Klapaida Teil 4

Haarkranz

Mitglied
1817
„Nora, Nora! Wach auf, den Tag verschlafen, was ist los mit dir?“
„Mama, sprich nicht so laut, bin noch nicht hier. Doch ja, das Kleid. Bitte hilf, ich komm allein nicht aus dem Kleid.“
„Warum hast du mich nicht erinnert? Abgesprochen war, ich knöpf dich aus dem Futteral!“
„Ja doch, du warst so wild darauf, den Fedja aufzuspießen, da ließ ich’s lieber. Konnt nicht warten, schlief im Stehen.
„Schon gut, jetzt raus aus den Federn, lass mich die Knöpfe öffnen, doch vorher leg den Schmuck ab! Wie kannst du nur so schlafen?! Mach dich bitte schnell frisch, die Herren sind nächstens von der Jagd zurück, ich erwarte dich!“
„Werd mich beeilen, Mama.“
Nora sah in den Spiegel, was ist mit mir? Bin gar nicht ich. Boris Wersten, liegt’s an dem? Nein, verliebt fühl ich mich nicht. War nett mit ihm zu scherzen, zu tanzen und zu plaudern. Ein Mann mehr wie Papa, obwohl er jünger ist. Vielleicht hat der Krieg an ihm gezehrt. Zehn Jahre Dienst, davon die längste Zeit im Feld, kostet viel Lebenskraft. Sie hatte erlebt wie Männer vom Gesinde als Milchbärte in den Krieg zogen, und weit über ihre Jahre gealtert heimkehrten. Gesine, ihre fühere Zofe, hatte den Fritz bevor er ins Feld zog geheiratet, als er nach fünf Jahren zurück kam, war er ein alter Mann und ein Jahr später tot. Ohne Verwundung, der Krieg hatte ihm alle Lebenskraft geraubt.
Sie ging hinunter, im Salon saß Sonja. Sie legte das Buch in dem sie geblättert zur Seite, sah ihr entgegen.
„Endlich Nora, ich langweile mich zu Tode. Die Frauen sind mit Mascha durch die Ställe, ist nichts für mich, jetzt hock ich hier. Wie kannst du den halben Tag verschlafen?“
„Wir haben die halbe Nacht durchtanzt, Sonja, und werden es heute Nacht nocheinmal tun, da brauch ich Kraft, die hol ich mir im Schlaf.“
„Ach Nora, ihr Deutschen seid so vernünftig. Wenn du die Grenze von Polnisch-Preußen nach Ostpreußen überfährst, weißt sofort wo du bist. Jeder Misthaufen fein säuberlich geschichtet, jeder Hahn obendrauf kräht Melodie. Ganz anders auf unserer Seite, die Dächer schief, die Katen krumm. Die Straßen, bei euch fest und gut zu fahren, bei uns Morast oft uferlos. Doch bei uns wird gelacht, gesungen und gesoffen, bei euch gibt’s Stallbesichtigungen!“
„Herrlich beobachtet, Sonja, vergleiche Fedja und meinen Vater, da hast du alle Differenz.“
„Was machen wir, Nora, bis es los geht?“
„Ich weiß nicht, lass uns Kleider gucken. Wir haben auf den ersten Blick die gleiche Figur, da zieh ich deine an, du meine.“
„Ja Nora, deins von gestern Abend möchte ich probieren. Doch ob’s mir passt? dir schien es auf den Leib geklebt.“
Hat einen guten Blick, die schöne Sonja, werde mein Geheimnis zu bewahren wissen, versprach sich Nora. Sie ist weltläufiger als ich, Fedja erzählte, sie kennt Prag, Wien und Venedig, von Warschau nicht zu reden.
