Klapaida Teil 3

Haarkranz

Mitglied
„Ich werde Sie abreiben, massieren," sagte das Gesicht über ihr. „Sind Sie einverstanden, dass ich Sie entkleide?“ Sie schaute wie durch Schleier in freundliche braune Augen, die mit einem schwarzen Schnurrbart zu tanzen schienen.
Entkleiden? Sie nickte und flüsterte: „Entkleidet."
„Ich nehme Ihnen zuerst den Schmuck ab," kam es wieder aus dem Schnurrbart, „dann drehe ich Sie auf den Bauch und versuche, die vielen Knöpfe ihres Kleides zu öffnen. Danach massiere ich Sie gründlich, es wird weh tun. Ich hoffe das wird genügen und Sie erzählen mir später, wie Sie in diese unglückliche, ja gefährliche Lage geraten sind.“
„Macht zu,“ flüsterte Nora, der durch ihre halbe Ohnmacht schwante, was der Fremde tun würde. Sie wusste von der Mama, erfrorene oder halb erfrorene Finger, Füße und Körper konnten durch eine ordentliche Massage gerettet werden.
Ihr Retter nahm ihr den Schmuck ab, danach drehte er sie auf den Bauch. Sie unterstützte ihn, fühlte dann seine Finger sich an den Schlingen und Knöpfen ihres Kleides versuchen, kam aber mit den Knöpfen am Hals nicht zurecht. Sie hörte wie er seine Finger aneinander rieb, will sie aufwärmen und geschmeidig machen, ging es ihr durch den Kopf.
Nicht lange, und er war wieder an ihrem Nacken, er hatte begriffen wie es ging, oder seine Finger waren vorher zu kalt gewesen. Eine unmögliche Situation in der ich mich befinde. Wenn die Mama mich so sähe? Ach was, Situation, ich war kurz vorm Erfrieren, bin es noch, und der Fremde kümmert sich um mich.
Sie fühlte seine Finger sich ihrer Taille nähern, langsam würde ihm aufgehen, sie hatte nichts an unter dem Kleid. Was soll‘s, erspart ihm, mir die Wäsche vom Leib ziehen zu müssen. Jetzt führte der Weg seiner Finger weiter zu ihrem Ärschchen, sie spürte wie er hurtiger und hurtiger knöpfte. Endlich war auch die letzte Schlinge besiegt. Sie hörte ihn flüstern, als er ihr das Kleid vollends vom Leib zog: Was für ein schönes Mädchen.
Dann sagte er: „Beißen Sie jetzt die Zähne zusammen, die Haut am Po ist blau gefroren, da muss ich ordentlich ran. Schreien Sie ruhig, wenn es sehr weh tut, damit ich Ihnen eine kleine Pause gönne. Wenn ich Sie in der nächsten halben Stunde nicht hinkriege, müssen Sie ins Krankenhaus.“
Krankenhaus, Po, er spricht Worte, die ich nicht kenne, aber halbwegs verstehe. Kranke und Haus, aber Krankenhaus? Und Po? Sollte das mein Ärschchen sein? Er wird beim Massieren weiteres sagen, da heißt es die Ohren spitzen, fühl mich jedoch geborgen, vertraue ihm.
Seine warmen Hände waren auf ihrem, wie hatte er gesagt, Po? Vorsichtig schob er beide Hälften gegeneinander und ließ sie wieder und wieder zurückschnellen.
„Tut das weh?“ fragte er.
„Nein, tut nicht weh“ Nora schüttelte, als sie antwortete, ein wenig den Kopf.
„Auch nicht an dem üblen blauen Fleck, der ihren Allerwertesten ziert?“
O Gott, es durchfuhr es siedendheiß, wie peinlich, wie sollte sie erklären? Da gab es nichts zu erklären, also sagte sie beherzt:
„Nein, kein Schmerz, auch nicht an dem üblen Fleck.“
„Na, dann wollen wir mal,“ hörte sie ihren Masseur, und dann ging er wirklich zur Sache. Er schrubbte sie mit rauhen Tüchern von Kopf bis Fuß, hörte nur auf, um die Farbe ihrer Haut zu begutachten.
„Hinten sind Sie jetzt krebsrot," berichtete er zufrieden. „Ich greif jetzt mal ordentlich zu, muss wissen, wie weit Ihr Gefühl intakt ist." Nora schrie laut auf. Er nahm die Hände sofort zurück.
„Macht weiter,“stöhnte sie „hab mich erschreckt, werde mich beherrschen!“
Wieder wühlten seine Finger wie Greifklammern in ihrem Fleisch, Nora verbiss sich in das Tuch, das ihr Retter über die Liege gebreitet hatte, und gab keinen Mucks mehr von sich.
„So, das war die Rückseite. Darf ich mich Ihnen vorstellen, ich bin Arzt, Doktor Bernhard Bern,“ sagte der Mann, und unterbrach seine Arbeit.
„Ich bin Nora, Komtess Kelm von Gut Steinfeld, Kreis Lyck in Masuren.“antwortete Nora.
„In Masuren?“
„In Masuren, bin ich hier nicht in Masuren?“
„Besprechen wir später. Jetzt sind Sie Patientin. Drehen Sie sich auf den Rücken.“
Nora zögerte einen winzigen Moment, auf dem Rücken war sie mit ihrer ganzen Weiblichkeit seinen Blicken preisgegeben. Noch nie hatte ein Mann sie nackt gesehen, jedenfalls nicht, seit sie eine Frau war. Doch sie gehorchte, drehte sich um, legte jedoch die Hände auf ihre Scham.
„Sie müssen sich nicht vor mir schämen, Nora,“ der Doctor lächelte beruhigend auf sie herab. „Ich bin Arzt, betrachte sie ganz ohne den Blick eines Mannes. Als ich eben sagte, Sie seien ein schönes Mädchen, war das ganz sachlich gemeint, so wie man von einem schönen Schmetterling oder einfach von Schönem spricht. Also legen sie Ihre Hände zur Seite, und lassen Sie sich von mir durchmustern.“
Auch jetzt fügte sie sich. Der Doctor massierte von den Zehen aufwärts, dehnte und drückte ihr Fleisch. Die Oberschenkel knetete er, nachdem er sie kräftig gerubbelt hatte, so ordentlich durch, dass sie garnicht anders konnte, als ihre Beine unter dem Druck seiner Hände und dem Schmerz, der aufflammte, zu öffnen. Sie wusste, er würde sehen, was sie selbst noch nie gesehen hatte. Nach den Beinen beklopfte er den Bauch, befand den für in Ordnung und walkte die Hüften durch. Dann machte er wieder sein freundlich bestimmtes Gesicht und sagte:
„Nora, Sie werden bemerkt haben, ich berührte Sie nur, wo es sein musste. Ich möchte Ihre Brüste abtasten. Nach dem Po waren die der Kälte am heftigsten ausgesetzt. Ich glaube, Sie hatten Glück, nur um vorzubeugen will ich untersuchen. Die zarte Haut der Büste könnte sich verfärben, das wäre für ihr Dekolletee verheerend.“
Nora nickte Einverständnis.
