dürfte euch nicht allzu schwer fallen, meine liebe Freundin hat mir verraten, dass ihr teilnehmt an dem Segen, der mich seit Jahren rank und schlank hält. Eure Freundin und Mutter, Mascha.
Nora kicherte, „hast Recht gehabt, Bernd: Die rundum gesunde Gräfin Kelm, gesegnet mit vier Kindern, seit acht Jahren ohne Schwangerschaft! Dank der Dame Hilfreich wissen wir jetzt.“
„So ist das, Nora, wobei gleichzeitig der für die Wissenschaft wichtige Beweis anfällt: Die Tropfen halten, was Hilfreich versprochen!“
„Liebster, da denk ich mehr an mich, als an die Wissenschaft. Beruhigt ungemein, was Mama da geschrieben.
Wie geht es weiter, mein Herr und Gebieter?“
„Also Kätzchen, ich seh den gefüllten Korb als Galgenfrist. Würden wir augenblicklich zurückerwartet, brauchte es den nicht. Sagen wir, zwei Tage bleiben uns, um den leer zu futtern, danach spannen wir das Mäxchen an, und stellen uns dem Leben.“
„Du sagst es, Freund. Nur du sagtest auch Mäxchen, wo steckt der Halunke?“
„Verdammt, Nora, da habe ich nicht achtgegeben. Beim letzten Korbholen habe ich ihn nicht gesehen, mir aber nichts weiter gedacht. Ich brülle mal laut, erschrick nicht.“
Bernd legte die Hände zum Schalltrichter an den Mund und brüllte mit voller Lungenkraft: Mäxchen! Mäxchen! Nora legte einen Finger auf die Lippen, flüsterte: „Leise sein, horchen!“ Eine lange Weile war nichts als die Waldgeräusche, fallende Zapfen und Eicheln, flatternde Flügel, fernes Gurren und Grunzen.
Bernd wollte nochmals schreien, aber Nora hielt ihn ab: „Lass, ich glaube, ich höre ihn.“ Keine Minute später steckte Mäxchen sein Gesicht mit den glänzenden Augen durch eine dichte Haselstrauchhecke, sah Nora an, blähte die Nüstern, verschwand und war bald auf einfacherem Wege wieder da. Nora reichte ihm ein Brot aus dem Korb, kraulte ihn zwischen den Ohren, unterrichtete ihn vom baldigen Ende des Lotterlebens im Wald. Mäxchen, dem das Brot, als er gekrault wurde, aus dem Maul gefallen, scharrte mit dem Huf Einverständnis, packte das Brot und trollte sich in seine Schlafhöhle unter der Eiche.
Die beiden letzten Tage der Flitterwochen vergingen rasend schnell. Nora maulte: „Erst hörst den Wasserhahn tropfen, zwischen jedem plitsch eine Ewigkeit. Liegst und lauschst, plitsch macht es, du wartest, nichts. Denkst, na ja, gut, dann wieder plitsch. Versuchst das plitsch aus deinen Gedanken zu bannen, sonst quält’s dich die halbe Nacht. Doch je mehr du bannst, je intensiver bannt dich das plitsch, quasi ein Gegenbann. Zeit wird Gestalt. Rauh und körnig, unterwandert sie deine schlafschweren Lider. Verhält sich so, bist du ihrer überdrüssig, möchtest du sie aber anhalten, sie dehnen, rutscht sie dir glitschig wie ein Aal durch die Finger! Geht dir das ebenso?“
„Geht uns allen so, Liebste. Zeit ist immer gleich, unsere Vorstellungen und Wünsche ändern sich. Schönes soll ewig währen, da wäre uns Ewigkeit, hätten wir die Wahl, zu kurz. Was uns langweilt, gar schmerzt, soll sofort vergehen, da werden Minuten zu kleinen Ewigkeiten. Frage mich nicht, warum das so ist, gibt keine bündige Antwort, ist zutiefst mit unserem Lebenswillen verknüpft.“
„Ach Lebenswillen, mir macht mein Liebeswillen zu schaffen. Bald sind wir wieder vermischt mit der Welt, sind nur noch halb wirkliches wir. Oh, war das schön hier in der Einsamkeit, möchte für alle Zeit bleiben, nur du und ich. Bin ich verwöhnt und albern, Liebster, du sagst nichts?“
„Was soll ich sagen, Kätzchen? Wir können nicht ewig bleiben, wovon sollten wir leben? Ganz abgesehen davon, nach spätestens einem Jahr gingst du mir laufen. Was das Verwöhntsein angeht, sicher bist du verwöhnt. Ist gut so, lässt es mich doch leicht den Anschluss finden, dich noch, und noch mehr zu verwöhnen.“
„Das versprichst du?“
„Versprochen!“
„Halt, einfach nur versprochen genügt mir nicht. Ist mehr Generalklausel, ich brauche Paragraphen. An vördester Stelle als §I steht auf der Verwöhnliste das Kätzchen, du weißt, an welches ich denke. Dann kommt noch einmal das Kätzchen. Danach wieder Kätzchen, Kätzchen, Kätzchen. §II, §III und §IV, magst du gestalten wie es dir behagt, solange in keiner Weise §I vernachlässigt wird.“
„Gelesen und unterschrieben, dazu noch mein Schwur, dem §I zu dienen wird mir stets Lust und Freude sein, dein ewig dich anbetender Liebesdiener. So und nun komm. Hoffentlich ist unser Pferdchen zur Stelle, sonst spann ich mich vor den Wagen.“
Als Mäxchen sie kommen sah, wieherte er laut.
Bernd drehte sich um zu seiner Frau: „Siehst du, der ist froh, dass er in seinen gewohnten Stall kommt, hat die ungebundene Freiheit satt.“ Wie zur Bekräftigung scharrte Mäxchen mit den Hufen und hüpfte wie ein Hund, schien sich auf das Geschirr zu freuen.
§
Als sie sich Steinfeld näherten, wieherte Mäxchen, die vertrauten Gerüche rissen ihm ganze Serien von Schreien heraus. Mascha kam die Treppe heruntergestürzt: „Wunderbar, rief sie, ihr seid zurück!“ Nora sah ihre echauffierten Mama ins Gesicht und fragte erstaunt, „Mascha, wo glaubst du, wo wir herkommen?“
„Ist schon gut, Kind, hast ja Recht, aber hier steht alles Kopf. Jeden Tag kommen Wagen voller Dinge, mit denen wir nichts anzufangen wissen. Macht aber nichts, Bernd wird es richten. Nun kommt rein, ist zwar schon Teezeit vorüber, aber heute machen wir eine Ausnahme. Für dich Bernd, hab ich einen Kirschkuchen mit Streußelbelag, brauchst niemanden was von abgeben.“
Bald saßen sie zu dritt am Tisch. „Papa,“ erklärte Mascha, „ist nach Königsberg und kommt morgen zurück. Nun erzählt, wie es euch ergangen ist.“
Kaum gesagt, erkannte sie: „Was sollen Flitterwöchner erzählen.“ Sofort war sie Herrin der Situation und lachte, bis ihr die Tränen kamen. „Kinder, lacht mit,“ prustete sie, „so geht es einer alten, neugierigen Ricke, die ihr Wasser nicht halten kann.
Es hat sich jedoch, Nora, etwas verändert in mir. Seit du Frau geworden, bist du nicht mehr Kind. Mein Kind, will sagen, mein Kücken unter dem Flügel, für das ich mich ständig und überall umschaute, Gefahren und Übel früh zu erkennen. Klar habe ich noch deine Geschwister, ist aber anders. Du, als meine Erste, warst die vermeintlich besonders Gefährdete, nicht dass die Anderen mir weniger lieb wären! Nichts davon, nur du warst einfach Vorreiterin. So ist das, und jetzt fehlt mir die lebenslang trainierte Lauerstellung. Achtzehn Jahre sind eine lange Zeit, mein ganzes Frauenleben. Plötzlich ist da unausgefüllt kaltes, wo vorher beruhigende Wärme war. Ein Loch eben.“
Nora stand auf, nahm Maschas Hand, zog ihre Mama mit sich auf das große Sofa. Sie setzten sich und tauschten die Rollen. Tochter nahm Mutter tröstend in den Arm, und die sonst so beherrschte Mascha, weinte augenblicklich befreit los.
Nach den ersten Worten Maschas ahnte Bernd, was sich anbahnte. Als seine Frau ihre Mutter vom Tisch hochzog, nahm er schnell seinen Teller, schnappte ein weiteres ordentliches Stück Kirschstreußel, und machte sich aus dem Staub.
Tochter und Mama brauchten nicht viele Worte. Mit den Lippen tupfte Nora ihrer Mutter die Tränen von den Augen, bis der Strom versiegte. Als Mascha sich beruhigt von ihr lösen wollte, befahl sie: „Bleib Mama, ich richte das,“ stand auf und kam mit kaltem Wasser und einem Leinentuch zurück, badete Maschas Gesicht in dem kalten Wasser, bis ihre Augen wieder glänzten, die Lider kaum mehr Schwellung zeigten. Erlöst und locker suchten sie nach Bernd, fanden ihn im Vorraum zur Küche, wo das Gans-Kuss- Essen stattgefunden hatte.
„Meine Damen,“ schmunzelte Bernd, „das Männerherz hat auch sein Sentiment, hier habe ich mich in Memoriam gestreichelt, des weißen Vogels gedacht, der mich dir, Nora, so nahe gebracht hat. Warum soll der heilige Geist uns Irdischen nur in Taubengestalt erscheinen?“
Mascha drohte ihm: „Bernd, hörte der Pastor dich reden, möchte er nachträglich eure Trauung nach Palmiken verlegen!“
„Ach, liebe Schwiegermutter, so hoch kann keine heilige Gans oder Taube fliegen, wie die Mauer der Borniertheit um Pastoren und Ihresgleichen gebaut ist. Doch Schluss mit Frivolitäten. Du sagtest hier sei einiges eingetroffen?“
„So kann man das nennen, Bernd. Kommt mit, habe sämtliches im Turm und angrenzenden Zimmern verstauen lassen, und eine Liste der Absender, mit der von ihnen gelieferten Anzahl und Art der Stücke, gefertigt.“
Nora, die zeitlebens weder an Umzug noch Neueinrichtung teilgenommen hatte, prallte zurück, als sie das Chaos von aufeinander getürmten Ballen, Kasten und Säcken sah. O Gott, wie das nach Lyck kriegen und dort entwirren, stöhnte sie. Doch Mascha beruhigte: „Ich sagte doch, alle Stücke sind leicht nach Absender und Verwendungszweck zu sortieren. Wir schaffen, ich schätz mal mit drei, vier großen Wagen, zwei Männern, der Mamsell und zwei Mädchen, die ganze Chose in zwei Tagen nach Lyck. Abgeladen und geteilt nach Ordination, Apotheke und Wohnung, wird nach meinen Aufzeichnungen. Bernd kümmert sich zusammen mit den Mädchen und den Männern um seins, wir, Nora, gehen mit der Mamsell an's private Einrichten.“
Nora nickte: „Hört sich leicht an, Mama, wie du das darstellst, aber ob wir das so hinkriegen?“
„Sicher nicht genau so, Kind. Aber in etwa, und das genügt. Kleine Umstellungen und Korrekturen gehören zum Geschäft, Bernd, du pflichtest mir sicher bei?“
„Um ehrlich zu sein, Mascha, bin ich bar jeder Erfahrung. Doch räume ich ein, hört sich plausibel an dein Generalstabsplan. Außerdem halte ich es mit dem: Frisch gewagt ist halb gewonnen, will sagen, voran, was bleibt uns anderes übrig!“
„Da gebe ich mich einfach geschlagen, wann geht`s los, Mama?“
„Wenn es nach mir geht, Nora, augenblicklich. Jeder ist instruiert, wartet auf mein Pfeifen, um loszulegen.“
„Herrlich, Mascha, pfeife bitte! Nora unser Leben beginnt!“ Bernd nahm seine Frau um die Taille, tat ein paar Tanzschritte zu einer improvisierten, vor sich hin gesummten Melodie.
Wie Mascha angekündigt lief alles wie am Schnürchen. Die Mamsell las die Nummern, mit denen die Packstücke versehen waren vor, die Frauen suchten sie raus und die Männer verluden. Schnell waren die Wagen gefüllt und die erste Fuhre unterwegs.
Nora staunte, eine gute Idee das mit den Nummern, sie hatte das System schnell durchschaut.
Apotheke ist alles mit einer drei am Anfang, Ordination mit einer vier und Wohnung mit einer sechs. So ist geregelt, was zusammengehört und wieviel Stücke es jeweils sind. Das meiste kommt in die Apotheke mit der höchsten Zahl 3560, wobei die 3 nur Orientierungszahl ist, tatsächlich sind es 560 Stücke mit Schubladen, Gläsern, Näpfen und Töpfen. Da wird ordentlich zu tun sein, bis alles befüllt und beschriftet ist.
Mascha war in ihrem Element, mit Klapaidas Hilfe dozierte sie, geht das im handumdrehen. Müssen nur die Zettel aufkleben, die richtigen Tinkturen und Mischungen in Tiegel und Gläser füllen.
„Die Klapaida, Mama? Kann die lesen?“
„Nora, nicht nur das, wie dir bekannt sein dürfte! Sie ist die Apothekerin, ich bin lernende Gehilfin. Recht hast du nur in sofern, als sie keine Beschriftung braucht, um zu wissen wie ein Kraut heißt, was es kann und tut. Die Zettel klebt sie auf, um mir und unserem Doctor, den Weg durch die Kräuterwelt zu weisen.“
„Entschuldige, Klapaida, ich vergaß,“ murmelte Nora.
„Sie nimmt es dir nicht übel, Kind, ist gewohnt, von uns Menschen unterschätzt zu werden.“
„Von uns Menschen? Das hört sich an, Mama, als ob du sie nicht unter die Menschen rechnest?“
„Nora, sie ist von Gestalt ein Mensch, doch sie ist mehr, wie alle die mit ihr zu tun hatten, erfahren konnten. Ich für meinen Teil halte es in diesem Falle gegen sonstige Gewohnheit mit der Religion. Die Vergangenheit lehrt uns, immer wieder hat es wundertätige Heilige gegeben, Menschen, die ihren Mitmenschen Schmerzen nahmen, ihnen in wunderlichster Weise halfen.
Ich denke mir, so jemand ist unsere Klapaida. Hat nichts mit der Kirche zu tun, die Helfer, waren sie Frauen, wurden oft verfolgt, denke nur an den Hexenwahn. Die von der Kirche anerkannten Frauen, sämtlich Heilige, haben im Altertum gelebt, weit genug entfernt sie zu überirdischen Wesen zu machen. Waren sie jünger, mussten sie besonders fromm und vor allem keusch sein.“
„Dann können wir beide nie heilig werden, Mama, denn keusch sind wir nicht.“
„Gott sei Dank! Das werfe ich den Pfaffen ja vor, Kinder zeugen macht Spass, der Spass ist unkeusch. Fromme Frauen sind keusch, ergo keine Kinder. Damit kann ich leben. Was mich aufbringt ist, der Spass als solcher wird verurteilt! Der Menschensohn wurde nicht von einem Mann gezeugt, seine Mutter blieb keusche Jungfrau, das beleidigt die Frauen dieser Welt.“
„Mascha, so ist es, doch dem lieben Gott laste das bitte nicht an, der hat keine Ahnung von dem, was hier in seinem Namen verbrochen wird, ansonsten pfichte ich dir in allem bei,“ sekundierte Bernd.
Plötzlich stand Klapaida unter ihnen. Nora fühlte ihren feurigen Kohleblick auf sich gerichtet, zögerte sie anzuschauen, doch die Alte half ihr: „Frauchen Nora,“ kicherte sie, „sieh mich an, zeig mir deine Augen. Na also, bist glücklich seh ich, die Liebe macht Freud, wie?“
Die Liebe macht Freud, behauptete die einfach, macht mir Freud, als ob ich das so einfach bejahen könnte, fuchste sich Nora, und bekannte mit gleichem Atem die Wahrheit. „Ja, die Liebe macht Freud, Freud wie sonst nichts auf der Welt,“
hörte sie sich sagen, „und dankeschön für das Kräutchen, Klapaida. Seit ich weiß, was es tut, macht mich die Liebe zum Vogel, der nicht hoch genug hinauf in den Himmel steigen kann!“
„Unkeusch bist, Nora! Keine Rüge, ist Zustimmung, zur Liebe gehört die unbeschwerte Lust!“ griente Klapaida, wandte sich an Mascha, fragte: „Geht‘s voran?“
„Zwei Tage, schätze ich, werden wir für den Transport brauchen, doch wir werden noch vor den Fuhren in Lyck sein, und mit Einrichten beginnen. Ich denke Klapaida, in einer Woche ist alles unter Dach und Fach.
Nora und Bernd werden wohnen können, er praktizieren, wir der Apotheke den letzten Schliff geben. In der Wohnung ist nur der Rahmen abgesteckt, wie gesagt, schlafen und essen ist möglich. Für's Behagliche ist Nora zuständig, die wird niemand anderen mit so Persönlichem betrauen wollen.“
Als Nora sich am nächsten Morgen die Augen rieb, war das Bett neben ihr leer. Sie verkroch sich noch einmal in die Kissen, wollte nicht Abschied nehmen von ihrem schönen Traum. Fühlte sich ganz einig mit sich, die Grille vom Abend zirpte nicht mehr. Ich träume ein Leben, mein Leben in einer anderen Zeit. Was mir gestern unheimlich war, heute beglückt es mich. War ja anders, das Seegrund gestern, zerstört, verbrannt, zerstoben. Mein Traum dagegen, mein Bernd in Traum und Wirklichkeit, gleich süß. Kann nicht abreisen, die Hochzeit steht ins Haus, wird nicht auf sich warten lassen, mit Glück träum ich sie heute Nacht. Hochzeit und Hochzeitsnacht! O liebster Bernd, wirst mich dann zweimal entjungfert haben! Werde dir verschweigen, was ich geträumt. Träume sind Schäume, mein Traum darf nicht vor Erfüllung verwehen.
Lag da die Nora, ganz erfüllt von Glück. Könnte mich entäußern sang ihr Herz, mich vergessen, mit Bernd auffliegen in den blauen Himmel, nichts sein als das Glück.
Sie kuschelte sich in das große, weiche, polnische Gänsedaunenbett. O Bett, flüsterte sie, die Lippen kaum bewegend. Bett, wenn du so herrliche Träume vermittelst, sollte ich dich mitnehmen nach Hause, keine Nacht mehr ohne dich sein!
Rogowski mit seiner Bimmel, riss sie aus dem seligen Zustand. Sie sprang auf, nicht noch einmal wollte sie dem alten Knaben, zu Anzüglichkeiten Anlass geben. Durchs Fenster sah sie Bernd sitzen, er winkte Rogowski mit einem Büchlein.