„Sonja, erzähl mir von der Welt, weißt du, ich war einen Nachmittag in Königsberg, sonst noch in Tilsit und in Insterburg, das war‘s. Die absolute Landpommeranze sitzt neben dir, manchmal fürcht ich es ist zu riechen.“
„Nora, du solltest Wien erleben, Venedig ist schön, aber die Sprache..., doch Wien, Wien ist himmlisch! Die Kavaliere! Ei, Nora die betören dich, bevor sie sich dir vorgestellt! Die tuen nichts den lieben langen Tag, als Kutschfahren und Komplimente machen. Die Uniformen, fesch und eng geschnitten, da brauchst nicht lange raten was einer können möcht.“
„Können möcht, Sonja?“
„Ja mei, beim Tete-a‘-tete, du Hascherl! Siehst, kaum red ich von Wien, fall ich in’s herrlich lockre Wiener Idiom. Sind Deutsche diese Österreicher, doch ganz, ganz anders als die Preußen. Darum tun's alleweil wohl auch die Krieg verlieren. Doch Nora, was interessiert das eine Frau, wenn ihr Galan nur nicht bei ihr den Krieg verliert!“
„Sonja, hast du schon mal mit dem Galan?“
„Du meinst die Klinge kreuzt? Nicht einmal, wo käm ich hin. Bin zweiundzwanzig, geht nimmer ohne.“
„Und schwanger, wirst du nicht schwanger?“
„Nicht, wenn’s dich vorsiehst, Nora. Es gibt Methoden, die dicken Bauch verhüten.“
„Die kennst du, die Methoden, sag, wie sind die?“
„Nur Überzug hilft gegen dicken Bauch. Ich zeig es dir, Schweinsdarm ist das Festeste.“
„Schweinsdarm?“
„Hat Mascha dich nicht aufgeklärt?“
„Doch hat sie, ich weiß wie alles aussieht, wie es geht. Von Schweinsdarm jedoch sprach sie nicht.“
„Ich zeig dir Morgen wie‘s mit dem Schweinsdarm geht. Auch damit kann was schiefgehen, doch bis heute bin ich, will’s nicht beschreien, ungeschoren.“
„Solch einen Schweinsdarm, Sonja, hast du stets dabei?“
„Sicher du Dummerl, sonst nutzt der nichts. Stell dir vor, der Boris kratzt an meiner Kammertür. Er wird nicht kratzen, doch tät er’s, ich hätt a Gusto, da wär ich ohne Schweinsdarm aufgeschmissen!“
„Ohne Schweinsdarm machte er dir einen dicken Bauch?“
„Erraten, Nora. Nur wär‘s in seinem Fall nicht arg genant, er müsst mich heiraten. Seine alte Mutter würd sich freuen, nur ich säß in der Falle. Ich käm mir vor, ach was, ich käm mir garnicht vor. Als Zuchtstute auf seiner Klitsche, ich würd verrückt!“
„Zuchtstute, Sonja?“
„Nicht mehr, nicht weniger! Zehn, fünfzehn Jahre dicker Bauch, das wär das Mindeste. Er will, nein muss Nachkommen haben. Rechne jedes Zweite stirbt in den Windeln, bei zwölf Schwangerschaften macht das vier Kinder, die Totgeburten eingerechnet. Mit Glück zwei Mädchen und zwei Jungen, mit Pech nur Mädchen und keinen Jungen. Zwölf Schwangerschaften hast du dann schon hinter dir, doch dein Gemahl ist keineswegs zufrieden. Das geht dann weiter Jahr um Jahr, bis mindestens vier Buben leben. Du selbst bist dann nach fünfzehn, zwanzig Jahren ständiger Kinderproduktion ein klappriges Gestell. Der liebe Boris ist rücksichtsvoll, ihr habt fortan getrennte Zimmer, wirst nicht mehr frequentiert; Boris macht Bastarde mit Mägden, Zofen, den Erzieherinnen deiner Kinder, grad wie‘s ihm beliebt. Sollt er bemerken es bekümmert dich, entschuldigt er sein Treiben mit dem ach so natürlich männlichem Trieb, den es auszuleben gälte.“
„So hab ich das noch nie gesehen, Sonja, doch stimmt es, seh ich mich um. Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Ich bin die Älteste, dann kommt Griseldis, dann die Buben. Was dazwischenlag, keine Ahnung. Sicher hat Mascha mehr als vier geboren, und all die Damen ringsherum sind immer schwanger. Fällt nur nicht auf, weil es so üblich ist.“
„Nora, weil vorgegeben wird, es sei der Frau Erfüllung, Glück! Ein Scheiß, sag ich!“
„Also nicht heiraten, alte Jungfer werden, auf Steinfeld bleiben, der Frau von Claus oder Günther als hilfreiche Tante bei der Erziehung zur Hand gehen? Wenig verlockend, hab ich mir anders vorgestellt, mein Leben.“
„Geht anders, liebe Nora, sieh mich an, lebe ich so?“
„Sonja, du bist reich und unabhängig, kannst tun und lassen was dir in den Sinn kommt. Mein Erbteil wäre klein, erheblich kleiner als die Mitgift, die mir bei einer Heirat zuständ. Doch täte ich was Ordentliches, widmete mich mit Eifer einem Ziel, fänd ich große Unterstützung. Da gilt es fein zu wägen, vor dem Wagen. Eins ist mir klar, werd nimmer Gräfin Wersten werden. Ich dank dir für das Augenöffnen! Ich seh’s doch richtig, der liebe Boris war dir nur Modell, Boris sind alle, ist man erst im Hafen?“
„D’accord, sind sich zum Verwechseln ähnlich, die Herren, ist man erst Besitz.
