Zuerst das Pferd, der Ritt, dann die Gedanken. Erschöpfen muss ich mir die Wallung, sie niederreiten bis Ross und Reiter schäumen. Auf dem Weg zu seinem Zimmer traf er auf Claus, fragte ihn nach einem starken, schnellen Pferd. Claus vermaß ihn mit einem einzigen, kundigen Blick:
„Ich erwarte dich im Stall,“ gab er verschmitzt lächelnd Bescheid.
Schnell ins Reitzeug, auf zum Stall. Claus hatte einen Rappen am Zügel, der nicht von schlechten Eltern schien.
„Du bist ein geübter Reiter, Bernd, davon gehe ich aus, wenn ich dir meinen Hengst, den Wotan, anvertraue. Wotan erkennt, wenn du aufsitzt, wer Herr, wer Diener ist. Ist das geklärt, gibt es kein angenehmeres Ross als ihn. Stark, schnell, ausdauernd. Erkennt, kaum dass ein Schenkel drückt, deine Intention. Willst du dich tüchtig ausreiten, sitz auf!“
Ich nahm die Zügel, fuhr Wotan über Maul und Nüstern, umschlang den starken Hals und schwang mich in den Sattel. Signalisierte Galopp, winkte Claus, und ab ging‘s durch das weiße Schweben, dem Horizont, der immer weiter wich, ganz einfach hinterher. Wotan, erkannt ich bald, folgte einem ihm vertrauten Weg, der unter Schnee verborgen, ihm sicheren Trittgrund bot. Ich ließ ihm seinen Willen, war er doch kundiger als ich.
Es ging in weitem Bogen durch die Landschaft auf den Waldrand zu, den ich als dunkle Linie hinter dem Weiß erahnte.
Nach einer Viertelstunde scharfen Reitens, nahm Wotan den Galopp zurück, allmählich fielen wir in Trab.
Der Boden war jetzt schwer, die Hufe warfen Klumpen schwarzer Erde auf. Ich holte Luft, Schweiß rann mir über den Rücken. Wotan sollt bald zurück zu schnellerer Gangart, bevor der Frost mir meinen Schweiß gefror. Doch ging‘s ihm ebenso. Sein Fell voll nasser Flecken, vom Maul troff weißer Geifer. Ein Wassergraben quer zu unserer Richtung. Wotan versammelt sich, ein Sprung - wir flogen durch die Luft. Beim Landen, fühlt ich den wieder festen Boden.
Wotan gefiel nun wieder der Galopp. Auch hier, wo für mich weiße plane Fläche, folgte das Tier den ihm bekannten Weg. Nicht geradeaus, nein Windung folgte Windung. Wotan schnellt vor und nimmt zurück, ganz wie der Weg es zuläßt. Dann sah ich Steinfeld eine Meile seitwärts. Ich gab ihm Richtung mit sanftem Schenkeldruck, er hob den Kopf, ein kurzes starkes Schnauben, und ab gings geradewegs auf Steinfeld zu.
Claus, der in der Bibliothek am Ausguckfenster mich erwartet hatte, kam in den Hof.
„Na, wie gefiel dir Wotan?“
„Darfst du nicht fragen, Claus. Noch nie saß ich auf einem solchen Pferd.“
„Hier, gib ihm ein paar Trockenpflaumen, die mag er.“
Ich hielt ihm die Früchte hin, mit seinen weichen, dicken Lippen nahm er eine nur, zerkaute die bedächtig und nahm in aller Ruhe eine zweite.
„Ich hab drei Pflaumen Claus, wieviel erwartet er?
„Drei sind genug, pass auf, er will die Dritte!“
Tatsächlich angelte Wotan nach meiner Hand, ich schob ihm das Leckerchen ins Maul, und er zog ohne weitere Verzögerung ab zum Stall, wo ihn ein Reitknecht schon erwartete.
„Er mag dich, Bernd, sonst würde er dir nicht, die dritte Pfaume abgebettelt haben. Reitet ihn jemand, der ihm nicht paßt, geht er, nachdem abgesessen wurde, schnurstracks zum Stall. Du hast ihm seinen Willen gelassen, nehme ich an?“
„Was sonst hätte ich tun sollen. Wotan kennt Weg und Steg, der Zügel hätte uns behindert. Ich habe mich ihm ganz anvertraut.“
„Bravo Bernd, das vergisst er dir nie.“
„Mir ist bekannt wie verständig Pferde sind. In Cleve hatte ich stets das selbe Ross, doch musste das Pferd vielen Herren dienen. Geht nicht anders bei einem Mietstall. Hatte eine Ahnung, es erkannte mich, habe ihm stets ein Leckerli mitgebracht.“
„Es wird dich erkannt haben, Bernd, wie es die guten Reiter schätzt, den schlechten zusetzt. In Berlin war ich auf Mietställe angewiesen. Habe genau bemerkt, wie Pferde ticken. Bin oft mit netten Freunden ausgeritten, die schlechte Reiter waren. Unglaublich, wie die Zossen die schikanierten.“
„Ich stell‘s mir vor. Doch bitte, Claus, entschuldige, bevor mich friert muss ich mich waschen und umziehen.“
„Da vertraue dich besser mir an, ich zeige dir unsere Badestube, fertig eingeheizt. Kennst du das Finnenbad? Sicher nicht. In Finnland heißt es Sauna. Es gibt nichts, was Leib und Seel gründlicher erfrischte.“
Claus führte seinen Gast zu einem Hügel, hinter dem Blumengarten des Wohnhauses. An der dem Haus abgewandten Seite war eine Tür in den Hügel eingebaut, oben quoll eine dicke, harzig duftende Holzfeuerwolke aus dem mit Gras gedeckten Dach. Die Eingangstür führte in eine mäßig warme Kammer. Kleiderhaken waren an die Wände genagelt
„Ausziehen," befahl Claus, „nackt ausziehen" und stand schon splitternackt bereit. Bernd beeilte sich, Claus riss die zweite Tür auf, Gluthitze wabberte in der Kammer.
„Keine Bange, Doctor. Komm schnell rein, sonst entweicht zuviel Hitze. Sieh hier das Thermometer, 85° Celsius. Setz dich hier oben neben mich, wir schwitzen ein Viertelstündchen. Schweiß kompensiert die Hitze. Sauna härtet ab, Bernd. Gleich gehen wir raus und wälzen uns nackt im Schnee, danach ins Tauchbecken, da wirst quieken. Seitdem wir eifrig Sauna baden, sind wir kaum noch erkältet. Die Frauen machen mit. An geraden Tagen gehen die Männer, an ungeraden die Frauen.“
Die Sanduhr auf dem Bord war leergelaufen. Claus sprang auf.
„Auf, Bernd, jetzt kommt das Schönste,“ schrie er, stürzte hinaus ins Freie und warf sich in den Schnee. Bernd tat es ihm, wenn auch ein wenig zögernd, gleich. Tatsächlich war der Schnee nicht kalt. Er wälzte sich wie Claus ausgiebig, folgte ihm dann vor ein grosses Fass, in das Claus über eine angelehnte Leiter stieg. Prustend und schreiend, schoss er aus dem Fass hoch. „Willst es wagen, Bernd?“
Bernd stieg die Leiter hoch. Haltesstricke hingen innen ringsum. „Plumps schon“ schrie Claus, „wird dir gut tun. Nicht zimperlich reinsteigen, einfach fallen lassen!“
Bernd gehorchte. Die Wasserkälte stieß zu wie ein Messer, er schnappte nach Luft, gleichzeitig angelte er nach einem Strick und zog sich hoch.
„Verdammt, ist das kalt!“ schrie er.
„Ich weiß," schrie Claus zurück, „dicht am Gefrierpunkt!" Komm runter, wir müssen ins Warme, nächster Gang!“
Die beim ersten Gang grosse Hitze, war nun wohlig warmer Mantel.
„Spür die Hitze nicht mehr, Claus, ähnlich wie die Kälte im Schnee,“wunderte sich, Bernd.
„Warte nur ab,“ lachte der, „jetzt öffnet Hitze die Poren richtig. Wirst glauben du zerfließt! Später nach dem Kälteschock, fühlst dich wie neugeboren.“
Wieder hockten sie, fixierten die Uhr. „Vorwärts!“ diesmal kommandierte Bernd. Hinein in den Schnee, ordentlich Brust, Bauch, Arm und Bein abgerieben, dann ein Herz gefasst und rein ins eisige Fass, unglaublich, wie kalt das war.
Claus wartete schon unten. Im Hochsteigen rief er, noch einen Gang oder erst mal Schluss?
„Erst mal Schluss, Claus“.
„Dann müssen wir laufen, warte, bin sofort zurück,“ sprach‘s, sprang ins kalte Wasser, schrie laut aus vollem Halse, schoss prustend hoch.
„Ein Weilchen laufen wir nach dem heiß-kalt. Nicht angestrengt, Trab.
Bleib hinter mir, ich weiß wo wir den Weibern nicht in die Quere kommen. Möchten ein Geschrei machen, hoffen zwei nackte Kerle jagen sie. Danach, Bernd, wirst schlafen wie der Prinz im Lied, das die Müttern ihren Kindern zur Nacht singen. Wirst morgen früh wach, suchst nach Bäumen zum auszureißen!“
Nora, in ihrem Zimmer, öffnete den Sekretär, das Geheimfach. Behutsam griff sie das trockene Bündelchen Holz. Am Tage deiner ersten Verliebtheit, hatte die Hexe empfohlen, soll ich die Hölzchen in heißsprudelndes Wasser hängen, ihren Duft einatmen, danach sähe ich weiter.
Doch bin ich verliebt? Geküsst bin ich! Sie legte die Hölzchen zurück. Schön solch ein Kuss. Ganz Lippen, Mund des Anderen wirst du. Ja, Zunge auch, hätte es mir nie so vorgestellt. Die Lippen schon, aber die Zunge, der fremde Mund. War nicht nur schön, war, ich kann’s nur schwer ausdrücken, ging durch und durch. Die Knie, hätte ich gestanden, wären eingeknickt, der Magen durchgesackt. Fühle jetzt noch Schwäche, muss mich legen. Das wird gemeint sein, mit Redensarten wie: Mach mich nicht schwach, lass dich nicht schwach machen. Diese süße Schwere. Süße? War sie das, süß? Ja doch, süß, einfach weiter so, mach weiter, küss weiter.
So habe ich mich gefühlt, nicht sofort, aber dann mehr und mehr. Habe mich gelöst von ihm, aus Angst vor mehr. Bin ich verliebt oder geküsst? Ist ein Kuss immer so, gleich, wer ihn küsst? Muss mir den Mund vorstellen, den Mund von innen.
Boris? Brrr, nicht Boris. Gelbe lange Pferdezähne, will mir weiteres nicht denken. Aber Bernd? Was hat er für Zähne? Weiß es nicht. Nie hingesehen. Also, wenn der wie Boris? Quatsch. Möglich, ich küsse ihn nicht noch mal. Ein Kuss und aus. Warum nicht? Ja, warum nicht? Weil du noch einen Versuch wagen möchtest, noch einmal fühlen wie‘s sich dreht im Kopf. Unten oben, oben unten! Ist so, gib’s zu. Möchtest schon wieder küssen.
Hieß, wie unauffällig durch’s Haus schlendern, so wie ich es nie tu. Auf ihn stossen, wie er wo sitzt, mit der Mama oder dem Papa plaudert. Mich dazusetzen, so tun als wär er nie gewesen, der Kuss, der mich trieb ihn zu suchen. Ihn? Den Mann oder den Kuss? Ja was? Komm nicht dahinter, bleib liegen. Nein, zieh mich aus. Nachthemd an und schlafen, beugt Dummheiten vor.