„Schon auf, kleine Schlafmütze,“ neckte er, „der lüsterne Mann kommt!“
„Sofort! Als ich den Alten bimmeln hörte, bin ich aus dem Bett. Werde das Gefühl nicht los, der Bock guckt durch Wände und Bettzeug auf meine Nacktheit. Werde ihn angezogen vor der Tür empfangen!“
„Was ihn nicht hindern wird, Liebste, dir neuen Schabernack zu spielen. Lach drüber, früher waren Männer so. Galten als ungehobelt und schüchtern, zu nichts zu gebrauchen, ohne ständige, versteckte Potenzprotzerei. Habt ihr Gleichberechtigt-Emanzipierten uns ausgetrieben. Bin sicher, kommt wieder. Wird euch auf Dauer was fehlen. Das ständige Geschäckere und Komplimentieren finde ich lustig, lustiger als die neue Sachlichkeit.“
„Magst recht haben, Bernd, nur ist mir der Rogowski zu alt für dererlei Spiele.“
„Liebste, der kann gar nicht anders, hat stets auf Schäckerfuß mit Frauen gestanden. Würdest du ihm sagen, er soll das lassen, der wüsste nicht was du meinst, wäre ihm nicht klar zu machen.“
„Danke für die Belehrung, großer weiser Doktor. Werde zurückschäkern, sollte er mich anmachen!“
„Nein Nora, bloß nicht! Ganz und gar unmöglich. Du hast die Augen niederzuschlagen, hold zu erröten, das wär`s aber schon! Ihm mit gleicher Münze heimzahlen, nie und nimmer! Da kommt er. Guten Morgen, Pan Rogowski!“
„Guten Morgen Komtess, guten Morgen Herr Doktor, gut geschlafen?“
„Herrlich geschlafen!“
„Schön, dann wird der Appetit wohl wieder zurückgekehrt sein. Hab Neunaugen im Korb, sauer eingelegte, und welche leicht paniert in Butter gebraten. Gibt es in ganz Polen nicht mehr, haben wir aufgefressen. Stehen jetzt unter Schutz, dürfen nicht mehr gefangen, geschweige gegessen werden. Aber sie wissen ja, der Zar ist weit sagte man früher, als Polen noch zu Rußland gehörte. Aal ist diesmal nicht, dafür Stinte gebraten, und für den süßen Zahn frisch gebackenes Rosinenweißbrot, vor einer Stunde aus dem Ofen genommen. Weiter frische Butter, war gestern noch Milch, die Aufstriche die Sie schon kennen und Käse. Hab keinen Namen für den Käse, probieren Sie, und sagen Sie mir bitte, wie man den nennen könnte. So genug gefaselt. Guten Appetit und bis auf heute Abend. Sollte ich keine anderen Wünsche hören, gibt es Spanferkel.“
„Na was sagst, Nora, war doch manierlich, unser Kutscher?“
„Ja doch, hat sich beherrscht, der Knacker, hat sich wohl denken können, hold Erröten mit niedergeschlagenen Augen ist nicht! Wüsst ich genau, wenn dem so wäre, wird nie sein, verlass dich drauf! Doch jetzt ran an die Neunaugen, möchte wissen wo die sitzen bei den Viechern? Bernd, schnell beeil dich! Die in Butter gebratenen sind einfach köstlich, beeile dich, sonst fress ich sie dir weg.“
„Bin schon da, mein verfressenes Nörchen, gib mir eins von den Tierchen, ja bitte, direkt auf die Zunge. Mmh köstlich, wo sind die Sauren?“
„Hier, warte, ich fische eins raus. Die eine Hälfte für dich. Was, besser als gebraten? Ok, ich nehme gebraten, du sauer.“
„Fein, lass uns die in Ruhe genießen. Was macht die Grille?“
„Verflogen, Bernd, auf und davon. Weine ihr keine Träne nach. Seegrund war heftig für mich. Ist nicht meins, Stimmungsschwankungen. Könnte es sein, du hast mich geschwängert?“
„Durchaus, bei unseren Aktivitäten, jedoch seh ich dich abends die Pille nehmen. Hab schon Pferde kotzen sehen, in spätestens sechs Wochen werden wir es wissen.“
„Bist du wahnsinnig, ich schwanger! So ruhig, wie du das abhandelst, kann ich das nicht. Ach was, kann gar nicht sein. Einen Moment, hier ist die Pillenfolie. Für jeden Tag fehlt eine, Gott sei Dank. Nicht auszudenken wäre das!“
„Was ist so schrecklich daran? Schwangerschaft ist keine Krankheit! Ohne Schwangerschaften gäb es uns nicht. Die Lust und ihre Wonnen sind in uns angelegt, sonst pflanzten wir uns nicht fort. Ohne Hintersinn geschieht nichts in der Natur. Die Wollust hat sie explizit zur Erhaltung der Art erfunden.“
„Mag sein, hab nichts dagegen. Aber nicht aus heiterem Himmel und nicht ungeplant. Erst baut Klein-Nora ihr Examen, findet einen Job, danach wird eifrige, nimmermüde Wollust gern belohnt.“
„Kann dauern, Nora. Physik ist ein vertracktes Fach, hat sich schon manch einer die Finger verbrannt, die in den Griff zu bekommen.“
„Manch einer, Bernd, doch ich, du weißt es, bin eine. Frauen sind zäher, fleißiger und ehrgeiziger. Jede Wette, ich schaffe das in zehn Semestern.“
„Die Wette gilt, Schönheit, doch was zahlt der Verlierer?“
„Bitte nicht jetzt, soll Spaß, Geplänkel bleiben. Ich lebe in Minuten, Stunden, Tagen, mag nicht in Jahren denken.“
„Weise gesprochen, lassen wir so stehen. Was machen wir mit den Minuten, Stunden, die uns heute geschenkt?“ Bitte nichts, Bernd, lass uns hier auf dem Steg die Zeit verdösen. Wird es uns warm, ein Sprung ins kalte Wasser, wird es uns kalt, ein Sprung ins warme Bett. Was noch könnte des Himmels Gunst uns bieten? Ich könnte stöhnen vor Glück!“
Als Rogowski am Abend, das Spanferkel im Korb, bimmelte, tat sich nichts. Er wartete ein Weilchen, müssen sich voneinander lösen, brummelte er. Dann bimmelte er wieder, diesmal etwas länger. Warten, wieder nichts! Na nu, werden doch zuhaus sein? Er plierte hinüber zur Kate. Sind da, die Tür steht auf. Wären es Polen, wäre ich nicht so sicher, die hauen ab, und lassen alles stehen und liegen. Aber der Doktor, nie und nimmer geht der, ohne die die Tür zu schließen.
Also nochmal heftig gebimmelt. Tut sich nichts, geh ich nachsehen.
Rogowski zögerte, hatte nach dem Bimmeln zweimal bis hundert gezählt. Kann nicht einfach umdrehen, könnt wer weiß was geschehen sein, machte er sich Mut und polterte laut pfeifend den Weg zur Kate hinunter. Auf der Plattform setzte er seinen Korb geräuschvoll ab, verharrte einen Augenblick, doch niemand kam, es blieb still. Tür und Fenster standen weit auf, war gut bei der Hitze, war ein herrlicher Sonnentag gewesen. Was tun? Nachsehen! Auf Zehenspitzen schlich er zum Fenster, sah hinein, zog den Kopf blitzschnell, wie von der Natter gebissen zurück. Was jetzt? hämmerte es in seinen Schläfen. Der Blutdruck, der verdammte hohe Blutdruck. Geschah etwas ausser der Reihe, schwollen ihm die Adern und die Luft blieb weg..
Die Komtess und der Doktor, nackt ineinander verschlungen! Das Gesicht der Komtess, dem Fenster zugewandt, das Lächeln auf ihren Lippen!
Rogowski ging noch einmal hoch, verharrte, saugte jede köstliche Einzelheit des nackten Mädchens in sein Gedächtnis. Mein Gott, diese Titten, die Taille, der Hügel, das fein gelockte dunkle Haar!
Schnell weg hier, was ritt mich zu stören, nicht auszudenken sie würden wach. Mit zitternden Knien kam er bis zur Glocke, dem Ausgangspunkt seines Abenteuers, warf sich auf die Bank, hing da wie erschlagen. Ruhig werden, langsam atmen! Nichts ist geschehen, hast nichts Böses getan, wäre nur furchtbar peinlich gewesen, die Komtess hätte die Augen aufgemacht. Wie wär er dagestanden? Rogowski, der Spanner? Darf es nicht denken! Aber das Bild! Wird es mein Lebtag nicht vergessen, wird ganz meins werden, tief in mir versteckt zu betrachten an besonderen Tagen.
Als er zurück kam mit dem Ferkel, verzog seine Frau das Gesicht. „Nicht gut genug, was ich koch für Hochwohlgeboren?" Rogowski ging nicht ein auf ihr Motzen.
„Stell es kalt, nein besser, wir essen es zur Nacht, unsere Gäste sind nicht da, werden sich melden, sollt sich Appetit regen.
Lass eines der Mädchen mir den Lehnstuhl richten, mit warmen Decken und weichen Kissen vor die Tür stellen. Will heute Nacht den Mars und die Sternschnuppen beobachten, erst in zwei Jahrhunderten wird er uns wieder so nah sein. Halt, mein Fernglas und bitte die Gläser polieren. Das Tischchen brauche ich. Wenn ihr esst, bringt mir vom Ferkel und Bier nach draußen.“
Als Sofia den Stuhl behaglich hergerichtet, deutete sie ihrem Vater einen Kratzfuß an, und wies mit einladender Geste auf den Sitzplatz. Der Papa bedankte sich, bat ihn nicht zu vergessen, beim Bier und Ferkelfleisch.
War nicht das Wichtigste, die Sternschnuppen und der Mars. Wenn er rüberschaute zu den Ferienhäusern, konnte er ohne Glas nicht klar erkennen, was sich dort tat. Werde die Beiden diese Nacht nicht aus den Augen lassen, schwor er sich. War nicht normal, dass sie sich noch nicht gerührt hatten, ihr tiefer Schlaf bei seinem Besuch beunruhigte ihn mehr als ihm lieb war.
1818
Nora und Bernd, vor Erwartung bebende Hochzeiter auf Steinfeld. Hatte schön gepredigt, der steife Pastor. Sich selbst übertroffen, als er ausmalte, wie das junge Paar in Lyck den Schmerzbeladenen beistehen würde. Auf des Doctors Verlangen hatte er von der Apotheke gesprochen, die Gräfin Mascha und die Kräuterfrau Klapaida, einrichten und betreiben würden. War ein schweres Stück Arbeit gewesen, ihn dahin zu bringen, den Namen der Kräuterfrau unter dem gesegneten Dach der Kirche, in den Mund zu nehmen. Bernd hatte gedroht, als der Pastor sich absolut bockig und widerspenstig gab, dann lassen wir uns in Palmiken trauen! Das wirkte, in Palmicken! Neumann verfärbte sich, seine Hängewänglein changierten von rot nach violett.
„Nora," stöhnte er, „an meiner Hand habt Ihr die ersten Schritte zu Gott hin getan. In dieser Kirche seid Ihr getauft und konfirmiert worden! Würdet Ihr mir wirklich das Herz brechen? Seid gewiß, es bräche mir, trautet Ihr in Palmicken!" Nora begegnete seinem fordernden Blick mit sanfter Ergebenheit, gab ihm aber so Bescheid, wie er ihr die Heilige Schrift ausgelegt hatte.
„Lieber Pastor Neumann," gab sie sich besänftigend. „Ihr lehrtet mich, das Weib schulde dem Manne Gehorsam. Nun bringt mich bitte nicht in einen Gewissenskonflikt. Mein künftiger Mann schätzt Klapaida hoch, ebenso meine Mutter, wie Ihr wisst. Ich bitte Euch, gebt nach, denn ich möchte nicht in Palmicken getraut werden."
Doch nun saßen Verwandte, Nachbarn und Freunde, um den festlich gerichteten Hochzeitstisch im großen Saal. Papa nestelte ein Manuskript aus der Tasche, und begann eine vorbereitete Rede vorzutragen. Nach den ersten Sätzen und mehrmaligem Verhaspeln, schob er das Papier unter den vor ihm stehenden Teller, schneuzte sich kurz und verkündet: „Frei von der Leber weg reden, liegt mir mehr! Liebe Gäste, entschuldigt bitte, sollten sich in meinen Vortrag Verwechslungen und Ungereimtheiten einschleichen, sind keine gewollten Fehler, bin Agronom nicht Redner; könnte ja sonst beim Ständetag in Berlin vom Leder ziehen, was, wie wir alle wissen, dringend nottät."
Er kam dann auf das Glück seiner Kinder, das ein Glück für die Gegend sei, bände es doch einen ausgezeichneten Chirurgen und Doctor, der seine Kunst schon mehrfach unter Beweis gestellt habe, an diesen entlegenen Landstrich.
So ging das einige Zeit ganz munter vorwärts, zerrann dann aber zu einem mühsam, von Wort zu Wort springenden Rinnsal, und endete mit einem Toast auf das Brautpaar. Es kamen dann noch einige mehr oder minder interessante Reden. Onkel Fedja flocht lustige Schnurren zwischen seine Sätze. Man lauschte, lachte höflich. Bevor Weitere zu Wort kommen konnten, drängte sich Mascha dazwischen und verkündete:
„Liebe Freunde und Gäste! Genug der schönen Worte, unser Paar hat Besseres zu tun. Kann den schönsten und erlesensten Wortdrexeleien momentan nichts abgewinnen. Wir entlassen sie ins Eheleben! Möge es lange dauern, und glücklich werden!“
Bernd sprang auf, schnappte seine junge Frau um die Taille, und trug sie unter dem fußtrampelnden und händeklatschenden Beifall der Hochzeitsgäste, durch die Tür hinaus auf den Hof, wo ein Einspänner geschmückt mit frischem Grün und weißen Schleifen, bereitstand. Nora schwang sich, ihr Hochzeitskleid missachtend, neben ihren Mann auf den Bock, der trieb das Pferd an und sie waren allein.
„Auf zur Kate am See!“sang Bernd. Nora fiel ein: „Zur Kate, zur Kate! wo Mascha alles aufs Beste gerichtet haben würde, die nächsten Tage gab es nur sie. Alle drei Tage kam Nachschub, verhungern würden sie nicht.“
Als genug Raum zwischen Steinfeld und ihrem Gefährt lag, hielt Bernd das Pferd an. Als der Gaul stand, nahm er Nora in die Arme. Sie flog ihm entgegen. Bevor seine Lippen ihren Mund verschlossen, gelang es ihr noch laut auszurufen : „O ich bin so...!“ Mehr brachte sie nicht heraus, zum erstenmal schlug Leidenschaft, mit heißer verzehrender Flamme bei ihr ein, als sie sich ohne Schranken, an den sich ihr entgegen drängendenden Leib ihres Mannes schmiegte. Nach einer Ewigkeit ließen sie voneinander ab. „Treib den Gaul an, Liebster," keuchte Nora, „ich kann das, was kommt, kaum mehr erwarten."
1818-2003 Hexereien
Rogowski hatte gegessen und getrunken. Als die Dämmerung zur Nacht wurde, brachte seine Frau einen Eimer mit Eiswasser, in dem ein Syphon Bier lag. „Mach nicht allzu lang, Jerzy,“ mahnte sie, „deine Komtess hat dich scheints rein verhext, wir gehen schlafen.“
Ganz Unrecht hat sie nicht, die Alte, gestand sich Rogowski. Seit die Komtess und der Doktor hier sind, ist es um meine Ruhe geschehen. Weiß nicht was mich umtreibt, einerseits führe ich mich auf wie eine Glucke, die um ihre Kücken bangt, andererseits mach ich mir vor, die Nora schon einmal im Arm gehalten zu haben. Blödsinn, pure Einbildung, ist mir klar, gleichwohl hocke ich hier und habe Vorstellungen.
Er setzte den Syphon an den Hals und trank. Als er absetzen wollte war da etwas, das ihn hinderte. Er schluckte und schluckte, es war herrlich, noch nie war ihm Bier so sanft und glatt durch die Kehle geronnen. Als er endlich absetzen konnte, spürte er das Gewicht des Syphons, als ob kein Tropfen fehlte. Er hielt das Glas gegen den strahlend am Himmel stehenden Vollmond. Nichts raus, stellte er fest. Zufrieden leckte er sich den Bierschaum von den Lippen, schob die Drahtlasche über den Verschluss bis der zuschnappte, und versenkte das Gefäß in den Eimer mit Eiswasser.
Sanfte hellsichtige Müdigkeit machte sich in ihm breit. Zuerst waren es die Lippen, dann Zunge und Wangen, die mit einer köstlichen Taubheit belegt wurden. Er gab sich diesem schwerleichten Zustand ganz hin, nahm den im Mondlicht glitzernden See, die Katen, das Rauschen der Bäume, und das laute Platschen der springenden Fische wahr. Irgendwie war er nicht der kleine Kätner Rogowski, sondern ein riesiges alles beobachtendes Auge, sämtliches hörendes Ohr. Er reckte und dehnte sich, spürte eine nie gekannte Leichtigkeit und schaute auf sich, im Stuhl vor seiner Kate sitzend, herab. Besoffen, er machte den Ansatz sich das zu fragen, hielt aber inne, bevor der Gedanke sich seiner bemächtigen konnte. War so viel schöner getragen zu werden von der Luft, auf der er, so schien es ihm, wie auf einem Daunenkissen schwebte.
Er riss seinen Blick von Kate und See los, nutzte die Gelegenheit, aus der Vogelperspektive seine Heimat vor sich ausgebreitet zu sehen, erkannte ganz nah Seegrund, das Herrenhaus, das Geviert der Ställe und Scheunen im Mondglanz hingebreitet, ein Storchennest auf jedem Giebel. Er konnte es gar nicht fassen, was er sah war unzerstört. Sicher träume ich, half er sich, als er jedoch weiter Umschau hielt, lag da, wo er die Ruine von Steinfeld wusste, ein ebenfalls unangetastetes Gehöft, doch nicht im Mondschein wie Seegrund, sondern von heller Sonne beschienen. Jerzy Rogowski, was geschieht hier vor deinen Augen, fragte er sich ohne alle Ängstlichkeit. Sicher, es gab genug Grund zum Fürchten, in Panik zu geraten, er aber fühlte sich aufgehoben wie in Abrahams Schoß. Hier über dem See war Nacht, eine Stunde weiter, wo Steinfeld plötzlich unversehrt erschienen, Tag. War ihm zwar unbegreiflich, aber es hinzunehmen, bereitete ihm kein Ungemach.