Nora, wir haben uns verplaudert, sieh, da am Waldrand tauchen unsere Jäger auf.“
„Die brauchen noch ne Viertelstunde, Sonja. Was ich noch sagen muss: Verplaudert ist zu schwach für die Belehrung, die ich dir nie vergessen werde. In einer halben Stunde gibt’s Erfrischungen, ich walte da meines Amtes als Haustochter, geh jetzt und zieh mich um. Die Garderobenschau ist uns zu kurz gekommen, macht nichts, gibt eben Wichtigeres.“
„Nein, Nora, nicht unbedingt. Dein himmlisch schönes, blaues Ballkleid, verrate mir, wie saß das so superb, wie eine zweite Haut?“
„Es war, Sonja, mir zweite Haut. Direkt unterm Kleiderstoff, begann die Nora. Es tanzten auf dem Ball nur Nora, Schmuck, Strümpfe, Schuhe und Kleid, das war‘s!“
„Kompliment, Comtess Kelm, das Stück hätte von mir sein können! Nachahmung ist erlaubt?“
„Klar, doch nicht weitersagen!“
„Wie sollt ich, du hättest es mir kaum erzählt, ohne vertrauliches Tete-a‘-tete, doch Offenheit, Nora, zeugt Offenheit.“


Klapaida

Bernd hockt in der Mitte eines riesigen Tellers. Ringsherum Ödnis, kahle Fläche.
Eine Stimme dröhnt, laut wie Kirchenglocken, schreit ohne Unterlass: „Graf Bernhard zu Bern, durch königliches Privileg erster Wundarzt der Provinz östliches Preußen, mit Sitz in Lyck.“
Plötzlich steht da ein altes Weib, in schwarzem, abgerissenem Kleid. Ein knallrotes Tuch um den Kopf, im faltengefurchten Gesicht brennen große, schwarze Augen, unter den Furchen kaum sichtbaren Lippen, versuchen ein Lächeln, als Klapaida sagt:
„Na Jungchen, da wären wir wieder. Hör zu und nick oder schüttel den Kopp, je was von dem hälst, was ich dir sag:
Du leidest an akutem Herzbruch. Eine die Freude tötende Krankheit, nur heilbar durch beseitigen der Ursache. Bei dir ist die Ursache Nora, die in deiner Welt nicht leben kann.
Wirst demnach freudlos vegetieren, es sei denn, ich transplantierte dich! Hab das Wort eben erst aus deinem Kopp entlehnt, nie vorher gehört, beschreibt aber akkurat, was ich vorhab.
Merk auf! Du wirst, hast’s mitgekriegt, gegraft wegen Noras Familie. Dazu Wundarzt mit königlichem Privileg, musst zu beißen haben. Zurück in deine Zeit kannst nimmermehr. Nora wird deine Frau. Wenn du nickst, wirst du bisheriges vergessen. Du nickst nicht? Hast eine Bitte, na raus damit, jetzt ist noch Zeit. Sag nichts, lass es mich lesen. Ach, deine komplette medizinische Ausrüstung, mit chirurgischem Besteck, Antibiotika, Anästhetika etc. soll mit? Deiner Schwester Vicky, eine totale Amnesie?