Wie war das, wenn der Kutscher-Kurt mich aufs Pferd hob, nachfasste? Auch das Gefühl, Kuss ähnlich betörend. Betörend, hatte ich das gedacht? Habe es gelesen, sie ließ sich betören. Betören war das schon, wo Maschas Unterricht von Frau und Mann beschrieb, was kommt?
Wenn Kurt mich hätte küssen dürfen, was wär geschehen? Wäre es Bernd ähnlich? Ekel machte er mir nicht, der Kurt. Hat saubere weiße Zähne, schöne rote Lippen. Kenn seine Lippen genau, viele kleine Fältchen, winzige Täler. Hat sich gelegt, das mit dem Kurt. Voriges Jahr noch, gebe es mir zu, träumte ich ihn am hellem Mittag.
Mache ich das weiter mit dem Bernd, stehe ich bald wieder vor der Wand. War sein Kuss nicht nur Laune, einmalig, will er mehr und öfter, geht es direktemang ab in den Ehehafen. O Sonja, du hast mich gewarnt, umsonst? Bernd als Medicus, kennt sicher die Schweinsdarmschliche. Müsste nicht dauernd ferkeln.
Er hat kein Land, möcht sein, Erbenzeugen nicht sein vornehmstes Ziel. Zwei dreimal schwanger wär noch auszuhalten, doch zwanzig Jahre dicker Bauch, auf keinen Fall mit Nora. Erst einmal Augen zu, schön eine Nacht lang in die Kissen kuscheln, morgen ist Morgen, werde sehen.
Düsseldorf 2003
Nora war fest eingeschlafen. Bernd strich ihr über‘s Haar, drückte sich an sie. Keine Reaktion, schien, als ob die Dame ihren Anteil von der Liebe erst einmal verkraften müsste, schien bei ihr Schlaf zu heißen.
Er stand auf, ging ins Bad, duschen, rasieren, Zähne putzen. Hatte sie ihm gestern gezeigt, die Utensilien für den unverhofft übernachtenden Herrn. Ließ ihn mit einer erfahrenen Dame rechnen, auf eine Jungfrau zu stossen hatte ihn verblüfft. Doch warum nicht. Männer noch der Vätergeneration, taten sich was darauf zugute, der Erste gewesen zu sein. Für deren Väter, noch ein Muss. Gehörte einfach dazu, die jungfräuliche Braut.
Vorsichtig öffnete er die Schlafzimmertür, die Lage unverändert, leises sachtes Schnurren kam aus Nora, sonst keine Regung.
Der Schlüssel steckte auf der Tür. Schreibe ihr ein Briefchen, dachte er und schrieb.
Liebste, schönste, berückenste Nora, du schlummerst so fest, produzierst einen so sanften, tief zufriedenen Schnurrton, bringe es nicht über’s Herz dich zu stören. Es ist zehn, bin spätestens in einer Stunde zurück, bringe frische Brötchen mit. Kuss, Kuss, Küsse noch mehr Küsse, Bernd.
Gleich an der Ecke war ein Taxistand. Schnell in die Stadt zum Sternverlag, die hatten ein großes wohlsortiertes Antiquariat mit vielen medizinischen Publikationen aus dem Neunzehnten Jahrhundert. Manche Stunde hatte er schon stöbernd zwischen den alten, teils außerordentlich umfänglichen Folianten verbracht. Hoch interessant war, wie Wissenschaft damals vorangetrieben, Irrwege verbissen verteidigt und Proselyten gemacht wurden. Wie oft aber auch, eine Gemeinde von vermeintlich Rechtgläubigen, sich in unwegsamsten Gelände verlief. War nur mit äußerster Zurückhaltung zu belächeln, eingedenk noch unentdeckt schlummernden, eigenen Unvermögens.
Hier lag der Kern des Vergnügens. Sich den alten Gedanken anheimgeben, ihre profunden anatomischen Kenntnisse bewundern, ihre Schlüsse nachvollziehen und wahrnehmen, wie und wo sie in die Irre gingen.
Bei seinem Stöbereien, war er auf einen Band aus der ersten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts gestoßen, der, so erinnerte er sich vage, von den außergewöhnlichen Heilerfolgen eines Chirurgus, im äußersten Osten des damaligen Preußen berichtete.
Dies nicht weiter wert es im Gedächtnis zu behalten, wenn nicht der Mädchenname der Verfasserin, Nora Gräfin Kelm, gewesen wäre. Warum er den Namen gespeichert hatte? Hätte man ihn gefragt, Kopfschütteln seine Antwort.
Jedenfalls, er saß im Taxi unterwegs zum Sternverlag. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er das Regal, in dem die mit Anatomie etc. befassten alten Bände schlummerten. Er fuhr über die Buchrücken, wobei ihm aufging wie seine Erinnerung funktioniert hatte: Der Chirurgus, von dem die Rede war hieß Graf Bernhard zu Bern. Diese, bis auf das Adelsprädikat Namensgleichheit, hatte seine Neugier geweckt, ihn bewegt einige Seiten zu lesen. Lange hatte er sich nicht damit aufgehalten, ging um das alltägliche klein klein, einer ärztlichen Praxis.
Heute jedoch war das Buch von größtem Interesse. Sein Herz klopfte schneller als er die einzelnen Etagen, des in Frage kommenden Regals durchforschte. Er fand es nicht. Vielleicht war es umgestellt worden, verkauft? Verkauft mochte er gar nicht denken, je länger er suchte, um so mehr ging ihm die außerordentliche Einmaligkeit des Zufalls auf. Sein und seiner Geliebten Name, vereint auf der vergilbten Seite eines Bandes aus dem vorvorigen Jahrhundert.
Er ging zum Computer, gab Nora Kelm als Suchwort ein. Nach einigem Warten tat sein Herz einen Sprung. Es gab einen Band, in dem Nora Gräfin Kelm genannt wurde. Er grenzte weiter ein. Augenblicklich erschien auf dem Monitor unter Autorin, Nora Gräfin zu Bern, geb. Nora Gräfin Kelm. Titel.: Die tatsächlichen, unglaublichen Heilerfolge des Chirurgus, Bernhard Graf zu Bern.
Weiter stand da, das Buch befände sich zur Zeit im Lager und sei verfügbar. Der Preis, Euro 69.50. Bernd ließ sich die Seite ausdrucken, ging zur Kasse und verlangte den Titel. Die freundliche Verkäuferin gab ihm eine Nummer und bat ihn, in der Cafeteria zu warten bis auf dem dort angebrachten Monitor die Buchnummer angezeigt würde. Es könne längstens eine halbe Stunde dauern, das Buch müsse aus dem Lager herbeigeschafft werden.
Bernd, mit dieser Auskunft zufrieden, nahm sich einen der an der Kasse ausgelegten Buchkataloge, setzte sich in die Cafeteria wo ihm alsbald auf Kosten des Hauses ein Kaffee serviert wurde. Er blätterte sich eher lustlos durch den Katalog, zwischendurch ungeduldig zum Monitor aufschauend. Endlich erschien seine Nummer. Er ging zur Kasse, zahlte, griff seine Beute und verließ den Laden.
Auf der Strasse stürzte er in die nächste Bäckerei, kam mit einer Tüte noch backwarmer Brötchen zurück, schnappte sich ein Taxi und ließ sich zurück zur Kaiserswerther Strasse fahren.
Angekommen, öffnete er leise die Tür, ging auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer, wo Nora lag wie er sie verlassen hatte. Die Küche war unkompliziert. Als gelernter Single fand er sich schnell zurecht. Bald blubberte die Kaffeemaschine, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee durchzog die Wohnung. Die Tür zum Schlafzimmer stand weit auf, so dass, wenn dieses Mädchen denn zu wecken war, sie jetzt wach geworden sein musste.
Bernd deckte den Tisch, klapperte mit Geschirr und Besteck, von Nora keine Regung. Also es geht nicht anders, gleich halb zwölf, ich wecke sie, beschloss er.
Nora lag tief verkrochen unter der Bettdecke, nur ihr Haar war zu sehen. Er griff nach ihrer Schulter, ins Leere, da war keine Schulter. Die Bettdecke zurückgerisssen, an Noras Stelle lag ein grünes Gummikrokodil zusammen mit einem schwarzen Haarschopf in den Kissen. Hinter sich ahnte er eine Bewegung, er fuhr herum
„Nora!“
„Hab ich dich erschreckt, Liebster?“ Da stand sie, herrlich anzuschauen, wie Gott sie geschaffen, und massierte sich eine duftende Lotion in die Haut.
„O Nora“ mit weit ausgebreiteten Armen ging er auf sie zu, doch sie wich aus, „Lass das, du wirst dir den Anzug einsauen. Außerdem ist der Duft aus der Küche im Moment verführerischer als du, liebster Bernd, alles zu seiner Zeit,“ flötete sie und verschwand im Bad.
Nora zauberte schnell einige Schmankerl aus ihren Vorräten herbei, und sie frühstückten genüsslich. Zwischendurch wollte sie wissen, was ihn so früh aus ihrem Bett getrieben?
„Wenn ich, wie du jetzt weißt, in der Liebe Anfängerin bin, so ist mir jedoch bekannt, Männer verharren so lang als möglich beim geliebten Körper, ist der erst erobert?“
„Kann da nicht widersprechen, Allerverführerischste! Könnte mich ohrfeigen. Hatten wir ähnlich schon. Doch das Okkulte scheint uns im Griff zu haben. Ist nicht nur dein Kleid, das staunen macht. Ich hab hier etwas, ich bin sicher, die Augen werden dir übergehen. Es könnte meine Bettflucht erklären, ich jedenfalls weiß mir keinen anderen Grund. Du wirst entscheiden, ob das Objekt meiner Begierde, das Vergehen gegen die Spielregeln des erotischen Geschmacks, entschuldigt.“
„Du machst mich neugierig, Bernd! Rück schon raus mit der Sprache, was hast du Besonderes, dass dein absonderliches Handeln erklärte? Du hörst, ich nehm den Ball auf, nun erwarte ich ein spektakuläres Rückspiel.“
„Gut, Nora, hier nimm.“
„Antiquariat Sternverlag? Schwere Schwarte hast du da angeschleppt.“
„Pack aus!“
„Bin dabei, nicht so hastig. Junge, was für ein Wälzer, der riecht tatsächlich alt, antik eben. Leidlich gut erhalten. Was steht da? Die unglaublichen Heilerfolge des Chirurgus Graf zu Bern, aufgezeichnet von Nora Gräfin zu Bern, geborene Nora Gräfin Kelm.“
Sie schrie auf, stieß das Buch von sich, es fiel zu Boden, lag da, den Buchrücken mit den Namen der Autorin Bern und Kelm deutlich lesbar.
„Bernd, was geht hier vor? Hast du oder deine Familie ein Adelsprädikat?“
„Nein, nie gehabt. Wir heißen Bern. Wie lange schon, keine Ahnung, in bürgerlichen Familien wird keine Genealogie betrieben. Mit dem Grafen Bern, dem Chirurgus, hab ich nichts zu tun. Als der lebte, waren meine Vorfahren Mägde und Knechte hier am Niederrhein, nehme ich an.