Dr. Bern schob seine Finger sie kaum berührend über die zarte Haut, sich in Kreisen der rosigen Knospe nähernd. Nora verlor bei dieser Prozedur langsam jede Scheu. Sie fühlte, wie von ihrem Knöspchen ausgehend, ein unbekanntes Gefühl ihren Körper durchströmte. Doch da war die Untersuchung auch schon beendet.
„Gnädigste, Freifräulein oder Comtess, was Sie auch sein mögen, Sie haben Schwein gehabt. Halb erfroren auf einen Arzt zu stoßen, der gleich nebenan wohnt, grenzt schon an Zauberei. Jetzt unter die Dusche. Warten Sie, ich gebe Ihnen einen Schlafanzug, den können Sie nach dem Bad überstreifen. Wird zu groß sein, krempeln Sie Arme und Beine einfach hoch.“
„Danke schön, Doctor, jetzt erklärt mir noch, was eine Dusche ist, und ich werde Euch ewig dankbar sein.“
„Ach, die Comtess kennt keine Dusche? Kennt sie denn ein WC?“
„WC? Nein, kenn ich nicht, erklärt mir das bitte auch“
„Folgen Sie mir, ich zeig es Ihnen!“
„Bitte nennt mich Nora, dann können wir die umständliche dritte Person weglassen.“
„Gern Nora, nenn mich. Bernie, komm mit. Hier ist das Bad. Den Hähnen, die hier aus den Wänden ragen, entnehmen wir kaltes und heißes Wasser. Dies ist das Handwaschbecken, dort die Zelle ist die Dusche. Das Wasser, kalt oder warm, entströmt dem kleinen Kopf dort oben, wir nennen das Brause. Hier der Sitz ist das WC. Sieh, man klappe den Deckel hoch, setzt sich auf die Brille und erledige sein Geschäft, säubert sich mit dem weichen Papier von der Rolle hier, und wirft es dem anderen hinterher. Dann drückt man hier auf den Knopf, Wasser stürzt hinunter und spült das Geschäft weg. Sollten noch Reste zurückgeblieben sein, mit der Bürste die Keramik sauber schrubben.“
„Bernie, wo bin ich? Eben habe ich gefürchtet zu erfrieren, jetzt könnte mir nicht fürchterlicher zu Mute sein, wie wenn ich durch die Luft an den Hof des Zaren, nach Petersburg versetzt worden wäre. Auch dein Anzug ist so ganz anders als der unserer Herren, vom Haus ganz zu schweigen. Ich fürchte mich vor den Hähnen, der Brause, dem WC. Ich nehme an, du erklärst mir das so genau, weil du mich mit all dem krausen Unerklärlichen, allein lassen willst. Mir schwant, ich soll duschen und meine Notdurft dort auf dem WC erledigen?“
„Da schwant dir richtig, Nora!“
„Bernie, geh bitte mit mir unter die Dusche. Du siehst mich ohne Kleider, also kann ich dich ohne Kleider sehen. Das würde mich ungemein beruhigen, wenn ich auch noch keinen nackten Mann in natura gesehen habe, so hat mir die Mama beim Unterricht über die Verschiedenheit der Geschlechter Bilder gezeigt, die der Wirklichkeit entsprachen.“
„Also Comtesschen, wegen der Nacktheit mach dir keine Gedanken, bei uns gehen Männer und Frauen im Sommer zusammen baden, nackt! Im Winter zusammen in die Sauna, nackt!“
„Sauna, das kenne ich, ich liebe die Sauna. Sich mit Reisern peitschen, zur Abkühlung im Schnee rollen, das machen wir jede Woche. Frauen und Männer getrennt, versteht sich!“
„Versteht sich, Nora. Also jede Woche, auch bei mörderischer Kälte, in die Sauna und dann in den Schnee?!“
„Manchmal, wenn Zeit ist, zweimal die Woche!“
„Jetzt verstehe ich, wie du die Kälte in deinem Fummel abkonntest! Training, die Sauna hat dich trainiert. Ohne Sauna, wer weiß, wie das ausgegangen wäre!“
„Da magst du Recht haben, wir kühlen uns nach der Sauna im Freien, bei Temperaturn von 20° minus oder mehr, die keine Seltenheit sind.“
„Das hat dich ohne Erfrierung davonkommen lassen, Nora. Wie lange irrtest du in der Kälte herum, bis du auf mich trafst?“
„Hab keine Ahnung. Doch bitte, zieh dich jetzt aus, zeig mir, wie Brause, Wasser aus Hähnen und WC geht.“
Bernie zierte sich nicht, zog seinen Pullover über den Kopf, sprang aus Hose und Wäsche. Als er seine Armbanduhr ablegte, fiel ihm Noras scheuer Blick auf das gute Stück auf. Er zeigte ihr das Zifferblatt, ließ die Mondphasen ablaufen, erklärte, wie die Uhr synchron mit dem Himmelsgestirn lief. Die Mondphasen kenne ich, erklärte Nora, ebenso Uhren und Mechanik, aber noch nie habe ich etwas in solcher Winzigkeit gesehen. Wie überhaupt jegliches, wohin ich blicke, mich in höchstes Erstaunen versetzt.“
Bernie, der Nora die Uhr nackt neben ihr stehend erklärt hatte, wunderte sich insgeheim über die souveräne Unbefangenheit der jungen Frau, nein des Mädchens, als das sie sich sicher verstand. Als er ihr den Schmuck abgenommen hatte, erkannte er, denn alter Schmuck interessierte ihn, Schmuck aus Wien. Aus der Zeit, um die Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert. Ganz herrliche Stücke, mit erstklassigen Steinen, was eine Seltenheit war, legte man zu jener Zeit doch noch keinen besonderen Wert, auf Reinheit und Farbe der Steine, wenn sie nur groß genug waren. Er stand, wie die entzückende Nora, vor einem Phänomen.
„Also los, Comtess, unter die Brause!“
„Ja gleich,“ sie nahm seine Hand und führte sie ganz unbefangen zu ihrem Herzen.