Das mit der Ausrüstung hab ich schon bedacht, der Herr Chirurgus würde uns ohne wenig nutzen. Das mit der Schwester ist schwierig. Was ist, einer fragt sie nach dem Bruder? Soll sie sagen: Bruder? hab keinen Bruder! Geht nicht, was ging, ich verpflanz sie mit? Willst du nicht über ihren Kopp, versteh ich. Also läuft es darauf hinaus, dass sie nicht leidet. Vertraust du mir? Du nickst, gut, ich wird es richten, weiß noch nicht wie. Jetzt nick oder schüttel den Kopp!“

1817
Der Stadtschreiber Jacob Adomeit klappte seine Schnupftabaksdose zu, wischte sich ein Stäubchen Tabak von der nicht mehr sauberen Manschette seines Rocks, und begab sich eiligst mit hochwichtiger, eben durch Kurier überstellten Depesche, zu seinem Bürgermeister.
„Was gibt’s Jacob, dass er mir in Allerherrgottsfrühe hereingeschneit kommt?“ Hans Lippe, der das Amt des Stadtoberen im dreissigsten Jahr versah, hielt überhaupt nichts von unangemeldeten Audienzen. Audienz ist, wenn ich rufe, war seine stehende Rede.
„Herr Bürgermeister,“ Jacob sah seinen Herrn mit ängstlicher Zuversicht ins Gesicht, „hätte nicht gewagt, vorstellig zu werden, wenn nicht wirklich dringendes....wir erhielten eben mit extra Kurier Depesche aus Berlin, den neuen Medicus, einen hochwohlgeborenen Herrn betreffend. Aber hört selbst, lasst mich vorlesen:
An den Bürgermeister der Stadt Lyck, unseren Untertan Hans Lippe!
Der verstorbene Stadtmedicus von Lyck, wird durch einen adligen Herrn, mit höchstem königlichen Privileg, ersetzt werden. Der Herr ist bereits unterwegs.
Ich weise ihn an, für Seine Hochwohlgeboren, den Grafen Bernhard zu Bern, studierter Medicus der Universitäten Paris, Bologna, Straßburg und Berlin, für standesgemässes Quartier auf Kosten der Stadt zu sorgen. Ferner errichte er nach Weisung des Doctors ein Spital, Ordination, sowie Weiteres, eben was begehrt wird. Sämtliche Kosten trägt das Stadtsäckel, wozu eine jährliche Apanage für den Doctor, von 500 Talern zu rechnen ist. Werde höchstselbst, anläßlich nächster Inspektion der Provinz, untersuchen ob nach meinem Willen verfahren wurde. Ich verlasse mich auf ihn, Lippe!“
Gezeichnet: von Recke, Minister seiner Majestät Friedrich Wilhelm III, für die Belange der ostpreußischen Provinzen, Städte und Kreise zuständig.