Dann bemerkte er, wie ein Einspänner von Steinfeld auf den Weg nach Seegrund hin gelenkt wurde. Er behielt das Gefährt im Auge, erkannte, es kam näher und war geschmückt wie eine Brautkutsche. Bald konnte er die Insassen ausmachen, zu seinem Erstaunen waren es die Komtess und der Doktor, die doch fest ineinander verschlungen, schlafend in der Kate lagen. Er konnte und wollte sich keinen Reim darauf machen, wenn es ihm auch ein wenig den Atem raubte. Zuviel stürmte da in den letzten Minuten, konnte auch sein Stunden, auf ihn ein. Bald schwante ihm, Klapaida, die Alte von der die Weiber raunten, sie sei eine Hexe, mischte hier mit. Quatsch, verwies er sich dererlei Blödsinns, wir leben im Einundzwanzigsten Jahrhundert.
Während Rogowski noch zu klären suchte, wie ihm geschah, war die Kutsche am See angekommen. Bernd hob seine Frau heraus, und trug sie zu einem Nachen, der an einem Pflock am Ufer vertäut lag. Nora ließ sich die Fürsorge mit kätzischem Behagen gefallen, versuchte sogar, ein paar Schnurrlaute zu produzieren. Bernd vertröste sie auf die nächsten Minuten, wo sie ganz und gar sich allein gehören würden, und rief laut nach Jerzy.
Jerzy! hörte Rogowski ihn rufen, sah sich selbst auf die Kutsche zugehen, die ihm der Doctor in Obhut gab. Bitte nicht stören, bis wir uns melden, hörte er ihn befehlen, sich selbst aber aufzählen, was an Eß- und Trinkbarem in der Kate für das Paar bereitstand. Erst jetzt bemerkte er: Alle drei, er selbst, der Doctor und die Komtess, waren gekleidet wie er es von den Bildern kannte, die Feuersbrunst und Zerstörung überlebt hatten, in dem kleinen Museum auf Seegrund zu besichtigen waren.
Auch dass nur eine einzige Kate am See stand, die, weil es keinen Weg gab, nur mit einem Kahn zu erreichen war, fiel ihm auf. Er sah sich die Zügel übernehmen, den Doctor zu Komtess Nora in den Nachen steigen, den er mit kräftigen Ruderschlägen auf den See hinaus und zur Kate hinüber trieb, während er, Jerzy, auf den Bock der Kutsche sprang und das Pferd in Richtung Steinfeld in Trab setzte.
Nicht nur sehen tat er sich, nein, auch im Kopf von Jerzy seinem Ebenbild dort unten auf dem Kutschbock war er zuhaus. Mit Schrecken stieß er auf Hass, Hass der aus Neid geboren, wie ihm schien, Jerzy zerfraß. Missgunst und Neid hatten sich in seinem Herzen vermählt.
Bevor er die Ursache ergründen konnte, schob sich ein Bild über den unter ihm das Pferd antreibenden Jerzy, zeigte Gut Steinfeld bei der Ernte. Auf einem noch nicht voll beladenem, mit vier schweren Gäulen bespannten Erntewagen, stand eine blonde junge Frau, die von Männern mit der Forke hochgestakte Korngarben, annahm und stapelte. Sie hatte die Ärmel ihrer roten Bluse hochgekrempelt, die Röcke bis zu den Knieen geschürzt. Nur so war sie frei genug, um auf dem schwankenden, glatten Grund, beim Annehmen vor- und zurückspringen zu können. Die Männer unter ihr sparten nicht mit Anzüglichkeiten und waren uneins, ob rote Bänder als Knieabschluß ihrer Unterhose, den gelben, die zu sehen waren, nicht vorzuziehen wären.
Tilda, so hieß die Blonde, überhörte das Geschwätz. Wenn jedoch einer zu frech wurde, ihr die Garbe gewollt ungeschickt anreichte, sie zu Fall zu bringen suchte, um so tiefere Einblicke unter ihren Rock zu erlangen, wehrte sie sich mit einem langen Stock. Stieß bedenkenlos auf den scheinbar Ungeschickten ein, ein Veilchen war nicht selten das Resultat.
Einer der jungen Männer beteiligte sich nicht an dem Geschäcker. Unverdrossen stakte er Garbe um Garbe zu Tilda hoch, gab acht, wo sie stand, ihr so die Arbeit erleichternd.
Es musste Mittag sein, Rogowski sah, wie ein leichter Wagen, beladen mit Körben und Kannen, auf eine Baumgruppe inmitten des abgeernteten Feldes zuhielt. Eine kurzes Bimmeln, die Männer warfen die Forken hin, und gingen hinüber zum Rastplatz. Der Ruhige zeigte auf seine Brust, und Tilda sprang ohne Zögern von ihrem Hochsitz herunter in seine ausgebreiteten Arme. Als sie unter den Bäumen lagen, konnte er erkennen, zwischen ihm und den Männern war Raum freigelassen, auch Tilda lag ein wenig abseits..
Alle machten sich über in irdenen Kruken kühl gehaltenes Wasser, und dicke Scheiben Brot mit Speck her. Bald waren die ersten Schnarcher zu hören. Während die Erntemannschaft schlief, zog der Fouragewagen zu den Pferden, die zu saufen und zu fressen bekamen. Nachdem Tier und Mensch getränkt, gesättigt und erquickt waren, zeigte ein Glöckchen das Pausenende an.
Der Fouragier sprang vom Wagen, ging auf den abseits liegenden Mann zu, schien sich instruieren zu lassen. Als er abfuhr, winkte er mit der Peitsche und rief: „Wird erledigt, Herr Graf.“
Aha, dachte Rogowski, der Chef. Alle Achtung, der schuftete wie der letzte seiner Knechte. Während er noch weiteres auszumachen suchte, löschte Dämmerung das Licht und bald darauf war es Nacht.
Ein Mann und eine Frau gingen von Steinfeld weg über Felder, wo Heu auf dreibeinigen Stockgestellen zum Reifen aufgehäuft war. Sie waren nicht lange gegangen, als der Mann anhielt, die Frau in seine Arme zog, sie küsste. Rogowski sah, wie ihre Knie einknickten, ihr Leib sich dem Mann anschmiegte. Beide sanken eng umschlungen ins Heu. Die Frau richtete sich noch einmal auf, stieg aus ihrer Unterhose, deren Beine unter dem Knie mit gelben Bändern zugebunden waren. Offensichlich Tilda. Eine Weile tat sich nichts. Getuschel war zu hören, langgezogene Ohhhs, nein und ja, ja. Dann plötzlich pumpte ein weißer Männerarsch wie wild auf und nieder, und eine Frauenstimme begleitete jeden Stoß mit lauter werdendem ach, ach, ach herrje, ja oh, weiter, weiter. Rogowski war verdammt neugierig, zu welchem Gesicht der Arsch gehörte und tippte auf den Grafen Kelm. Musste seine Neugier noch gute Weile bezähmen, die da unten im Heu kamen erheblich zur Sache. Mal war Tilda oben, mal der Mann. Tilda hatte ihre Bluse weggeworfen und ritt den unter ihr Liegenden mit wippenden Brüsten. Auf dem Höhepunkt sank sie nach vorn, und Rogowski sah ihren süßen Arsch in wildem Stakkato die Stange ihres Liebhabers melken.
Mannchen, dachte er, so jung möchte ich noch mal werden wollen, um mich von solch einem Stutchen reiten zulassen.
Der Mond hatte sein Versteck hinter einer dicken Wolke verlassen, breitete seine volle Leuchtkraft über die Szene. Als die beiden einen Moment voneinander abließen, schien er ihnen ins Gesicht. Kein Zweifel, die fleißigen Ernter vom Mittag, der Graf und Tilda.
Naja, sagte sich Rogowski, zähl ich zwei und zwei zusammen, ist der Jerzy mit seinem Neid, sicher Frucht dieser Liebe. Der Graf hat die Tilda dick gemacht, sie mit einem seiner Knechte, dem Rogowski eben, vermählt. So etwas bleibt nicht verborgen, die Frucht von Tildas und des Grafen Bemühungen, mein Ebenbild, dünkt sich einen halben Grafen und ist doch nur der Knecht Rogowski, daher die Missgunst.
Vielleicht daher meine Obsession, die Komtess Nora betreffend. Möglich, stelle ich mir vor, ich vögele sie so, wie der Kelm meine Urururgroßmutter Tilda hergenommen hat.
Unfug, der hat sie nicht hergenommen, das war Geben und Nehmen. Hat vor Lust gequietscht, meine Urahne, und quietscht schon wieder.
Im hellen Mondlicht wälzten sich die zwei im Heu. Des Grafen Stange war ganz in Tildas Hals verschwunden, zum Ausgleich leckte er hingebungsvoll ihre Fröhlichkeit. Bei diesem Durchgang war nichts zu hören. Tilda steilte ihren Körper wie eine Brücke der lüsternen Zunge entgegen. Immer tiefer tauchte der dazugehörige Kopf zwischen die schlanken Säulen ihrer Schenkel. Rogowski sah ihr Fleisch vibrieren, die Brücke brach zusammen, Tilda schob den zu einem Würstchen geschrummpelten Schwanz aus ihrem Mund. Wieder imstande zu sprechen, hörte er sie heiser hecheln: leck, leck, leck tiefer, gleich bin ich soweit, beiß mich Claus, los beiß mich! Ja so, au das tut weh, aber mach, mach, mach und dann ein langer gurgelnder Schrei, und sie sackte buchstäblich zu einem Nichts zusammen. Beide lagen da, unbeweglich wie vom Blitz gefällt. Keines rührte sich, bis nach langer Zeit Tildas Stimme: Claus das tat weh, aber noch nie war es so gut wie heute.
1818
Bernd stieg zu Nora in den Nachen, nahm das Tau vom Pflock und trieb das Schiffchen zügig auf die Hochzeitskate zu. Er hatte geholfen, als Mascha den Fußboden mit warmem Rauchwerk bedeckt hatte. Auf seine Frage wofür die edlen Felle auf den Boden, meinte sie, wart es nur ab, wird sich zeigen.
Überhaupt Mascha, fast wäre er aus dem Takt gekommen, als ihm die Situation der vorigen Woche vor Augen stand. Mascha war in letzter Zeit lebendiger, ja erotischer für ihn geworden. Bin ich ehrlich, erkannte er, ich liebe Mascha wie Nora, Nora wie Mascha. Sofort war da die Frage, ahnten die Frauen? Mutter und Tochter waren engste Freundinnen, gut möglich Mascha spürte die gleiche Neigung wie er, hielt ihrer Tochter gegenüber nicht hinter dem Berg. Ihre Avance, als er und sie allein in der Kate waren, hätte bei anderer Situation sicher zu einer Umarmung, wenn nicht zu mehr geführt.
Gleichviel, erst einmal würde er und Nora ihre Hochzeitsnacht erleben. Das Vertrackte war, er fühlte er sich nicht als Neuling. Er hatte schon einige Nächte mit Frauen verbracht. Sein Gefühl jedoch suggerierte ihm reiche Erfahrung auf diesem Gebiet.
Die Liebe, wie er sie für Nora empfand, Mascha blieb außen vor, war nichts Neues für ihn, obwohl er ihr noch nie begegnet war. Möglich war, die Spannung, diese einzigartige Vorfreude auf Noras Hingabe, verfremdete sein Gefühl. Bernd, rief er sich zur Ordnung, stelle alle Phantasien ab. Fasse all deine Kräfte zusammen, um dieses liebe, wunderschöne Mädchen zu ihrem Recht kommen zu lassen, mit ihr eine Erinnerung zu schaffen, an die wir später immer zurückdenken können.
In seiner neuen Umgebung war ihm niemand nah genug, dass er ihn über die Besonderheit von Hochzeitsnächten hätte aufklären können. Nora war ihm da ein Stück voraus. Die kluge Mascha, hatte sie über die Vertracktheiten des körperlichen Vollzuges der Liebe, unter Zugzwang ins Bild gesetzt. So würde sie nicht erstaunt sein, sollte ihr Ehemann seiner Aufgabe mangels Standfestigkeit nicht nachkommen können. Sie würde ihn weder tröstend in die Arme nehmen, noch ein Wort darüber verlieren. Einfach nicht bemerken würde sie sein Unvermögen, sich an ihn schmiegen, ihn küssen, die Wonne, nackt in einem Bett mit ihm zu liegen einfach genießen.
Endlich hatte Bernd den Nachen ans Ziel gebracht, vertäut, und Nora auf die Beine geholfen. Mehr war nicht nötig, seine Frau hatte ihr Kleid gerafft und war mit einem Satz, der das Boot tüchtig ins Schlingern brachte, auf den Steg gesprungen. Sie stand auf festem Boden und reichte ihm die Hand. Ein Sprung, wie sie ihn getan, konnte ihm nicht gelingen, dafür schauckelte der Kahn zu heftig. Bernd erklomm den Steg an ihrer Hand, richtete sich auf, nahm ihre andere freie Hand, zog sie an sich, sah ihr in die Augen und ihre Lippen fanden sich, mit einem befreiten Seufzer. Lange standen sie da, fest umschlungen, bis Nora fühlte wie ihr Mann in ihren Armen erstarrte.
Bernd hatte sich von Noras Mund gelöst, seine Nase in ihr duftendes Haar gesteckt, genoss seine Frau mit allen Sinnen. Tief atmend wurde er eins mir diesem Duft, der Nora war; und zugleich, nach der turbulenten Zeit seit seiner Abreise aus Cleve, war er sich seiner mit Haut und Haar bewusst. Ein wenig ging er in die Knie, das Glück und seine Geliebte sollten ihn tragen. Als er die Augen öffnete, die herrliche glückselige Welt einzulassen, traf es ihn wie ein Keulenschlag.
Durch die offenstehende Tür sah er in den Wohnraum der Hochzeitskate auf den mit Fellen von Biber, Dachs und Nerz bedeckten Boden. Auf und zwischen den Fellen lagen nackt und kopulierend, Mascha und er, Bernd.
Er sah das Paar sich in höchster Ekstase winden, hörte Maschas Lustschreie, vermischt mit seinem brünstigen Röhren. Die Starre, die ihn befallen, hielt ihn, zusammen mit Noras Armen, die ihn umfingen, aufrecht. Zum Glück sah seine Frau nicht seine Augen, die, hatte er das Gefühl, ihm aus dem Schädel platzen wollten. Sekunden später war das Bild verschwunden. Die Felle lagen da, ein Samowar köchelte im Hintergrund leise vor sich hin, der Tisch war gedeckt.
„Was ist dir, Liebster?“ hörte er Nora fragen und wusste, jetzt galt es alle Kraft zu sammeln, um das Bild zu tilgen.
„Nora, meine starke Nora,“ antwortete er, „ich mag es kaum gestehen, aber eine Schwäche befiel mich plötzlich, mir wurde schwarz vor Augen. Einen Augenblick bitte halt mich noch, es wird schon werden.“
Nora zog ihn fest an sich, und flüsterte ihm ins Ohr: „Geliebter Doctor, du bist ein Fall für die Klapaida. Gegen plötzliche Schwächen und dergleichen, hat die ungezählte Mittel.“
Klapaida, womit habe ich das verdient, du Rabenaas, hätte Bernd, wäre es möglich gewesen, mit der ganzen Kraft seiner Stimme in den Himmel geschrien, denn das Trugbild konnte nur ihr Werk sein, da war er sicher. Zu Nora aber sagte er: „Du magst recht haben, aber ich weiß, dem Menschen kann vor lauter Glück schwach werden, in meinem Falle wage ich die Selbstdiagnose, ist das so.“
2003
Rogowski fand sich allmählich in seinem von der Tochter gerichteten Stuhl wieder. Es geschah nicht abrupt, mit einem Schlage, nein, er meinte von seiner allesüberblickenden himmlischen Position, zäh wie Sirup in seinen Stuhl hinein getropft zu sein. Jedenfalls saß er jetzt da, die Erinnerung an das Gesehene, Erlebte noch im Hirn, gepaart mit der Gewissheit:Traum; aus dem er, über kurz oder lang, erwachen würde. Mit der Rechten suchte er nach dem Eimer, das Wasser noch gut kühl, stellte er fest, und hob voll Freude den Syphon, setzte ihn an den Hals, und wieder war ihm, als ob der erquickende, prickelnde Bierstrom der seine Kehle durchfloß, kein Ende nehmen wolle. Mit einem zufriedenem ahhh setzte er schließlich ab, hielt, wie schon beim ersten Mal, das Gemäß gegen den Mond um erneut befriedigt festzustellen, da fehlte kaum ein Fingerbreit.
Die beseeligende Wirkung des Bieres setzte schnell ein, er ahnte schon die Vorboten auf Lippe und Zunge. Legte sich in seinen Stuhl zurück, bereit zu schwebend glücklichem Grübeln. Seine Lider wurden schwer, ganz entfernt hörte er sich denken: Ach ja, ein Nickerchen könnte nicht schaden, doch daraus wurde nichts.
Ein Donnerschlag, als ob die Erde Amboß, auf den ein ungeheuerer Hammer mit verheerender Wucht schlüge, erschütterte die Luft. Rogowski fand sich samt Stuhl gegen seine Kate geschleudert, deren Wand wie eine angeschlagene Glocke vibrierte. Einen Augenblick, mit aussetzendem Herzschlag, verharrte er mit geschlossenen Augen. Als er die Lider vorsichtig einen Spalt öffnete, stand ihm um ein Haar das Herz still.
Der eben noch im Dunkel kaum erkennbare Horizont, war ein einziger gelbgleißender Blitz. Nein, Blitz war zu schwach, da schoss eine elektrische Erscheinung ihr Licht in die Finsternis. Hunderttausendfaches Elmsfeuer könnte so sein, stellte er sich vor, doch nie war ihm solches vor Augen gewesen. Wieder rollte der Donner über den See, dessen lieblicher Mondlichtspiegel sich zu einem Wellenberg auftürmte, der ihn, Rogowski, die Kate mit der Komtess und dem Doktor, den Wald, das Dorf, jetzt gleich verschlingen würde.
Bei allem Erschrecken behielt er einen kühlen Kopf, ahnte, seine Gelassenheit war nicht sein Werk. Um sich schauend, erkannte er sich inmitten des Infernos auf seinem Stuhl sitzend, wie im Kino vor der Leinwand.
Indessen rollte Unbegreifbares vor ihm ab. Abermals überschaute er die Weite des Landes. Diesmal jedoch nicht nur seine engere Heimat. Sein Blick schweifte bis zu den Nehrungen und dem Meer im Norden, im Westen bis zur Marienburg, nach Osten bis zu den krautigen Sümpfen und Wäldern Sarmatiens.
Was er sah, waren Weiler die sich zu Flecken, Flecken die sich zu Dörfern, deren einige sich zu Städten mauserten. Trassen, wo wegloses Brachland gewesen, befestigte Straßen, wo grundlose Wege ewig einzige Verbindung. Von Westen her schob sich ein Schienenband nach Osten. Die darauf fahrende Dampfbahn verband Königsberg mit Berlin. Lyk, Insterburg, Memel, Tilsit, Allenstein, Gumbinnen, Goldap mit Königsberg und untereinander.