„Fühlst du, wie hurtig es schlägt? Es fürchtet sich nicht, weil du bei mir stehst, aber es fühlt, diese Stunde seit ich wieder denke, ist so unvorstellbar, wie ein Bruch des Himmels. Ich ahne, dass dem so ist. Nun magst du die Brause brausen lassen, ich halte mich ein bei dir.“
Sie umschlang ihn und presste ihr Gesicht an seine Brust. Als das warme Wasser herunterrauschte, fühlte Bernie, wie sie sich an ihn klammerte, als das Wasser auf Duschwände und Fliesenboden prasselte. Doch es dauerte nicht lange und sie entspannte sich, hielt ihr Gesicht in die Strahlen der Dusche, drehte sich, genoß es, als Bernie den Duschkopf auf Massage stellte, und die harten Strahlen ihren Rücken durchklopften.
„Bernie, ist das herrlich," jauchzte sie, „lass es wieder sanfter fließen. Als Kinder, im Sommer auf unserer Bleiche, hat Mama uns von einer Magd aus der Gießkanne, die eine Art Brause am Ausfluß hatte, begießen lassen, bis wir mit den Zähnen klapperten. Aber das hier übertrifft alles.
Jetzt müßte ich das WC benutzen, gerne blieb ich dabei allein. Bitte, erkläre mir noch einmal, was ich zu tun habe, und bitte auch die Hähne an der Waschschüssel.“
„Sofort, Nora." Bernd stellte die Brause ab und stieg aus der Kabine. „Also schau genau hin, ich zeig es dir.“
Nora schaute konzentriert zu, ahmte sogleich die einzelnen Handgriffe nach, die das Wasser kalt oder warm fließen, die Toilette rauschen ließen.
„Es ist so unglaublich wunderbar,“ staunte sie, „ich mag jetzt nicht fragen, wie es bewirkt wird, kann mir denken, dass Rohre durch die Wände gelegt worden sein müssen.“
„So ist es. Ich gehe jetzt, wenn du fertig bist, klopf einfach an die Tür und ich bin bei dir.“
Es dauerte nicht lange und sie steckte den Kopf aus der Tür und fragte:
„Bernie, erkläre mir, wo ich mich befinde. Ich erkenne meine Lage klarer als du glauben magst. Meine Situation macht mich absolut hilflos, doch ich fürchte mich nicht. Sicher erschreckt mich die Fremdheit aller Dinge. Auch deine Fremdheit, in den mir fremden Kleidern. Nackt bist du mir nah, deine Kleidung empfinde ich als Verkleidung. Erkannt habe ich, du scheinst in der Zukunft zu leben und ich komme aus der Vergangenheit.“
„Wie das, Nora? Woran erkennst du Zukunft und Vergangenheit?“
„Weniger an den Badspielereien, die Römer haben schon Thermen gekannt, wie der Geheimrat Goethe von seiner italienischen Reise berichtete. Dein Chronometer sagt mir viel mehr. Auf Steinfeld versuchen Schmiede und Wagner unablässig, leichtere Gefährte zu bauen, geschmeidigere Wagenfedern zu schmieden. Wenn es ums Grobe geht, sind sie erfolgreich, doch Feinarbeit mißlingt ihnen, trotz eifrigster Bemühung.
Mein Vater hat eine stundenschlagende Repetieruhr, gefertigt vom berühmtesten Londoner Uhrenmacher. Sie ist fünffach so groß wie deine, die du am Arm trägst, und schlägt nur die Stunden. Keine Rede von Mondphasen, wenn ich mich nicht irre, habe ich auch einen Kalender an deiner Uhr erkannt.“
„Alle Achtung, Nora, das mit dem Kalender erkannt zu haben ist superb! Erklär mir doch bitte, da du wie ich erkenne, deine Lage so kühl und besonnen einschätzt, was es mit unserer Begegnung auf sich hat?“
„Bernie, was ich zu erzählen habe, klingt unglaublich, doch will ich es versuchen.
Also, meine Eltern hatten zum 27. Januar 1817 unsere Nachbarn, sowie den durch die Vertreibung Napoleons aus Rußland, ihnen bekannten Grafen Wersten zu einer großen Jagd nach Steinfeld eingeladen. Die Jagd ist ein gesellschaftliches Ereignis, was bedeutet, am Abend gab es ein großes Bankett und anschließend einen Ball, der bis in den nächsten Morgen dauerte.
Ich hatte mich besonders schön gemacht, war es doch ein besonderer Abend. Mein Ballkleid hatte ich schon einmal vor Jahren getragen, so daß Mama fürchtete, es könne mir nicht mehr passen. Bei der Anprobe fanden wir heraus, es säße wie angegossen, trüge ich es ohne Wäsche. So geschah es, was mir nicht geringes Embarressement verursachte, als du es mir vom Leib schältest. Auch der üble blaue Fleck, wie du ihn zu nennen beliebtest, stammt von meiner Hand. Ich brachte ihn mir bei, als ich mich zur Ordnung rief, aus welchem Grund sei dahingestellt.
Nach dem Ende des Balls begab ich mich totmüde auf mein Zimmer, wo ich feststellte, ohne Hilfe kommst du nicht aus dem Kleid. Das störte mich allerdings nicht, denn das gute Stück würde ich sobald nicht wieder tragen. So legte ich mich also, nachdem ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen, mit dem Kleid zu Bett.
Wach wurde ich, mit nackten Füßen, durch den Schnee einer mir unbekannten Allee laufend. Mir war bald klar, der Kälte hielt ich ohne Hilfe nicht lange stand. Das ist in kurzem meine Geschichte, Bernie.“
„Schön Nora, ähnliches hatte ich geahnt, allein durch die Bewertung deines Schmucks, die Machart deines Kleides. Womit ich nicht den Schnitt meine, auch heute tragen unsere Damen Kleider dieser Facon, da hat sich wenig geändert. Mit Machart meine ich die exquisite Art, wie das Kleid genäht wurde, jeder Stich mit der Hand, denn Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts gab keine mechanischen Nähmaschinen.“
„Und heute, denke ich mir, geht es gar nicht mehr ohne mechanische Nähmaschinen, Bernie?“
„Stimmt, fast alles was wir herstellen, wird durch Maschinen hergestellt. Handarbeit ist ein kaum erschwinglicher Luxus, nur für Reiche zu bezahlen.“
„Mein Vater hat das schon erkannt, Bernie. Er pflegt zu klagen: Hat sich erst einmal ein Gerät zur Erleichterung der Arbeit eingebürgert, so kommt die früher ohne das Gerät jedermann geläufige Art etwas zu tun, sogleich in Vergessenheit.