Aber es ist trotz alledem schockierend. Erst einmal, mir fiel plötzlich ein, den Band schon einmal in den Fingern gehabt zu haben. Wieso diese Erinnerung? Ich bin ein eifriger Stöberer, liebe alte Bücher, durchforste die wegen alter Kupferstiche, genialer Zeichnungen, oder den gedanklichen Anfängen der medizinischen Wissenschaft. Das Für und Wider, dieser längst versunkenen Zeit wird mir lebendig, beglückt mich. Merke mir Inhalte, nie Autoren, wo käme ich da hin? Den Chirurgus Graf Bern und die Gräfin Nora von Kelm scheine ich mir gemerkt zu haben, deinen Namen hörte ich gestern zum erstenmal. Merkwürdig ist, ich bin Chirurg.“
„Bernd, erzähle mir bitte, wie der Tag für dich begann. Du wachtest auf?“
„Ich wachte auf, versuchte dich zu wecken. Drückte mich an dich, streichelte dich. Nutzte nichts, die Comtess geruhte zu ruhen. Ich stand auf, meine Mutter würde sagen, regelte mich. Schrieb dir eine kurze Notiz, nahm ein Taxi, fuhr ohne weitere Überlegung ins Antiquariat. Steuerte dort zielstrebig auf ein Regal zu, in dem ich das Buch, das jetzt hier auf dem Boden liegt, wusste. War nicht mehr da. Fand es im Computer, druckte aus, kaufte, holte Brötchen, nahm Taxi, bin wieder hier. Fertig, das war‘s.“
„Entschuldige, Bernd. Du kamst mit deiner Schwester auf den Ball, die hatte mich dir avisiert?“
„Ja doch, ich wollte zuerst nicht: Was soll ich deinem Chef, auf dem stinklangweiligen Ärzteball, den Nichtentröster machen, hatte ich gemeutert. Rumgekriegt hatte sie mich, mit der Schilderung der außergewöhnlichen Schönheit der Nichte, mit der Dreingabe, wie wichtig der Ball für sie sei, wenn sie Waldeck beruflich beerben wolle. Das war‘s. Keine wie auch immer geartete Linie zu Graf Bern und Gräfin Kelm. Hätte auf Befragen nicht die leiseste Ahnung das Buch betreffend gehabt.“
„Bernd, entschuldige meine Spökenkiekerei. Wir sprachen gestern über mein Kleid, Physik und Okkultismus. Du siehst es ja genau so, das Buch passt da rein. Gäbe es das Kleid nicht, sähe das anders aus. Aber so?
Eine Vorfahrin meines Namens, die mit einem Chirurgen liiert war?“
„Nicht liiert Nora, verheiratet.“
„Nach den Maßstäben von damals, Bernd, sind wir verheiratet. Glaubst du, die Comtess Kelm wäre ohne Ehering mit dem Grafen Bern ins Bett gestiegen, hätte ihre Unschuld geopfert? Undenkbar! Absolut undenkbar! Aber wer weiß, wie okkulte Mächte agieren? Welchen Zeitbegriff die haben? Möglich haben die sich nie um Schicklichkeit geschert, oder wenn doch, nicht wahrgenommen, wie zweihundert Jahre ins Land gegangen sind.
Weil ich dabei bin: Eine Frage, die ich ohne das Ereignis nicht stellen würde, sind wir liiert, Bernd? Wenn nicht, wird alles einfacher.“
„Einfacher, Nora? Es bräche mir das Herz, dich kaum gewonnen, zu verlieren. Nichts wäre ich lieber als dir Liierter. Davon abgesehen, was sollte leichter werden? Gesetzt den Fall, Hexen oder Zauberer werkeln an uns. Ihre Werkzeuge Kleid und Buch, so hänge ich mit drin. Mein und dein Name schmücken den Buchtitel, dazu kommt noch der Chirurg, was fehlt ist der Graf. Erklären wir Zufall zu zauberischem Wollen Dritter, wäre ich mit von der Partie, aber sind wir so weit?
Nein, fragst du mich. Das Buch betrachte ich als Gag. Mein Erinnern als natürlich. Ich wollte, nehmen wir an, dich überraschen, mich in Beziehung zu dir setzen. Da funktionierte mein Unterbewußtes, kramte, stieß auf die Fasern Kelm, Bern, Chirurg. Setzte mich in Gang, erfolgreich wie wir wissen. So gesehen nichts Besonderes. Was das Kleid angeht, wozu studierst du Physik? Deine Erklärung gestern Abend, leuchtet ein. Gibt es etwas jenseits unserer Wahrnehmungsfähigkeit, sollten wir es zu erforschen suchen. Könnte absolut spannend sein mit dem Nichts, wie wir uns nicht Erklärbares gerne nennen, in Beziehung zu treten.“
„Jau Bernd, Süßer, richte mich auf. Hat was männliches, das Aufrichten. Konnte das vorige Nacht erstmals erfahren. Geht das häufiger? Ich drücke mich ungeschickt aus, dieses so spezifisch männliche Aufrichten, geht das am hellichten Tag oder nur bei Nacht?“
„Nora, Liebste! Jau, sage ich da, nein versprech dir, geht am hellichten Tag! Mit dir jede Minute, Sekunde, Stunde, Woche, Monat, Jahr! Musst nur wollen, mich fragen: Bereit? Antwort: Jau, allzeit bereit!“
„Herrlich Bernd, aber bitte vergiss das jau. Erinnert mich zu sehr an die Küsten-Kelms. Die sagen immer jau. Jau zu allem und jedem. Doch komm, tauchen wir dahin ab, wo Seligkeit und Jauchzen unserer harrt! Wie hab ich das gesagt? Nun deine Antwort, bitte ohne Worte!“
Nora schlüpfte aus dem Bademantel, und sprang mit elegantem Schwung in die Kissen.
„Komm schon, Liebster, quengelte sie, kann es kaum erwarten, geforkelt zu werden, so sagt die vornehme Dame doch, geforkelt, oder irre ich? Brauchst nicht zu antworten, weiß genau Bescheid: Ich werde von dir, dem Forkler, geforkelt!“
„Warte nur ab, vornehme Dame, bis ich aus der Hose bin. Wie du das nennst, was ich mit dir mache, ist mir schnurz, nur was ich mit dir machen werde, das ahnst du nicht!“
„Ahne ich nicht, Forkler? Du hast ja Recht, wieso ahnen, ich weiß es! Fällt mir ein, war doch gestern erst, als du so unbeschreiblich süß forkeltest! Ah, oh ja, da bist du ja. Doch was sehe ich? Ist einzinkig deine Forke, ob das was wird? Hast dir die zweite Zinke heute Nacht abgebrochen? Suchen wir, sie müsste zwischen den Laken liegen! Was brummst du, du kennst das Versteck? Waas? Zwischen meinen Beinen, bist du wahnsinnig, wo wohl sollte ich die da verstecken? Du sagst gar nichts, weißt wo du suchst? Gut, dann such, ohja such, such, such, da ja, da ist es, weiter noch weiter, jetzt vor und zurück, dann wieder vor und zurück und wieder, oh wie du suchst, so unbeschreiblich suchst, ich kann nur, nur, nur, hör bitte nicht auf! Raus, nein nicht raus! Ja wieder rein, rein und raus und rein und raus, ich schreie. Bernd Süßer, süßer süßer Bernie, Bernie, Bernd Jajajaja jaja. Such, o such, such, such, such, o ja such weiter, weiter! Ich Bernd, ich, ich, ich, bitte ja, ja! Ich verstehe nicht, nein, nein, nicht umdrehen, mach weiter, weiter, wieso umdrehen. Knien, ich auf die Knie, warum? Und du? Hör aber nicht auf. Nein, auch keinen Moment. Nicht jetzt Bernd, nicht jetzt, nicht, nicht, nicht, jeteeeertzt, ohoooohh Bernd, Beeeeernd!
O Bernd, so war das gestern nicht, wie mich das auftrennte, aufribbelte, mir über das Rückgrat hoch in den Kopf schlich, erst langsam, dann dichter und dichter, bis ich nur noch an dir hing, deinen Forkler fühlte, wie der mit jedem Stoß mich tiefer trieb, wohin? Ja, wohin? Ins Nirgendwo, dahin wo ich nie war, nie hin konnte, hing hier und wollte nur dich fühlen, mich mit dir bäumen, mich an dir reiben, mich an dich klammern und gleichzeitig war da was. So voll Wonne, so öffnend, dehnend, mich dehnend, wohin, ich weiß es nicht, ging weiter und weiter, platzte, riss mich auseinander, in lauter tausend Schläge meines Herzens, tausend Stellen in mir, die dehnten sich so unaussprechlich, so wie ich ewig bleiben wollte, wenn das ginge. Fühlst du das auch so, Liebster? Verlierst Gestalt, bist nur noch Werkzeug dir, dein ICH ganz weit im Hintergrund?“
„Nicht so, doch nicht viel anders, Nora. Ich glaube, Mann und Frau erleben gleiches auf verschiedene Weise. Will Dir jetzt keinen Vortrag halten, ist erforscht wie unsere Nerven, Hirne ticken. Die Liebe ist sonderbar, ist sie nicht anwesend bei diesem Akt, was oft der Fall ist, verblasst die Farbe. Was uns einzigartig schien, ist einzigartig, wird es bleiben. Das Fludium, das uns zusammenführte, ward hier auf Erden nicht gebraut, hat Zauberqualität, herrscht über Menschen, seit es Menschen gibt, macht Tier zum Menschen, läßt ihn wirklich leben.“
„Ist es die Liebe, Bernd?“
„Es ist die Liebe, Nora, bitte flüstere.“
„Flüstern, Geliebter? Ich möchte es in die Lüfte schreien, es jedem sagen. Den Vögeln, Fröschen, Freund und Feind!“
„Nicht doch, Liebste, halt ein. Es soll Geheimnis bleiben. Wird früh genug bekannt. Bis dahin bleiben wir nur wir. Verstecken uns vor der Welt. Nehmen nur uns wahr, besteigen unsere Berge, tauchen in unsere Tiefen. Fliegen mit den Vögeln, summen mit den Bienen, streiten mit den Blumen um die Pracht ihrer Blüten!“
„Singen, weinen, lachen, jauchzen, stöhnen, Liebster, in einem Atemzug, einer Umarmung, einer Ekstase! Ist doch Ekstase, was wir erleben? Auch so ein Wort, das sich nicht gehört! Aus Neid, nehme ich an. Gelber Neid läßt Ekstase zum Unwort werden, nicht ganz, aber zum Wort mit fragendem Unterton.“
"Deshalb, schöne Nora, soll unsere Liebe Geheimnis sein. Leicht wird Liebe zum Wort mit fragendem Unterton, du sagtest es.“
„Habe schon verstanden, Bernd. Werde mich hüten, vorzeitig zu verletzen, was nicht ewig währt. Unschuld, ich fühl’s, Liebe ist Unschuld in ihrer reinsten Form. Ist niederknien, die Hände zur Schale formen, trinken von dem Quell, so lang er unerschöpflich scheint.“
„Kann unerschöpflich bleiben, Nora. Kann, wenn wir das Geschenk erkennen, das wir uns selbst bescheren. Meistens geht’s verloren, verinnt zwischen den Fingern im Alltag, der nicht so genannt werden sollte. Jeder unserer Tage, Nora, ist Unikat, einmalig. Kein Tag sieht wie der andere aus, sind ähnlich zwar, doch siehst du näher hin, im Grunde immer neu. Doch macht es Mühe, stets daran zu denken. Nicht nur zu denken, freudig zu empfangen. Jeden Morgen als Geschenk zu nehmen, die Morgenröte als Verheißung sehen. Und ist der Morgen grau und kalt und sturmdurchtost, ist er doch Morgen. Eines einzigartigen Tags Geburt, ebenbürtig jedem rosenfingrigen Sommermorgen.“
„Das, mein Chirurgus, hast du wie ein Poet gesagt, möchte glauben bist kein Messerheld. Stelle mir nicht gerne vor, wie du ins lebendige Fleisch schneidest. Hör, es schellt!“
Klapaida
Na, endlich schellt jemand. Ich hör und seh gern zu, obwohl es stets auf‘s Gleiche raus läuft. Wobei mir aufgeht, man sagt Voyeur, ist jemand der belauscht wie zwei es treiben, nicht Audieur? Geht doch über die Ohren, das Stöhnen, Seufzen, Betteln, nicht genug-kriegen-können, zum Ende die Schreie! Sein Gebrüll, ihr Diskant, das Außersichsein, ganz weit weg von jeder Balance.