Menschen kamen aus allen Richtungen, fanden Arbeit, richteten sich ein, wurden Bürger.
Die Gutsherrschaften wuchsen. Brachland kam unter den Pflug, zur Erntezeit war das ganze Land wallendes Gold, gesäumt vom Grün der Wälder, gesprenkelt vom Blau der Seen, durchflossen von munteren Bächen, sich träge windenden Flüssen.
Rogowski hockte mit offenem Mund in seinem Stuhl. Was ihm vorgeführt wurde, war ein Teil der Geschichte des Landes. War alles zum Besten gerichtet, befand er, also kam das dicke Ende noch. So war das. Soldaten, in hellen Scharen von Osten einfallend, schoben sich ins Bild. Berittene mit Lanzen und Säbeln, Gespanne von schweren Pferden gezogener Kanonen, ungezählte Panjewagen hoch beladen mit Tornistern, Verpflegung, umschwärmt und angetrieben von Soldaten zu Fuß. Dazwischen Offiziere in Uniformen wie aus dem Modejournal, auf edlen Pferden, Befehle brüllend, mit der Reitpeitsche die Fußsoldaten traktierend.
Dann ein mörderisches Gedröhne und Geschrei. Vorwärts und rückwärts flutende Menschenwogen, die, wenn sie vorüber gerollt, Tote, Verstümmelte, Beine, Arme, kopflose Körper zurückließen. Geschlachtet wird, Rogowski ekelte, eine Schlacht wird geschlagen, gesiegt wird oder verloren, Orden wird es geben. Die Menschen, von der Schlacht zu Stücken gefetzt, vergessen, bevor sie ihre Form endgültig verloren.
Danach Bilder ohne Glanz. Fremde Soldaten waren nicht mehr im Land, auch Schlachten gab es keine. Etwas anderes hielt die Menschen am Hals. War schwer auszumachen, warum ihre ehemals so gutmütigen, lachenden Bauerngesichter verbissenen Masken gewichen. Der Krieg war verloren, es hatte Aderlässe gegeben, doch Städte, Dörfer, die Gutsherrschaften waren heilgeblieben.
Die Leute standen in kleinen Gruppen mit sauren Mienen herum. Scharrten und kratzten wie gluckende Hühner, schienen zu suchen, nicht wissend was.
Doch dann endlich, ging ein Aufatmen durch das Land. Die lachenden Gesichter, plötzlich waren sie wieder da. Man versammelte sich, sang zusammen, war begeistert, schrie Heil, Heil! Noch war nicht auszumachen, wer oder was heil war, oder heil werden sollte. Doch eine Stimmung war, als ob des Messias erscheinen verkündet worden wäre.
Dann war er eines morgens da, der Verkündete.
War ein kleiner Mann mit schwarzem, glattem, links gescheiteltem Haar, eine mickrige Schnurrbartbürste unter der Nase. Die Menschen gebärdeten sich reinweg verrückt. Selbst die Frauen, sonst indifferent was Politik anging, toll wie geile Ratten. Der Mann war Besitzer der Glücksmedizin. Deren Inhalt: Revision und Säuberung. Hieß Schlacht, Mord, Verlust. So kam es. Die Schlacht endete übel, der Mord ward begangen, das Land ging verloren. Gemach, noch ist es nicht soweit.
Der Mann ruderte mit den Armen, wippte seinen Körper im Rhythmus seiner Wörter und Sätze, schrie seine Botschaft mit rollendem „R“ und rollenden Augen, nahm den frenetischen Jubel unbewegt, ja undankbar als ihm gebührend entgegen. Das hinderte die Menschen nicht, sich ihm mit großem Gefühl, mehr noch, mit aller Liebe derer sie fähig waren, anheimzugeben. Zu schliessen aus den, dem Mann entgegengereckten Armen, dem Andrängen der Körper, gegen die von braun gekleideten Parteisoldaten des Messias, gebildeten Absperrketten. Es war ein erschreckendes Bild: Vor Inbrunst glosende Augen, aufgerissene schreiende Münder, vor und zurückwogenden Körper, eine riesige Welle, die den kleinen Mann dort oben am Rednerpult sich ganz zueigen machen, ihn verschlingen wollte.
Die Folge: ein Krieg, der mit noch nie dagewesener Brutalität das Land, Europa und einen großen Teil der Welt verschlang.
Unter tobendem Donner und knatternd-zischenden Blitzen, zogen seine Darsteller und Komparsen vor Rogowski auf. Die endlosen Kolonnen ostwärts ziehender Panzer, Soldaten und Tross, begleitet in der Luft von Flugzeugschwärmen, bereit, auf jedes sich Regende herabzustürzen, es mit Bomben zu zerschmettern. Später rollende Güterzüge mit eingepferchten Kindern, Frauen und Männern aus beinah allen Ländern Europas, deren Zukunft Gaskammer und Verbrennungsofen war.
Plötzlich kehrte sich das Geschehen um. Jetzt kamen Soldaten, Panzer und Flieger aus dem Osten, die vorher nach Osten unterwegs Gewesenen vor sich hertreibend. Am See hielten sie an. In der gleißenden Wand der Blitze tauchte Seegrund und Steinfeld auf. Die Soldaten sprangen auf ihre Panzer. Drei, vier, fünf, fuhren auf das innere Geviert des Seegrundschen Hofes, ein Panzerturm drehte sich, ein Feuerstrahl fuhr aus der Kanone, sofort stand die gegenüberliegende Scheune in Flammen. Als ob dies Warnung genug sei, drangen die Soldaten in das Herrenhaus ein. Schreie und Feuerstöße waren zu hören, Frauen stürzten, verfolgt von Soldaten, aus der großen Eingangstür, eine stolperte auf der Treppe, fiel. Bevor sie sich aufraffen konnte, waren Soldaten über ihr, schlugen sie mit den Kolben ihrer Waffen, rissen ihr die Kleider vom Leibe, vergingen sich an ihr vor aller Augen.
Dies war erst der Anfang. Rogowski konnte nicht mehr hinsehen, wollte sich abwenden, die Augen schließen, aber wie eine eiserne Klammer wurde sein Kopf auf das Geschehen fixiert, seine geschlossenen Lider ohne sein Zutun geöffnet. Die Frauen, die sich der Scharen ihrer Peiniger zu erwehren suchten, bekamen Gesichter, wurden Sonja, Maria, Sofia. Frau und Töchter. Ein wildes Gewühl entstand, die Soldaten schossen in die Luft, hielten ihre Waffen drohend auf die Frauen gerichtet. Einige legten sich ergeben auf den Boden, streiften freiwillig ihre Schlüpfer ab. Das war nicht genug. Alle! Schrie ein langer Schlacks, dem die zu große Uniform um die Glieder schlackerte. Ein Jüngelchen, hätte Rogowski bei anderer Gelegenheit gelächelt. Aber das hier war nicht andere Gelegenheit. Das Jüngelchen brüllte, zeigte mit dem Lauf seiner Maschinenpistole zur Erde, die Frauen zögerten, konnten sich nicht so schnell aufgeben. Schüsse bellten. Leiber stürzten.
Maria zerbarst zu einem mit den Beinen schlagenden Bündel. Sofia lag da ohne Gesicht. Sonja saß auf dem Boden, hielt sich den Bauch und richtete ein schiefes Lächeln auf ihn, ihren Mann. Da konnte er nicht länger, er schrie, schrie, schrie, starrte Sonja ins Gesicht, sah ihr unverwandt in die Augen, sah sie die Hände vom Leib nehmen, sah ihr Gedärm gelblich rot über die Schürze quellen, sah es hüpfen, das Gedärm, sah es sich winden, auf ihn zuwinden, erkannte, da kroch der Wahnsinn. Bereit, in ihn zu fahren, ihn zu erlösen, die Bilder zu löschen, ihn zu töten, egal was, schrie er, nur sofort, sofort ein Ende machen!
1818
Bernd fasste sich, fühlte die Kraft zurückkehren, nahm seine Braut hoch und trug sie über die Schwelle ins Innere der Kate. Behutsam setzte er sie ab, sah sie lange an, drückte ihren Kopf an seine Brust und sagte:
„Herzlich Willkommen, Gräfin Bern!“
Nora löste seine Finger, befreite sich, schlang ihre Arme um seinen Hals, zog seinen Kopf zu sich herunter, murmelte: „Hier ist jedes weitere Wort Zeitverschwendung,“ bemächtigte sich seiner Lippen, ließ ihrer Leidenschaft freien Lauf, genoß die heiße Lohe der Lust, die sie, jedwedes andere löschend, ergriff.
Ihr Feuer schlug über auf Bernd, sprang ihn an. Mit zitternden Fingern begann er an den Verschlüssen ihres Kleides zu nesteln. Sie half, war geschickter, die Hochzeitsrobe rutschte ihr auf die Füße; doch nicht in ihrer Wäsche stand die Braut da, nein, ein blaues Kleid, sie ungemein reizvoll wie eine zweite Haut umschließend, trug Nora unter ihrem Hochzeitskleid.
Doch Bernd war in keiner Weise überrrascht, ganz im Gegenteil. Er führte seine Frau zu einer im Raum stehenden Ottomane, bat sie sich bäuchlings darauf zu legen, auf das er die für sie unerreichbaren Knöpfe und Schlingen ihres Kleides öffne.
Ich habe in diesem Kleid, nach dem Ball zu Ehren von Graf Wersten, sogar geschlafen, erzählte Nora, weil niemand zur Hand war, die Knöpfe und Schlingen zu lösen.
Bernd machte sich über die Verschlüsse her, brach nach einigen Versuchen ab, knetete seine Finger, die, wie er fühlte, nicht warm und geschmeidig genug für die Aufgabe waren. Als er dann begann, beherrschte er die kleinen Verschlingungen mit seinen geschickten Chirurgenfinger sofort, und hatte Nora bald bis zum Po aufgeknöpft.
Sie hörte ihn flüstern: „Was für ein wunderschönes Mädchen,“ und im weiterknöpfen, mir war, als hätte ich einen üblen blauen Fleck gesehen. Nora wusste, da war vor Monaten ein Fleck gewesen, woher Bernd davon Kenntnis hatte, war ihr schleierhaft. Was soll‘s, noch ein halbes Dutzend Knöpfe und sie stand im Freien.
Das Kleid fiel, Nora stand auf. Bernd verschlug es den Atem, als er seine Frau in ihrer jungen, makellosen Schönheit vor sich sah. Bevor er sie in die Arme nahm, schlüpfte er mit schlangenschneller Geschmeidigkeit aus Jacke, Hemd und Hose, alsbald stand Adam ebenbürtig vor seiner Eva.
Sie stürzten ineinander, küssten sich mit rasenden Herzen, bis Nora sich vorsichtig aus seiner Umarmung löste, ihn bat, mit ihr unter die von Mascha als letzten Schrei installierte Brause zu treten.
„Brause?“ Bernd runzelte die Stirn. „Bitte Liebster,“drängte Nora. „Bitte verzeih, aber ich kann gar nicht anders, als jetzt sofort mit dir unter die Brause gehen. Das Wasser ist nicht kalt, steht in einem großen Behälter auf dem Dach, wird dort seit Tagen von der Sonne gewärmt.“
Bernd ließ sich nicht lange bitten, trat unter den tellergroßen kupfernen Brausenapf, von dem eine Kordel in den Brauseraum herabhing, dessen Boden ein Rost über dem See war. Nora schmiegte sich an ihn, versteckte ihr Gesicht in seiner Halsgrube, bat ihn, die Kordel zu ziehen. Ein Schwall lauwarmen Wassers stürzte auf sie nieder. Nora jauchzte, schüttelte wie ein Hund das Wasser aus dem Haar, zog ihren Mann mit sich zum Bett, war nun ganz bereit, nachdem ihren Spleenen, wie Mascha die Idee mit Kleid und Dusche genannt hatte, genüge getan, sich ihre Jungfernschaft rauben zu lassen.
Es bedurfte nicht der Geduld mit ihrem Liebhaber, die Mascha ihr geraten hatte zu haben, sollte es ihm an Kraft gebrechen. Ihr Mann war ein richtiger Mann. Als er zu ihr ins Bett kroch, sie an sich zog, fühlte sie seinen harten Stock.
Doch er kam nicht gleich zur Sache. Bernd streichelte ihre Brüste, seine Hände kreisten wieder und wieder um ihren Nabel. Sie fühlte, wie aus ihrem Bauch ein Drängen wuchs, das sich langsam in Brust, Rücken ja bis in den Kopf ausbreitete, von dem sehnsüchtigen Ziehen, das zwischen ihren Beinen die Herrschaft übernommen hatte, zu schweigen.
Sie überließ sich, gehüllt in eine Wolke von Erwartung und Ungeduld, seinen Initiativen. Bernd hatte abgelassen von ihrem Bauch, sich an sie gedrängt, ihre Lippen gesucht. Zart und beinah ohne Berührung tanzte seine Zungenspitze um ihren Mund, das kleine Rund ihrer Nasenlöcher, sprang weiter zu den äußeren Augenwinkeln, drang ein in ihr Ohr, fuhr herunter zum Ohrläppchen. Nora schrie auf, die Sensation, die sein Züngeln an ihrem Ohr ausgelöst, hatte sie nicht erwartet.
Schön? hauchte er, und sie, sprachlos vor Glück, überwältigt von der Intensität der Empfindungen, leckte zurück, ihre Zunge tat, was seine ihr gezeigt, ahnte, dies war Ouvertüre, ihr Mann war ein Meisterliebhaber, der sie noch heute auf den höchsten Gipfel der Wollust führen würde.
Klapaida
Klapaida saß mit Rumpel auf einem Zweig der alten Eiche, die ihre Äste wie schützend über die Kate am See gebreitet. „Was denkst, alter Vogelvögler, von meiner Inzenierung, knappte Klapaida mit dem Schnabel, die wie ihr Gefährte Uhugestalt angenommen hatte.“
„Großartig Klapaida, doch erkläre bitte, warum hast du den Rogowski, den Toren, so maßlos erschreckt? Hat doch nicht zu tun, mit deinen Verstrickungen und Obsessionen?“
„Meinst, Rumpel? Glaubst mich so blöd? Unterstellst, ich quäl den Wurm aus purer Lust? Weißt doch, ich brauch die Zeitverschiebung. Muss aufeinanderlegen, verzwirnen, vernähen heute und gestern. Wie sonst soll ich Rogar kirren?“
„Sicher Klapaida, aber kirrst Rogar so? und nochmal, warum schreckst den Rogowski?
„Zwei Fragen in einer, Rumpel. Den Rogar überlass mir. Was den Jerzy angeht, mit dem hatte ich noch eine Rechnung offen. Nicht von Gestern. Passte mir in den Kram, ihn mit dem Gestern, fürs Vorgestern zu schrecken.
Jerzy hat mich vernommen, ach was vernommen, hat mich gefoltert sich an mir vergangen, mir Fuß und Fingernägel abgequetscht. Ging damals als schöne Maid. Bin in die Kräuter mit den Hebammen, hab sie gelehrt, was heilt, was schadet, was tötet, war Zeitvertreib für mich.“
„Ich weiß, Klapaida, hab damals schon den Kopf geschüttelt.“
„Hast immer den Kopf geschüttelt, Rumpel, magst keine Menschen. Also der Jerzy, jedenfalls Teil von dem heutigen, war geil auf mich. Wollt mich bespringen. Ich hab ihn zwischen Hoffen und Bangen, Nähe und Ferne, Glut und Kälte, gesotten, gefroren, zerrieben.
Nie durft er mich berühren, aber träumen hab ich ihn lassen. Träume durft er bis zur Neige genießen. Aufgewacht, erkannte er genarrt, genasführt, verlacht! Ich trieb mein Spiel, wollt wissen, wess er fähig. Es gab nichts, was er nicht getan hätte, verschiss mich bei den Pfaffen.
Ich fühlte keinen Schmerz unter der Folter, behielt das für mich. In meiner gespielten Qual gab ich mich ihm hin, nachdem er versprach, mich gehen zu lassen. Seh ihn noch vor mir, riss sich das Beinkleid auf, wabbernd vor Gier, stürzte sich auf mich, direkt hinein in das Wespennest, in das ich mein Kätzchen verwandelt. Sah ihm in die Augen, sah sein ungläubiges Entsetzen, als er die Pein der Stiche spürte, gleichzeitig erkannte, was ich war. Grinste ihn an, mit Klapaidas Gesicht, warf ihn ab, ließ den Wespenschwarm los, war nur noch gelbschwarz zuckendes Leuchten, der Jerzy, bis er verreckte.“
„Aha! Hast du nie erzählt Klapaida!“
„Weißt manches nicht, Rumpel. Was den Rogowski angeht, hat er diesmal stellvertretend gelitten. Wie Jesus, weißt du. Seine Art, die Jerzys der Menschenwelt, sind zahllos geworden. Grausame Mordbrenner mit bestem Gewissen. Die schlachten betend, schänden betend, nur wirklich beten, nie! Sind Verlorene, werden sich bald gerichtet haben.“
„Aber Herrin, so einer ist Rogowski nicht, der tut keinem was zuleide!“
„Rumpel, stimmt. Ich sagte, Teil von ihm. Teil von ihm stammt vom Folterknecht! Nu hör schon auf, wird aufwachen und vergessen. Hatte das beste Bier der Welt. Durft saufen, soviel in ihn reinging. Wobei ich mich frage, was kümmerts dich? Was sorgst dich pötzlich um Menschenpack?“
„Schon gut, Klapaida, schon gut. Der Jerzy hat Knappknapp, das einzige Junge von Großaug, im Wald gefunden, lag da mit gebrochener Schwinge. Hat den Flügel geschient, die Schwinge verheilte, und Knappknapp sitzt wieder bei meiner süßen Großaug.“
„Nicht zu glauben, Rumpel, darf ich wissen, warum du Knappknapp nicht selbst gefunden und geheilt hast? War dir doch klar, was geschehen?“
„Großaug, Klapaida, hat keinen Schimmer, dass ich weiß. Großaug....“
„Hihihi lass mich weiter machen, Großaug ahnt nicht, was du bist. Nein, ahnt es schon, will es nicht wahrhaben! Hihihi, da machst du mir Vorschriften meiner Menschenverstrickungen wegen, kannst nicht einmal deine Uhufrau in Schach halten!“
„Herrin, wie geht es weiter?“
„Wie weiter, Rumpel?“
„Na, da unter uns!“
„Siehst du doch, wird gevögelt, dass die Haare fliegen.“
„Sicher, Klapaida, aber du wolltest doch, du und Mascha?“
„Wer sagt dir denn, Tor, dass ich nicht? Warum sitz ich hier?“
„Versteh, Klapaida, mach mich weg.“
„Gut so, streich ab!“
Klapaida spreizte die vom Stamm nicht eingeengte Schwinge, harkte mit den nadelspitzen Krallen des Fangs die Schwungfedern, plusterte sich auf, schüttelte sich, war verschwunden.
