Klapaida Teil 2

Haarkranz

Mitglied
1817
Die Herren, Wersten der Gast und Kelm der Hausherr, standen im großen Hofviereck.
„Ihr werdet entschuldigen, Kelm, ich versuche eben, mich zu orientieren, standen diese Gebäude schon bei meinem kriegerischen Besuch vor vier Jahren?“
„Nein, ich habe während der Kriegswirren nichts erneuert, was wieder hätte zerstört werden können. Ernten, verkaufen, den Erlös in Goldfüchse anlegen und vergraben, war die Devise. Nur meine Frau wußte außer mir, wo. Als die Zeiten sich besserten, hatte sich der Goldwert verdreifacht und wir konnten beim Renovieren und Bauen aus dem Vollen schöpfen.“
„Alle Achtung, das Glück scheint sich bei Euch eingenistet zu haben, nicht nur, was die Wirtschaft angeht! Eure Frauen, die Nora, das Komtesschen, jetzt erwachsene Dame, da stockt einem der Atem!“
„Ich weiß, kann es oft selbst kaum glauben. Metamorphose, beim weiblichen Geschlecht so viel spontaner, überraschender als bei unsereinem.“
„Sicher, wir sind da zögerlicher, dauert zwei Jahrzehnte, bis Mann fertig ist. Aber die Frauen, schnell und schön wie Schmetterlinge. Dazu in der Psyche gerundet, fast fertig.“
„Der Ernst des Lebens holt sie dafür schneller ein, Wersten. Als meine Mascha in Noras Alter war, hatte sie die schon auf dem Arm.“
„Wohl wahr, unseres alten Doktor Rosenzweigs Credo: Jung gefreit, nie bereut. Soll heißen, je früher die Kinder kommen, umso unkomplizierter. Von hundert Kindern, die ich hole, sagt er, sind 90 Geburten problemlos. Selbstläufer, wenn die Mütter zum ersten mal niederkommen, bevor sie zwanzig sind. Das macht die Wöchnerin und die Hebamme allein. Unsereins sitzt nur zur Beruhigung auf Abruf im Salon.“
„Das ist alte Erfahrung, Wersten, läuft bei unseren Viechern ähnlich ab.“
„Seid vorsichtig mit solchen Vergleichen, Kelm, sollten die Damen das hören, würde es die Atmosphäre dick machen!“
„Aus Konvention, da mögt Ihr Recht haben, doch meine Mascha teilt diese Meinung ganz und gar. Seid erst ein paar Tage im Haus, Ihr werdet staunen, wie schnell der konventionelle Firnis schwindet. Wir leben von und mit dem Vieh, da bleibt die anatomische Verwandschaft nicht lange Geheimnis.“
„Hört sich wohltuend an. Leider bei uns nicht anzutreffen, so viel Vernunft. Die Russen haben kein Verhältnis zu ihren Lebensgrundlagen, dazu kommt die verfluchte Leibeigenschaft, macht das Leben auf dem Lande für die Damen nicht eben leicht. Ich meine für Damen mit Herz und Verstand. Die bleiben lieber das ganze Jahr in St. Petersburg und leben über ihre Verhältnisse.“
„Wersten, gibt es bei uns ebenfalls. Die Erbuntertänigkeit hat vom Stein abgeschafft, obwohl manch alter Krautjunker glaubte, nun ginge die Welt unter. Unsere Schwierigkeit ist der absolut unfähige König, weiter sag ich nichts, kommt am Ende ne Majestätsbeleidigung bei raus.“
Bei dieser Unterhaltung schlenderten die beiden Herren gemächlich durch Ställe und Wirtschaftsräume. Blieben hier stehen und dort. Fachsimpelten, der Hausherr konnte seinem Gast einiges neuestes Gerät vorführen, das der mit Feuereifer begutachtete. So vergingen gut zwei Stunden, eine weitere verbrachten sie bei den Trakehnern. Trakehner ist die offizielle Bezeichnung für dieses leichte, ausdauernde Warmblut, das seit den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Ebenrode, Kreis Stallupönen, gezüchtet wird, erklärte Kelm. „Ich und einige meiner Nachbarn, Ihr werdet sie kennenlernen, streben eine etwas schwerere Blutlinie an, deren Abkömmlinge jedoch viele Eigenschaften der Trakehner haben werden. Die Zucht wird, versteht sich, einen anderen Namen tragen.“
Bevor er fortfahren konnte, schlug die Repetieruhr in seiner Rocktasche viermal, er klatschte die Reitpeitsche, das Ende des Rundgangs anzeigend, gegen seinen Stiefel. „Kommt, Wersten,“ zog er seinen Gast mit sich, „gleich wird man nach uns schicken, wir haben uns drei Stunden vertrödelt!“
„War doch höchst amüsant, nein hoch interessant. Ich bitte Euch, Kelm, mir noch einige Instruktiondurchgänge zu gewähren. Wenn ich darf, werde ich mir Notizen machen und einiges zuhause einführen.“
„Aber gerne, obwohl, Notizen werden nicht nötig sein. Ich habe mir, bevor ich Neues anschaffte, Instruktionen in mehrfach Kopie für meine Leute ausgebeten, die jüngeren können lesen, dank Mascha. Schließlich sind sie diejenigen, die mit den Geräten umgehen, Ihr könnt Euch heraussuchen, was Euch beliebt. Was ich noch empfehle, sprecht mit Johann, meinem Vormann, der läßt alles Geschriebene leben. Siezt ihn bitte, wir tuen das auch.“
„Ihr siezt eure Knechte?“
„Nur die erste Mamsell und den Vormann. Beide haben sich lange geziert, konnten sich nicht daran gewöhnen. Heute sind sie stolz, denn Mascha und ich haben dafür gesorgt, dass jeder, der hier auf Steinfeld mit ihnen zu tun hat, so verfährt.“
„Kelm, ich lerne, obwohl, ich sollte klüger sein. Beim Militär verfahren wir schon lange nach der Methode: Auszeichnung macht gute Soldaten.“
Während der Stunden, die sie fachsimpelnd verbracht, hatte sich einiges getan. Auf dem Hof standen ein knappes Dutzend Schlitten mit dampfenden Pferden, teils noch angespannt mit warmen Decken versorgt, andere schon ausgeschirrt wurden in die Ställe geführt. Lautes Wiehern und Schnauben, das beruhigende Zureden der Stallknechte, mittendrin die Begrüßungen der Damen und Herren die den Schlitten eben entstiegen oder schon auf dem Hof standen. Die Frauen und Mädchen umarmten sich, während die Männer sich schulterklopfend begrüßten. All das ergab ein freudiges Geschnatter, zünftig durchmischt von Pferdegeschnaub und Rossäpfelduft, übertönt von lautem BRR, Holla und Hoi!