Weil er das erkannt hat, werden Neuerungen auf Steinfeld erst nach sorgfältiger Prüfung durch Johann, seinen Vormann, eingeführt. Mehr kann ich nicht von mir berichten. Mit welcher Spannung ich deiner Rückschlüsse harre, wirst du dir denken können.“
„Ich fang sofort an. Was meinen Bericht unterbrechen könnte, ist der Besuch meiner Schwester, auch sie ist Ärztin, der um diese Zeit verabredet ist. Bitte, zieh dir meinen Schlafanzug über, komm, ich helfe dir die Beine hochzukrempeln, und tu du das gleiche mit den Ärmeln.“
„Sicher schlüpf ich da schnell hinein, möchte das Gesicht deiner Schwester sehen, wenn wir sie im Adamskostüm empfangen. Nur bitte, lass mich helfen Bernie, krempele du die Ärmel dieses Riesenanzugs auf, die Beine bewältige ich gut allein.“
„Stimmt, Comtesschen, wir Männer sind in solchen Dingen nicht sonderlich geschickt, lass mich dir als Retourkutsche sagen, du könntest bei deiner entzückenden Leiblichkeit, meine Schwester nie im Adamskostüm empfangen!“*
„Angekommen, Bernie, doch im Spiegel graust mir vor diesem Nachtpolter, weiblicheres hast du nicht im Haus? Etwas von einer Dienstmagd oder Zofe, die ungefähr meine Beschaffenheit hat, täte es, ich bin da nicht zimperlich. Ein einfaches Kleid erlöste mich, von diesem wahrhaft dromedarischen Auftritt, in diesem, wie sagtest du, Schlafanzug.“
„Ich muss dich enttäuschen, du befindest dich im Haushalt eines Singles. Viele Männer und Frauen leben heutzutage allein, unverheiratet. Tun sich als Liebespaare zusammen, lieben sich eine längere, meist kürzere Zeit, gehen wieder auseinander. Das macht keine Schwierigkeiten, jeder hat während der Affaire seine Wohnung behalten, seine Lebensumstände unverändert gelassen.“
„Was ist mit den Kindern?“
„Es gibt keine Kinder, wenn ein Paar keine will, Nora. Unsere Wissenschaft hat im Zwanzigsten Jahrhundert, wir leben schon im Einundzwanzigsten, einen Ovulationshemmer entwickelt. Das ist eine winzige Pille, die eine Frau an den menstruationsfreien Tagen täglich schluckt, um sich damit sicher vor Empfängnis zu schützen.“
„Aber Kinder, Bernie, müssen geboren werden, um das Leben zu erhalten? Bei uns ist es eine Krankheit, Anlass zu größtem Leid, keine Kinder zu haben!“
„Auch bei uns werden viele Paare Eltern, könnten sich ein Leben ohne Kinder nicht vorstellen. Um die Sterberate auszugleichen, sind es jedoch zu wenig.“
„Bernie! Ich bin im Einundzwanzigsten Jahrhundert?“
„Genau Nora, wir schreiben den 28. Januar 2003!“
„O Gott! wenn ich richtig rechne, sind das186 Jahre voraus in die Zukunft! Die Eltern, Graf Wersten, Onkel Fedja, meine kleinen Brüder, Griseldis lange tot? Aber ich war doch gestern noch unter ihnen? Was mag aus Steinfeld geworden sein? Du weißt es Bernie, für dich ist es Geschichte. Genau wie ich vom Deutschen Orden, dem Großen Kurfürsten und dem Alten Fritz weiß.“
Während diese Erkenntnis ihr Gewißheit wurde, sackte sie zusammen und Tränen füllten ihre Augen. Bernie nahm sie in den Arm, versuchte zu trösten, aber sein Trost lockte die Tränen erst recht. Also wiegte er sie sacht wie ein Baby, und wischte das eine oder andere Tränchen weg. Sein Handy summte. Am anderen Ende war Vicky, seine Schwester. „Ich bin in fünf Minuten unterwegs, Bernie, bitte entschuldige die Verspätung!“
„Stopp, Vicky, nicht so hastig. Deine Verspätung kommt gelegen. Neben mir sitzt ein weiblicher Gast mit, sag ich mal, deinen Maßen, der außer einem Ballkleid, nichts anzuziehen hat. Bist du so gut und bringst Jeans, Pully, Socken, wenn möglich Schuhe und Unterzeug mit?“
Er hörte seine Schwester tief durchatmen, dann sagte sie: „Hört sich an, Bernie, als ob die Dame nackt ist? Soll ich meinen Besuch nicht besser verschieben? Die paar Klamotten, wenn du es nicht wissen solltest, Größe 38, kriegst du in jedem Kleiderladen.“
„Nein Vicky, bitte komm! Nein nicht bitte, du musst kommen, wir brauchen dich!“
„Wir Bernie? Seit wann wir? Als wir uns gestern verabredeten, wusstest du noch nichts von der Dame, oder bin ich da auf dem Holzweg?“
„Absolut nicht, Vicky, es geht nicht um eine Affaire, wozu brauchte ich dich da?“
„Stimmt Bernie, ich pack was ein, bin gleich da. Also tschüs.“
„Das war meine Schwester, die sich wundert, wieso eine Dame ohne propere Bekleidung bei mir wohnt, von der ich gestern noch nichts wusste.“
„Kann ich gut verstehen, was ich noch verstanden habe, sie wird mich aus dieser Dromedar- Bekleidung erlösen. Was ich nicht verstehe, wie sprachst du mit ihr? Das silberne Kästchen hat gebrummt, das hab ich vernommen, dann nahmst du es ans Ohr und sprachst mit deiner Schwester, wie das? Auch eines der Wunder dieses Jahrhunderts?“
„Nicht einmal, Nora, die Telefonie wurde Ende deines, des Neunzehnten Jahrhunderts erfunden. Richtig ist, unsere Zeit wird für dich eine einzige Wundertüte sein, wenn du erst erkennst, welcher Hilfsgeräte wir uns alltäglich bedienen. Aber du hast das Tempo schon vorgegeben, eins nach dem anderen. Gleich lernst du meine Schwester kennen, die hat einen praktischen Verstand, vielleicht kommen wir gemeinsam deinem rätselhaften Hiersein näher.“
„Hoffentlich bringt sie mir ein paar Kleider mit, das interessiert mich ehrlich gesagt ebenso, wie mein rätselhaftes Hiersein.“
„Wird sie, nur wundere dich nicht. Was sie mitbringt sind Kleidungsstücke, die Damen meiner Zeit, in ihrer Freizeit tragen.