Na, nun hat mein Norakind erfahren, was ihr Kätzchen will und braucht. Ist man nur die meine, die Projekt-Nora, unterscheidet sich aber in nichts von der auf Steinfeld. Wie das im Bett abgeht, meine ich. Sonst liegen Welten, Jahrhunderte zwischen den Kindern, hab keine Lust, mich weiter zu verbreiten, liebes Tagebuch und liebe Mascha. Tagebuch und Mascha sind mir eins geworden. Früher, bevor Mascha mich das Schreiben lehrte, war mein Gedächtnis Buch. Ich kann mich erinnern an Dinge vom Anfang der Welt, und an solche von eben, glasklar glaubte ich. Doch mein Tagebuch bewahrt anders auf, als ich.
Vor zwei Wochen standen Mascha und ich, am grünen Weiher wo das Moor beginnt. Meine Erinnerung sieht uns dort stehen, über Nora und den neuen Doctor sprechen, Mascha erzählt, Nora wäre in ihn verliebt, was sie ihr gönne.
Mein Tagebuch schreibt: Mit Mascha über Nora gesprochen. Der Weiher funkelte wie Smaragd, der Osten schiebt Wolkenberge auf, wird bald krachen, denke ich. Zeig zum Himmel, sag ihr, sieh was da dräut? Keine Regung. Kein Auge für die Welt. Brennt wie ihre Tochter. Hat sich wie die, vergafft in den Doctor. Nun, ich gönne. Doch was ist mit Bernd? Mascha ist nur wenig älter, dafür reif, erfahren, tief, eine erblühte Schönheit! Ein Garten dem sich keiner annimmt. Was der Kelm mit ihr macht, reicht nicht, nicht für meine Mascha. Werden sehen.
Wie gesagt, das Erinnern war anders ohne Tagebuch. Hab nicht rumgekramt in Nebensachen, ausgeschmückt. Gewesenes war gewesen, aus! Jetzt wo ich schreibe, greif ich nach, nehm den Stoff, zieh ihn durch die Finger. Fühle Samt, Leinen, Köper, Barchend, Twill. Sehe die Farbe, höre die Worte, rieche, rieche Blumen oder Bratenduft, hier auf dem leeren Tisch, an dem ich sitz, und wie ein Mensch Papier bekritzle.
Als Mascha mir zeigte, wie geschrieben wird, hatte ich Last mit dem Werkzeug. Konnte den Gänsekiel nicht richtig halten. Tinte verspritzte über‘s Blatt, sobald ich ihm nahe kam. Mascha meinte, durch ständiges Üben würde ich das meistern. Sie schrieb mir schön säuberlich Buchstaben und Zahlen auf. Die abmalen, Klapaida, immer wieder unverdrossen abmalen, auch wenn es schlimm aussieht, irgendwann hast du es raus.
So hat sie mich ermutigt, die Liebe. Hat keine Ahnung, darf nicht sein. Das Geraune über die Hexe stört sie nicht, glaubt es habe seine Ordnung. Bin für sie wie das Feuer, warm und hell, wenn es gehalten wird, wo es Zuhaus ist.
Einmal fragte sie nach meinen Fortschritten, ob es ging mit dem Ganskiel, oder hast du hingeworfen, wollte sie wissen. Hingeworfen, Mascha? I wo, ich kann schreiben. Hab fleißig geübt, wie du es empfohlen, jetzt geht es mir locker von der Hand.
Aber die Wörter, die sich aus den Buchstaben bilden, woher hast du die? wunderte sie sich. Da konnte ich sie beruhigen, aus der Bibel, Mascha. Ich habe sie dir vor Jahren gezeigt, die alte Bibel. Die steht voll Wörter, die hab ich abgeschrieben, wieder und wieder.
Das muss ich sehen, Klapaida, staunte sie. Nicht dass ich dir nicht glaubte, obwohl es unglaublich ist. Na, vielleicht sollte ich das nicht sagen, lächelte sie.
Ich lächelte zurück und fragte, weil du vieles an mir unglaublich findest, stimmt’s? Also komm, sieh’s dir an. Wir gingen in den Wirtschaftsraum, Mascha räumte den Tisch frei, scheuchte die Kinder raus, die angeschnuppert kommen, sobald sie meiner ansichtig werden.
Tinte, Gänsekiel, Sandbüchse, ich setzte mich zurecht und schrieb:
Verehrteste Frau Gräfin, bitte vergeben Sie einer einfachen Frau die Annäherung.
Euer Hochwohlgeboren mögen bitte verzeihen, was ich so nicht gewollt, aber leider nicht ändern kann. Möglich, Eure Schrift, die von meiner Hand hier vor Euren Augen auf den Bogen fließt, ist die Ursache für mein Können. Ohne Euren Ductus, Gnädigste, wäre ich vielleicht nicht in der Lage zu schreiben. Was ich noch berichten möchte, gilt meiner Fähigkeit zu lesen. Auch hier ist Eure hochwohlgeborene Person im Spiel. Schicke ich mich an, einen Text zu lesen, so sehe ich den durch Eure Augen. Ich erkenne es, weil das Papier, auf das gedruckt wurde, grünlich schimmert, hervorgerufen durch das Leuchten Eurer Iris.
Mascha las das und sah mich erschreckt an. Das mit meinen Buchstaben verstehe ich, hast danach geübt und dir die eingprägt. Aber lesen durch meine Augen?
Ich lachte, das erschreckt dich, was? Vergiß es, beruhigte ich sie, dummes Zeug, ich wußte nicht, was schreiben.
Aber deine Schreibkünste sind phänomenal, Klapaida, befand sie. Du schreibst eine Hand, als hättest du Jahre in einer Kanzlei verbracht, dabei ist es kaum acht Wochen her, dass du mich batest dir zu zeigen, wie geschrieben wird.
Ist so Mascha, was soll das Grübeln. Ich kann schreiben und schreibe wie du. Niemand wird es erfahren. Ich schreibe nur für mein Tagebuch, nein halt, für das Kräuterbuch, das ich verfassen werde. Es ist für dich, du wirst es, wenn du magst, herausgeben.
Mascha war beruhigt, nicht besänftigt. Ich war sicher, sie würde bald auf die schreibende Klapaida, und was es damit auf sich hat, zurückkommen.
Auch bei uns holt die Zeit manchmal auf. Da läuft es menschenalterlang im gleichen Trott. Menschen sterben, werden geboren, leben, und siehst du sie an, die von vor hundert Jahren und die von heute, gleich. Gleiche Gesichter, gleiche Gedanken, gleiche Freuden, gleiche Nöte. Doch da gibt es manchmal Rucke. Etwas passiert, durchdringt die stehende Luft wie ein Schrei. Köpfe werden geschüttelt, manche nehmen wahr, andere nicht. Da ist etwas, keiner kann sagen was, auch die nicht, die die Nüstern schnaubend blähen.
So kam das mit Seegrund, eigentlich Libeskind und Seegrund.
Also angrenzend an Steinfeld liegt Seegrund. Ein Gut, seit Jahrhunderten im Besitz derer von Schaak. Auf Seegrund ging was vor. Schon der Vater des jetzigen Gutsherrn, Baron Friedrich, war ein Leichtfuß. Ist in arge finanzielle Bedrängnis geraten, hat sich mit einer reichen Heirat saniert. Sein Sohn, Baron Wilhelm, von dem anzunehmen war, dass Beispiel des Vaters hätte ihn Besonnenheit gelehrt, enttäuschte nicht nur vorsichtige Erwartung, nein, der übertraf jede Befürchtung.
Nun waren die Schaaks den Kelms, seit ewig in guter Nachbarschaft wegen der engen Verzahnung ihrer Besitzungen, verbunden. Es floss kein Geld zwischen ihnen, aber sie arbeiteten zusammen. Die Felder, die nahe bei Steinfeld lagen, bearbeitete Kelm, umgekehrt die bei Seegrund machte Schaak. Da brauchte nicht groß abgerechnet zu werden, was im einen Jahr ein Minus ergab, brachte im nächsten ein Plus. Wichtig war, man ersparte sich lange Anfahrten zu entlegenen Fluren.
Durch die Liederlichkeit, Friedrichs, waren diese Usancen schon vor zwanzig Jahren unter Druck geraten, dann aber, als Geld kam, wieder hergestellt worden. Als Friedrich starb und Wilhelm das Regiment übernahm, ging es schon nach zwei Jahren wieder drunter und drüber.
Mit Wilhelm war nicht zu reden. Er kam zweimal im Jahr für höchstens eine Woche von Berlin mit einem Troß dubioser Herren, von den Damen nicht zu reden. Dann knallten die Büchsen den lieben langen Tag. Einmal flüchtete sich der Verwalter nach Steinfeld, erlitt dort einen Zusammenbruch. Ich habe ihn hingekriegt, war schwer, dicht am Wahnsinn, der arme Kerl.
Das Ende der Schaaks war abzusehen. Das Gut paßt wunderbar zu Steinfeld, nur Kelm hatte nicht das Geld zu kaufen. Er hätte sich für Jahrzehnte verschuldet, soweit ich das durchschaue. Das mit dem Geld ist nicht meins.
Libeskind 1817
Zu dieser Zeit fuhr Mascha einmal die Woche nach Lyck, um Besorgungen zu machen. Sie ließ es sich nie nehmen, eine Stunde oder mehr, für ihren Musikfreund, Moses Libeskind, abzuzwacken. Libeskind ist, wie Mascha behauptet, ein Meistergeiger. Sie dilettiert mit Leidenschaft auf der Violine, so hatte sie bei irgendeiner Gelegenheit mit Moses Libeskind abgesprochen, ihm einmal wöchentlich vorzuspielen. Für Libeskind eine Ehre, für sie eine große Freude, sie erkannte schnell, wie seine Tipps und Korrekturen ihrem Spiel Substanz verliehen.
In der Woche, als die Gerüchte um Seegrund kein Ende nehmen wollten, fuhr sie wie immer nach Lyck; hatte neben ihren Besorgungen im Ort eine Verabredung mit Libeskind. Sie zog die Glocke an seinem unscheinbaren Häuschen, dessen Vorderfront kaum eine Wagenlänge maß. Moses Tochter Betseba öffnete, eine hübsche, glutäugige Sechzehnjährige. Bet, wie sie gerufen wird, bat die Gräfin in den Salon, im hinteren Teil des Hauses.
Der Raum, in dem Mascha auf ihren Lehrer wartete, öffnete sich durch ein breites, fast bis zum Boden reichendes Fenster, auf einen großen, gepflegten Blumengarten. Von der Straße her, war auf diese geräumige Großzügigkeit nicht zu schließen. Moses hatte zwei, zu seinem Haus nicht in unmittelbarer Beziehung stehende Häuser, in der Seitenstraße gekauft und deren Grundstücke über den Hinterhof miteinander verbunden.
Von vorn der Viehjud Moses, dahinter der Moses Libeskind, hatte er der Gräfin Kelm erklärt. Dieses Geheimnis, Gnädigste, bitte bewahren, hatte er sie gebeten, dass möchte kein Neid aufkommen unter die Leut.