„Eine ländliche Szene, die gemalt werden sollte, Kelm, gibt’s kein Malertalent unter Ihren Leuten?“
„Nicht dass ich wüßte, Wersten, aber sicher ist das eine Anregung für Maschas
nimmermüde Bemühung, uns nicht in der Tristesse der Gleichförmigkeit untergehen zu lassen. Regt es an, es wird sie freuen. Aber folgt mir jetzt ins Haus, wenn ich mich auf dem Hof zu meinen Gästen geselle, stehen wir noch in zwei Stunden da draußen.“

Zurück durch die Ställe, kamen sie unbemerkt in den für den Empfang vorbereiteten Saal. Ein langer Tisch, mit Karaffen und Gläsern beladen, aus denen es heiß nach Zimt, Wein und Nelken duftete, stand quer zum Eingang. Der Raum nicht wiederzuerkennen, ein Teil der Sitzmöbel war an die Wände gestellt, ein Geviert von Tischen nahm die Mitte ein.
Mascha kam mit zwei Gläsern Glühwein.
„Eine Aufwärmung gefällig?“bot sie an.
„Gern“, die Herren wärmten ihre klamm gewordenen Finger an den heißen Gläsern, und nippten vorsichtig.
„Hat sich mächtig verändert hier in den letzten Stunden, Gnädigste." Wersten schaute in die Runde.
„Wissen Sie, Graf Wersten," entgegnete Mascha, "ist eine probate Einrichtung so ein Tischkarree. Jeder spricht mit Jedem, keiner bleibt außen vor, und wichtig, die Schüchternen sind mit einbezogen. Es gibt keine Sitzordnung, die eh niemand beachtete. Unsere Gäste kennen sich so gut, da geht das sofort durcheinander. Das gilt nicht für Euch, Ihr sitzt neben mir, rechts von Euch Nora, gegenüber Claus.
Bei der Gelegenheit möchte ich Euch gleich bitten, mich Mascha, meinen Mann Claus
und meine Tochter Nora zu nennen. Das vereinfacht den Umgang miteinander kolossal.“
„Da bin ich ganz Eurer Meinung, Mascha, Ihr wisst, dass ich Boris heiße.“
„So ist es, Boris, da kommt Claus mit Fedja Jablonski, und seiner schönen Nichte Sonja. Fedja ist Pole und preußischer Untertan, wobei seine Güter teils in Preußen, teils in Preußisch-Polen liegen. Einer unserer lustigsten und charmantesten Gäste, nur um Gottes Willen keine Politik!“
„Wo denkt Ihr hin, Mascha, auch bei uns in Livland sprengt Politik jede Gesellschaft.“
Claus Kelm machte Anstalten Graf Jablonski vorzustellen, aber Mascha kam ihm zuvor und verkündete:
„Claus, ich habe Graf Wersten unsere Usance des leichten Umgangs erklärt. Er ist einverstanden, ab sofort Boris zu sein, deshalb überlass mir das Geschäft der Vorstellung.
Also bitte, Graf Jablonski wird Fedja genannt und seine schöne Nichte heißt Sonja.“
Boris schmunzelte, küßte Fedja Jablonski nach russischer Sitte auf beide Wangen und fragte: „Fedja, alter Junge, wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?“
„So vor fünfzehn Jahren, schätz ich“ antwortete der, und lachte verschmitzt.
„Da war Sonja noch ein winziges Persönchen, wird sich kaum meiner erinnern?“
„Erinnert sich nicht, Boris, aber Fedja hat mir auf der Reise hierher von Euch erzählt.“
„Ihr sprecht polnisch, Boris?“ staunte Mascha.