„Trägt deine Schwester diese Kleidung?“
„Ganz sicher, ich kenne sie kaum anders.“
„Gut, dann gefallen sie mir auch. So langsam dämmert mir, ich befinde mich in einer fatalen Situation. Diese Spanne von fast zwei Jahrhunderten macht mir zu schaffen. Ich bin nicht ganz unschuldig an meiner Lage. Doch was sage ich, ich musste nicht im Traum daran denken, dorthin zu gelangen, wo ich offensichtlich bin.
Ich hämmere es mir ein, du bist Wirklichkeit, bist Arzt, hast ein Haus, eine Schwester, trägst Kleider...“
„Stopp Kleines, eben nicht, siehst du Kleider an mir? Warte einen Augenblick, ich zieh mich schnell an.“
Als er angekleidet zurückkam, läutete es.
„Vicky, komm rein und direkt mit durch ins Bad. Darf ich dir die Comtess Nora von Kelm vorstellen, ansässig auf Gut Steinfeld, Kreis Lyck in Masuren. Bei bitterster Kälte, nur angetan mit ihrem Schmuck und einem Ballkleid, hierher verschlagen.“
„Hallo Nora,“ etwas zögerlich ging Vicky auf die junge Frau zu, die da in ihres Bruders Pyjama auf der Massageliege saß und ihr ohne Scheu in die Augen sah.
„Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Vicky, wenn ich Euch so nennen darf.“
„Sie dürfen, Comtess," lächelte Vicky, "nur sprechen Sie mich nicht in der dritten Person an.“
„Gern, eins gefällt mir jetzt schon an eurer Zeit, sie ist ohne Schnörkel. Darf ich du sagen, Vicky?“
„Sag du zu mir, Nora, das macht es einfacher,“ dabei schaute sie Nora schüchtern und gleichzeitig skeptisch an.
„Gerne," willigte Nora ein. „Bernie sagt, du hast mir Kleidung mitgebracht?“
„Ja Nora, hier in der Tasche. Pullis, Hosen usw. Kannst dich sofort umziehen, der Pyjama steht dir garnicht.“
„Macht mich zu einem Dromedar, find ich. Könntest du mir behilflich sein bei der Auswahl der Sachen, Vicky?“
„Gern, und du erzählst mir...?“
„Was es mit mir auf sich hat? fiel Nora ihr ins Wort
„Nicht unbedingt mit dir, Nora, eher mit den Umständen deines Erscheinens.“
„Vicky, das ist ein und dasselbe. Mein Sein und mein Hiersein, sind beide gleich mysteriös. Nicht mein Norasein, sondern ich als Nora hier, meine ich. Aber hilf mir bitte mich anzukleiden, die näheren Umstände meines Auftritts hier, mag dir Bernie erklären.
Also, mit der Unterwäsche freunde ich mich sofort an, fühlt sich gut an auf der Haut. Die Hosen, sagst du, nennt man Jeans? Eng sind die, und das Ding mit den Zähnen ist ein Reißverschluß? Den zieh ich jetzt einfach hoch. Bin ja eingepreßt in die Hose, vor dem Spiegel ahnt man meine Weiblichkeit. Ist schicklich, denn du trägst die gleiche Hose, Vicky?“
„Keine Sorge, Nora, da ist nichts unschicklich. Jetzt der Pulli, ich lass alle hier, nur für jetzt such dir einen aus.“
„Der Rote gefällt mir, was trage ich darunter?“
„Bei deiner Figur nichts.“
„Nichts Vicky? Da zeichnen sich doch meine Knöspchen für jederman sichtbar ab? Geht das?“
„Aber sicher geht das. Ich habe einen BH mitgebracht, weiß aber nicht ob der passt, nötig hast du den nicht.“
„BH, Vicky?“
„Bruststütze, nein, Mieder nannte man das früher, jetzt fällt es mir ein.“
„Aber das Ding ist kein Mieder, Vicky. Ein Mieder stützt von unten und gewährt Einblick von oben. Von oben zeigt unsere Mode die Büste, beinah bis zu den Knöspchen, die aber müssen verborgen bleiben. Wo ich es dir beschreibe, geht mir der Widersinn auf. Ich brauche ersteinmal keinen BH. Unter dem Pulli ist alles wohl verborgen. Jetzt noch die Slipper, richtig Vicky? Du nickst, also bin ich jetzt eine junge Dame des Einundzwanzigsten Jahrhunderts.“
„Ich hab nichts gefragt, Nora, nur staunend deinen Bemerkungen gelauscht. Nun klär mich auf, wenn du jetzt erst eine Dame unseres Jahrhunderts bist, aus welchem Jahrhundert kommst du?
„Ja Vicky, das ist mein Problem. Bernie hat mich heute Morgen direkt aus dem Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts aufgelesen. Ganz korrekt, gestern Nacht hab ich noch auf dem Ball, den meine Eltern am 27. Januar 1817 auf Gut Steinfeld gaben, getanzt.“
„Darf ich mich erst einmal setzen, Nora?“
„Sicher, setzt dich, aber frag nicht weiter. Lass bitte Bernie erzählen, was sich ereignet hat. Den Anfang der Geschichte hab ich nur halben Sinns erlebt.“
„Das ist außerordentlich, Nora, gehen wir zu meinem Bruder.“
„Ja bitte, Vicky, dann kannst du weitere Beweisstücke besichtigen, denn nackt kam ich nicht hierher.“
„Bernie! Ich fass es nicht, bestätigst du mir Noras Aussage, rüttelt das in nicht erklärbarer Weise an unserem Selbstverständnis!?“
„Nicht nur an unserem, Vicky. Nora verliert ihre Familie, vertraute Umgebung, nebst sämtlicher Perspektiven, sollte nicht weiter Undenkbares geschehen.“
„Undenkbares geschehen, wie meinst du das?“
„Wie ich es gesagt habe. Das Erscheinen Noras, war bis heute Morgen unvorstellbar. Nun sitzt sie hier mit uns in diesem Raum, spricht mit uns, trägt deine Kleider, hat ein Ballkleid und herrlichen Schmuck aus der Zeit vor ihrer Zeit mitgebracht, ist von warmem Fleisch und Blut, es sei denn, wir sind verrückt oder verhext.“
„Verhext, Bernie, bist du wahnsinnig? Wenn es ein raffiniert ausgetüfftelter Anschlag deiner Kamarilla wäre? Entschuldige, Nora, ich will dir nichts unterstellen, wehre mich nur gegen die Beleidigung meines Verstandes, dem Umsturz meines Weltbildes. Also fahre ich fort. Nora, eine Schauspielerin, uns an der Nase herumzuführen, engagiert. Das Gelächter deiner Clique, Bernd, wäre homerisch, und ehrlich gesagt wünschte ich es mir.“
„Liebe Vicky, bin ganz auf deiner Seite, und Nora sicher auch. Für Nora ist die Situation am vertracktesten. Ich denke mir, nichts wäre ihr lieber, als die Schauspielerin zu sein.