Gestaltlos lagerte sie auf dem Katenboden, von weichen Fellen umschmeichelt. Hochbeglückt sah sie Nora und Bernd sich lieben, lächelte in freudiger Erwartung, als sie Bernd sein Werkzeug, zwischen den weit gespreizten Beinen seiner Frau, in Stellung bringen sah. Verweile Augenblick, der Anfang der Goethezeilen inspirierte sie, und augenblicklich versteinerte das Bild der Liebenden zu marmorner Schönheit.
Sie erhob sich in Maschas Gestalt, betastete die Skulptur, vermaß des Mannes Geschlecht, nahm es in beide Hände, holte es zurück ins Leben, beleckte es, schob ihre Lippen über den prallen blau schimmernden Kopf, drückte, saugte und nahm den heißen Erguss gierig schluckend in sich auf.
Leckte sich, befühlte Nora, fuhr den Finger durch ihre Furche, nahm der Kräuterfrau Gestalt an. Bernd, der sie hinderte, nahe an das Mädchen heranzukommen, stieß sie weg. Krachend landete die Skulptur auf dem Boden, lag da in Erlesenheit erstarrt. Noch einmal strich sie leichthin über Noras Möse. Unter ihren Händen blühte aus dem kalten Marmor krauses, dunkles Haar, formte ein Dreieck, kroch auf die großen Lippen, wurde schwarzes Gekräusel.
Klapaida kniete nieder, ihr Mund saugte das zartes Fleisch in sich hinein, ihr schwarzer Rock verging, verschwunden Mieder und Kopftuch. Bernd war es, der seine Frau vor dem endgültigen Stoß noch einmal auf den Gipfel der Lust entführen sollte. Langsam wurden Noras Beine lebendig, ihr Po, Bauch, die Brüste färbten sich rosig. Ihre Beine umschlangen die Berndgestalt, sie wand sich unter den Liebkosungen seiner Zunge, fühlte wie ihr Kätzchen wuchs, sich in einen triefend feuchten Schwamm verwandelte, unter der emsig tupfenden Zunge, zu einem zuckenden Stück Fleisch explodierte.
All dies ohne Seufzer, Stöhnen, Lustschrei. Klapaida hatte Noras Kopf marmorn belassen. Keine bewußte Erinnerung sollte die Kleine beschweren, wenn ihr jetzt geschah, was nur sie, Klapaida, zu bieten imstande war. Sicher würde die unbewußte Erinnerung, sie für lange Jahre zu einer willigen, süchtig begehrenden Partnerin der Lust machen.
Hab gelernt bei den Böcken und Ricken, kicherte sie. Hab erlebt, wie die Tierchen ausschlugen, fühlten sie meinen dreifachen, vielgelenkigen Stösser. Wirst es jetzt erfahren, kleine Nora. Mach nach dem Stoss dein Jungfernhäutchen wieder heil, soll dem Bernd gehören, die Erinnerung. Sie brachte sich in Stellung, stieß zu und blieb ganz still. Kein vor und zurück, nur ganz dicht hielt sie Bernds Arsch an der zuckenden, bald um sich tretenden Nora. Es war so, als ob Haut, Haar, Arme, Beine und Bauch, ein jedes für sich allein sein wollte. In bebender Raserei verwandelte sich der Bauch zu einer hochgesteilten, wandernden Welle. Angesteckt davon begannen die Muskeln an Arm und Bein strudelnde Drehungen. Ihre Brüste, die Knöspchen, blähten sich, wuchsen, fielen zusammen und ragten bald wieder auf zu steilen harten kleinen Hügeln. Schrecklich ruhig lag ihr Kopf. Kein Atemzug bewegte den steinernen Mund.
Nur ihr Körper nahm Teil an dem rasenden Reigen.
So Bernd, ein leises Bedauern färbte Klapaidas Stimme. So Bernd, flüsterte sie, jetzt kriegst dein Füllen zurück, mach dir und ihr Freud, ab und an schau ich mal vorbei, und weg war sie.
Als ob nie eine Unterbrechung gewesen, als ob das eben Geschehene nie stattgefunden, war das Paar wieder Fleisch und Blut, lag Nora bereit, ihrem Mann Einlass zu gewähren, ihn einfahren, sich auf den, wie sie glaubte, noch nie erfahrenen Gipfel der Lust treiben zu lassen.
Bernd schob sich hinein in ihre Grotte, fühlte die angstfreie Erwartung seiner Frau, stieß zu, ein kleiner Widerstand schnell überwunden, machte die Bahn frei, beide verschmolzen zu einer Haut, pressten sich aneinander im Rhythmus der Lust, des fiebrigen Rein und Raus, höher steigen, fliegen, atemlos frei werden, über sich selbst schweben, sich vergessen, zu keuchender unfassbar, seliger Lustmaschine werden.
Klapaida strich ab, war jetzt Greif. Drehte eine langsame Runde über den See, stieß einen miauenden Bussardschrei aus, und verschwand.
Im Erlengrund neben Rumpel am Tisch, feixte sie den vor Neugier hippeligen, kleinen Kerl an. „Was hast, Vogelvögler? Willst erzählt haben, was war? Weißt es doch. Ach, durch meinen Mund willst es erfahren, so ist das. Na war gut, geiler Bock! Saugut, und der Zeitriss ist geschlossen. Ratsch wie ein Reißverschluß, nur der tuts ohne Donner, Blitz und Geschichte. Was das ist, ein Reißverschluß? Uninteressant für dich, Menschenwerk stinkt, glaubst du doch. Doch der Rogar ists zufrieden, hat sich getrollt. Tolle Vorstellung, Klapaida, hat er in seinen Schweinsbart gegrummelt, tolle Vorstellung, nu lass gut sein.“
„Was heißt das, Klapaida? Nu lass gut sein, traust du dem Schwein?“
„Rumpel, sicher, so wie er mir. Will keine Fehde, Kampf. Sind versöhnt er und ich, kein ewiger Streit nach Menschenart.“
„Aha gibst es zu. Zänkisch und mörderisch sind sie, deine geliebten Wesen. Nanntest sie doch Wesen, oder irr ich?“
„Nein, irrst nicht, sind zänkisch wie du, Rumpel, will dich nicht mörderisch nennen.“
„Kannst du nicht, liebe Herrin. Noch nie, ich sag`s dreimal, nie, nie, nie, hat Rumpel Seinesgleichen getötet. Doch was wird jetzt aus deiner Bagage? Leben die weiter? Vergessen, sind ein Fleisch, leben getrennt? Oder wischst ein Paar weg von der Tafel? Trockener Lappen, Kreidestaub, nie was gewesen?“
„Rumpel, lass mich, bin müd. Hat Kraft gekostet der Feuerzauber. Halt mir alles und jedes vom Leib, bin bald zurück.“
2003
Als Bernd seine Nora am nächsten Morgen wecken wollte, fauchte sie wie eine Katze, wollte sich partout nicht aus dem Schlaf lösen.
„Hallo, Liebste!“ Sein Weckruf dicht an ihrem Ohr erntete Füßestrampeln.
„Willst weiter träumen?“ fragte er. Nora nickte, zog sich die Decke über den Kopf.
„Mir ist mulmig, Nora,“ sagte er halblaut, sie musste es hören, konnt sich auch taubstellen. „Ich spring ins Wasser, wird mich munter machen.“ Als er auf dem Steg stand, konnte er den Kontrast zwischen seinen gedämpften Gefühlen, und dem blitzblanken See; von einer warmen Sonne in helles Licht getaucht, gar nicht in Einklang bringen. Ihm war, als ob sein Schädel zentnerschwer, seine Arme und Beine mit Blei behangen. Unerklärlich war das, nach dem harmonischen, gestrigen Tag und dem herrlichen Abend.
Er stand auf dem Steg, beide Hände an die Schläfen gepreßt, versuchte einzufangen, was geschehen. Je schärfer er nachdachte, umso mehr brach seine Vorstellung von dem was gewesen, zusammen. Grübeln bringt nicht weiter, sah er ein und sprang mit gewaltigem Schwung, in den er seinen ganzen Frust packte, in den See.
Das Kalte sprang ihn an, wrang ihm den Atem aus der Brust. Kennen wir schon, hielt er dagegen und zog mit kräftigen Armschlägen, unterstützt von Fuß und Beinwirbel, zur Plattform hinüber.
Als er sich hochgezogen, die heißen Bretter unter sich fühlte, pumpte er erst eimal Luft in die Lungen, fühlte dann schnell die brennende Hitze, die das Holz gespeichert. War heiß wie auf dem Grill, er sprang zurück in den See, schaufelte mit kräftigen Armhüben Wasser über die Plattform. Als er sich wieder legte, war es erträglich, das Wasser verdampfte schnell, nahm die stechende Hitze mit in die Wolken.
Ist mir wohler? grübelte er. Ein wenig, aber wohl war ihm nicht.
Ausruhen und nochmal schwimmen, anstrengen und ausruhen, das zwei drei Mal, würde kurieren. Nachdem sein Atem sich beruhigt, das Herz normal schlug, ging es in die zweite Runde. Hin zur Kate, dort einen Blick durch die offene Tür, vom Wasser gut einzusehen, und zurück zur Plattform. Nora lag noch in den Federn, gut so, brauchte nicht seine Missstimmung teilen.
Er gründelte, suchte, nichts half. Er beruhigte sich, weder an ihm noch an Nora lag es. Blieb also nur die Begegnung mit dem alten Weib, ihrer Gabe, das Oktavheft mit Noras Bild und Schrift.
Siedendheiß fiel ihm ein, er hatte gestern in dem vermalmedeiten Heft gelesen, das Ding auf einen Stuhl gelegt und vergessen. Wie der Blitz war er im Wasser, schwamm so schnell er konnte zurück. Hoffentlich hat Nora es nicht gefunden, gelesen, und die Hexe hat sie in einen Traum geschickt, von dem sie sich nicht zu lösen vermochte.
Im Haus lag es nirgendwo. Aber Nora war wach, blinzelte ihn an, freute sich: „Bernd,“ sie dehnte sich, „schön dass du da bist. Mir ist nicht nach Kälte und Schwimmen. Wie spät ist es, Rogowski wird jeden Moment mit dem Frühstück kommen?“
Kaum ausgesprochen, ging die Bimmel. Bernd trat vor die Tür, rief Ahoi und das Frühstück war unterwegs.
„Wunderbar, Rogowski,“ empfing ihn Bernd. „Uns peinigt ein Bärenhunger, haben die Uhr rund geschlafen. Das ist die Erholung, hätte meine Mutter gesagt. Nach ein paar Tagen aufgekratzt sein, brauchen Körper und Geist Ruhe, die holen sie sich aus tiefem und langem Schlaf.“
„Tiefen und langen Schlaf, das kann ich nur bestätigen.“ Rogowski machte ein Schafsgesicht. „Habe gestern Abend die Bimmel abgerissen, aber Sie haben nichts gehört. Hatte schon angefangen mir Sorgen zu machen. Na, ist ja gut jetzt. Ich hoffe, Sie haben einen solch ordentlichen Hunger, wie Sie tiefen Schlaf hatten. Das Unwetter, das über uns hergefallen, haben Sie nicht bemerkt?“
„Unwetter?“ Bernd sah Nora an, „hast du was gehört?“ Nora schüttelte den Kopf. „Wenn ich ehrlich bin,“ fuhr Rogowski fort, „ich auch nicht allzuviel, obwohl ich vor dem Haus auf der Veranda schlief. Na, ich werde paar Bier mehr als ich sollte getrunken haben, das lässt tief schlafen und beruhigt ungemein.
Also dann will ich mal wieder, kann ich den Korb von vorgestern mitnehmen?“
„Aber sicher, Rogowski.“ Nora gab ihm den Korb und er verabschiedete sich. Während Rogowski erzählte, hatte Bernd sich noch einmal unauffällig überall umgeschaut, aber nirgendwo lag die Kladde. Nora deckte den Tisch, er hatte Gelegenheit die Schlafkammer zu inspizieren, ohne Erfolg, wie er schnell einsah. Konnte sein, die Alte hatte das Buch eskamotiert, den Unfug unterstellt, sie war eine Hexe? Gleichwohl, das verdammte Ding war verschwunden, Nora hat es nie gesehen, mehr braucht nicht.
Da rief sie schon: „Tisch gedeckt, komm schnell Liebster, ich vergehe vor Hunger.“
1818
Nora wurde geweckt von Tassen und Tellergeklingel. Langsam löste sie sich aus erquickendem seligem Schlaf. Vorsichtig linste sie über das Plümeau, es war Bernd der da fröhlich aber leise vor sich hinpfeifend, den Tisch deckte. Bernd, ihr Ehemann und Liebhaber der vergangenen Nacht. Voll Behagen streckte sie streckte Rücken, Arme, Schenkel und Bauch, fühlte ihre Muskeln schmerzhaft rebellieren.
Auah, stöhnte sie, rief ihren Bernd, fragte und bot ihm gleichzeitig ihre Lippen: „Was hast du mit mir gemacht? Fühle mich, als hätte ich Tag und Nacht im Sattel verbracht!“
„Was zuerst, Liebste, Kuss oder Erklärung?“ fragte er, nahm sie in den Arm, wartete nicht auf Antwort, ihre Lippen verschmolzen, er griff unter das Oberbett, fühlte seine nackte Nora, schlüpfte hinein zu ihr, nuschelte zwischen Atem und Kuss: „Warum erklären, ich zeig dir, was war.“
„Ja, ja zeigs mir.“ Nora umschlang ihn mit Armen und Beinen, fühlte wieder das große Harte an ihre Lippen stoßen, spreizte sich, drängte entgegen, fühlte den sehnenden Sog ihrer Höhle, konnte es kaum erwarten. Dann drang er ein, füllte sie aus, entfaltete ihr Inneres, spannte sie, stieß an, begann den Tanz des Rein und Raus und sie tanzte mit. Kam ihm entgegen auf seiner Fahrt nach innen. Zog zurück, war er nach draußen unterwegs. Der Tanz wurde schneller, rasender. Sein Kolben wuchs, wurde dicker, berührte etwas in ihr. Klopfte an, öffnete, was es noch nie gegeben, brach ein in Kammern, entdeckte. Mit jeder Entdeckung schwoll ihr Begehren, ihre Lust auf mehr, tiefer, dicker, länger, sie ritt auf einer Welle, sah den Himmel, einen Stern, nein die Sonne, Sonnen, die in unzählige rote, grüne, silberne, blaue, violette, goldene Kugeln zerbarsten.
Als sie wieder zu Atem gekommen, ihre schweißglatten Körper aneinander rieben, brauchte es keine Erklärung. „Geht das nun immer und immer so weiter?“ wollte sie wissen. „Kann das sein? Nächte, Wochen, Monate, Jahre? Nein Liebster, schweig,“ sie legte eine Hand auf seinen Mund. „Warum auf dumme Fragen klug antworten. Wir sprachen schon darüber, als wie uns vor Libeskinds Haus erstmals küssten.
Es ist so unsagbar schön, neu auf die Welt zu kommen. All die Jahre, die ich Nora war, lernte, mich freute, ängstigte. Mein Frauwerden erlebte, fühlte, da war etwas nicht komplett, es gab einen Mangel. Doch wie sollte ich ahnen, was mir begegnen, mich herausreißen würde aus meiner Haut, mich blitzgleich in den Himmel schießen, mit dem glücklichen Wahnsinn mich vermählen würde.“
„Schön beschreibst du das, Liebste. Anfügen möchte ich, nicht jede erlebt es wie du. Für manche ist es nicht Sensation, eher Last. Drum schweig, vertrau es keinem an, wie du erlebst. Lass es unser Geheimnis sein. Lass nur uns um den Schlüssel zu den geheimen Grotten wissen. Lass uns nie vergessen, ihn zu benützen, die Wollust immer unser Fest sein.“
Auf Steinfeld war es ruhig geworden, die Hochzeitsgäste aufgebrochen, Mascha, nach langen Tagen endlich wieder Herrin ihrer Zeit. Auch Claus atmete auf. „Ist von anderer Qualität, eine Tochter zu verheiraten, als das Ausrichten eines Balls, verbunden mit einer Jagd. Geht tiefer, lassen dich nicht los, die Gedanken an das Kind,“ erklärte er sich seiner Frau, um fortzufahren: „Mascha, ich habe einen Wunsch. Möchte ein wenig Abstand gewinnen, könnte mich bei Fedja zur Jagd einladen. Wäre in vierzehn Tagen zurück.“
„Lieber Mann, lachte die, gern kannst du das tun. Nur erkläre mir, warum du dich bei Fedja einlädst, wo der dich doch sicher schon eingeladen hat?“
„Pardon, Mascha!“ Claus haschte nach ihrer Hand, küsste sie. „Entschuldige meine Eselei, natürlich bin ich mit Fedja verabredet.“
„Darf ich weiterfragen, Claus?“
„Sicher, frag nur.“
„Eingeladen nur zur Jagd, oder geht es weiter nach Warschau? Ich frage, weil vierzehn Tage, solltet ihr wirklich nach Warschau wollen, nicht ausreichen. Andererseits habe ich einen Wunsch. Ich habe eine Adresse von Moses, besser eine Empfehlung für eine erste Adresse, einen jüdischen Pelzhändler in Warschau. Dieser Herr, versichert mir Moses, ist der Zobelkönig des Ostens. Bei ihm gibt es die feinsten Felle, und größte Auswahl. Mein Wunsch: Einen schwarzen Mantel bis auf die Füß, von dem feinen Rauchwerk. Moses Empfehlung wird den Preis erträglich machen.“
„Ei Mascha, das erste Mal in all den Jahren unserer Ehe, dass dir der Sinn nach Luxus steht, gibt es einen Grund?“
„Ja, den gibt es, lieber Claus. Diesen Winter bin ich mit Lara Libeskind verabredet, einen Teil der Theatersaison in Königsberg zu verleben. Wir werden vier Wochen bleiben, Moses besitzt dort eine Wohnung. Wir werden ins Theater gehen, am kulturellen Leben der Stadt teilnehmen. Meine Garderobe reicht dafür aus, nur brauche ich Warmes, um den kalten Wind, der vom Meer herüberpfeift abzuhalten. Da kommt mir deine Jagdreise nach Warschau gelegen, fühle mich jetzt schon geborgen, denke ich an die feinen, dichten Felle.“
„Wunderbar, Mascha, gestatte mir aber bitte zu fragen: Wisst ihr, was euch erwartet? Von dir weiß ich, du kannst es nicht wissen. Hätte fragen sollen, hat Lara eine Ahnung?“
„Ja Claus, Lara hat. Sie korrespondiert seit Jahren mit den Damen und Herren, die in Berlin, aber vor allem in Dresden, tonangebend in den schöngeistigen Salons sind. Durch meine Violinstunden bei Moses, bin ich ihr näher gekommen. Sie hat mich an ihrer Korrespondenz teilnehmen lassen, mir das, was im Augenblick zur Diskussion steht oder aufgeführt wird, erklärt und mich interessiert. So habe ich einen Überblick, der Aufenthalt in Königsberg soll meine Kenntnisse vertiefen.“
„Potztausend Mascha, die Jidden! Die Frau vom Viehjud korrespondiert mit den Schöngeistern der Metropolen! Ich sag das nicht abschätzig, nein hochachtungsvoll. Moses hat mich aufgeklärt, über den Scharfsinn von Seinesgleichen und dessen Quelle. Wäre für uns Gojim ein Lehrstück, doch steht uns dogmatischer Hochmut im Wege.“
„Ich weiß, Claus. Lara hockt mit Moses abendelang klärend, wie sie das nennt, haarspaltend über dem Pentateuch. Ist kurzweilig, hat sie mich belehrt, hält den Verstand frisch.“
„O Mascha, da können wir nicht mit. Unser Neues Testament schreibt eindeutig fest, was wir zu glauben haben. Sollte einer wagen, daran herumzudeuteln, der Zorn Gottes und aller schwarzen, klerikalen Bratenröcke käm über ihn.“
„Mag gar nicht daran denken.“ Mascha lachte aus vollem Halse. „Wie dämlich hat der Neumann sich wegen Klapaida angestellt. Nur Bernds nicht zu beugender Wille, verbunden mit der Drohung, die Trauung fände, sollte er nicht beidrehen in Palmicken statt, hat ihn kirre gemacht.