„Ja doch, ich bin Deutscher nach Muttersprache und Vorfahren, Untertan des Zaren der neben Livland einen Teil Polens beherrscht. Wie ihr wisst, Offizier der russischen Armee. Um alles unter einen Hut zu bringen spreche ich lettisch, wie meine Leute auf dem Gut. Russisch braucht keine Erklärung, und polnisch, weil es für jemanden, der russisch spricht, leicht zu erlernen ist, und hier im Osten mit dem potentesten Kulturkreis verbindet.“
„Bravo!“ klatschte Fedja Beifall.
Mascha sah ihn ein wenig beunruhigt an, aber Fedja winkte ab.
„Kein Bange, Mascha, politisiert wird nicht, wäre gefährlicher als eine schwelende Granate, bei der Gemengelage hier.“
Am langen Glühweintisch herrschte mittlerweile Betrieb, Mascha und Claus
gingen hinüber um die Hereindrängenden zu begrüßen. Nora war schon fleißig dabei, honneur’s zu machen und ihrer Mutter wurde warm um’s Herz, als sie sah, wie locker das ihrer Tochter von der Hand ging. Es dauerte geraume Zeit, bis alle Willkommen geheißen, der Glühwein getrunken, das Gepäck auf die Zimmer verteilt und die Gäste dem Gepäck gefolgt waren. Nora schlug von Zeit zu Zeit einen Gong und verkündete mit lauter Stimme, Abendessen um acht Uhr, woran sie die Empfehlung hängte: Wer eine Mütze Schlaf nehmen und geweckt werden möchte, bitte auf der Tafel am Aufgang nach oben notieren.

Dies alles spielte sich im Vordergrund ab. In der Küche, im Hintergrund, näherte sich die Schlacht ihrem Höhepunkt. Als Vorspeise würde eine Wildsuppe, mit einer Beilage aus Schwarzsauer von Fasan, Wildente und zahmer Gans, gereicht werden Das Hauptgericht Wildschweinbraten mit Klößen und Preißelbeeren, dazwischen gab’s ein Champagnersorbet. Zum Ausklang würde es Mousse von Waldfrüchten geben, einer Spezialität der Mamsell. Diese Mousse war obligatorisch, als Mascha die einmal durch ein anderes Dessert ersetzt hatte, kam es zu offener Meuterei unter den Gästen.
Die Mamsell hatte das vermeintliche Chaos in der Küche völlig im Griff. An sich hätte sie sich jetzt eine Verschnaufpause gönnen können, aber ihren Herd überließ sie keinem Anderen. Das Feuer hatte sie zur Glut gedämpft und würde es erst kurz vor acht zu neuer Hitze entfachen. So war gesichert, der Braten würde nicht trocken und ausgelaugt einerseits, und andererseits mit der richtigen Temparatur serviert werden können.

Nora atmete auf, die Chose war gelaufen. Erfahrungsgemäß würde der Glühwein die lieben Gäste für einige Zeit niederstrecken, so daß es möglich war an sich selbst zu denken.
Sie hatte Onkel Fedja und seine Nichte Sonja nur flüchtig begrüßen können, nicht entgangen war ihr die außergewöhnliche Schönheit der Dame. Sollte sie so charmant sein wie schön, wäre sie eine zu beachtende Konkurrenz.
Kaum gedacht, rief sie sich zur Ordnung. Weibchen! Solltest du gleich nocheinmal gekniffen werden müssen? Wieso Konkurrenz? Um wen wird hier konkurriert? Sie ging hoch auf ihr Zimmer, setzte sich wie schon am Vormittag vor ihren Spiegel.
Klarheit, Nora! Befahl sie sich. Klarheit! Ist es Boris, seine Person, sein Flair, was verdreht dir den Kopf? Du hast den Mann vor vier Jahren kindlich angeschmacht.Von der Erscheinung her ist er den Eltern ähnlicher als dir. Du hast ihn begrüßt, ihn angesehen, was war die Folge? Atemlosigkeit, Kribbeln im Magen, weiche Knie, sonstige Zeichen für Verliebtheit? Nichts davon!
Sei ehrlich! Vergleiche! Woher kennst du diese Unruhe im Magen, das innerliche Zittern, die weichen Knie? Du kennst sie genau. Immer wenn dich Kurt, der zweite Kutscher, ansah, ging es dir durch und durch. Nicht, dass der in Frage käme, aber ausgelöst hat er diese herrliche Unruhe. Und wie oft hast du sie provoziert, geborgen hinter deiner Position? Ob er nie etwas gespürt hat, wie genau weißt du das? Er hilft dir in den Sattel, du schautest ihm jedes Mal tief in die blauen Knabenaugen. Hob er dich an, machtest du dich so schwer, dass er nachfassen musste. Glaubst du, er hat nie gesehen, wie du jedes Pferd ohne Hilfe leichthändig enterst? Ist dir gleichgültig, du genießt als Comtess, ihn den Kutscher. Richtig? Ja richtig, sie biss sich auf die Lippe und musterte ihr zorniges Gesicht im Spiegel.