Bevor wir weiter machen, ich glaube du begreifst, warum ich dich so dringend hier haben wollte. Ich zeige dir jetzt Noras Kleid und Schmuck. Brauche dir nicht zu erklären, was es mit den Stücken auf sich hat.“
Als Vicky Ballkleid, Ring, Ohrringe, Armreif und Halskette begutachtete, schüttelte sie immer wieder ungläubig den Kopf. Sie legte die Stücke zurück und befand: „Noch nie habe ich ein geschlossenes Smaragdensemble, von dieser Qualität gesehen. Jeder Stein, soweit ich das beurteilen kann, erlesen. Das Kleid aufs Sorgfältigste handgearbeitet, so wie das heute niemand mehr könnte. Das Erschreckendste offenbart eben das Kleid: Es ist neu. 186 Jahre hätten sicher ihre untilgbaren Spuren hinterlassen. Diese Robe ist unbenagt vom Zahn der Zeit. Was uns nur übrig lässt, der Comtess Nora von Kelm beizustehen, so gut wir es vermögen unseren Grips anzustrengen, versuchen ihr Rätsel zu lösen.“
Nora hatte die prüfende Vicky, zusammengekauert in einem Sessel des Wohnzimmers, nicht aus den Augen gelassen. Ihre verblüffte Miene beobachtet, als sie die Nähte und Säume des Ballkleides, untersuchte. Dass Resümee dieser Frau, aus einer der ihren so fernen Zeit, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen und liess sie ihre so tapfer balancierte Contenance verlieren.
Vicky sah ihren Bruder an. „Bernie, gibt es etwas, das ich wissen sollte?“
„Nein nichts, Vicky, dein Bruder ist ein Ehrenmann, so schwer Frauen es uns manchmal machen.“
„Schön, lass mich Nora ein Beruhigungsmittel geben, und sie ins Bett stecken.“
„Tu das, Vicky.“
Es dauerte nicht lange und Vicky konnte berichten: „Sie hat die Tablette brav geschluckt, ich hab sie fest gedrückt, noch ein paar Tränchen und Schluchzer, dann schlief sie. Ist einfach zuviel, was sie zu verkraften hat. Hast du eine Erklärung für das, was wir erleben? Wir behandeln das so cool, als wär es ein Spiel und löste sich gleich in Wohlgefallen auf!“
„Stimmt, Vicky, ist aber der Situation angemessen. Wir sind erstaunt, könnten jedoch entsetzt sein. Die Comtess von Kelm, die eben so bitterlich weinte, wirft auch unser Weltbild über den Haufen. Sie beweint den Verlust einer ganzen Welt. Was sie durchmachen wird, ist einer totalen Amnesie ähnlich. Nur Kleid und Schmuck verbinden sie mit einer Vergangenheit, die sie besser vergisst, auf jeden Fall aber verschweigt, sollte sie unter uns weiterleben müssen.“
„Müssen, Bernie, müssen, warum nicht muss?“
„Hoffnung, Schwester, irre Hoffnung. Hexerei, es könnte Hexerei sein!“
„Mach dich nicht lächerlich, wo leben wir?“
„Frag mich, Vicky, wo leben wir, und vor uns sitzt Nora von Kelm. Ich hab schon an Zustände gedacht, es gibt Deja-vu-Erlebnisse, Projektionen. Die Psychiater würden sie auf links drehen, ihr zusetzen, und doch würde ich sie einschalten, wären da nicht die Indizien: Kleid und Schmuck. „Ich auch, Bernie. Sollte sich ihr Erscheinen als Zustand herausstellen, um so besser. Jetzt aber müssen wir handeln. Ist sie dir angenehm?“
„Warum fragst du? Äußerst angenehm, um nicht zu sagen, viel zu angenehm.“
„Dann lass sie hier wohnen, so fällt sie am wenigsten auf. Sie ist deine Freundin, nicht die erste, die du beherbergst. Sie kann ihren Namen behalten, auch den Schmuck darf sie zeigen, Erbstücke derer von Kelm, alter preußischer Adel. Sie braucht Papiere, das geht nur über einen guten Fälscher. Lass mich das machen. Kollege Amadu Habibolla, weiß da Rat. Hat sie einen Ausweis, melden wir sie bei dir an. Nach einiger Zeit hat man deine und ihre Papiere, zusammen mit deiner Aktentasche geklaut. Das Einwohnermeldeamt stellt neue aus. So hat sie bald einen echten Ausweis, festen Wohnsitz sowieso. Integration kein Problem.“
„Meine ach so praktische Schwester, bravo! Was ist, sie will nicht? Was für uns durchschaubar einfach, könnte ihr große Probleme bereiten.“
„Sehe ich nicht, Bernie. Denk an die Leute, die aus Kasachstan oder dem tiefsten Afrika zu uns kommen, die adaptieren im Handumdrehen unsere Welt.“
„Vicky, die sind doch beleckt! Die kennen Radio, Fernsehen, Flugzeuge, Autos, Fahrräder, Feuerzeuge, Telefon, Computer. Was uns umgibt, ist Artefakt, das wenigste natürlich. Das stürzt wie eine wilde See über sie hin. Nicht nur der Verlust von Familie, Haus und Hof, nein, der Verlust von beinah zweihundert Jahren ist zu bewältigen. Das kann sie den Verstand kosten.“
„Bernie, da bist du gefragt. Verliebe dich, komm ihr entgegen, sie mag dich. Lernt sie das Neue an deiner Hand, von dir behütet, wird es ihr Abenteuer, möchte sie darum beneiden. Du darfst nicht mit ihr spielen, das bräche ihr das Herz. Doch kenn ich dich zu gut, so bist du nicht.“
„Vicky, Kupplerin! Doch es stimmt. Emotion überdeckt Fremdheit. Sie lernte spielend, würde wie ein Kind, ein Schwamm, der gierig aufsaugt. Verlieben in dies wunderschöne Mädchen, in diesen, wie ich ahne, klaren Geist und sicher zarte Seele? Ich? Ja Vicky, ich schlöss sie jauchzend in die Arme, doch wie sie mich sieht, das ist offen.“
„Ich glaube nicht, wir werden sehen. Sie wird den Tag, denk ich, verschlafen. Hast du zu essen hier?“
„Mich zu ernähren, sicher.“
„Büchsenfisch, scharfe Sardinen, liege ich richtig?“
„Klar doch, hab mich nicht geändert. Du weißt, wohin ich essen geh.“
„Heute mit Nora nicht. Lass mich das machen. Was würden Kelms gegessen haben?“
„Vorsicht, vielleicht essen sie noch! Mit Fisch könnten wir richtig liegen, denk an die Seen in Masuren, da gibt es Aal, Karpfen, Karausche, Schleihe....“
„Hör auf, das kann ich nicht kochen. Doch Räucheraal mit Ei paßt sicher, dazu pommes die kennt sie nicht, werden ihr aber schmecken. Diverse Käsesorten, Weißbrot und schwarzes Roggenbrot mit Butter, ein paar Früchte, geht schon klar. Lieber Bruder, bis gleich, ich kümmere mich.“ Weg war sie.