„Potzblitz,“ Bürgermeister Lippe schoss das Blut ins Gesicht. „Wie stellen die Herren sich das vor? Ist unsere Stadt auf ein Silberbergwerk gegründet? Wo die Taler hernehmen, Jacob? Weiß er mir Rat? Ich seh schon, es trifft ihn wie mich. Unsere Cassa ist leer, führen wir die doch beinah komplett, an die Provinzregierung ab. Einen Grafen als Stadtmedicus, das wird ein endloses Buckeln und Kratzfußen geben. Les er noch einmal vor, was wurde befohlen? Nein lass, gib er her. Quartier, Spital und Ordination nebst 500 Talern, so steht das hier?!“
„Bürgermeister, standesgemäßes Quartier, gestatte ich mir zu bemerken! Ein Graf wird nicht mit der Wohnung des alten Lepius vorlieb nehmen.“
„Sicher Jacob, wir haben nichts, was einem Grafen genügen könnte. Und nächstens schon, wird Hochwohlgeboren eintreffen. Was machen wir?“
„Graf Kelm auf Steinfeld, der ist uns gewogen, bei ihm vorstellig werden, Bürgermeister. Möglich, der bietet seinem Standesgenossen für’s erste Quartier, dann sehen wir weiter.“ „Danke, Jacob, guter Rat.“ Lippe fuhr sich durch den grauen Schopf, „ich fahr nach Königsberg, werde antichambrieren, wie sollen wir leisten, was Berlin verfügt?“
„Auch da könnte Graf Kelm helfen. Der hat den Oberpräsidenten, Baron Hilgers, oft zur Jagd auf Steinfeld.“
„Jacob, woher hat er die Kenntnis?“
„Ihr wisst doch, Bürgermeister, meine Base ist Obermamsell auf Steinfeld, der entgeht nichts. Einmal im Monat, an ihrem freien Tag, besucht sie uns. Meine Alte kann sich nicht genugtun, haarklein erzählt zu bekommen, von dem was auf Steinfeld kräucht und fleucht. Die Lise kommt sich schon adlig vor. Seit sie Obermamsell ist, trägt sie die Nase höher als mein Katendach.“

Graf Bern hatte drei Tage Schlittenfahrt hinter sich, als er an einem Dienstagabend, im späten Januar des Jahres 1817 in Lyck ankam. Als der Schlitten auf dem Marktplatz hielt, stieg er aus, sah sich um, hüpfte von einem Bein aufs andere, bemüht die Steife aus den Muskeln zu schütteln. Da wurde er eines kleinen, älteren Mannes ansichtig, der mit rehbrauner, knielanger Jacke und gelben Kniehosen bekleidet, dazu Perücke mit Zopf, als ob der alte Fritz noch regierte, auf ihn zukam, und sich mit einem tiefen Kratzfuß bekanntmachte.
„Ich bin Jacobus Adomeit, Euer Gnaden, Stadtschreiber dahier und habe Order, Euch zwecks weiterer Verfügung zum Bürgermeister zu führen, sofern Ihr, was ich stark vermute, Graf Bern, unser neuer Stadtmedicus seid?“
„Der bin ich fürwahr, und wo sitzt der Bürgermeister?“
„Dort drüben, das Haus ist unser Rathaus. Der Bürgermeister hätte Euch selbst empfangen. Er und ich sind, Euch erwartend, heut und seit Tagen, zehnmal und mehr auf den Platz gelaufen. Nur itz in dem Moment, wo ihr ankommt, hatte Lippe ein so unaufschiebbar leibliches Bedürfnis, dem er komme was da was wolle, nachkommen musste. Er wird jetzt sicher empfangsbereit sein, Euer Gnaden.“
„Also Adomeit, dann wollen wir mal.“
„Halten zu Gnaden, alle Welt nennt mich Jacob, wenn Euer Gnaden die Güte hätten, auch so zu verfahren?"
„Also Jacob, dann wollen wir mal!“
„Gern Herr, geruhen mir zu folgen.“
Bürgermeister Lippe, seines Geschäftes ledig, kam ihnen entgegengeeilt, sich beeilend, sein Mißgeschick um Vergebung bittend, zu erklären.
Graf Bern unterbrach seine langatmige Rede, mit der Frage:
„Lippe, wo schlaf ich heute Nacht?“
„Euer Gnaden, da ist Vorsorge getroffen. In Lyck haben wir kein standesgemässes Quartier. Ich wurde erst vor kurzem, von Eurer Ankunft in Kenntnis gesetzt, habe mir erlaubt, für Unterkunft auf Steinfeld bei Graf Kelm einzukommen.“
„Und dahin sind wir jetzt unterwegs, zum Grafen Kelm?“
„Nein, Euer Gnaden....“
„Bitte Lippe, lass er das Euer Gnaden. Ich bin Graf Bernhard zu Bern, entweder nennt er mich Graf Bern, Herr zu Bern oder Herr Doctor, wobei mir Letzteres am meisten läge!“
„Halten zu Gnaden, ich entscheide mich für den Herrn Doctor!“
„Einverstanden Lippe, und vergess er in Zukunft, das halten zu Gnaden. Sprech er zu mir, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Das gilt auch für ihn, Jacob.“
„Auf Eure Frage zurückkommend, Herr Doctor, nein, wir sind nicht unterwegs nach Steinfeld. Ich hatte vor, Euch im Rathaus mit einem Trunk und kleiner Mahlzeit, willkommen zu heißen.“
„Muss das sein, Bürgermeister? Ich hab drei Tage und Nächte Schlittenfahrt hinter mir, was ich brauche ist Rast, besser Schlaf. Sein Willkommen holen wir nach, sobald ich ausgeschlafen habe. Unterwegs kann er mir in Ruhe berichten, was mich hier in Lyck erwartet.“
„Halten zu Gnaden, entschuldigt Euer Gnaden...Bitte Euer Gnaden, vom Auslachen absehen zu wollen. Also, Herr Doctor, ich kutschiere Euch umgehend nach Steinfeld. Jetzt im Winter, mit dem Schlitten, schaffen wir das in einer knappen Stunde. Jacob, sammle das Gepäck von Herrn Doctor ein, und bringe es uns hinterher.“
Unterwegs hielt Lippe schweigsam die Zügel, schnalzte ab und zu mit der Zunge, das Pferd anfeuernd, plierte zu seinem Fahrgast herüber, blieb aber stumm.