Doch warum sollte sie den Schauer nicht genießen, den seine Hände, seine Nähe ihr verschafften? Er stand jenseits einer unüberwindbaren Barriere. Sollte er fühlen, wird er es vor sich selbst verbergen. Ich tu es und ich darf es, ich bin eine Frau, fertig für den Mann. Mama hatte mich in meinem Alter schon geboren. Also ist da Sehnsucht in meinem Leib, jeden Monat werde ich erinnert, etwas fehlt. Ich sehe es bei den rossigen Stuten, wie die nach dem Hengst schreien, über die Weide toben vor Lust. Lust ist das Wort, Lust die mich unruhig macht, die ich mit dem Finger zu beschwichtigen suche. Auch die Mama ist der Meinung, Selbsthilfe ist in Ordnung, jedoch Lust wirklich stillen, kann nur ein Mann!
Also doch ein Mann. Einer von den Tölpeln, die ich von Kind an kenne? Die aus Garnison zurück, ihre Offiziersuniform für das non plus ultra halten? Die ihr Leben lang den schnarrenden Kasinoton, in Berlin oder sonstwo aufgelesen, nicht mehr ablegen werden?
Also wenn schon keine Liebe, wenigstens ein Gefühl wecken, das der ungewollten Bemühung des Kutschers gleichkam, sollten die Herren schon, doch konnte sie sich das bei keinem von ihnen vorstellen. Also zurück zu Boris, den sie nicht kannte, der bisher keine Chance hatte, sie für sich einzunehmen.
Sie würden tanzen, war er ein guter Tänzer, mit Freuden. Aber weiter gedacht? Hatte sie weitergedacht, so weit, wie die Eltern vielleicht dachten? Sie zuckte die Schultern, jedenfalls hatte sie sich jetzt eingehend mit ihm beschäftigt, verhehlen konnte sie sich nicht, hing auch mit der schönen Sonja zusammen. Also doch Konkurrenz.
Sie stand auf schüttelte sich wie ein Hund, na wenn schon, gab sie sich geschlagen, weiß wenigstens woran ich bin.

Der Abend begann mit einer kurzen Begrüßung der Gäste durch den Hausherrn, der damit die Tafel eröffnete. Ab sofort wurde tüchtig gegessen und getrunken, unterbrochen von Toasts, zuerst auf auf Königs und Zarenhaus, dann auf die Gastgeber und die Gäste, zwischendurch wurde getanzt. Onkel Fedja schien an diesem Abend der Teufel zu reiten. Ausgerechnet ihn, der sonst den Damen ihre Wünsche von den Augen ablas. Er, der die Toastsprüche der unermüdlich für ihre Sauflust Vorwand Suchenden, so elegant zu unterlaufen verstand, konnte heute nicht genug Wodka in sich hineingießen, wobei er jedes Glas mit immer groteskeren Trinksprüchen begleitete.
Nora beobachtete ein wenig verloren ihre Mutter, sie konnte sich nur schwer einen Reim auf das veränderte Benehmen Fedjas, aber auch der anderen Gäste, nicht nur der Herren machen. Schräg gegenüber die Baronin Schaper, warf sich schreiend vor ungehemmter Lachlust über den Tisch, die Brüste rutschten ihr aus dem Mieder und lagen in ganzer nicht zu übersehender Fülle, fein säuberlich nebeneinander, auf dem vor ihr stehenden, zum Glück eben neu eingedeckten, noch unbenutzten Teller. Ihr Tischherr, Graf Zitzewitz, musterte die Pracht ungeniert. Ergriff nach beendeter Inspektion, einen Vorlegelöffel aus einer der auf dem Tisch stehenden Terrinen, reinigte ihn sorgfältig mit seiner Serviette, schob den Löffel unter die linke ihm am nächsten liegende Schapersche Brust, unverkennbar in der Absicht, sie in ihre Behausung, das Mieder der Baronin, zurück zu löffeln.
Starr vor Staunen beobachtete Nora das Manöver, während niemand sonst sonderlich Befremdliches zu bemerken schienen. Was ihr Staunen beinah in Panik umschlagen ließ, war das Verhalten der Schaper. Die schob eine Hand in ihr Mieder und beugte sich entgegenkommend vor, so daß der löffelnde Zitzewitz sich in Stand gesetzt sah, mit elegantem Schwung die Frucht zurück in ihr Körbchen zu befördern. Zugleich mit diesem Manöver verpackte die Dame ohne männliche Unterstützung den zweiten Kürbis.
Boris Wersten war indes, in eine lebhafte Unterhaltung über den Tisch hinweg, mit Sonja vertieft. Nora konnte schwer folgen, weil sie polnisch nur wenig beherrschte. An sich ist er mein Tischherr, ärgerte sie sich, doch bevor der Ärger sich ausbreitete, wandte sich Boris ihr zu und bat um den eben beginnenden Tanz. Er tanzte himmlisch, schon nach den ersten Drehern der Polka fühlte sie sich sicher.