Mich in sie verlieben. Sie hierher bringen, mit viel Empathie einpassen, ankommen lassen. Ist sie wirklich Nora von Kelm? Ich bezweifle es nicht, doch mein Verstand rebelliert.
Die Welt wäre nicht mehr unsere Welt, in der wir uns so sicher fühlten, die wir so wunderbar erklären konnten, vom Urknall, Evolution hin zu uns. Was tut Nora in einer solchen Welt, Herr Professor Einstein? Sie schütteln den Kopf, Gott würfelt nicht, sollen sie gesagt haben. Wenn Nora wirklich ist, was bin dann ich?
Oder verändern wir unser Weltbild. Das Raum-Zeitkontinuum bietet es an. Unsere mechanisch gemessene Erdzeit hält den Vergleich mit der Lichtzeit nicht aus. Was sind Tausend unserer Jahre für die Lichtreise. Ich stelle mir vor, unser Zeitbegriff hat mit der Wirklichkeit nichts gemein. Unsere Zeit, die Noras und meine, läuft am Lichtstrahl gemessen gleichzeitig ab. Auf eines Lichtjahrs Strecke sind 185 Jahre nichts. Alles geschieht gleichzeitig, für uns nicht erkennbar, bis eine winzige Veränderung im Ablauf der Zeit, ein Bläschen, eine Erhebung, ein Spalt, Nora erscheinen läßt.
Möglich könnte sein, sie wird auf Steinfeld nicht vermißt, weil sie noch dort ist. Hat ihr Kleid in den Schrank gehängt, den Schmuck in die Schatulle gelegt und schläft nach den Strapazen einer langen Nacht.
Steinfeld und die gewesene Welt gibt es noch, läuft nicht ab. Was wir Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart nennen ist Jetztzeit. Wäre es so, und Nora ein physikalischer Betriebsunfall, Heureka, wir hätten gewonnen! Erledigte Spekulationen, sie wäre bei uns, zu uns gekommen wie eine ferne Verwandte, von deren Existenz wir nicht wussten. Nur sie hätte sich abzufinden. Ihr Schicksal annehmend, könnte sie Steinfeld als schönen Traum in ihrer Seele hegen.
Ich bin gefragt, gefordert. Einhüllen, aufnehmen, lieben werde ich sie. Ihr die Dinge der neuen Welt zeigen, erklären. Ihr die Angst nehmen, Bestürzung auffangen. Sie behutsam bei der Hand, Schritt für Schritt in dieses fremde Leben führen. Sollte sie wollen, wären da die Gefilde der Liebe. Ich nur Führer bei ersten Schritten, danach trüge uns die Urgewalt des Gefühls.
Ich weiß, sind keine leeren Worte. Lass ich mich ein auf Nora, bin ich in ihrem Bann. Bin es, bin ich ehrlich, schon jetzt. Bleibt abzuwarten, wie sie fühlt. Zeit muss verstreichen, kann sie nicht fragen, durch unbedachte Handlung treiben, nötigen gar.
Doch wie bei Nora? Denk ich an die Dusche, ihre Unbefangenheit, wie sich wehren?
Es klingelt an der Haustür.
„Schon zurück, Vicky, ging aber schnell.“
„Du siehst abgespannt aus, lieber Bruder, leg dich und tanke Kraft. Nora wird vor heute Abend nicht munter werden, also nutze die Zeit. Ich decke euch den Tisch, brauchst nur den Aal und die Krebse aus dem Kühlschrank nehmen. Also mach schon, zu Bett mit dir. Ich ruf Morgen an.“
Ich gehorchte, rekapitulierte den Tag, zum x-ten mal ging es darum anzuerkennen, es gab etwas wovon sich Wissenschaft nichts träumen läßt. Egal wie man es nannte, auch Hexerei ging durch, Unerklärliches geschah und ich saß mitten drin. Vicky wird sich ähnliche Gedanken machen. Nora ging’s am besten. Sie hatte keine Ahnung von Erkenntnis, Wissenschaft und dem, was uns bislang fester Boden schien. In der Tat, ein Ufo hier gelandet wär weniger mysteriös. Schlafen, Schlaf wird die Dinge vom Kopf auf die Füße stellen. Obwohl, so war das nicht, es gab die Nora.
„Aber nicht mehr lange!“
Schreck durchzuckte mich, ein Schlag hätte mich nicht mehr geschockt. Ich war allein, Nora im Schlafzimmer, doch da war die Stimme, durchdringend, warnend. Als letztes hatte ich gedacht: Es gab die Nora! Antwort aus dem Nichts: Aber nicht mehr lange!
Da wieder: „Hör zu, Schlaumeier, ich bin sustanzlose Stimme in deinem Geist! Ich sagte, du hast es gut verstanden: Aber nicht mehr lange, und Nora war gemeint.“
„Wer bist du?“
„Tut nichts zur Sache, aber bitte, man nennt mich Klapaida, meine es gut mit der Nora. Also hör zu. Sie schläft bis zum Morgengrauen. Nachdem du sie geweckt, zieht sie ihr Ballkleid an und ihren Schmuck. Das wär’s dann. Erledige das, sonst gibt’s großen Jammer.“
„Großen Jammer?“
„Ja doch, sie geht hier ein. Ein Tag ist wie ein Jahr für sie. Rechne, in acht Wochen umarmst Du eine Greisin.“
„Sag bitte, was hast du vor, was geschieht mit ihr?“
„Also, sie wird dich und was geschah, vergessen haben, wenn sie in ihrem Bett auf Steinfeld aufwacht. Drum Kleid und Schmuck. Sie weiß, ihr Kleid behielt sie an, als sie zu Bett ging. Läg das jetzt ausgezogen irgendwo in ihrer Kammer, könnt sie ins Grübeln kommen. Warum sie den Schmuck anbehielt, weiß ich nicht, sie auch nicht, nehm ich an.