An sich tuen wir uns keinen Gefallen, den schwarzen Vögeln soviel durchgehen zu lassen. Schließlich überlassen wir ihnen die unschuldigen Seelen unserer Kinder, bei der Vorbereitung zur Konfirmation. Bei Nora, die früh helle war, habe ich mir das geleistet. Ob ich bei Griseldis und den Jungens, die leichter zu beeindrucken sind, noch einmal so verfahre, ist mir noch nicht klar. Schließlich sind es doch Kübel von Unsinn, die über die jungen Gemüter ausgeschüttet werden. Was geschieht einem kindlichen Geist, dem eingebläut wird, dass die höchste Instanz, Gott, Blödsinn verzapft?“
„Liebe, liebe Frau. Da geht wieder dein katholisch-liberaler Geist mit dir durch. Kannst nicht verwinden, dass die Kinder reformiert erzogen werden? Wir waren uns doch einig, reformiert aus Staatsräson. Hätte den Grafen Kelm schlecht angestanden, katholisch im reformierten Preußen zu sein. Halt! Ich kenne deinen Einwand: Des Alten Fritz Maxime, in seinem Staat könne jeder nach seiner Facon selig werden. Pflichte dir und ihm bei, aber er lebt nicht mehr. Bitte, das Fass machen wir nicht auf. Wir waren uns doch einig, Katholen und Reformierte, beide äußerst dubios.“
„Lassen wir es dabei bewenden, Claus. Geht zwar am Thema vorbei, muss ich dir nicht erklären. Ist eben deine Methode, dir die Metaphysik vom Leibe zu halten.“
Nach drei Tagen kamen die Brautleute aus den Flitterwochen zu Besuch. Jerzy der Fourage gebracht hatte, hockte mit saurer Miene im Fond des leichten Einspänners, Nora und Bernd auf dem Bock kutschierten.
„Ihr kommt schon zurück? Flitterwochen perdu?“ staunte Mascha.
„Aber, nein Mama!“ Noras Augen blitzten vor Übermut und Freude. „Perdu! Wo denkst du hin. Wir brauchen was kleines Fahrbares, zusammen mit einem genügsamen Zugtier. Ich denke an das Pony und den kleinen Wagen. Die Jungs werden uns den sicher für kurze Zeit leihen. Dann sind wir nicht nur auf den Kahn und Schusters Rappen angewiesen. Das Mäxchen ist genügsam, findet genug zu fressen am Seeufer und im Wald.“
„Sicher leihen die euch das Mäxchen, aber kommt erst mal rein, wir wollten gerade unseren Tee nehmen.“
„Mama! Was erzählst du? Kaum verheiratet und schon wird erklärt, was einem seit Kindsbeinen Routine ist. Die Kelms nehmen um vier ihren Tee.“
„Nora, Nora, ich merke schon, dir geht es wieder zu gut. Wirst du ihrer Herr, Bernd?“
„Ach Mascha, uns geht es so gut, am liebsten schnappte ich dich, und wirbelte mit dir durch den Salon. Immer rund und rund, bis uns kein Atem mehr blieb, vor Dankbarkeit und Freude, weil du mir solch ein Juwel von Tochter geboren und großgezogen hast.“
„Und ich, Bernd, moserte Claus, mein Anteil? Wenn auch zugegeben gering, im Vergleich zu Mascha‘s.“
„Claus, ist mir nur zu geläufig, werde in Zukunft selbst nicht mehr als Vater sein können. Nur sollen wir uns das verdrießen lassen? Ich für meinen Teil, nehme mir vor ein stolzer Vater zu sein.“
„Genug des Geplänkels,“ unterbrach Mascha, „kommt, der Tee wird kalt.“
Nicht lange danach waren Nora und Bernd unterwegs mit ihrer Kinderkutsche; gezogen von Mäxchen, der sich trotz seiner kleinen Schritte ordentlich Mühe gab ein Pferd zu sein.
2003
Rogowski hatte am Morgen ein Telegrammbote eine Depesche für Frau Nora von Kelm überbracht.
„Ich muss sofort hin,“ sagte er zu seiner Frau. Die protestierte, „aber nicht ohne Frühstück! Möchte was Dringliches drinstehen in der Depesche. Angenommen, die beiden reisen ungefrühstückt ab, wer zahlt mich dann?“
„Herrje Frau, du alte Pfennigfuchse,“ schimpfte Rogowski, aber stimmt, komm, richte rasch den Korb, müssen was im Leib haben, sollt unwillkommene Nachricht depeschiert worden sein.“
Zu ungewöhnlich früher Zeit stand Rogowski an der Bimmel, ließ nicht nach mit Radaumachen.
Endlich fuhr Bernd wutschnaubend in seine Hosen und brüllte zu ihm rüber: „Bist verrückt geworden, wir schlafen noch!“
Nutzte nichts, von der Bimmel tönte es zurück: „Depesche für die Komtess, aus Deutschland!“
Bernd fragte zur Schlafstube hinein, „Nora, eine Depesche für dich?“
Nora gähnte. „Für mich? Wer sollte? Lass den Rogowski kommen, hört sich nicht gut an.“
Bernd winkte und schrie: „Komm!“
Er machte die Tür zur Schlafstube zu, zog sich ein Shirt über, da stand der Rogowski schon vor der Tür.
„Hab Frühstück mitgebracht,“ entschuldigte er sich, „möchte was Unangenehmes vorgekommen sein, sie müssen zurück, besser nicht mit leerem Magen.“
Bernd nahm das Telegramm, bedeutete Rogowski, sich zu setzen und verschwand zu Nora.
„Soll ich aufmachen,“ fragte er?
Nora nickte, er brach den Umschlag mit dem Finger auf, las die Nachricht vor:
„Liebe Nora, dein Vater gestern von einem Auto angefahren worden. Liegt im Krankenhaus in Kiel. Es besteht Lebensgefahr. Der leitende Arzt dort ist unter 0170 4578397 zu erreichen. Franz.“
„O Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Nora sprang aus dem Bett, kramte ihr Handy aus dem Koffer und wählte.
Der Ruf ging durch, kein Funkloch, kaum zu glauben, wunderte sich Bernd.
Nora verlangte den Arzt, wartete. Als der sich meldete erklärte sie, sie sei die Tochter des Herrn von Kelm, sie übergäbe das Gespräch an ihren Partner, der Chirurg sei.
Bernd übernahm, stellte sich vor, ließ sich erklären, fragte einige Male nach. Der Arzt in Kiel erkannte an den Fragen, er sprach mit einem Kollegen, gab erschöpfend Auskunft. Bernd bat ihn, bei Änderung des Zustandes des Verletzten anzurufen.
Während des Gesprächs, hatte Nora die Bettdecke über den Kopf gezogen und gewartet. Bernd legte das Handy weg, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: „Bin gleich zurück, schicke den Rogowski weg.“
Draußen erklärte er dem ihn voll neugieriger Erwartung entgegensehenden Mann, was er eben gehört hatte.
„Komtess Noras Vater ist schwer verunglückt, er wird, so sieht es aus, seinen Verletzungen erliegen. Auf jeden Fall müssen wir sofort zurück. Erledigen Sie das für uns, Rogowski?“
„Selbstverständlich, Herr Doktor. Ich würde sagen, so aus dem Stand, morgen früh um acht mit der Maschine von Lyck nach Warschau, von da fliegt jede Stunde eine nach Köln oder Düsseldorf. Ich erledige das. Müsst nur noch einsteigen, abfliegen und bitte nächstes oder übernächstes Jahr wiederkommen, möchte ich mir wünschen.“ Damit stand er auf, schlug die Haken zusammen brummte, Scheiße, Scheiße verdammte, und ging.
Nora war ein wenig bleich um die Nase, als Bernd sich zu ihr aufs Bett setzte. „Nörchen,“ begann er, „eine schlechte Nachricht. Wir müssen abbrechen, zurück nach Deutschland.“
„Ist es so schlimm?“sie sah ihn mit erschreckten Augen an.
„Schlimm genug, wenn nicht noch schlimmer.“
„O Gott!“ Nora zog sich wieder die Decke über den Kopf. Bernd hörte sie weinen, sah ihre Schultern zucken.
Er suchte ihre Hand, drückte sie fest und wartete. Es dauerte, aber irgendwann hatte sie sich gefasst.
„Bernd,“ sie sah ihn an, und ihre Stimme schwankte. „Noch schlimmer bedeutet, er stirbt?“
„Nora, ich kann nur weitergeben, was ich gehört habe. Ärzte eiern in solchen Situationen gern. Nach den Informationen, die Dr. Weber mir gab, besteht kaum Hoffnung. Er hat, bevor er behandelt werden konnte, fast sein ganzes Blut verloren. Abgesehen von seinen Verletzungen, genügt das allein für eine schlechte Prognose.“
„Viel Tod in letzter Zeit,“ schniefte Nora. „Der Onkel, jetzt vielleicht der Vater. Dagegen aufzurechnen das Glück, das Glück mit dir. Doch sind das zwei Ebenen, erkenne ich. Das Glück, das mich zeitgleich mit Adams Tod überraschte, hat den Schock abgefedert. Jetzt trifft es mich anders. Bin schon Teil von dem Glück mit dir. Ist schon Alltag, das Glück. Versteh mich, nicht die berauschende, unersättliche Sehnsucht, die ist nicht, kann nie Alltag sein. Nein, ich meine meinen Anspruch, erkenne, da nistet sich eine Glücksgewissheit ein, ein Gewächs, das ich so nicht mag. Lieber Papa, solltest du wirklich tot sein, wäre deine letzte Botschaft Ermahnung? Ich danke dir dafür, weiß ich doch, wie sorgfältig du die Gefühle derer, die dir nahe standen, gepflegt hast. Ich weiß noch genau wie du...“
Die letzten Worte gingen in Schluchzen und Tränen unter. Bernd nahm sie fest in den Arm, legte sich zu ihr, streichelte, tröstete, drückte. Trocknete ihre Tränen, half ihr die total zugeweinte Nase auszupusten, wärmte sie, bis sie endlich erschöpft einschlief.
Gegen Mittag weckte er sie vorsichtig. Vor dem Bett hatte er alles Leckere aus dem Frühstückskorb aufgebaut. „So Mädchen,“ mahnte er, „gegessen muss werden. Ich habe schon mit Packen begonnen, also mein Zeug. Dir habe ich Jeans, den blauen Pullover, die bequemen Mephistos bereitgestellt. Lässt du mich, erledige ich die gesamte Packerei.“
„Bernd, danke schön, lass mich dich drücken, aber ich mach das. An sich gehöre ich nicht zur Fraktion der Heulsusen. Kam etwas plötzlich, kann es noch nicht glauben. Hoffe vorerst, wird sich zum Guten wenden. Das hilft mir, trauern kann ich noch, sollte aus Befürchtung Tatsache geworden sein.“
„Schön Nora, ist ein Standpunkt. Es stimmt, du kannst es nicht ändern. Ich als Arzt kann dich unterstützen, habe schon unglaubliche Dinge erlebt. Patienten, die für tot vom Operationstisch getragen wurden, haben nach vier Wochen auf eigenen Beinen das Hospital verlassen. Nicht nur einmal, das kommt öfter vor. Manche Menschen mobilisieren eine ungeheure Energie, geht es darum, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Haben nichts mit Medizin zu tun, solche Ereignisse. Das ist pure Natur, die sich wehrt, die Mittel findet, sich zu wehren.“
„Danke Liebster, für den Trost. Vielleicht ist Papa in der Lage sich durchzubeißen. Ich hoffe es einfach.
Lass das, mit der Packerei. Ich mache das, lenkt mich ab. Du geh zum Rogowski abrechnen. Bring uns bitte eine Flasche von seinem Selbstgebrannten mit, heute brauch ich den, werde mir tüchtig die Nase begießen.“
Bernd zog los. Schlenderte am Seeufer vorbei, genoss den herben Duft der Luft. Könnte hier leben, ging es ihm durch den Sinn, nur wovon? Das ganze Jahr Fische fressen ging nicht, müsste was anderes touristisches dazukommen. Ging nicht, schnell würde Rogowski in mir den Konkurrenten sehen, da gäbe es nichts mehr zu lachen. War nur ein Gedanke. Später, wenn Polen in der EU angekommen ist, könnte man was kaufen, als Rentner den Sommer hier verbringen.
Er wischte die Spekulationen beiseite. Quatsch mit Soße, läuft noch viel Wasser den Rhein runter, bis wir pensioniert sind. Wir? Hab wir gedacht. Hab Nora mit einbezogen in den alten Tag. Sieht so aus, als ob ich mit ihr zusammenbleiben will. Jedenfalls mein Unbewußtes scheint so zu denken. Was könnte mir Besseres geschehen, als mit diesem wunderbaren Mädchen mein Leben zu verbringen. Bin zwar vierzehn Jahre älter, ist aber noch im Limit. Er blieb stehen, hoch über seinem Kopf hatte er einen Fischadler entdeckt, der gleich zum Sturzflug ansetzen würde, um Beute zu machen.
Da ging es los, mit der Sonne im Rücken stieß der große Vogel auf den See hinunter, fing unmittelbar über der Oberfläche den rasenden Sturz mit weit gespreizten Schwingen ab, gleichzeitig stießen seine Fänge ins Wasser und zogen einen großen Fisch heraus. Die von der Bremsung gestaute Luft unter den Fittichen gab ihm genügend Auftrieb, sich mit kräftigen Flügelschlägen vom Wasser zu lösen, mit seiner Beute Höhe zu gewinnen.
Nora war schnell fertig. Mit wenigen Handgriffen hatte sie ihre Sachen sortiert und in den Koffer gelegt, Bernds sparsame Garderobe verstaut. Fertig, dachte sie, fertig. Sofort waren ihre Gedanken wieder in Kiel, alles was Bernd gesagt hatte, war Tröstung. Kein Arzt spricht vom Unvermeidlichen, wenn es nicht ins Haus steht. So wie die Dinge liegen, ist Papa tot, bis ich in Kiel ankomme.
Sie warf sich aufs Bett. Nur nicht weinen jetzt, versuchte sie sich in den Griff zu bekommen. Für mich lebt er noch, noch ist nicht Gewissheit, was ich fürchte. Bin allein, wenn er stirbt. Erst Adam, jetzt Papa. Es ist furchtbar. Endlich begegne ich dem Glück, der Liebe und kaum zu glaubender Faszination; dem überschwänglichen Akkord von Körper und Geist, dann das!
Der Tod. Adam war er ein milder Fährmann, holte ihn hinüber zu sich, ohne ihn zu wecken, der Lohn für ein Leben, wie er es gelebt? Blume oder Baum wird er nicht werden können, aber als Mineral Nahrung, Lebensstütze, Farbe? Was macht die Blumen in den Farben des Spektrums leuchten? Ich werde es nachlesen, Adam hätte es sicher gewusst. Nur Mineral, Asche, sind nicht Adam. Genau so könnte jemand an Gott, und die ewige Seligkeit an seiner Seite, nach dem Jüngsten Tag glauben.
Tot ist tot. Wir sind schon im Himmel. Wollen es nicht wahrhaben in unsere Unersättlichkeit, unserer Gier nach mehr und Besserem. Sternstaub nach Milliarden Jahren, in uns Bewusstsein geworden. Sich selbst betrachtende Materie, ist da nicht Gott gleich um die Ecke? Mehr braucht nicht zu sein. So gesehen, lieber Papa und lieber Adam, lieber Bernd und liebe Lulu und mich selbst nicht zu vergessen, sind und waren wir für den Bruchteil einer Nanosekunde Gott. Das ist das Geheimnis. Sollte es ein Wesen über uns geben, lässt es uns dieses Fünkchen Zeit zur Selbstbetrachtung. Was soll es schon bedeuten im Meer der Zeit, ein Zeitpartikelchen erlebt sich, auf einem Staubkorn in den Weiten des Alls.
Stimmt alles, nur was nutzt es. Hilft mir nicht, meine Trauer zu tragen. Sicher auch nicht, wenn ich einmal vom Leben Abschied nehmen muss. Eben deshalb hat der Mensch die abstrusen Religionen erfunden, kann schlecht leben und sterben mit dem Gedanken, nicht mehr zu sein.
Wie wird es weitergehen mit Bernd? Was bin ich für ihn, er für mich? Sein Vorsprung an Lebenserfahrung, den ich erkenne , sobald wir uns unterhalten. Kann ich das aushalten, werde ich mit der Zeit gleichziehen? Würde das ein Hase- und Igelrennen, könnte ich mich schwertun. Andererseits, warum nicht andere Kompetenzen erlangen. Die vierzehn Jahre, die er mehr gelebt hat, wird er mir stets voraushaben. Kann schlecht erwarten, er bliebe stehen. Wäre nicht mein Liebster. Musst reinhauen Nora, hätte Papa gesagt. Hätte, sehe ich ihn schon vergangen? Reiß dich zusammen, hör ich ihn sagen. Seh ihn vor dem Bett stehen, nach meinem schlimmen Sturz vom Pferd, reiß dich zusammen, sagt er auch jetzt. Also weg mit den Tränen. Keine Weinerlichkeit zulassen, nach Morgen schauen.