„Was ist los, Lippe? Lief ihm eine Laus über die Leber, gefall ich ihm nicht?“fragte ihn Bern.
„Doch, doch, Herr Doctor, Ihr gefallt mir gut, mit Verlaub, deshalb hüte ich meine Zunge, möchte sonst etwas sagen, was mir ungut ausschlagen könnte.“
„Aber nicht von mir, Lippe. Bin mehr auf seine Hilfe angewiesen, als er auf meine!“
„Schön wär das, wenn dem so wär, Euer Gnaden.“
„Wo drückt der Schuh, hängt es mit meiner Person zusammen?“
„Ja!“
„Aha, also raus damit, unterrichte er mich!“
„Nichts für ungut, Herr Doctor. Wir brauchen einen tüchtigen Chirurgus, der Brief vom Minister berichtet, Ihr wäret ein solcher. Nur wie bezahlen? Mit gleichem Brief wurde uns auferlegt, für standesgemäße Unterkunft, Spital, Ordination und 500 Taler jährlich aufzukommen. Voriges Jahr haben wir 400 Taler eingenommen, von denen der Jacob und meine Wenigkeit bezahlt, das Findelhaus und das Gefängnis unterhalten wurden. Was übrigblieb, haben wir an die Provinzkassa abgeführt, ganze 223 Taler.
Das Schreiben ist so gehalten, wie von Ihro Majestät persönlich, ich gebe es Euch zu lesen, wenn Ihr aufs Amt kommt. Nur, wie den Auflagen nachkommen? Ich fahre nächste Woche zum Oberpräsidenten nach Königsberg, um mir Rat zu holen wie das gehen möchte.“
„Ist der Herr Oberpräsident in dieser Sache nicht tätig geworden, wurde da einfach über seinen Kopf hin dekretiert? Finde ich äusserst ungewöhnlich, wenn dem so wäre, Lippe.