Sieh zu, dass sie genauso geht, wie sie gekommen ist, sonst könnt‘s misslingen. Du hast doch zugehört? In drei Monaten beerdigtest du eine uralte Frau, so 108 Jahre alt, wenn sie’s solange macht.“
„Ich hab verstanden, wird so getan wie du befiehlst, doch sag mir..“
„Das war’s, für Fragen ist jetzt nicht die Zeit.“
Für Fragen ist jetzt nicht die Zeit. Jetzt nicht, hieß das, einmal schon? Die Stimme blieb stumm. Nora! Nora! Ich hatte sie verloren, bevor ich sie gewonnen. So mysteriös wie sie kam, wird sie gehen. Ich muss sie vergessen, sie einfach nur als Traum erinnern. Vergessen, wie ihr geschenkt, hatte ich nicht zu erwarten. Ich werd mich zu ihr setzen, ihren Schlaf bewachen, von ihren süßen Zügen speichern, was ich speichern kann.
Doch wieder mischte sich Klapaida ein: „Das wirst du nicht! Leg dich schlafen, ich weck dich zeitig. Du siehst das richtig, Amnesie, wie du als Arzt das nennst, gilt nicht für dich. Es gibt die Schwester. Du hast, seit du sie aufgelesen, nur Nora denken können. Du bist Nora-durchdrungen, kann dir nicht helfen. Wirst damit fertig werden. Gäb‘s deine Schwester nicht als Dritte, könnt ich dich löschen. Ein Paar das geht, da hab ich Zugang.“
„Klapaida, nimm mich mit nach Steinfeld!“
„Als was denn?“
„Ich bin Arzt, Chirurg, könnt manchem helfen?“
„Bestimmt, doch als Person bist du gleich Null, Nora für dich unereichbar. Was du auch tätest für die Kelms, man wär dir huldvoll dankbar. Doch als Geliebter, gar Schwiegersohn ist Bern undenkbar. Dein Blut und das der Kelms? Canaille, scher er sich zum Teufel, und hätte er zehn Leben uns gerettet! Das war’s nun aber, Adieu.“

Nora für mich unerreichbar! Nora, die sich meiner nicht erinnert. Der Wundarzt, Quaksalber, Feldscher Bern, ein nicht wahrgenommener Auchmensch. Säh die Geliebte, ohne gesehen zu werden. Ach, der Bern. Wie geht es ihm? Danke gut, Gnädigste. Gute Arbeit, die Heilung der Eltern, sei er nicht so bescheiden bei der Liquidation. Aus der Traum.
Also schlafen, bis Klapaida mich weckt, danach vergessen. Mir ist als ging es zum Schafott, dabei geht’s zurück ins Leben. Vicky wird sich riesig freuen. Freu du dich auch, wird sie mich munter machen. Stell dir vor, sie wäre uns verblüht, was sage ich, verwelkt, wenn nicht verfault. Nicht auszudenken. Zudem sind wir um nachhaltiges Wissen reicher. Außer Nora gibt es Klapaida. Es gibt, heißt doch, gibt noch, nur nicht für mich. Vielleicht ist Klapaida anzurufen, in Not, wenn nichts mehr geht. Vielleicht ist sie ein guter Geist. Ich sehe sie als Frau, warum? War Stimme nur, weder Mann noch Frau. Schlafen, riet sie, fühle mich müde und müder werden.
Klapaidas Stimme weckte mich, fast schon vertraut befahl sie: „Aus dem Bett, tu was ich dir riet! Denk daran, jeder Tag hier, ein Jahr für Nora.“
Hab ganz und gar verstanden, bin voll Dankbarkeit, Klapaida. Ich dachte es, reden konnt ich mir sparen.
Nora schlief fest. Ich legte Kleid und Schmuck bereit. Jetzt wecken. Sie schien zu träumen, entwand sich meinem sanften Griff, drehte sich auf den Bauch. Lag da wie gestern Morgen, als ich sie nach der Rettung aus dem Kleid geknüpft. Ein Tag und eine Nacht, ein ganzes Leben. Weinen, Schluchzen, gab ich nicht acht, würden mich gleich beherrschen, durfte nicht sein. Würde Nora Wehmut ahnen, erkennen gar, sie würde mich trösten wollen, Fragen stellen, was sollt ich antworten? Also drückte ich mir das Herz ab, ermannte mich, legte meine Hand auf ihre Schulter, drückte sie zärtlich.
„Nora, Nora werde wach, wir müssen uns beeilen. Vicky kommt, dich zu fotografieren. Ich weiß, das kennst du nicht, ist malen ohne Pinsel, mit einem Werkzeug. Eine Sekunde, und das Bild ist fertig, fünf weitere Sekunden und du betrachtest es. Ich hab dir Kleid und Schmuck bereit gelegt, steh auf, ich helfe dir beim anziehen.“
Nachdem Vicky dich fotografiert hat, ziehst du dich um, dann zeig ich dir die neue Welt.“
„Schön, Bernie, knöpfst du mich bitte zu?“
Sie sprang aus dem Bett, stieg in ihr Kleid. Nie sah ich Berückenderes, als dieses Mädchen.
„Fang bitte oben an und sacht, gib acht, versäume keine Schlinge. Die Schlingen sind im Saum nach Schlangen Art versteckt. Schieb mit dem Finger nach, sonst stimmt‘s am Ende nicht.“
„Werd mich bemühen.“
Ich knöpfte, befahl meinen Fingern nicht zu zittern, knöpfte und knöpfte, und jeder Knopf ein Schritt zum Abgrund. Der letzte Knopf, die letzte Schlinge.
„Fertig, jetzt den Schmuck.“
„Legst du ihn mir an?“
„Darf ich?“
„Gern, nur zu, fang mit dem Halschmuck an.“
Ich legte ihr das Halsgeschmeide auf die Haut, kalt ist das, schüttelte sie sich. Die Ohrgehänge, Armband, dann der Ring. Ich zögerte. Sie nahm den Ring, schob ihn sich auf den Finger und verschwand.#
 



 
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