Rogowski komplimentierte den Herrn Doktor in seine gute Stube, rückte ihm den Sessel zurecht, bat Platz zu nehmen. „Ist traurig, das mit dem Vater von der Komtess, aber auch für mich, weil Sie schon gehen. Habe mir, als das Gewitter so über alle Maßen tobte, schon große Sorgen um Sie gemacht. Ich sehe Sie staunen, Sie sagten es schon, haben nichts mitbekommen von dem Spektakel.“
Bernd schüttelte den Kopf, „nein, nichts gehört, haben geschlafen wie die Bären in der Winterhöhle.“
„Ja, ist man gut,“ Rogowski schaute ein wenig ungläubig. Sollten die wirklich das alles verpennt haben? Mit gleichem Atem fragten er sich, was alles, Alter? Was sollen die verpennt haben? Nimmst deinen Traum für bare Wirklichkeit! Suchst nach Zeugen. Sollte es so gewesen sein, wie du vermutest, wie konntest du morgens im Stuhl aufwachen, trocken am Leib, wie von der Wäscheleine? Machst dir was vor. Wie hatte Sofia geschimpft? Hexenpastor hatte sie ihn genannt. Werd es gut sein lassen, doch wohl ist mir nicht.
„Pan Rogowski,“ unterbrach Bernd seine Gedanken, „ich will bezahlen und noch eine Flasche vom Selbstgebrannten, mit nach Haus nehmen. Nicht ganz die Hälfte wird wohl heute Abend draufgehen, den Rest trinken wir in Deutschland und denken an Sie.“
„Nein, Herr Doktor, so nicht. Also, die Flasche, die Sie mitnehmen, die kommt auf die Rechnung. Die halbe zur Tröstung gedachte, die spendiere ich.“
„Danke, mein Bester, werden einige Toasts auf Sie ausbringen. Was das Wiederkommen angeht, nur zu gern. War eine herrliche Zeit bei Ihnen. Das Wasser, der Wald, die Ruhe, das Essen.“
„Darf ich Herrn Doktor an die Liebe erinnern,“ Rogowski blinzelte Bernd, zwischen Vertraulichkeit und Respekt, schwankend an. „Die Liebe, Herr Doktor, sagt man in Deutschland wie in Polen, ist bei allem das Salz in der Suppe. Währt leider nicht ewig, muss sich der Mensch sputen, solange sie währt, genug heiße Asche zu sammeln, dass er sich den Rest seiner Tage daran wärmen kann.“
„Magst Recht haben, Rogowski, dagegen ist zu halten, alles zu seiner Zeit. Ich darf die Komtess nicht warten lassen, mach die Rechnung fertig.“
„Bitte schön, Herr Doktor.“
„Am liebsten bar, denke ich mir?“
„Danke für den Durchblick, ja bar wär gut.“
„So, hier die zwei Scheine, der Rest für die persönliche Fürsorge, die uns wohlgetan hat.“
„Danke Herr Doktor, richten sie bitte der Komteß unser herzliches Mitgefühl aus. Sagt man so?“
„Habe schon verstanden. Auch Ihren Damen unseren Dank.“
„Geht in Ordnung, also bis morgen. Um sechs Uhr häng ich an der Bimmel!“
„Alles klar, also bis dann.“
Gibt nichts zu berichten vom Rückflug. Lief wie am Schnürchen, um 15 Uhr landeten sie in Düsseldorf.
Klapaida
„Hast den Vater von der Nora umgebracht, willst sie vom Halse haben, Klapaida?“
„Ach Rumpel, du mit deiner ewigen zwei und zwei Zusammenzählerei! Meinst, ich müsst ihn eigens vor ein Auto stossen, ihn umzubringen? Kenn ihn nicht, hat mir nichts getan, warum ihn leiden lassen, zudem, er starb vor fünfundzwanzig Jahren. Hat sich schwer getan beim Sterben. Versteh die Ärzte nicht, lag doch auf der Hand, der würd nicht mehr aufstehen! Warum um alles in der Welt beatmen die Moribunde?“
„Mori was, Klapaida?“
„Moribunde sind dem Tod geweihte, Rumpel. Solche wo feststeht, nichts geht mehr.“
„Ach ja, versteh schon. Du hast also nicht nachgeholfen, sagst du?“
„Hör mal du, willst mich wütend sehen?“
„Nein, nein, bloß nicht. Dacht nur, weil es dir so gut in den Kram paßt, die plötzliche Abreise. Hätt sein können, nicht du hast geschubst, jemand anderer hat. Du hast es nicht getan, nicht gewollt, war nur ein kurzer winziger Abwäg und Wunschgedanke in dir, sofort verworfen, doch leider zu spät?“
„Rumpel, findest du, es geht uns nicht mehr gut, hier im Erlengrund?“
„Nein, finde ich nicht, was soll die Frage?“
„Versteh ich richtig, du meinst es ginge uns gut?“
„Ja doch, Klapaida, es geht uns gut! Hör auf zu fragen, und droh mir bitte nicht hinterhältig. Ich frag dich was unter vier Augen, und du benimmst dich, als ob wer weiß was wär!“
„Rumpel, es lag kein Grund vor, Noras Vater sterben zu lassen. Um sie hier wegzubringen gab es leichtere Wege. Du kennst meinen Akkord mit Rogar, der Fall ist gegessen.“
„O Herrin, ich meint doch nur, weil du beide Paare am See hattest. Vier Leute zur gleichen Zeit, beinah hätte ich Zeitriss gesagt. Normal ist das nicht? Was ist, der Rogar kommt dir auf die Schliche?“
„Zerbrichst dir wieder einmal meinen Kopf, Rumpel? Rogar gab mir Frist, das in Ordnung zu bringen. Heute ist ein Paar abgereist, mit ihm seine Zeit, zufrieden? Noras Vater ist gestorben, jedoch lange vor ihrer Geburt.“
„Ja, nur wie hast du die plötzliche Abreise veranlasst, Klapaida?“
„Habe ich nicht veranlasst, wollte veranlassen, als der Zufall zur Hilfe kam.“
„Herr Zufall? Aha kapiert. Keine weiteren Fragen, Herrin.“
1818
Bernd schirrte das Mäxchen am Ufer aus, gab ihm einen Klapps. Geh und friss, ermunterte er das kleine Pferdchen, wir rufen, sobald wir dich brauchen. Dann besann er sich, warte sagte er, nahm es beim Halfter und führte es zur Höhle unter der mächtigen Eiche. Das Blätterdach war so dicht gewachsen, dass weder Regen noch Wind es durchdrangen, selbst das Sonnenlicht wurde zu dämmrigem Schimmer. In einer Bucht lag ein Laubhaufen trocken und weich. Das Mäxchen steckte die Nüstern rein und schnaubte. Gut? fragte Bernd, und ehe er es sich versah, hatte Mäxchen es sich bequem gemacht.
„Ist er einverstanden,“ fragte Nora, als er die Arme ausstreckte, sie vom Wagen zu heben. „Es scheint so,“ lachte Bernd, wobei er seine Frau wie ein Karussel im Kreis herum schleuderte.
„Genug, genug“ kreischte Nora. „Ich will runter, mir wird schwindelig.“ „Ach Kleines,“ Bernd stellte sie zurück auf den Boden, stützte sie ein wenig, denn sie schwankte tatsächlich. „Kleines,“ wiederholte er, „mit dir zusammen sein, macht mich Tag und Nacht schwindelig. Stell dir vor, immer, immer schwindelig sein, die Senkrechte vergeblich suchen, wie soll ich das ein Leben durchstehen?“
„Heißt das,“ Liebster, „du kündigst mir, nach kaum einer Woche? Oder war es die Aufforderung, auf schnellstem Wege dich von deinen Qualen zu befreien, indem wir uns in die waagerechte Position bringen?“
„Nörchen, weil ich schon zweimal immer gesagt habe, sag ich es ein drittesmal, nein noch öfter: Musst du, immer und immer, so absolut scharfsinnig sein? Kaum habe ich etwas gedacht, es mir gewünscht, schon kommst du heraus damit, als ob mein Wunsch in deinem Kopf entstanden sei.“
„Doctorchen, ich muss dich rügen, es scheint mir, noch hast du nicht erkannt: Deine und meine Wünsche sind Zwillinge. Keine Zwillinge, denen du allenthalben begegnest, nein, Zwillinge, wie sie im fernen Siam geboren werden, untrennbar miteinander verbunden, lebenslänglich! Was das Eine tut, hat das Andere zu mögen, sonst stehen schwere Zeiten ins Haus. Was bei den Siamesen der Körper bewirkt, macht bei uns die Liebe. Die Liebe entscheidet über unser tägliches Tun und Lassen, im Moment jedenfalls! Also komm, führe mich schnellstens dorthin, wo ich ganz die Deine sein kann, gewärmt von dir, und den weichen Fellen von Otter, Marder, Fuchs und Dachs!“
Als sie die Tür der verschwiegenen Kate am See hinter sich zugezogen hatten, begann Bernd mit nervösen Fingern Nora aus den Kleidern zu helfen. Sie drückte ihn ein wenig von sich weg, und sagte: „Eins noch, Geliebter: Ich nenne dich Liebster, Geliebter, dabei fällt mir auf, über das Wesen, das innerste Wesen der Liebe, haben wir noch nie geredet. Irgendwo habe ich von Leidenschaft und Liebe gehört oder gelesen, sie seien Geschwister verschiedener Natur. Leidenschaft bedinge nicht unbedingt die Liebe, während Liebe ohne Leidenschaft nicht ginge. Was wir miteinander erlebten und erleben, ist vordergründig der Leidenschaft zuzuordnen, oder sollte ich irren?“
„Vordergründig, Frauchen, kann ich stehenlassen, sofern es Leidenschaft betrifft, doch du sagtest schon, keine Liebe ohne Leidenschaft. Ich liebe dich, seit es dich für mich gibt, will sagen, als ich dich zum ersten Mal sah, war da Gefühl. Zuerst beunruhigte es mich nur wenig, dachte mir, die neue Situation, Aufregungen, fremde Menschen, die plötzlich unversehens nah. Behielt das Gefühl im Hintergrund, behinderte es nicht, gab ihm Zeit, beobachtete nicht ohne größte Neugier, was werden würde. Dann kam der Tag der Gans, wir küssten uns, du liefst weg, sagtest, wolltest dich ordnen.
Ich verstand das gut, kam mir entgegen, hatte noch kein Fundament im fremden Land. Womit ich nicht gerechnet hatte war die Sehnsucht. Zuerst kam sie geschlichen wie ein Mäuschen, das hielt ich aus. Doch wuchs der Drang in mir von Tag zu Tag, begann mich zu beherrschen. Ich wusste mir nicht zu helfen, so war mir noch nie geschehen, ich floh deine Gegenwart. Vertraute mich jedoch der Mascha an. Erklärte ihr das meine Abwesenheiten, der Gründung einer Existenz zu Gute kämen. Mehr konnte ich nicht sagen, weißt du, die Augen deiner Mutter sahen mich an wie deine. Ich war verwirrt, zog mich zurück, ritt wie ein Wilder nach Lyck, nach Königsberg. Fand in Moses einen geschickten Makler, der mit Lippe umgehen konnte. Der Bürgermeister, ein wandelnder Bratenrock, ein an den Hüften eingeknickter Kasperl, geht es um vorgesetzte Obrigkeit, war zu nichts nutze.
Na, das ist es schon. Den Rest hast du miterlebt. Meine Bestrebungen gediehen, meine Forderungen wurden erfüllt, du und ich fahren nach Lyck, der Moses ruft und winkt, ich nehme Kenntnis, bin vor Freude aus dem Häuschen, bitte dich, mich zu nehmen, du nickst, wir küssen uns, Moses schreit: Verlobt, verlobt auf der Straße vor meinem Haus!“
„Ja, Bernd, danach ging es schnell, fast zu schnell, weil die Zeit der Erwartung so prickelnd aufregend war. Du hast von der dich bedrängenden Sehnsucht gesprochen, im Vergleich dazu wenig von der Liebe. Leidenschaft, Sehnsucht, Liebe, was haben sie gemeinsam und was unterscheidet sie? Oder ist es ein Gefühl, dem die Namen je nach Stimmung gegeben werden?“
„Liebste, schwer zu beantwortende Fragen, die du uns stellst, ich kann nicht mit klarer Antwort dienen. Am leichtesten wäre, uns beide für befangen zu erklären. Wir stecken mitten drin in Liebe, Sehnsucht, Leidenschaft. Sehnsucht ergreift mich, sobald ich dich eine halbe Stunde nicht sehe, Leidenschaft, kommst du mir näher als zwei Schritt und Liebe, ich möchte glauben, ich bestehe nur aus Liebe. Mein Denken, Handeln und Tun geschieht nie allein, immer bist du in meinen Gedanken, selbst der Schlaf ist nicht mehr meiner, stets träumt mich von dir.“
„O Liebster, dankeschön. Eine Liebeserklärung, die mir die Knie weich macht, bisher hattest du dich mir noch nie in dieser Weise erklärt. Knöpfe bitte weiter an meinem Kleid, die Sehnsucht nach der Leidenschaft macht mich atemlos.“
Als sie später selig und erschöpft auftauchten aus der Freude, die sie sich bereitet, schlug die alte Standuhr zehn, die Mascha in das Liebesnest hat transportieren lassen. . „Zehn Uhr, Bernd,“ flüsterte sie ihrem Geliebten ins Ohr, „was macht dein Hunger?“
„Hunger? Hunger, was ist das,“ stöhnte der. „Wird nicht aller Hunger, der mich je befallen, endlos in deinen Armen gestillt?“
„Schon, Liebster, aber ich reflektiere auf gewisse Körperteile, die wir nicht vernachlässigen sollten. Stell dir vor, es gebräche dir unversehens an Kraft, du könntest nicht mehr da wirken, wo du unbedingt vonnöten bist? Dein Nora-Kätzchen könnte nicht mehr fauchen und miauen, wenn du es so unglaublich verwirrst, dass es der menschlichen Sprache nicht mehr mächtig ist. Darf das geschehen? Nein, darf und wird nicht, weil ich jetzt sofort für Abhilfe sorgen werde.“
Keine halbe Stunde dauerte es, und appetitlicher Duft stieg Bernd in die Nase. Schnell stand er auf, schlüpfte in seinen Morgenrock, sah seiner Frau einen Augenblick beim eifrigen Hantieren mit Pfanne und Feuer zu, dann deckte er den Tisch exact nach Vorschrift. Dekorierte Messer, Gabel, Teller und Terrinen, rückte zwei Stühle heran, öffnete eine Flasche Rotspon und einen Riesling, den er in einen Kühler mit frisch geschöpftem Seewasser versenkte.
Tüchtig, lobte ihn seine Frau, bin gleich fertig. Bitte, stelle das kleine Tischchen aus der Ecke an den Tisch, damit ich die heiße Kasserolle abstellen kann.
Zehn Minuten später, saßen sie zu Tisch und Nora freute sich über Bernds Hunger, den er wölfisch nannte.
„Nörchen, fabelhaft, hatte noch gar nicht an diesen erquickenden Aspekt der Ehe gedacht, behagt mir ungeheuer, Donnerwetter, sag ich!“
„Du kennst doch das Sprichwort, lieber Mann, Liebe geht durch den Magen. Seit drei Jahren sehe ich der Mamsell jede Woche einen ganzen Tag zu, wie sie die Mahlzeiten zubereitet und Vorkehrungen trifft, die Speisekammer stets mit den nötigen Vorräten bestückt zu halten. Das heißt, ich sehe nicht nur zu, seit einem Jahr koche ich selbständig. Sind nicht zwei Essen wie hier für uns, zur Erntezeit stopfen wir oft sechzig und mehr Mäuler.“
„Du kochst für so viele Menschen?“
„Nein, Bernd, auch die Mamsell nicht, die gibt acht, dass alles seine Richtigkeit hat, nicht geschlurt wird, nichts anbrennt, alles proper ist. Die Leute arbeiten hart bei der Ernte, da müssen sie was Ordentliches im Magen haben.“
„Da bist du gut vorbereitet worden, auf die Pflichten einer Landedelfrau mit großem Haushalt, kann nicht schaden, bei uns wirst du jedoch in der Hinsicht kaum gefordert werden.“
„Beschrei es nicht, Liebster, machen wir so weiter, sind wir bald nicht mehr allein.“
„Ach Kätzchen, da war dein Kater vor.“
„Wie vor? Wie soll ich das verstehen?“
„Vor, einfach vor, Kätzchen!“
„Bitte Bernd, erkläre dich!“
„Je nun, das liegt doch auf der Hand. Was tun wir beide von allem, was wir tun könnten, am liebsten?“
„Soll ich antworten, Liebster? Schamlos antworten?“
„Nur zu!“
„Nackt beieinander, nein aufeinander, nein ineinander liegen, nein rasen! Nie genug haben, immer und immer mehr wollen, ohne Ende!“
„Siehst du, schamlose Person, besser hätte ich es nicht sagen können. Weil dein, dir an Alter und an Erfahrung überlegener Mann voraussah, dass geschehen würde, was uns geschieht, fiel ihm die Dame ein, an die du in der Beziehung schon gedacht hast. Diese Dame Klapaida, der Name Hilfreich stünde ihr besser an, hat mir ein Tinktürchen gegeben.“
„Hat dir ein Tinktürchen gegeben, bitte, lass mich fortfahren, welches, unbemerkt von mir, jemand in den Wein oder das Wasser praktizierte, das ich trank?“
„Erraten! Dieses getaufte Wasser, es war Wasser, Alkohol hätte der Wirkung geschadet, verhütet dicken Bauch!“
„Bernd! Bernd! Stimmt das?! O Gott, wie wunderbar, ich bangte schon den Stunden bis zum ersten Erbrechen entgegen. Verhütet dicken Bauch! Wie lange?“
„Ja Liebste, wenn ich dir das gestehe, bist du sicher entäuscht.“
„Komm sag schon, deinem Gesicht, ach was, deiner Visage seh ich an, es wird nicht weit her sein mit meiner Enttäuschung. Raus mit der Sprache!“
„Wenns denn sein muss, Kätzchen. Weißt du, ich habe mir dein Wöchnerinnenzimmer schon ausgemalt. Ein rosafarbenes, friedlich nuckelndes Bübchen oder Mädchen an der prallen Milchbrust.“
„Halt ein! Sofort! Nimm die pralle Milchbrust zurück! Sag wie lange kein solches Zimmer, mag das Wort davor nicht sagen.“
„Nun gut: Ein Jahr!“
„Ein Jahr? Ein ganzes, langes, zwölfmonatiges, zweiundfünfzig wöchiges Jahr, mit dreihunderfünfundsechzig Tagen voller Wollust! Halt, zweiundneunzig Tage sind verloren, bleiben immer noch zweihundertdreiundsiebzig“.
„Ich mach weiter, Nörchen, voller Wollust, Wollust, Wollust! Ist aber noch nicht alles!