„Sah ich etwas wie Unmut über Eure entzückenden Züge huschen, als Ihr Tischherr seine Aufmerksamkeit einer Anderen zuwandte?" schäckerte Boris. „Wisst Ihr Nora," fuhr er fort, „ich kenne Sonja schon als kleines Mädchen, so als fünf-sechsjährige ritt sie auf meine Knien Hoppereiter.“
Nora lächelte ihn unbefangen an, und antwortete: „Boris, Unmut, wo denkt Ihr hin! Was Ihr aus meiner Miene last war Staunen. Staunen über einen höchst possierlichen Vorgang, der mir in der Öffentlichkeit so noch nie untergekommen ist.“
„Ach, Ihr meint Zitzewitz‘ens Marotte? Könnt Ihr nicht kennen, Nora. Der Gute ist für diese und andere Skurrilitäten von Berlin bis St. Petersburg berühmt, oder soll ich sagen berüchtigt. Nein, es bleibt beim berühmt. Er tut niemandem weh und die beteiligten Damen leisten, wie auch heute in unserem Falle, reichlich Vorschub.“
„Soll das heißen, die Schaper hat ihn provoziert?“
„Genau das heißt es, Nora.“
„Ach, jetzt verstehe ich. Weder die Mama noch sonst irgend jemand, hat Notiz von dem Treiben der Beiden genommen. Was ich nicht verstehe, weder die Baronin noch Zitzewitz sehe ich zum ersten Male bei uns, ohne das ähnlich Auffallendes vorgefallen wäre?“
„Auch dafür, meine Schöne, hab ich die Erklärung. Fedja, Euer Vater und ich, haben vereinbart, das heutige Fest ‚alla Russe‘ zu gestalten. Soll heißen, innerhalb der Grenzen des Schicklichen, ist jedes Zeremoniell und die Lebensfreude behindernde, von Steinfeld verbannt, bis eure Gäste freiwillig das Weite gesucht oder mit Schrotflinten vertrieben worden sind!“
„Das kann ja heiter werden?!“
„Wird heiter werden, Nora!“
„Ist die Mama unterrichtet, Boris?“
„Da müßt Ihr den Herrn Papa fragen.“
„Da frag ich lieber gleich die Mama.“
„Ihr habt doch nichts gegen eine Lockerung der Etikette, der Herr Papa sagte mir, es käme Euch entgegen.“
„Dagegen ist nichts zu sagen, nur gegen etwaiges Abgleiten ins Zitzewitsche, lege ich mein Veto ein!“
„Nora! Wo denkt Ihr hin, nie, nicht einmal im Traum ist daran gedacht. Zitzewitz’s Marotte, habe ich sein Verhalten genannt, nur ihm lässt man so etwas durchgehen. Er hat seine Löffelstudie schon vor allerhöchsten Herrschaften, Namen will ich nicht nennen, durchgezogen. So wird derartiges Verhalten zum Privileg.“
„Zum Privileg, Boris? Ich hoffe nicht erblich?“
„Nein, keine Sorge. Ist nur ihm und den mit ihm Kooperierenden eingeräumt.“
„Na, dann kann die Damenwelt sich ja entspannen.“
„Nora, der Tanz geht zu Ende, darf ich Euch zu einer kalten Ente ans Büffett bitten?“
„Gern, Boris, aber wiegt Euch nicht in der Hoffnung, Ihr könntet mich ‚alla russe‘ betrunken machen!“
„Warum sollt ich das wollen, Nora?“
„Die Warnung kenn ich nur vom Hörensagen. Unsere Obermamsell schärft ihren Küchen- und Zimmermädchen, vor Tanzereien bei Hochzeiten und sonstigen Belustigungen, strikte Abstinenz ein. Die Kerle, sagt sie, die Kerle legen es darauf an, ein unerfahrenes Mädchen besoffen zu machen, da wird sie willig, hoffen sie. Hinterher will es dann keiner gewesen sein.“
„Was meint die Mamsell mit dem willig werden, Nora?“
„Boris, an sich ist dies keine Frage für einen Kavallier, aber ich beantworte sie. Ihr sollt nicht glauben, ich sei eine dumme Pute und hätte von nichts eine Ahnung. Willig werden, übersetzt ins pferdisch-stutige, bedeutet nach dem Hengst wiehern. Nun, die Folgen sind uns willkommen, gibt es süßeres als ein Fohlen?“
„Ich versteh, Nora, Ihr wisst, wie Gott seine Geschöpfe erschafft, Mensch oder Tier. Nur, entzückende, unerfahrene, erfahrene Nora, von mir und der in Ihrem Hause gebrauten kalten Ente, ist kein bitteres Ende zu befürchten.“
„Fürchte ich nicht, fremdle nur mit dem ‚alla russe‘.“
„Ach Unfug, hört sich wilder an als es ist, jedenfalls hier im gesitteten Preußen. Zuhaus würde niemand ‚alla russe‘ sagen...“
„Ich versteh schon," fiel Nora ihm ins Wort, „zuhaus ist alles ‚alla russe‘, stimmt’s?“
„Ihr bringt es auf den Punkt. Im übrigen, ich schließe es aus Eurem Temperament beim Tanz, gefiele Euch St. Petersburg ungemein. Keine Stadt in Europa ist moderner, kein Hof glänzender, kein Volk versteht zu feiern wie die Russen. Ich als Russe deutschen Geblüts kann das beurteilen. Ein Ball in der Erimetage, unter der Schirmherrschaft des Zaren, ist ein atemraubendes Ereignis. Was schön, edel, reich, gefährlich und nicht einschätzbar ist in Rußland, versammelt sich bei solcher Gelegenheit. Die herrlichsten Gemälde schmücken die Säle, die unvorstellbarsten Geschmeide die Damen. Der Zar, Herrscher aller Reußen, bewegt sich völlig ungezwungen unter seinen ersten Untertanen. Kein Katzbuckeln, keine ausschweifenden, hochwohlgeborenen Anreden. Der Zar ist bei solchen Ereignissen Alexander und nur das.“