Sie hatte nicht lange auf Libeskind warten müssen. Er, um mindestens einen Kopf kürzer als Mascha, krauses graues Haar, und die schon bei der Tochter Bet aufgefallenen schwarzen Glutaugen. Gnädigste, begrüßte er Mascha, eine besondere Vorliebe heute? Mascha nickte, bat ihm den Beginn der Kleinen Nachtmusik vorspielen zu dürfen. Libeskind stimmte freudig zu: „Gern, Gnädigste, Meister Mozart ist immer Balsam für mein Ohr.“
Mascha setzte den Bogen an, versuchte den ersten Ton, ließ die Geige sinken, versuchte es noch einmal, vergeblich. Libeskind sah sie an.
„Schwierigkeiten, Gnädigste? Ich meine nicht mit der Violine, die gehören zum Instrument. Ich vermisse die Lockerheit, die es, wie wir beide wissen, braucht, um einen anständigen Strich zu geigen, egal ob auf einer Bauernhochzeit oder bei der Nachtmusik.“
Mascha senkte den Kopf ein klein wenig, keinesfalls eine Resignation andeutend, eher Zustimmung zu den Ausführungen ihres Lehrers.
„Das passt mir in den Kram," erklärte Moses. „Darf ich vorschlagen, Ihr lasst Euch von mir zu einer Schokolade einladen, es geht um Euer Urteil zu einer Erwerbung, die mir kürzlich gelang."
Er führte Mascha in sein Büro, das ganz im Stil Louis Seize eingerichtet war. Mascha blieb in der Tür stehen, um den Anblick der erlesenen Stücke zu genießen. „Wenn ich mir vorstelle," freute sie sich „wie dies in letzter Minute vor der Pariser Kanaille gerettet wurde, hüpft mir immer auf‘s Neue das Herz."
„Ja doch, Gräfin," Moses Blick verschattete Melancholie. „Ich habe leider immer vor Augen, was die Bestie zertreten und zertrampelt hat. Das Dumme, ich habe Listen und Aufstellungen von den Meistermöbeln eingesehen, die unwiederbringlich verloren sind. Sprechen wir nicht davon, es könnt einem den Tag vergällen, nehmt doch bitte Platz."
Er läutete eine kleine Glocke, Betseba steckte ihren schwarzen Schopf durch die Tür, sah ihren Vater an, rief, sofort Papa. Gleich darauf deckte sie ein kleines Tableau mit einer Meißner Garnitur, bestehend aus Mokkakanne, zwei Tassen, zwei Untertellern, zwei Kuchentellern, einer kleinen Milchkanne, dekoriert auf einem porzellanenem Tablett das die Motive, von Kännchen, Tellern und Tassen, wiederholte.
Mascha sprang auf. „Oh wie entzückend," rief sie aus, und klatschte in die Hände. „Moses, das ist noch aus der Zeit August des Starken, die Chinoiserien sicher Höroldt! Etwas Seltenes und so allerliebst. Ach, jetzt geht es mir schon besser, fühle mich wieder Meister Mozart gewachsen."
„Einen Moment bitte, Gnädigste, lasst uns die Schokolade geniessen, ich möchte die Gelegenheit nützen, Euch Wichtiges vorzutragen."
„Also," begann er zögernd, und nocheinmal „Also“, die Finger gegeneinander gestellt, schloß er die Augen, öffnete sie wieder und fing endlich an:
„Da gibt es den Nachbarn Schaak auf Seegrund. Seegrund, ein bankrottes Gut, wie geschaffen um Steinfeld zu arrondieren, nein, das ist zu wenig: Um Steinfeld, gehörten die beiden zusammen, zu einem Juwel zu machen. Mir ist bekannt, bei Euch wächst die Angst bei dem Gedanken, was werden wird, sollte Seegrund unter den Hammer kommen. Eine seit Menschengedenken funktionierende Symbiose beim Teufel, das mit Gewissheit. Was sonst noch an Unheil angerührt wird, wer soll das wissen?
Darum, Gräfin Mascha, brachtet Ihr den Ton nicht auf die Reihe, den Ihr so oft geübt, und klar zum Vortrag gebracht. Mit Sorge und Angst verkrampft ein jeder. Was ich nicht verstehe, warum greift Ihr nicht aktiv ein? Steinfeld ist schuldenfrei, wirft gute Erträge ab. In überschaubarer Zeit hättet Ihr die Hypotheken getilgt. Vergesst bitte nicht bei Eurer Rechnung, die zu erwartenden Erträge von Seegrund."
„Moses Liebeskind," unterbrach ihn Mascha. „Hört sich gut an, was Ihr da sagt, ist oft zwischen mir und meinem Mann verhandelt worden. Nur bedenkt, Claus Kelm ist über fünfzig. Mit Glück wären wir die Schulden bei seinem fünfundsechzigsten Geburtstag los. Was wird, das Glück verlässt uns? Claus verlässt uns? Ich stände da mit der Wirtschaft, zwei Söhnen so zwischen fünfzehn und zwanzig, die der zügelnden Hand eines Vaters, eben dann besonders bedürften. Moses, bei dem Handel würde ich meines Lebens nicht mehr froh. Es ist schon schlimm genug, dass der jetzige Zustand an unserer Harmonie nagt. Claus wird ständig gefrotzelt, warum er nicht kaufe, er habe wohl die Hosen voll, oder seine Frau habe sie an, und was dererlei Geschwätz mehr ist."
„Gräfin, ich verstehe Euch, aber bitte, eine Rechnung ist etwas Reales. Darf ich fragen, von welchem Kaufpreis Ihr bei Eurer Überlegung ausgeht?"
„Na, vom Tatsächlichen, wovon sonst?"
„Kennt Ihr den tatsächlich Preis?" beharrte Libeskind.
„Ja doch, 40.000.- Taler so um den Dreh, ein Tick mehr oder weniger macht den Braten nicht fett."
„Also von 40.000.- ausgehend pflichte ich Euch bei, müsstet ihr Abstand nehmen. Im Augenblick wäre das für Seegrund zu viel, was nicht heißen soll dies gälte auf Dauer, jedoch im jetzigen Zustand, kein denken daran."
„Seht Ihr, Moses, da liegen wir auf einer Linie," seufzte Mascha.
„Gnädigste Gräfin, hört bitte genau hin, so genau wie beim Violinspiel. Es kommt immer auf die Nuancen an. Was sagte ich?"
„Dass ihr keine 40.000.- für die Klitsche gäbet."
„Sicher sagte ich das, aber zusammen mit der Aussage, Seegrund sei im Moment keine 40 wert! Das hab ich gesagt! Das heißt doch, Eure Rechnungen sind Luftrechnungen, gehen von einer falschen Preisvorstellung aus."
„Verstehe ich Euch richtig, Moses, soll das heißen, wenn Seegrund keine 40 wert ist, werden keine 40 gezahlt?"
„Genau das habe ich gesagt."
„Aber Schaak wird nicht verkaufen unter vierzig, weil er weiß, im Grunde ist Seegrund vierzig wert."
„Gnädigste, seid mir nicht bös, wisst Ihr, wovon Ihr redet? Schaak ist bankrott, Schaak hat nichts zu wollen. Schaak kann froh sein, dass er nicht in Stücke gerissen wird. Seine Schulden sind höher, als Seegrund je wert sein könnte. Seine Gläubiger, dumme Hornochsen, Gojim wie Jidden aus Berlin, sind froh, wenn sie nur einen Bruchteil ihres Geldes wiedersehen."
„So schlimm ist es um Seegrund bestellt?“ Mascha sagte das mehr zu sich. Ihre Unterlippe begann zu zittern, die Farbe wich ihr aus dem Gesicht, sie versuchte noch etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.
Moses war entsetzt. Was habe ich angerichtet? Wieso versteht sie meine Botschaft nicht? Wie beruhige ich sie? Die Gedanken rasten ihm durch den Schädel. Er kniete vor ihr nieder. Grotesk, der kleine Mann hätte seinen Kopf in ihren Schoß legen können, doch er hob sein Gesicht auf zu ihr.
Mascha erkannte das Groteske der Situation. Sie liebte Groteskes, doch hier war sie Hauptdarstellerin der Aufführung, da galt es Einhalt zu gebieten. Sie stand auf, fischte nach einer der fuchtelnden Hände, zog Moses hoch.
„Danke Gnädigste, danke," keuchte der. „Wir haben uns missverstanden. Das heißt, ich habe Euch überfordert, war unglaublich ungeschickt. Es ist kein Unglück, dass der Schaak am Boden liegt, es ist ein Glück!! Ein Riesenglück! Seegrund gehört ihm nicht mehr, ich habe es vorige Woche gekauft!“
Mascha sah ihn verständnislos an. Was sagte der da? Er habe gekauft? Er? Seegrund gekauft? Unmöglich! Sie schüttelte den Kopf, suchte seine Augen, suchte Bestätigung. War nicht wahr, konnte nicht sein. Ihr neuer Nachbar, Libeskind?! Sie unterdrückte das aufsteigende Unwohlsein, oder waren es die Worte, die in ihrer Gegenwart nie gesagt werden durften, die in ihr hochstiegen?
Libeskind vor ihr, hatte sich gesammelt. „Gnädigste, lasst mich fortfahren," sagte er. „Wie schon berichtet, Schaak war gezwungen zu verkaufen. Nicht irgendwann, in einem Monat, einer Woche, nein sofort! Sofort, um ihn vor Schlimmstem, dem Zuchthaus zu bewahren. Seine Gläubiger waren bereit, von einer Betrugsanzeige abzusehen, wenn sofort Geld flösse. Nicht von ungefähr, aber zur rechten Zeit stand ich da und kaufte."
„Aber Libeskind, wollt Ihr tatsächlich Seegrund bewirtschaften?"
Moses Gesicht gerann zu einer schmerzlichen Grimasse. „Liebe gnädige Frau," er holte tief Luft und richtete sich auf. „Gräfin Mascha, wofür haltet Ihr mich? Es schmerzt mich, wir lernten uns über Mozart, Haydn, die Musik kennen. Ich schmeichelte mir, unsere Seelen wären sich näher gekommen, nun enttäuscht Ihr mich maßlos! Mir, der sein Leben unter den Gojim mit der Goldwaage tariert, traut ihr eine solche Geschmacklosigkeit zu! Viehjud Libeskind auf Seegrund, nicht auszudenken dazu brandgefährlich! Würden ihres Lebens nicht mehr froh, meine Leut."
„O Moses, bitte verzeiht, ich mache heute wirklich alles falsch. Nur stellt bitte in Rechnung, solche Fragen verhandle ich nie, es fehlt mir einfach das Verständnis.
Mir liegt auf der Zunge zu begründen, wie und warum es in meinem Kopf drunter und drüber geht, doch lasse ich es lieber. Mir schwant, es ist völlig unnötig, der Grund der Aufregung entfallen?"
Moses lächelte glücklich. „Liebe gnädige Frau, die Erde hat uns wieder. Ihr sagtet es, der Grund der Aufregung entfiel. Um Euch aber nicht weiter in geschäftliche Profanitäten zu zerren, möchtet Ihr bitte den Gemahl fragen, ob es ihm recht ist, wenn ich am Samstagnachmittag meine Aufwartung mache?"
„Moses, da muss ich nicht fragen, kommt. Was ich aber wissen will, könnte sonst die Nächte kein Auge zubekommen, Ihr wollt uns Seegrund verkaufen?"
Moses nickte.