Also ich möchte raten, bevor der Herr Oberpräsident petitiert wird, einflußreiche Personen welche die Lage in Lyck kennen, zu konsultieren. Die wird es doch geben, Lippe?“
„Gibt es, Herr Doctor, Graf Kelm ist eine solche Person.“
„Gut, dass er mir das sagt, lass er mich Gelegenheit nehmen, die Causa mit Kelm gemeinsam zu untersuchen. Ich als der Verursacher der Malaise, werde die zu kurieren wissen. Ist jedoch unabdingbar, Spital, Ordination, Bleibe und Bezahlung Habe ich vor Antritt des Amtes gefordert, und zugesagt bekommen. Dass man sich auf so billige Art aus der Sache herauszudrehen sucht, werde ich nicht dulden. Sollte es kein Einlenken geben, trete ich nicht an.“
„Herr Doctor, bitte zu bedenken geben zu dürfen, wir brauchen einen Medicus. Doctor Lepius ist seit einem Jahr tot, lange davor war schon manches nicht mehr richtig mit ihm. Er konnte Knochen richten, aber wenn Blut floss oder gegen den Wundbrand, hatte er kein Mittel. Die Kranken und Verletzten sind lieber gleich nach Steinfeld gefahren, haben sich Medizin von Gräfin Mascha und ihrer Hexe verordnen lassen.“
„Gräfin Mascha, ist die Gräfin Kelm?“
„Ja, aber wir sagen Gräfin Mascha.“
„Aha, und die Hexe, was hat es mit der auf sich?“
„Die Leute schimpfen sie Hexe, und gleichzeitig lassen sie sich von ihr ohne Geld kurieren. Sie heißt Klapaida, ist ein Kräuterweib. Es gibt sie schon, seit ich denken kann, immer war sie gleich uralt, scheint ewig zu leben. Gräfin Mascha und Klapaida, gehen zusammen in die Kräuter. Klapaida zeigt ihr, was heilt und wie es heilt, sie steht unter dem besonderen Schutz von Steinfeld.“
„Da freu ich mich jetzt schon, die Damen kennenzulernen, Lippe. Das Wissen um die Heilkraft der Kräuter, ist dreiviertel der Medizin. Ich hoffe, die Damen werden mir gewogen sein.“
„Ich möchte bemerken dürfen, Euer Gnaden, die Klapaida ist keine Dame. Werdet es selbst sehen. Stets das selbe, schwarze abgeschlissene Kleid. Zu jeder Jahreszeit, ob Sonne, Regen oder Schnee, das rote Kopftuch, darunter das uralte Gesicht mit den pechschwarzen Höllenaugen, die zum Fürchten funkeln.“
„Lasst gut sein, Bürgermeister, werd mir ein Bild zu machen wissen.“
Lippe wies mit der Peitsche halb schräg nach links, „hinter dem Wäldchen dort liegt Steinfeld. Keine zehn Minuten mehr.“ Der Doctor saß in sich gekehrt neben ihm. Das mit dem Kräuterweib kommt gelegen, sinnierte er, da werden wir mit etwas Glück ein heilendes Trio bilden. An sich sollt ich frohen Mutes sein, doch hockt mir etwas Schweres auf der Brust. Kann’s auf Anhieb nicht ergründen, sprang mich eben erst an. Na wird vergehen, was ich brauche, ist eine ordentliche Bouteille Rotspon, ein entspannendes Gespräch und zwölf Stunden Schlaf.
Das Pferd, einen nahen Stall witternd, wieherte und schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch. Steinfeld lag, etwas höher als die Ebene, wunderschön illuminiert von den letzten Strahlen der untergehende Sonne, vor seinen Augen. Lippe lenkte den Schlitten vor das Portal, eines mit zwei zierlichen Zwiebeltürmen geschmückten Gutshauses. Kaum waren sie vom Bock herunter, trat ein Herr in grünem Jägerhabit aus der Tür, und stellte sich als Graf Kelm vor.
„Herzlich willkommen auf Steinfeld, Doctor Bern!“ Kelm legte seinem Gast einen Arm um die Schulter und führte ihn zum Haus. Im Gehen rief er Lippe zu: „Komm er mit herein, Bürgermeister, ein guter Schluck Rotspon kann ihm nicht schaden! Ihr seid doch sicher mit von der Partie, Doctor?“
„Ganz sicher, ich lechze geradezu nach einem guten Schluck. Bin alles in allem neun Tage unterwegs. Von Cleve nach Berlin, dort einige Tage ausgespannt und Geschäfte erledigt, dann noch einmal, die fast gleich lange Strecke von Berlin nach hier.“
„Wäre Reiten nicht bequemer gewesen?“