„Ihr schwärmt, Boris, bitte steckt mich nicht an mit Eurer Schwärmerei. Am Ende tät es mir noch leid, eine kleine Landadelige aus den hintersten, masurischen Wäldern zu sein. Ich gestehe gern, bislang geht es mir hier gut, ‚alla russe‘, saugut. Eure Welt könnte mich bezaubern, aber eher wie der strahlende Sternenhimmel, der sich uns, besonders jetzt im Winter, allnächtlich darbietet.“
„Nora, versteht mich nicht falsch, ich lebe die meiste Zeit des Jahres in Livland. Nur im Winter, wenn das Land ruht, bin ich ein wenig unterwegs. Von dort, wo ich in Livland lebe, ist St. Petersburg ebenso weit entfernt wie Steinfeld. Nicht in Meilen, aber was Ambiance und Kultur angeht. Viele Gutsherren, besonders die Russen, leben darum dauernd in der Hauptstadt, entziehen ihren Liegenschaften nur Geld. Das hat oft üble Folgen, zwei, drei Generationen so gelebt, und das Vermögen ist dahin. Dann bleibt den Nachkommen nur die Armee oder ein Posten in der Beamtenhierarchie. Die Wersten haben nie so gelebt, haben zwar sämtlich dem Zaren als Offiziere gedient, sind aber danach auf ihre Güter zurückgekehrt. Meine Vorfahren, sowie mein Vater und ich, haben von der Art der Russen, ihren Landbesitz nicht zu schätzen, profitiert. Es gelang uns, benachbarte, nur als Geldquelle missbrauchte Güter zu kaufen und unseren Besitz zu arrondieren.“
Nora fühlte, Wersten erzählte mit einer gewissen Absicht. Ohne sie befangen zu machen, erklärte er ihr seine Verhältnisse. Warum sollte er das tun, wenn nicht aus dem einzigen Grund, sie als seine Frau nach Livland zu entführen? Er war sympathisch, nicht hinreißend, aber sehr, sehr nett. Zwei 'sehr' fragte sie sich, wirklich zwei? Nach einigem sondieren wußte sie: Ja, sehr, sehr. Jetzt verbitte ich mir weitere Grübeleien, beschloß sie, er soll ganz ohne Vorbehalt auf mich wirken.
„So Nora, genug von mir erzählt, unterbrach Boris ihre Gedanken. Ich geleite Euch zu Eurem Platz und möchte gleich um den übernächsten Tanz bitten. Zum nächsten werde ich Mascha bitten, darauf wieder Euch, dann Sonja, darauf wieder Euch. Dann die Baronin Schaper oder eine andere, dann wieder Euch. Und so weiter, Ihr seht, einen über den anderen Tanz möchte ich mir bei Euch reservieren, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, versteht sich.“
Zurück an ihrem Platz hatte sie keine Gelegenheit mit der Mama zu sprechen, Boris hatte Mascha sogleich auf die Tanzfläche entführt. Sie sah sich um. Einige der tapferen Toastausbringer schnarchten unüberhörbar in ihre hohen Kragen, sonst schwang alles das Tanzbein. Plötzlich gingen die Flügeltüren nach draußen auf, herein marschierten zehn Mann. Jeder hatte eine Geige, Flöte, Bratsche, Posaune oder sonstiges Instrument im Arm, sämtlich in grüne russische Husarenuniformen gekleidet. Der Erste marschierte auf den Mascha drehenden Boris zu und fragte auf deutsch, in rauhem Militärton: „Bitte Herrn Oberst um Befehle, die Musik betreffend!“
Boris beugte sich zu Mascha herunter und verhandelte mit ihr. Nora sah ihre Mutter lächeln und eifrig nicken. Mascha trat vor die Musikersoldaten und befahl:
„Die Zarenquadrille, dann weiter so, spielt was gut für die Tanzbeine ist, und vertragt euch mit meinen Musikanten!“
Der Soldat, der Boris um Befehle gebeten hatte, ging auf die Hausmusiker Maschas zu, küsste einem jeden links und rechts auf die Wange, und die anderen taten es ihm nach. Als die Küsserei endlich beendet war, probierten die ungleichen Musikanten zwei- dreimal einen Einsatz, bis es leidlich klappte. Das Fest setzte sich fort und geriet bald richtig nach Noras Herzen. Kein Tanz ging an ihr vorüber, sie musste achtgeben, die Boris versprochenen Tänze für ihn freizuhalten. Das gelang nicht immer, besonders dann nicht, wenn Herren mit älteren Rechten, wie der Papa oder Onkel Fedja, ihm in die Quere kamen. Boris trug es mit Fassung. Als der Papa, sie ihm wieder einmal vor der Nase weggeschnappt hatte, in ihr enttäuschtes Gesicht blickte, setzte er ein feines Lächeln auf und fragte: „Gefällt dir der Ruski?“ .