„Freut mich, das Nicken, mein Freund, ruhig bin ich aber erst, wenn Ihr meine Frage, ob ich mir die am Anfang unseres Gesprächs vorgetragenen Sorgen nicht machen muss, auch benickt?"
Wieder nickte Moses.
„Jetzt folgt eine Bitte, Moses."
Nicken.
„Bitten möchte ich, dass niemand erfährt, was für eine einfältige Tucke, die Gräfin Mascha von Kelm ist.“
Diesmal nahm Libeskind ihre Hand fest in seine kleine Patschhand und fragte. „Erinnert Ihr ein Gespräch, das nicht von Musik, meinem neuen Meißen, und einer Terminabsprache handelte?"
„Keine andere Erinnerung, lieber Moses, außer der, dass ich meinem Mann zum Termin ausrichten möge, es ginge um den Ankauf von Seegrund zu bezahlbaren Bedingungen."
„So verbleiben wir, Gnädigste, und ich werde mich Samstagnachmittag bei Euch einfinden."
„Ich kann Euch abholen lassen, Moses?"
„Verstehe, und wieder zurückbringen. Bedanke mich für den guten Willen, aber der Libeskind wird kommen wie immer, mit seiner alten Karre, gezogen von seinem alten Klepper, dem Frosch."
Mascha befahl dem Kutscher: „Langsam nach Haus, Sineitis! Nicht im Schritt, aber nicht viel schneller." Unterwegs bemerkte sie, was es den Sineitis für Mühe kostete, die Rappen zu zügeln. Taten ihr leid, die Tiere. „Sineitis," rief sie: „Fahr über Seegrund nach Steinfeld, lass die Pferdchen laufen." Sie wusste, entfacht das Feuer unter dem brodelnden Topf der Gerüchte, doch warum nicht? Entspannt wie seit Wochen nicht, legte sie sich zurück, genoss das muntere Hufgeklapper.
Sie träumte, bis sie Seegrund erreichten. Als der Rhythmus der Fahrt ausblieb, kam sie zurück. Aussteigen? Sollte sie aussteigen? Ging wohl nicht anders, ihre Ankunft schon bemerkt. Der Verwalter kam schnell gelaufen, eine einzige Frage im Gesicht. „Schmolzek, ich komm ohne Absicht," nahm ihm Mascha sofort den Wind aus den Segeln, „wollte mir Seegrund einmal ansehen, wo es dieser Tage in aller Munde ist."
„Gnädige Frau, bitte tretet näher," buckelte Schmolzek, dem man ansah, wie ein Hoffnungsfünkchen ihn ihm aufglomm.
„Darf ich Euch herumführen?" fragte er und wies zu den Ställen hinüber. Die Baulichkeiten sind intakt, nur kein Stück Vieh, kein Pferd, kein Nichts was brüllt, wiehert oder quickt ist mehr hier. Hier ist es so still, man glaubt, Klapaida die alte Hex, schleicht ums Haus, wenn mal was scheppert."
„Schmolzek, die Klapaida halt er da raus," verwies ihn Mascha. „Die tut niemanden Böses, im Gegenteil nur Gutes, und steht unter meinem persönlichem Schutz."
„Sicher, gnädige Frau, ist mir rausgerutscht, weil jeder sie eine alte Hex nennt, ist nicht bös gemeint. Hat schon viele Leben gerettet, die Klapaida."
„Schon gut, Schmolzek, also Lebendiges gibt es hier nicht mehr? Alles weg, Gänse, Hühner, Enten?"
„Ratzekahl weg, das Großvieh Schub für Schub seit Monaten, der Rest Kleinzeug in der vorigen Woche."
„Wer hat gekauft?"
„Wer schon, gnädige Frau, kauft hier? Viehjud Libeskind. Er war einige Male hier auf seiner Karre, mit Frosch dem alten Klepper. Hat sich die Ställe angesehen, das Herrenhaus. Sah so aus, als taxiere er, war wohl mehr Neugier, wollt mal in ein Herrenhaus reinschnuppern, schauen, ob paar Möbel aufzuladen sind. Hat sehen müssen, bei uns ist nichts zu holen, kein Bett, kein Tisch, kein Schrank. Bankrott sind wir. Bankrott!
Was soll aus uns werden? Wir bleiben noch einen Monat, haben meine Frau und ich beschlossen. Kann doch sein, jemand erbarmt sich. Ist doch so ein herrliches Stück Erde, bin hier geboren, wie meine Eltern. Zerreißt uns das Herz, Seegrund zu verlassen, doch was sollen wir machen, wir müssen leben."
„Nu verzweifelt mal nicht, Schmolzek. Ginge mit dem Teufel zu, wenn Seegrund verwaist blieb. Ich muss weiter. Kopf hoch!"
Kurz vor Steinfeld spornte Mascha den Sineitis an: „Mach die Schwarzen warm, lass sie traben, die riechen den Stall!"
So rasselten sie auf den Hof, Sineitis fuhr eine elegante Schleife und stoppte sein Gefährt so genau vor der großen Treppe, dass Mascha beim Austeigen die erste Stufe nehmen konnte.
Oben ging die Tür auf und Claus kam ihr entgegen.
„Ich begann mir schon Sorgen zu machen," rief er, nahm ihre Hand und lächelte erleichtert. „Egal, du bist wohlbehalten zurück."
„Was hätte geschehen können, mein Lieber? Was hast du dir ausgemalt? Kutschenumsturz, durchgegangene Pferde? Aber geschehen ist etwas." Sie waren ins Haus getreten, Mascha blieb stehen.
„So, was denn, Erfreuliches? du siehst so aus."
„Durchaus Erfreuliches," Mascha ließ sich aus dem Mantel helfen.
„Deshalb deine Verspätung?"
„Ursächlich ja, war aber nicht nötig."
„Du spannst mich auf die Folter, komm mit in die Bibliothek, erkläre dich."
„Ja, machen wir es uns gemütlich, Claus. Dazu gehört ein Bordeaux, ich hoffe, du hörst hin, ich sagte Bordeaux, nicht Rotspon."
„Rotspon ist Bordeaux, Mascha."
„Aber Bordeaux ist nicht Rotspon, Claus!"
„Was gibt es zu feiern, meine Liebe?"
„Etwas Lohnendes, Claus."
„Etwas Lohnendes? Wenn du es sagst, also Bordeaux, bin gleich zurück."
Claus nahm sich Zeit beim Öffnen der Flasche. Holte Gläser, goss ein, schnüffelte.
„Eine Kostbarkeit, Mascha, nun bin ich gespannt."
„Auf unsere, auf Steinfelds Zukunft, Claus!" Nora zerdrückte den ersten Schluck auf der Zunge. „Stimmt mein Lieber, nur für besondere Gelegenheiten."
„Ist nicht mehr viel von da, Mascha, hab eben überschlagen, zwölf Flaschen. Aus 1799 noch vierzig."
„So vorsichtig, wie wir damit umgehen, mein lieber Mann, reicht das noch für die Taufe unserer Enkel. Aber ich wollte berichten. Neben meinen anderen Besorgungen in Lyck, war ich bei Libeskind, ihm vorzuspielen. Schon nach dem ersten Strich unterbrach ich, er rügte meine Verspannung, bat mich, ihm erstmal behilflich zu sein, bei der Beurteilung einer erworbenen Meißen Garnitur. Claus, der Moses hat eine Nase! Ein absolutes Service, für Mokka oder Schokolade, aus den Anfängen von Meißen. August der Starke, da muss man drankommen!"
„Ja Mascha, wo haben unsere hebräischen Freunde ihre Nase nicht drin?"
„Das kann ich nur unterstreichen, Claus, aber nicht deinen etwas abschätzigen Unterton. Bitte, höre weiter: Nachdem ich Moses guten Kauf hinreichend gelobt hatte, kam er zum Eigentlichen und fragte, wieso wir den so viel günstigeren Kauf, vor unserer Nase nicht schnappten?"
„Womit er Seegrund meinte, richtig?"
„Nicht schwer zu erraten. Also ich erklärte, warum wir nicht etc. etc. Moses hörte sich das an und wandte ein, woher wir wüssten, dass Seegrund vierzig koste? Sicher ist es das irgendwann wert, aber kosten? Ich verstand nicht sogleich. Moses machte es kurz, bat mich, für Samstag eine Unterredung mit dir zu arrangieren. Was ich sofort ohne Rückfrage, für Samstagnachmittag zusagte."
„Fein Mascha, ich habe nichts dagegen mich mit dem Libeskind ein wenig zu verplaudern, doch was hat das, mit dem für uns nicht erschwinglichen Preis von Seegrund zu tun?"
„Lieber, lieber Claus. Glaubst du wirklich, ich veranlasste dich eine von deinen gehüteten Flaschen an einem profanen Donnerstag zu entkorken, wenn meine Nachricht nur einen Plaudernachmittag mit Moses Libeskind zur Folge hätte? Ich habe ihn selbstredend gefragt, was eine Unterredung mit dir brächte, wir wären, wie schon ausgeführt, nicht bereit uns hoch zu verschulden.
Moses darauf: Gnädigste, kaufen müßt Ihr und bezahlen auch. Von hochverschulden kann keine Rede sein, der von Euch angedachte Mondpreis ist reine Phantasie. Ich weiß, wovon ich rede, Seegrund gehört mir."
Claus saß da, als habe ihn der Donner gerührt, bewegte die Lippen, formte tonlos: „Gehört ihm, dem Moses, dem Libeskind, Seegrund! Ich hoffe, der Schaak brät bis zum jüngsten Tag in der finstersten Hölle. Wenn das sein Vater, nein, der war nicht besser, sein Großvater wüsste. Karl Heinrich von Schaak, mein Taufpate. O Schande, Schande!"
„Hallo Claus," Mascha nahm ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, „aufwachen! Hinhören, keine Schlüsse ziehen ohne Fakten! Warum, glaubst du, will der Libeskind mit dir reden, um sich als neuer Nachbar vorzustellen? Hälst du den für so blöd?"
„Er hat gekauft, sagtest du!? Was soll er kaufen wenn...nein, nein, du hast Recht, mein Vorurteil hat mich eingeholt. Du sagtest, er will es uns verkaufen? Der hat es gekauft, um es uns zu verkaufen, wie er uns Pferde, Rindvieh, Schafe und so manches andere Viehzeug verkauft hat? Mascha, ist das wahr, hat er das gesagt?"
„Nicht direkt, Claus, aber als er mir von seinem Kauf erzählte, habe ich wie du reagiert, eindeutig voll Abscheu ob dieses Nachbarn. Ich gebe es zu, so war es, der Moses hat es so gewertet, er war entsetzt. Lehrreich ist, entsetzt nicht wegen der Ablehnung seiner Nachbarschaft, sondern wegen der Unterstellung, ihn für so abgrundtief blöd zu halten, unser Nachbar werden zu wollen. Welche Geschmacklosigkeit traut Ihr mir zu, hat er mich angefaucht. Viehjud Libeskind auf Seegrund!“
„Also Mascha, verzeih, ich muss das erst verdauen. Du schleifst einen durch Hölle und Himmel zur gleichen Zeit. Also, der Moses hat Seegrund gekauft, es gehört ihm. Wenn er es sagt, wird es so sein. Jetzt will er es uns verkaufen, erschwinglich verkaufen, sagst du?"
„Sagt er, er. Was ich sag spielt keine Rolle."