„Vielleicht bequemer, aber nicht schneller. Ich habe täglich zwölf, vierzehn Stunden fahren lassen, war das rumpeln bald so gewohnt, wurde wach schüttelte es mal nicht. War beschwerlich, aber ich bin angekommen. Was mich für die Kutsche bis Berlin, und Schlitten bis hier votieren ließ, war mein Handwerkszeug. Habe sämtliches selbst verpackt und verzurrt, bin also gefeit vor bösen Überraschungen beim Auspacken. In der Tat, hab ab Lyck zum ersten Mal mein Gepäck aus den Augen verloren.“
„Das ist bei Jacob bestens aufgehoben, Herr Doctor,“ beruhigte Lippe, „kann nicht mehr lange dauern, dann ist er hier. Wo soll er abladen, Euer Gnaden? Da kommt er schon!“
„Lippe, weiß er was?“ schaltete sich Graf Kelm ein, „der Doctor schläft im rechten Turm, helf er dem Jacob abladen, schafft das Gepäck dort hin. Ich trau den Meinen nicht über den Weg was die Vorsicht angeht, die werfen mir zu schnell. Wenn verstaut ist, wir sitzen in der Bibliothek, da wartet der Rote auf ihn und den Jacob.“
„Und Ihr, Doctor, folgt mir bitte die Treppe hinauf. Von der Bibliothek haben wir freien Ausblick auf alles, was sich Steinfeld nähert. Ich habe noch Gäste, Graf Wersten aus Livland, mit weiteren vier unentwegten Nimroden, stellen schon seit Tagen, ohne Erfolg einem Keiler nach. Das Tier wird in ihrem Jägerlatein von Tag zu Tag größer und unheimlicher. Bin gespannt, ob sie es heute zur Strecke gebracht haben. Nehme es stark an, sonst müssten sie lange zurück sein. Werden nicht mehr lange auf sich warten lassen, dann gibt es Wildschwein. Ob es schmeckt, sollte das Ungeheuer so beschaffen sein wie fabuliert, bezweifele ich.
Setzen wir uns, der Wein ist Jahrgang 07, zehn Jahre alt. Der müßte richtig sein. Also zum Wohle, mein lieber Bern, und auf gutes Gelingen beim Heilen.“
Bevor Graf Bern den ersten Schluck verkosten konnte, sprang sein Gastgeber auf.
„Parbleu, was seh ich? Doctor, seht Ihr die Gruppe dort, die sich auf Steinfeld zu bewegt? Mein Jagdglas, hier, also das ist nicht wahr..... Auf dem Schlitten liegt eine Gestalt, kann nicht erkennen wer, wegen der vielen Mäntel die darüber gelegt sind. Die haben nicht aufgepasst, einen angeschossen!“
„Darf ich das Glas einmal haben, Kelm? Ich sehe Blutspuren im Schnee. Warum gehen die so langsam, bis die hier sind, kann der Verwundete verblutet sein! Kelm, sorgen Sie dafür, dass die sich beeilen, auch wenn’s dem armen Teufel Schmerzen macht. Ich präpariere mich für eine vielleicht notwendige, sofortige Operation. Ist das Turmzimmer geeignet, genügend Licht?"
„Ich weiß nicht, Doctor."
„Egal! Sorgt bitte für soviel Licht als möglich, einen körperlangen Tisch mit weißem Tuch bedeckt, Seife und viel heißes Wasser brauch ich. Ach ja, die Gräfin Mascha bitte, mit ihrer Kräuterfreundin, sofern anwesend. Aber zuerst dem Trupp Beine machen!“
Gräfin Mascha kam, kaum gerufen, stellte sich vor und fragte, wie sie sich nützlich machen könne.
„Heißes Wasser, fünf sechs Schüsseln und Seife, dazu saubere Handtücher. Werdet Ihr mir assistieren?“
„Gewiß, wenn Ihr mich unterweist.“
„Gut. Schrubbt Eure Hände und Unterarme bis zum Ellenbogen, mit einer Bürste, Seife und heißem Wasser, so wie ich es Euch vormache. Ich hab mein chirurgisches Besteck bereits fertiggelegt. Es ist keimfrei verpackt, bitte Vorsicht, wir könnten es bei Berührung kontaminieren. Da kommen die Kerzen, anzünden und im Abstand von einem Meter um den Tisch stellen. Zwei Männer stellen sich dort hinten, mit großen feuchten Lappen an die Wand, achten auf die Kerzen. Sobald die zur Hälfte niedergebrannt sind, ersetzen. Einer passt auf, dass nichts umfällt, und wenn, greift er sofort zum Feudel und löscht. Wir sind gerichtet, wo bleibt der Patient?“
Ein Mädchen kam jammernd angelaufen:„Gräfin Mascha, o Gott, es ist Graf Wersten, der Keiler hat ihm das Bein zerfleischt!"
 



 
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