„Mir gefallen?“ tat Nora verwundert. „Wie sollte er mir gefallen? So wie du mir gefällst? Nein, da hast du ältere Rechte. Oder soll ich ihn mit Onkel Fedja, der Wodkadrossel, vergleichen, der hätte auch ältere Rechte. Nur heute Abend hat er mich mit seiner Sauferei verärgert.“
„Aber Kind, vertu dich nicht. Sieh, wie Fedja das Tanzbein schwingt. Der hat den ganzen Wodka längst verdaut. Tanz mit ihm, du wirst erkennen der Restwodka beschwingt ihn, lässt in schwalbengleich über‘s Parkett schweben!“
„Lieber Papa, dein Restwodka lässt deine Zunge verräterisch schwälbisch über den Worten schweben.“
„Sollte das so sein? Du machst mich nachdenklich, das nämliche meinte deine Mutter mir eben unterjubeln zu müssen. Ach was soll’s. Hauptsache, meine schöne Tochter fühlt sich wohl in Papa’s Arm. Sag, dass du dich wohlfühlst, und ich erfülle dir einen Wunsch! Sag’s!“
Nora nickte, sogleich entließ er sie in Boris Arm, der ihm seinerseits Mascha übergab.
Es war eine vergnügliche Veranstaltung, dieser Abend. Die Herren, die sich nicht dem Suff ergeben hatten, betanzten die tanzwilligen Damen bis zum Umfallen. Nora flog von einem Arm in den anderen. Boris, Fedja, Fritz, Claus es war genial. Mein Urteil über die Kasinoschnarrer ist zu revidieren, ging es ihr durch den Sinn, wenigstens was das Tanzen angeht, das beherrschen sie perfekt. Reicht zwar nur für einen vergnügten Abend, nicht für‘s Leben, aber bitte, besser das als garnichts. Jedenfalls mehr, als ich ihnen zugetraut hatte.
Nach Stunden, die wie im Fluge vergingen, lichteten sich die Reihen. Die Musiker hatten sich bis auf ein unermüdliches Trio verabschiedet, das jetzt von Mascha zu Bett geschickt wurde.
„Einmal ist Schluss," befand sie, und alsbald saßen nur noch Fedja, Mascha, Boris, der Papa, Sonja und Nora zusammen. Das Gespräch, wie so oft nach ausgelassener Fröhlichkeit, drohte eine ernstere Wendung zu nehmen, als Mascha sich dem streng katholischen Fedja, mit ihren innigst gepflegten, ketzerischen Auffassungen zum Fraße vorwarf:
„An einen tatsächlichen Gott, ein Gegenüber, wie ihn die Kirchen predigen, glaube ich nicht. Dass es den je gegeben hat oder je geben wird, auch nicht. Dafür ist die Schöpfung zu erhaben, als dass Gott sich in eines Menschleins Gestalt gezwängt hätte. Der große Irrtum ist: Gott sei Person, wie wir Person sind. Blasphemie! Wie sollte Gott oder die Schöpfung Menschengestalt haben?“
Bevor es zu einer Antwort kam, fing Nora ein Blinzeln von Sonja auf, die ihr gegenüber saß und nur mit Mühe ein Gähnen verbarg. Nora bewegte ihren Kopf ganz leicht in Richtung Treppe, Sonja verstand sofort, stand auf und sagte nun ungeniert gähnend: „Das war’s, wenn ich mich nicht sofort ins Bett fallen lasse, schlaf ich hier im Sessel ein!“
„Ich schließ mich an, Sonja,“ sekundierte Nora. Sie verließen die Runde unbemerkt, als diese dazu überging, sich in eine hitzige Diskussion über Gottes Menschwerdung, den Wahrheitsgehalt der Bibel, die im neuen Testament bezeugten Wunder etc. zu verbeißen.

In ihrem Zimmer fiel Nora ein, ohne Hilfe kam sie nicht aus dem Kleid. Gleichzeitig dachte sie an Klapaidas Wunderhölzchen. Bin ich verliebt? fragte sie sich. So wie in Kurt, den Kutscher, oder mehr oder anders? Anders, es war anders. Subtrahierte sie die Exaltationen des Tanzabends, blieb eine nie gekannte Unruhe übrig. Kein beängstigendes, bedrängendes Gefühl, nein eher war sie beschwingt, meinte ein wenig über den Dielen ihres Zimmers zu schweben. Da ich noch nie, den Kutscher beiseite gelassen, verliebt war, kann ich nicht genau wissen, wie Verliebtheit sich äußert, also sollte es mir unbenommen sein, den Duft der Hölzchen zu atmen. Ist mein Gefühl tatsächlich Verliebtheit oder der Anfang von Liebe, werde ich es spornstreichs erfahren. Sollte es nichts damit auf sich haben, wirkt der Zauber nicht.
Sie nahm ein Schwefelholz und entzündete das Öl unter ihrem Samowar. Bald blubberte das Wasser in dem Kesselchen. Nora nahm das Holzbündelchen aus dem Geheimfach ihres Sekretärs, hing es an dem Faden, mit dem es zusammengehalten wurde, in das sprudelnde Wasser und drehte die Sanduhr um. Sie atmete den ihr in die Nase steigenden Duft der Zauberhölzchen ein, bis der Zylinder der Uhr halb ausgelaufen war, wie Klapaida angeraten hatte. Allerdings fühlte sie nur die Hitze und den Schweiß, der ihr übers Gesicht rann. Sie nahm ein Handtuch und wischte sich trocken, Wirkung verspürte sie nicht. Sie löschte das Feuer unter dem Samowar und legte die Hölzchen wieder an ihren Platz.