„Also, da glaube ich ihm, er kennt unsere Verhältnisse, weiß, dass Steinfeld unbelastet ist. Wenn ich vor der Ernte knapp war, was immer wieder passiert, bin ich um einen Kredit per Handschlag bei ihm eingekommen. Ohne Papier, einfach so. Zwei- oder dreitausend Taler zu fünf Prozent für drei oder vier Monate, wie es kam. Als ich ihn einmal fragte, was, Moses, mich trifft der Schlag? Ach Graf, hat er geantwortet, erst mal bin ich dann glücklicher dran, weil, ich leb ja noch. Weiter wird die Gnädigste, Ihre Mascha, das Loch in der Kasse vor der Ernte sehen, und wie es gestopft wurde. Also, damit ist schon alles gesagt, hat er mich angelächelt. - O Potzblitz, Mascha, lass es mich sagen, Potzblitz! Potzblitz! Potzblitz! Das befördert uns schnurstracks vom Jammertal auf den Jubelberg!"
Mascha lachte, erst verhalten, dann mehr und lauter, bald hielt sie sich die Seiten vor Lachen, und Claus fiel ein, mit seiner Bocksröhre zu ihren silberhellen Gelächterkringeln den Kontrabaß gebend.
Irgendwo hatte Nora, den in letzter Zeit selten gewordenen, fröhlichen Ton aufgefangen, denn sie steckte die Nase in die Bibliothek und fragte, ob sie mitlachen dürfe, sie habe es nötig.
„Komm rein, Kind, lach mit." Mascha zog sie an sich. „Dein Vater hat," die Worte kamen ihr von dem einen oder anderen, nachquellenden Lachgluckser gebläht aus der Kehle, „dein Vater hat viermal hintereinander Potzblitz gesagt. Von Jammertal und Jubelberg, sprach er, ich glaube, wenn wir ihn still gewähren lassen, wird er bald das himmlische Jerusalem hervorkramen!"
Noras Verständnis hielt sich in Grenzen. Sie sah erst ihre Mutter, dann ihren Vater an, die quietschfidel schienen, sich mit einem seligen Lächeln bei den Händen hielten.
„Gut," sagte sie kopfschüttelnd, „ich freue mich, wenn ihr euch freut, lasst mich doch einfach teilhaben?"
„Sollst du, Kind," Claus Kelm grinste sie an, ein wenig spöttisch und ein klein wenig von oben herab, wusste er doch, seine stolze Tochter hasste diese Attitüde wie kaum sonst was.
„Rege dich nicht auf, liebste Nora," baute er sofort vor, „bin äußerst übermütig, muss dich ein wenig tretzen."
„Genug, Claus," Mascha zog Nora neben sich auf das große Kirschbaumholzsofa, das nach ihrem Geschmack von einem Bordürenchintz, bestreut mit schwarzen und roten Röschen, bezogen war.
„Du zu meiner Linken, Claus, bitte keine Einwände, setze dich! Jetzt sitzen wir Selbstdritt, warum ich das wollte und sage, ich habe keine Ahnung. Die neue Situation, Nora, haut uns die ganze, so schön aufgebaute Krippe durcheinander. Damit du nicht länger dumm bist: Wir kaufen Seegrund!"
„Waaas?" hätte Nora mehr Atem gehabt, sicher hätte sie das a noch länger gezogen. „Gestern noch, Mama, hast du geschworen, nur über deine Leiche. Papa, du warst nicht minder dagegen? Was verursacht den jähen Sinneswandel?"
„Libeskind!"
„Will ich gern sein, aber ist keine Erklärung, also wie kam es dazu?" insistierte Nora und fasste das sonst so nüchterne Elternpaar, das auf einer Traumwolke zu schweben schien, fest ins Auge.
„Libeskind kam dazu!" kicherte Mascha.
„Der Viehjud?"
„Eben der," bekräftigte Claus von Kelm.
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Führt mich bitte nicht an der Nase rum, wie kann unser Viehjud uns zu Seegrund verhelfen?"
„Er kann, Nora, er kommt übermorgen Nachmittag zu uns, kannst bei der Unterredung dabei sein. Vorläufig wissen wir nur, er ist bereit, es uns zu erschwinglichen Konditionen zu verkaufen. Das genügt, liebe Tochter, um mich und deine Mama, wie habt ihr mir unterstellt, ach ja, ins himmlische Jerusalem zu befördern."
Klapaida
Geht holderdibolder zu, auf Steinfeld, wie beim Gottseibumms, da war kein Hexenfinger zwischen. Hat sich ergeben. Der Moses ist ein ausgekochtes Rabenaas, zuckelt mit seinem bruchreifen Wägelchen und dem mageren Klepper durch die Gegend, und hält sämtliche Fäden in der Hand. Wo eine Okkasion sich auftut, Libeskind hört als Erster davon. Kein Wunder, er entscheidet schnell, zahlt einen fairen Preis und den sofort. Warum da lange mit jemand verhandeln, der es ihm nur nachtut. Ganz abgesehen davon, Moses ist stets zur Stelle.
Jetzt hat er Seegrund geschnappt, hätte ihm solch einen Brocken nicht zugetraut. Doch wie sagt man, stille Wasser sind tief, in Moses Fall wohl sehr tief. Bin gespannt, was er den Kelms letztlich abnimmt. Wird spannend am Samstag, werde mir nicht nehmen lassen, mir das anzuhören. Nicht um einzugreifen, ist bei Moses nicht nötig, den leitet Vernunft, nicht Gier.
Hat den Kelms allerhand zu verkaufen, ist nur noch Grund und Gebäude, das Seegrund. Da kann er Vieh und Saat ohne Ende liefern! Das Herz wird ihm hüpfen vor Freud. Sehe ihn über den Büchern sitzen und Listen schreiben, er weiß ja, woran es auf Seegrund gebricht. Da kann er mit dem Hauptstück, dem Gut, billig sein, da macht er sich Vertrauen. Die goldene Nase holt er sich beim Einrichten. Nicht mehr wie recht und billig. Können froh sein, die Krautjunker, einen so solventen Viehjud zu haben. Sind sie, jedenfalls die Klugen.
Werd den Medicus sehen, hat sich die letzte Zeit viel zu schaffen gemacht, in Lyck und in Königsberg. Hat dem Bürgermeister den Stein von der Brust gerollt, den ich ihm aufgepackt hatte. Na ja, werde es gut sein lassen. Musste Klapaida eine alte Rechnung begleichen, der Lippe. Habe ihm einen mächtigen Schreck eingejagt, mit dem adligen Medicus, den er aus dem Stadtsäckel, standesgemäß zu unterhalten hat. Hat geschwitzt wie ein Schwein, der Herr Bürgermeister, sollte er.
Hat um seinen Posten gebangt. In Preußen muss gebuckelt werden. Die Obrigkeit ist die Obrigkeit! Wird wohl dauernd vom Recht geredet, wird für die Herren auch gesprochen. Doch wer ist, Lippe? Lippe? Ach der nichtsnutzige Flegel und Taugenichts! Aufgebraust? Steckt ihn zu den Grenadieren, wenn er nicht pariert, ins Stockhaus. Hi hi Lippe, da hast geschwitzt bei der Aussicht.
Die Mascha, der Medicus, die Nora! Der Doctor war dauernd unterwegs, die Nora bildet sich einen Liebeskummer ein, einmal geküsst, nichts weiter. Die Mascha, den Kopf voll Angst, vor schlimmen fremden Nachbarn. Hat sich zurechtgeschoben, kann weitergehen. Mascha spürt, ihr ist etwas ins Blut geschlagen. Denkt, wird sich legen, zusammen mit den Sorgen. Kennt keine Liebe, hat noch nie geliebt. Das Kindermachen war nicht unangenehm, hat sich was bewegt in und an ihrem Kätzchen. Doch wollte sie mehr, war’s verspritzt. Sich gab sie die Schuld, glaubte sich zu langsam.
Ihre Schwester in Dresden, verheiratet, ein Jahr jünger als sie, sprach von Sensationen, die im Kätzchen geschähen. Kann nie genug davon haben, hat sie geprahlt, und selig gelächelt. Na ja, befand Mascha bei sich, was ich nicht weiß macht mich nicht heiß. Für Claus schien das in richtiger Manier zu laufen. Er bestieg sie jetzt zweimal im Monat, zuerst war das jeden Tag gewesen, dann jahrelang zweimal die Woche, nun war es eben weniger geworden. Fand sie kommod, sie fürchtete sich geradezu vor mehr. Ohne dass Claus es ahnt, wendet sie meine Tröpfchen aus Bilse, Tollkraut und Wasserpest an, die töten seinen Samen. Hat ihr weiteren Kindersegen erspart.
Doch jetzt werden die Karten neu gemischt. Die Sorge mit Seegrund erledigt. Wird die Welt neu wahrnehmen, meine Mascha. Ihr Herz wird sich regen, sich dehnen. Wird sich mit neuen Augen betrachten. Was wird sie finden? Erstaunliches, Glücksahnung. Zuerst wird sie glauben, die Steine seihen’s. Die Steine, die ihr auf dem Herzen lagen, die nun nicht mehr drücken. Doch dann steht sie ihm gegenüber. Sehen sich an. Er sie, sie ihn. Sehen nicht an sich vorbei, nur die äußere Hülle erkennend. Sehen sich an, dringen tiefer die Blicke, vor bis zum Heißen. Erschrecken, ziehen sich zurück. Doch vergessen nicht, nein, können nicht vergessen, zu blitzheiß die Berührung.
Möchte meiner Mascha die Wolllust gönnen. Werde ihr beistehen mit Klapaida Künsten, sie dem fremden Aug entziehen. Werde ihr Heimstatt für die Liebe sein, nur annehmen muss sie die Liebe. Wird Rücksicht nehmen wollen auf die Tochter, der den Medicus überlassen. Was wird, Bernd sagt nein? Will die Mutter, nicht die Tochter? Wird so kommen, bin da ziemlich sicher. Doch Mascha wird verzichten, jedes Gefühl im Busen ersticken.
Die Nora müsste für kleine Zeit aus dem Haus. Ist Nora nicht da, trifft Amors Pfeil Mascha ins Herz, sitzt dort fest, hilft kein Ziehen noch Zerren.. Gibt es da noch ein Halten? Stürzt sie, die nie Erweckte? Einmal voll Leidenschaft geküsst, wird es sie verwandeln, niederreißen, öffnen. Einmal in Wolllust sich gewunden, lässt sie nicht mehr ab, kann nicht mehr leben ohne. Kenne sie genau, ein ruhender Vulkan voll glühender Magma. Müsste Nora ein wenig ablenken, fortlocken, nach Königsberg vielleicht? Wollte studieren, das Mäuschen, wird kaum gehen. Die Kerle glauben, Frauen hätten kein Hirn zu studieren. Doch herumschnuppern wird sie wollen, sich sortieren.
Ist beunruhigt, seit Sonja ihr den Floh ins Ohr setzte. Recht hat sie. Doch heiraten muss sie den Bernd. Geht nicht anders, könnte furchtbaren Ärger geben. Habt Zeit genug. Braucht nicht morgen sein. Steht meiner Mascha Liebesglück nicht im Weg. Werde ihr dazu verhelfen, kann gar nicht anders, ist ein Elend, mein Hang zu dem Mädchen. Hat mich in Teufelsküche gebracht, hab ich gelernt? Konsequenzen, Schlüsse gezogen? Ein Dreck hast du, Klapaida. Wie Rumpel schon sagte, seit Urzeiten das erste Mal bin ich schwach. Ist Schicksal, nicht blindwütig! Ich erkenne, bin auf der Hut, kalkuliere, wage, kann schief gehen, bin nicht ohne Feinde.
Fühlt sich so weich an, das Denken an Mascha. Wie durch Wolken stürzen, nur stürzen, tiefer und tiefer, ohne Ende dem Anfang entgegen. Mascha muss einfach sein, Balsam fürs Hexenherz.