Wie nicht alles? Was kommt noch?“
„Aus dem Fläschchen, ich nenne es lieber eine Flasche, fehlen fünf Tropfen. Bedeutet, wir und nicht der Zufall im Bunde mit der Raserei, bestimmen, wann und wie oft wir schwanger werden wollen. Liegen demnach, Liebste, unbemessene Tage voll Liebesrausch vor uns. Es wird nachlassen, das jetzt alles zur Seite drängende Verlangen, lässt uns mit Ruhe den Zeitpunkt der Geburt von einem, höchstens zwei Nachkommen bestimmen.“
„Höchstens zwei, Bernd? Keine vier, fünf, sechs? O Liebster, wie segne ich den Tag, als du auf Steinfeld eintrafst. Zwei! Zwei! Zwei bedeutet, du siehst dein Kätzchen nicht als Zuchtstute, willst kein von ständigen Schwangerschaften ausgemergeltes Klappergestell!“
„Da sei Gott vor, mein Kätzchen!“
„Schönster, geliebtester, umsichtigster Mann, das wird gefeiert! Auf ins Bett, in deine Arme, wie werde ich dich genießen, ohne die ständige Vorstellung vom dicken Bauch.“
So vergingen die Wochen. Eines mittags, als sie den Fourage-Korb unter der Eiche, wohin Mascha ihn dreimal die Woche bringen ließ, abholten, lag obenauf ein Brief.
Liebe Flitterwöchner, lautete die Überschrift, genug geflittert! Klapaida und ich brauchen euch. Dich, Doctor, bei der Einrichtung von Apotheke und Ordination, und ohne dich, mein Kind, geht nichts, was die Wohnräume angeht. Was wir bestellten, ist eingetroffen und lagert auf Steinfeld. Also reißt euch voneinander los, die Arbeit ruft. PS: Dürfte euch nicht allzu schwer fallen, meine liebe Freundin hat mir verraten, dass ihr teilnehmt an dem Segen, der mich seit Jahren rank und schlank hält. Eure Freundin und Mutter, Mascha.
Nora kicherte, „hast Recht gehabt, Bernd: Die rundum gesunde Gräfin Kelm, gesegnet mit vier Kindern, seit acht Jahren ohne Schwangerschaft! Dank der Dame Hilfreich wissen wir jetzt.“
„So ist das, Nora, wobei gleichzeitig der für die Wissenschaft wichtige Beweis anfällt: Die Tropfen halten, was Hilfreich versprochen!“
„Liebster, da denk ich mehr an mich, als an die Wissenschaft. Beruhigt ungemein, was Mama da geschrieben.
Wie geht es weiter, mein Herr und Gebieter?“
„Also Kätzchen, ich seh den gefüllten Korb als Galgenfrist. Würden wir augenblicklich zurückerwartet, brauchte es den nicht. Sagen wir, zwei Tage bleiben uns, um den leer zu futtern, danach spannen wir das Mäxchen an, und stellen uns dem Leben.“
„Du sagst es, Freund. Nur du sagtest auch Mäxchen, wo steckt der Halunke?“
„Verdammt, Nora, da habe ich nicht achtgegeben. Beim letzten Korbholen habe ich ihn nicht gesehen, mir aber nichts weiter gedacht. Ich brülle mal laut, erschrick nicht.“
Bernd legte die Hände zum Schalltrichter an den Mund und brüllte mit voller Lungenkraft: Mäxchen! Mäxchen! Nora legte einen Finger auf die Lippen, flüsterte: „Leise sein, horchen!“ Eine lange Weile war nichts als die Waldgeräusche, fallende Zapfen und Eicheln, flatternde Flügel, fernes Gurren und Grunzen.
Bernd wollte nochmals schreien, aber Nora hielt ihn ab: „Lass, ich glaube, ich höre ihn.“ Keine Minute später steckte Mäxchen sein Gesicht mit den glänzenden Augen durch eine dichte Haselstrauchhecke, sah Nora an, blähte die Nüstern, verschwand und war bald auf einfacherem Wege wieder da. Nora reichte ihm ein Brot aus dem Korb, kraulte ihn zwischen den Ohren, unterrichtete ihn vom baldigen Ende des Lotterlebens im Wald. Mäxchen, dem das Brot, als er gekrault wurde, aus dem Maul gefallen, scharrte mit dem Huf Einverständnis, packte das Brot und trollte sich in seine Schlafhöhle unter der Eiche.
Die beiden letzten Tage der Flitterwochen vergingen rasend schnell. Nora maulte: „Erst hörst den Wasserhahn tropfen, zwischen jedem plitsch eine Ewigkeit. Liegst und lauschst, plitsch macht es, du wartest, nichts. Denkst, na ja, gut, dann wieder plitsch. Versuchst das plitsch aus deinen Gedanken zu bannen, sonst quält’s dich die halbe Nacht. Doch je mehr du bannst, je intensiver bannt dich das plitsch, quasi ein Gegenbann. Zeit wird Gestalt. Rauh und körnig, unterwandert sie deine schlafschweren Lider. Verhält sich so, bist du ihrer überdrüssig, möchtest du sie aber anhalten, sie dehnen, rutscht sie dir glitschig wie ein Aal durch die Finger! Geht dir das ebenso?“
„Geht uns allen so, Liebste. Zeit ist immer gleich, unsere Vorstellungen und Wünsche ändern sich. Schönes soll ewig währen, da wäre uns Ewigkeit, hätten wir die Wahl, zu kurz. Was uns langweilt, gar schmerzt, soll sofort vergehen, da werden Minuten zu kleinen Ewigkeiten. Frage mich nicht, warum das so ist, gibt keine bündige Antwort, ist zutiefst mit unserem Lebenswillen verknüpft.“
„Ach Lebenswillen, mir macht mein Liebeswillen zu schaffen. Bald sind wir wieder vermischt mit der Welt, sind nur noch halb wirkliches wir. Oh, war das schön hier in der Einsamkeit, möchte für alle Zeit bleiben, nur du und ich. Bin ich verwöhnt und albern, Liebster, du sagst nichts?“
„Was soll ich sagen, Kätzchen? Wir können nicht ewig bleiben, wovon sollten wir leben? Ganz abgesehen davon, nach spätestens einem Jahr gingst du mir laufen. Was das Verwöhntsein angeht, sicher bist du verwöhnt. Ist gut so, lässt es mich doch leicht den Anschluss finden, dich noch, und noch mehr zu verwöhnen.“
„Das versprichst du?“
„Versprochen!“
„Halt, einfach nur versprochen genügt mir nicht. Ist mehr Generalklausel, ich brauche Paragraphen. An vördester Stelle als §I steht auf der Verwöhnliste das Kätzchen, du weißt, an welches ich denke. Dann kommt noch einmal das Kätzchen. Danach wieder Kätzchen, Kätzchen, Kätzchen. §II, §III und §IV, magst du gestalten wie es dir behagt, solange in keiner Weise §I vernachlässigt wird.“
„Gelesen und unterschrieben, dazu noch mein Schwur, dem §I zu dienen wird mir stets Lust und Freude sein, dein ewig dich anbetender Liebesdiener. So und nun komm. Hoffentlich ist unser Pferdchen zur Stelle, sonst spann ich mich vor den Wagen.“
Als Mäxchen sie kommen sah, wieherte er laut.
Bernd drehte sich um zu seiner Frau: „Siehst du, der ist froh, dass er in seinen gewohnten Stall kommt, hat die ungebundene Freiheit satt.“ Wie zur Bekräftigung scharrte Mäxchen mit den Hufen und hüpfte wie ein Hund, schien sich auf das Geschirr zu freuen.
§
Als sie sich Steinfeld näherten, wieherte Mäxchen, die vertrauten Gerüche rissen ihm ganze Serien von Schreien heraus. Mascha kam die Treppe heruntergestürzt: „Wunderbar, rief sie, ihr seid zurück!“ Nora sah ihre echauffierten Mama ins Gesicht und fragte erstaunt, „Mascha, wo glaubst du, wo wir herkommen?“
„Ist schon gut, Kind, hast ja Recht, aber hier steht alles Kopf. Jeden Tag kommen Wagen voller Dinge, mit denen wir nichts anzufangen wissen. Macht aber nichts, Bernd wird es richten. Nun kommt rein, ist zwar schon Teezeit vorüber, aber heute machen wir eine Ausnahme. Für dich Bernd, hab ich einen Kirschkuchen mit Streußelbelag, brauchst niemanden was von abgeben.“
Bald saßen sie zu dritt am Tisch. „Papa,“ erklärte Mascha, „ist nach Königsberg und kommt morgen zurück. Nun erzählt, wie es euch ergangen ist.“
Kaum gesagt, erkannte sie: „Was sollen Flitterwöchner erzählen.“ Sofort war sie Herrin der Situation und lachte, bis ihr die Tränen kamen. „Kinder, lacht mit,“ prustete sie, „so geht es einer alten, neugierigen Ricke, die ihr Wasser nicht halten kann.
Es hat sich jedoch, Nora, etwas verändert in mir. Seit du Frau geworden, bist du nicht mehr Kind. Mein Kind, will sagen, mein Kücken unter dem Flügel, für das ich mich ständig und überall umschaute, Gefahren und Übel früh zu erkennen. Klar habe ich noch deine Geschwister, ist aber anders. Du, als meine Erste, warst die vermeintlich besonders Gefährdete, nicht dass die Anderen mir weniger lieb wären! Nichts davon, nur du warst einfach Vorreiterin. So ist das, und jetzt fehlt mir die lebenslang trainierte Lauerstellung. Achtzehn Jahre sind eine lange Zeit, mein ganzes Frauenleben. Plötzlich ist da unausgefüllt kaltes, wo vorher beruhigende Wärme war. Ein Loch eben.“
Nora stand auf, nahm Maschas Hand, zog ihre Mama mit sich auf das große Sofa. Sie setzten sich und tauschten die Rollen. Tochter nahm Mutter tröstend in den Arm, und die sonst so beherrschte Mascha, weinte augenblicklich befreit los.
Nach den ersten Worten Maschas ahnte Bernd, was sich anbahnte. Als seine Frau ihre Mutter vom Tisch hochzog, nahm er schnell seinen Teller, schnappte ein weiteres ordentliches Stück Kirschstreußel, und machte sich aus dem Staub.
Tochter und Mama brauchten nicht viele Worte. Mit den Lippen tupfte Nora ihrer Mutter die Tränen von den Augen, bis der Strom versiegte. Als Mascha sich beruhigt von ihr lösen wollte, befahl sie: „Bleib Mama, ich richte das,“ stand auf und kam mit kaltem Wasser und einem Leinentuch zurück, badete Maschas Gesicht in dem kalten Wasser, bis ihre Augen wieder glänzten, die Lider kaum mehr Schwellung zeigten. Erlöst und locker suchten sie nach Bernd, fanden ihn im Vorraum zur Küche, wo das Gans-Kuss- Essen stattgefunden hatte.
„Meine Damen,“ schmunzelte Bernd, „das Männerherz hat auch sein Sentiment, hier habe ich mich in Memoriam gestreichelt, des weißen Vogels gedacht, der mich dir, Nora, so nahe gebracht hat. Warum soll der heilige Geist uns Irdischen nur in Taubengestalt erscheinen?“
Mascha drohte ihm: „Bernd, hörte der Pastor dich reden, möchte er nachträglich eure Trauung nach Palmiken verlegen!“
„Ach, liebe Schwiegermutter, so hoch kann keine heilige Gans oder Taube fliegen, wie die Mauer der Borniertheit um Pastoren und Ihresgleichen gebaut ist. Doch Schluss mit Frivolitäten. Du sagtest hier sei einiges eingetroffen?“
„So kann man das nennen, Bernd. Kommt mit, habe sämtliches im Turm und angrenzenden Zimmern verstauen lassen, und eine Liste der Absender, mit der von ihnen gelieferten Anzahl und Art der Stücke, gefertigt.“
Nora, die zeitlebens weder an Umzug noch Neueinrichtung teilgenommen hatte, prallte zurück, als sie das Chaos von aufeinander getürmten Ballen, Kasten und Säcken sah. O Gott, wie das nach Lyck kriegen und dort entwirren, stöhnte sie. Doch Mascha beruhigte: „Ich sagte doch, alle Stücke sind leicht nach Absender und Verwendungszweck zu sortieren. Wir schaffen, ich schätz mal mit drei, vier großen Wagen, zwei Männern, der Mamsell und zwei Mädchen, die ganze Chose in zwei Tagen nach Lyck. Abgeladen und geteilt nach Ordination, Apotheke und Wohnung, wird nach meinen Aufzeichnungen. Bernd kümmert sich zusammen mit den Mädchen und den Männern um seins, wir, Nora, gehen mit der Mamsell an's private Einrichten.“
Nora nickte: „Hört sich leicht an, Mama, wie du das darstellst, aber ob wir das so hinkriegen?“
„Sicher nicht genau so, Kind. Aber in etwa, und das genügt. Kleine Umstellungen und Korrekturen gehören zum Geschäft, Bernd, du pflichtest mir sicher bei?“
„Um ehrlich zu sein, Mascha, bin ich bar jeder Erfahrung. Doch räume ich ein, hört sich plausibel an dein Generalstabsplan. Außerdem halte ich es mit dem: Frisch gewagt ist halb gewonnen, will sagen, voran, was bleibt uns anderes übrig!“
„Da gebe ich mich einfach geschlagen, wann geht`s los, Mama?“
„Wenn es nach mir geht, Nora, augenblicklich. Jeder ist instruiert, wartet auf mein Pfeifen, um loszulegen.“
„Herrlich, Mascha, pfeife bitte! Nora unser Leben beginnt!“ Bernd nahm seine Frau um die Taille, tat ein paar Tanzschritte zu einer improvisierten, vor sich hin gesummten Melodie.
Wie Mascha angekündigt lief alles wie am Schnürchen. Die Mamsell las die Nummern, mit denen die Packstücke versehen waren vor, die Frauen suchten sie raus und die Männer verluden. Schnell waren die Wagen gefüllt und die erste Fuhre unterwegs.
Nora staunte, eine gute Idee das mit den Nummern, sie hatte das System schnell durchschaut.
Apotheke ist alles mit einer drei am Anfang, Ordination mit einer vier und Wohnung mit einer sechs. So ist geregelt, was zusammengehört und wieviel Stücke es jeweils sind. Das meiste kommt in die Apotheke mit der höchsten Zahl 3560, wobei die 3 nur Orientierungszahl ist, tatsächlich sind es 560 Stücke mit Schubladen, Gläsern, Näpfen und Töpfen. Da wird ordentlich zu tun sein, bis alles befüllt und beschriftet ist.
Mascha war in ihrem Element, mit Klapaidas Hilfe dozierte sie, geht das im handumdrehen. Müssen nur die Zettel aufkleben, die richtigen Tinkturen und Mischungen in Tiegel und Gläser füllen.
„Die Klapaida, Mama? Kann die lesen?“
„Nora, nicht nur das, wie dir bekannt sein dürfte! Sie ist die Apothekerin, ich bin lernende Gehilfin. Recht hast du nur in sofern, als sie keine Beschriftung braucht, um zu wissen wie ein Kraut heißt, was es kann und tut. Die Zettel klebt sie auf, um mir und unserem Doctor, den Weg durch die Kräuterwelt zu weisen.“
„Entschuldige, Klapaida, ich vergaß,“ murmelte Nora.
„Sie nimmt es dir nicht übel, Kind, ist gewohnt, von uns Menschen unterschätzt zu werden.“
„Von uns Menschen? Das hört sich an, Mama, als ob du sie nicht unter die Menschen rechnest?“
„Nora, sie ist von Gestalt ein Mensch, doch sie ist mehr, wie alle die mit ihr zu tun hatten, erfahren konnten. Ich für meinen Teil halte es in diesem Falle gegen sonstige Gewohnheit mit der Religion. Die Vergangenheit lehrt uns, immer wieder hat es wundertätige Heilige gegeben, Menschen, die ihren Mitmenschen Schmerzen nahmen, ihnen in wunderlichster Weise halfen.
Ich denke mir, so jemand ist unsere Klapaida. Hat nichts mit der Kirche zu tun, die Helfer, waren sie Frauen, wurden oft verfolgt, denke nur an den Hexenwahn. Die von der Kirche anerkannten Frauen, sämtlich Heilige, haben im Altertum gelebt, weit genug entfernt sie zu überirdischen Wesen zu machen. Waren sie jünger, mussten sie besonders fromm und vor allem keusch sein.“
„Dann können wir beide nie heilig werden, Mama, denn keusch sind wir nicht.“
„Gott sei Dank! Das werfe ich den Pfaffen ja vor, Kinder zeugen macht Spass, der Spass ist unkeusch. Fromme Frauen sind keusch, ergo keine Kinder. Damit kann ich leben. Was mich aufbringt ist, der Spass als solcher wird verurteilt! Der Menschensohn wurde nicht von einem Mann gezeugt, seine Mutter blieb keusche Jungfrau, das beleidigt die Frauen dieser Welt.“
„Mascha, so ist es, doch dem lieben Gott laste das bitte nicht an, der hat keine Ahnung von dem, was hier in seinem Namen verbrochen wird, ansonsten pfichte ich dir in allem bei,“ sekundierte Bernd.
Plötzlich stand Klapaida unter ihnen. Nora fühlte ihren feurigen Kohleblick auf sich gerichtet, zögerte sie anzuschauen, doch die Alte half ihr: „Frauchen Nora,“ kicherte sie, „sieh mich an, zeig mir deine Augen. Na also, bist glücklich seh ich, die Liebe macht Freud, wie?“
Die Liebe macht Freud, behauptete die einfach, macht mir Freud, als ob ich das so einfach bejahen könnte, fuchste sich Nora, und bekannte mit gleichem Atem die Wahrheit. „Ja, die Liebe macht Freud, Freud wie sonst nichts auf der Welt,“
hörte sie sich sagen, „und dankeschön für das Kräutchen, Klapaida. Seit ich weiß, was es tut, macht mich die Liebe zum Vogel, der nicht hoch genug hinauf in den Himmel steigen kann!“
„Unkeusch bist, Nora! Keine Rüge, ist Zustimmung, zur Liebe gehört die unbeschwerte Lust!“ griente Klapaida, wandte sich an Mascha, fragte: „Geht‘s voran?“
„Zwei Tage, schätze ich, werden wir für den Transport brauchen, doch wir werden noch vor den Fuhren in Lyck sein, und mit Einrichten beginnen. Ich denke Klapaida, in einer Woche ist alles unter Dach und Fach.
Nora und Bernd werden wohnen können, er praktizieren, wir der Apotheke den letzten Schliff geben. In der Wohnung ist nur der Rahmen abgesteckt, wie gesagt, schlafen und essen ist möglich. Für's Behagliche ist Nora zuständig, die wird niemand anderen mit so Persönlichem betrauen wollen.“