Jetzt hätte sie sich zu Bett legen können, aber da war das Kleid! Die vom Nacken über den Rücken bis zu den Knien durchgehende Knopfreihe, konnte sie nicht allein öffnen. Sonja bitten? Nein, verwarf sie den Gedanken, ich bin nackt unter dem Kleid. Sonja würde das willkommener Tratschstoff für Wochen sein. Wem nicht, gestand sie sich lächelnd. Sollte ich die schöne Dame nackt aus ihrem Kleid gepellt haben, wäre das nicht anders. Also leg ich mich im Kleid zu Bett, warum nicht, mehr als das schöne Stück zerdrücken wird nicht geschehen.
Sie warf die Schuhe von den Füssen, rollte die Strümpfe runter und ließ sich genüßlich in die weichen Federn sinken. Als sie schon zurechtgeruckelt war, fiel ihr der Schmuck ein. Die Parure, Ohrringe, Armreif und der große Smaragdring, geerbt von der Urgroßmutter, die den Schmuck der jeweilig erstgeborenen Enkelin zugedacht, hatte sie nicht abgelegt.
Sie überlegte noch, ob sie nicht doch besser...., als Klapaidas Stimme in ihrem Ohr war.
„Marjellchen, Nora, kicherte die Alte, Marjellchen, bist was hastig gewesen, hab nicht mit gerechnet. Bist schon ein gutes Stück unterwegs dahin, aber noch nicht da, längst nicht. Hast den Zauber gelöst, alles richtig gemacht. Der Zweifel, ob verliebt oder nicht, ist angekommen. Nur, Marjellchen, lösen kann ich den Zauber nicht, du hast gerufen, nun wirkt er. Fürcht aber nichts, wird schon werden. Träum süß!“


2003
Zähne klappernd und zitternd wie Espenlaub, fand sich Nora unter hohen, verschneiten Bäumen, die wie Soldaten in Reihe links und rechts eine breite Allee säumten. Sie sah an sich herunter und stellte erschreckt fest, sie stand mit bloßen Füßen im Schnee. Sie fühlte, wie die Kälte sich über ihren Körper hermachte, der nur durch das Ballkleid der vorigen Nacht und sonst nichts geschützt war. Sie fürchtete sich.
Egal was wird und ist, vor allem raus aus der Kälte, längeres Verweilen konnte tödlich enden. Was war geschehen? Beim besten Willen, sie konnte sich nicht erinnern. Während sie bemüht war, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen, rannte sie, so schnell sie in dem engen Kleid konnte, die Allee hinunter. Sie fühlte ihre Füße nicht mehr, als sie vertrautes Entengeschnatter von rechts, irgendwo hinter den Bäumen hörte. Mit letzter Kraft lief sie, in der Hoffnung auf Menschen zu stoßen, auf die vertrauten Laute zu.
Glück gehabt! Da stand ein großer Mensch, ob Frau oder Mann konnte sie auf den ersten Blick nicht erkennen, war gleichgültig in ihrer Lage. Ein Mensch stand da, mehr zählte nicht im Augenblick. Sie rief:
„Pardon, könntet Ihr mir helfen?“
Bevor sie nochmals rufen konnte, wandte sich die Gestalt ihr zu. Ein Mann, wie sie an seinem Schnurrbart erkannte, der sie anstarrte wie einen Geist. Genau so hätte Nora ob der sonderbaren Tracht des Mannes wohl auch geguckt, wäre ihr nicht so unerträglich kalt gewesen.
„Bitte!“ rief sie. „Helft mir, ich erfriere!“
„Bei dem, was Sie anhaben, keine Frage!“ die Antwort. Der Fremde kletterte die kleine Böschung, die das Ufer eines Sees einfasste, an dem er Enten gefüttert hatte, herauf und bot ihr seinen Arm.
„Nein, warten Sie“ er zog seinen Mantel aus und drängte sie hineinzuschlüpfen.
„Jetzt schnell vorwärts, kommen Sie!“ rief er ungestüm, hakte sich fest bei ihr ein und stürmte los.
„Schnell laufen ist wichtig, bringt das Blut in Wallung“ keuchte er, „keine fünf Minuten und wir haben es geschafft. Sehen Sie das Haus dort drüben?“ Nora, die bei seinen Riesenschritten kaum mithalten konnte, nickte. Er sah zu ihr hinunter und entschuldigte sich:
„Ich würde noch schneller rennen, wenn ich könnte . Wie lange sind Sie mit dieser Kleidung schon in der Kälte? Wir haben 12° minus! Nein, antworten Sie nicht, sparen Sie Ihren Atem für‘s Laufen!“
Endlich standen sie vor einer Tür. Nora nahm nichts mehr wahr. Die Art, wie der Fremde sie hinter sich hergezogen hatte, hatte ihr die letzte Kraft geraubt. Bevor sie umsank, fühlte sie sich aufgehoben und in eine warme Höhle getragen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
also

den ersten teil mit den vielen gesprächen finde ich zu langatmig, hier könnte gestrafft werden, ohne dass etwas vom inhalt verloren geht.
ansonsten - guter stil.
lg
 



 
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