„Ich erwarte dich im Stall,“ gab er verschmitzt lächelnd Bescheid.
Schnell ins Reitzeug, auf zum Stall. Claus hatte einen Rappen am Zügel, der nicht von schlechten Eltern schien.
„Du bist ein geübter Reiter, Bernd, davon gehe ich aus, wenn ich dir meinen Hengst, den Wotan, anvertraue. Wotan erkennt, wenn du aufsitzt, wer Herr, wer Diener ist. Ist das geklärt, gibt es kein angenehmeres Ross als ihn. Stark, schnell, ausdauernd. Erkennt, kaum dass ein Schenkel drückt, deine Intention. Willst du dich tüchtig ausreiten, sitz auf!“
Ich nahm die Zügel, fuhr Wotan über Maul und Nüstern, umschlang den starken Hals und schwang mich in den Sattel. Signalisierte Galopp, winkte Claus, und ab ging‘s durch das weiße Schweben, dem Horizont, der immer weiter wich, ganz einfach hinterher. Wotan, erkannt ich bald, folgte einem ihm vertrauten Weg, der unter Schnee verborgen, ihm sicheren Trittgrund bot. Ich ließ ihm seinen Willen, war er doch kundiger als ich.
Es ging in weitem Bogen durch die Landschaft auf den Waldrand zu, den ich als dunkle Linie hinter dem Weiß erahnte.
Nach einer Viertelstunde scharfen Reitens, nahm Wotan den Galopp zurück, allmählich fielen wir in Trab.
Der Boden war jetzt schwer, die Hufe warfen Klumpen schwarzer Erde auf. Ich holte Luft, Schweiß rann mir über den Rücken. Wotan sollt bald zurück zu schnellerer Gangart, bevor der Frost mir meinen Schweiß gefror. Doch ging‘s ihm ebenso. Sein Fell voll nasser Flecken, vom Maul troff weißer Geifer. Ein Wassergraben quer zu unserer Richtung. Wotan versammelt sich, ein Sprung - wir flogen durch die Luft. Beim Landen, fühlt ich den wieder festen Boden.
Wotan gefiel nun wieder der Galopp. Auch hier, wo für mich weiße plane Fläche, folgte das Tier den ihm bekannten Weg. Nicht geradeaus, nein Windung folgte Windung. Wotan schnellt vor und nimmt zurück, ganz wie der Weg es zuläßt. Dann sah ich Steinfeld eine Meile seitwärts. Ich gab ihm Richtung mit sanftem Schenkeldruck, er hob den Kopf, ein kurzes starkes Schnauben, und ab gings geradewegs auf Steinfeld zu.
Claus, der in der Bibliothek am Ausguckfenster mich erwartet hatte, kam in den Hof.
„Na, wie gefiel dir Wotan?“
„Darfst du nicht fragen, Claus. Noch nie saß ich auf einem solchen Pferd.“
„Hier, gib ihm ein paar Trockenpflaumen, die mag er.“
Ich hielt ihm die Früchte hin, mit seinen weichen, dicken Lippen nahm er eine nur, zerkaute die bedächtig und nahm in aller Ruhe eine zweite.
„Ich hab drei Pflaumen Claus, wieviel erwartet er?
„Drei sind genug, pass auf, er will die Dritte!“
Tatsächlich angelte Wotan nach meiner Hand, ich schob ihm das Leckerchen ins Maul, und er zog ohne weitere Verzögerung ab zum Stall, wo ihn ein Reitknecht schon erwartete.
„Er mag dich, Bernd, sonst würde er dir nicht, die dritte Pfaume abgebettelt haben. Reitet ihn jemand, der ihm nicht paßt, geht er, nachdem abgesessen wurde, schnurstracks zum Stall. Du hast ihm seinen Willen gelassen, nehme ich an?“
„Was sonst hätte ich tun sollen. Wotan kennt Weg und Steg, der Zügel hätte uns behindert. Ich habe mich ihm ganz anvertraut.“
„Bravo Bernd, das vergisst er dir nie.“
„Mir ist bekannt wie verständig Pferde sind. In Cleve hatte ich stets das selbe Ross, doch musste das Pferd vielen Herren dienen. Geht nicht anders bei einem Mietstall. Hatte eine Ahnung, es erkannte mich, habe ihm stets ein Leckerli mitgebracht.“
„Es wird dich erkannt haben, Bernd, wie es die guten Reiter schätzt, den schlechten zusetzt. In Berlin war ich auf Mietställe angewiesen. Habe genau bemerkt, wie Pferde ticken. Bin oft mit netten Freunden ausgeritten, die schlechte Reiter waren. Unglaublich, wie die Zossen die schikanierten.“
„Ich stell‘s mir vor. Doch bitte, Claus, entschuldige, bevor mich friert muss ich mich waschen und umziehen.“
„Da vertraue dich besser mir an, ich zeige dir unsere Badestube, fertig eingeheizt. Kennst du das Finnenbad? Sicher nicht. In Finnland heißt es Sauna. Es gibt nichts, was Leib und Seel gründlicher erfrischte.“
Claus führte seinen Gast zu einem Hügel, hinter dem Blumengarten des Wohnhauses. An der dem Haus abgewandten Seite war eine Tür in den Hügel eingebaut, oben quoll eine dicke, harzig duftende Holzfeuerwolke aus dem mit Gras gedeckten Dach. Die Eingangstür führte in eine mäßig warme Kammer. Kleiderhaken waren an die Wände genagelt
„Ausziehen," befahl Claus, „nackt ausziehen" und stand schon splitternackt bereit. Bernd beeilte sich, Claus riss die zweite Tür auf, Gluthitze wabberte in der Kammer.
„Keine Bange, Doctor. Komm schnell rein, sonst entweicht zuviel Hitze. Sieh hier das Thermometer, 85° Celsius. Setz dich hier oben neben mich, wir schwitzen ein Viertelstündchen. Schweiß kompensiert die Hitze. Sauna härtet ab, Bernd. Gleich gehen wir raus und wälzen uns nackt im Schnee, danach ins Tauchbecken, da wirst quieken. Seitdem wir eifrig Sauna baden, sind wir kaum noch erkältet. Die Frauen machen mit. An geraden Tagen gehen die Männer, an ungeraden die Frauen.“
Die Sanduhr auf dem Bord war leergelaufen. Claus sprang auf.
„Auf, Bernd, jetzt kommt das Schönste,“ schrie er, stürzte hinaus ins Freie und warf sich in den Schnee. Bernd tat es ihm, wenn auch ein wenig zögernd, gleich. Tatsächlich war der Schnee nicht kalt. Er wälzte sich wie Claus ausgiebig, folgte ihm dann vor ein grosses Fass, in das Claus über eine angelehnte Leiter stieg. Prustend und schreiend, schoss er aus dem Fass hoch. „Willst es wagen, Bernd?“
Bernd stieg die Leiter hoch. Haltesstricke hingen innen ringsum. „Plumps schon“ schrie Claus, „wird dir gut tun. Nicht zimperlich reinsteigen, einfach fallen lassen!“
Bernd gehorchte. Die Wasserkälte stieß zu wie ein Messer, er schnappte nach Luft, gleichzeitig angelte er nach einem Strick und zog sich hoch.
„Verdammt, ist das kalt!“ schrie er.
„Ich weiß," schrie Claus zurück, „dicht am Gefrierpunkt!" Komm runter, wir müssen ins Warme, nächster Gang!“
Die beim ersten Gang grosse Hitze, war nun wohlig warmer Mantel.
„Spür die Hitze nicht mehr, Claus, ähnlich wie die Kälte im Schnee,“wunderte sich, Bernd.
„Warte nur ab,“ lachte der, „jetzt öffnet Hitze die Poren richtig. Wirst glauben du zerfließt! Später nach dem Kälteschock, fühlst dich wie neugeboren.“
Wieder hockten sie, fixierten die Uhr. „Vorwärts!“ diesmal kommandierte Bernd. Hinein in den Schnee, ordentlich Brust, Bauch, Arm und Bein abgerieben, dann ein Herz gefasst und rein ins eisige Fass, unglaublich, wie kalt das war.
Claus wartete schon unten. Im Hochsteigen rief er, noch einen Gang oder erst mal Schluss?
„Erst mal Schluss, Claus“.
„Dann müssen wir laufen, warte, bin sofort zurück,“ sprach‘s, sprang ins kalte Wasser, schrie laut aus vollem Halse, schoss prustend hoch.
„Ein Weilchen laufen wir nach dem heiß-kalt. Nicht angestrengt, Trab.
Bleib hinter mir, ich weiß wo wir den Weibern nicht in die Quere kommen. Möchten ein Geschrei machen, hoffen zwei nackte Kerle jagen sie. Danach, Bernd, wirst schlafen wie der Prinz im Lied, das die Müttern ihren Kindern zur Nacht singen. Wirst morgen früh wach, suchst nach Bäumen zum auszureißen!“
Nora, in ihrem Zimmer, öffnete den Sekretär, das Geheimfach. Behutsam griff sie das trockene Bündelchen Holz. Am Tage deiner ersten Verliebtheit, hatte die Hexe empfohlen, soll ich die Hölzchen in heißsprudelndes Wasser hängen, ihren Duft einatmen, danach sähe ich weiter.
Doch bin ich verliebt? Geküsst bin ich! Sie legte die Hölzchen zurück. Schön solch ein Kuss. Ganz Lippen, Mund des Anderen wirst du. Ja, Zunge auch, hätte es mir nie so vorgestellt. Die Lippen schon, aber die Zunge, der fremde Mund. War nicht nur schön, war, ich kann’s nur schwer ausdrücken, ging durch und durch. Die Knie, hätte ich gestanden, wären eingeknickt, der Magen durchgesackt. Fühle jetzt noch Schwäche, muss mich legen. Das wird gemeint sein, mit Redensarten wie: Mach mich nicht schwach, lass dich nicht schwach machen. Diese süße Schwere. Süße? War sie das, süß? Ja doch, süß, einfach weiter so, mach weiter, küss weiter.
So habe ich mich gefühlt, nicht sofort, aber dann mehr und mehr. Habe mich gelöst von ihm, aus Angst vor mehr. Bin ich verliebt oder geküsst? Ist ein Kuss immer so, gleich, wer ihn küsst? Muss mir den Mund vorstellen, den Mund von innen.
Boris? Brrr, nicht Boris. Gelbe lange Pferdezähne, will mir weiteres nicht denken. Aber Bernd? Was hat er für Zähne? Weiß es nicht. Nie hingesehen. Also, wenn der wie Boris? Quatsch. Möglich, ich küsse ihn nicht noch mal. Ein Kuss und aus. Warum nicht? Ja, warum nicht? Weil du noch einen Versuch wagen möchtest, noch einmal fühlen wie‘s sich dreht im Kopf. Unten oben, oben unten! Ist so, gib’s zu. Möchtest schon wieder küssen.
Hieß, wie unauffällig durch’s Haus schlendern, so wie ich es nie tu. Auf ihn stossen, wie er wo sitzt, mit der Mama oder dem Papa plaudert. Mich dazusetzen, so tun als wär er nie gewesen, der Kuss, der mich trieb ihn zu suchen. Ihn? Den Mann oder den Kuss? Ja was? Komm nicht dahinter, bleib liegen. Nein, zieh mich aus. Nachthemd an und schlafen, beugt Dummheiten vor.
Wie war das, wenn der Kutscher-Kurt mich aufs Pferd hob, nachfasste? Auch das Gefühl, Kuss ähnlich betörend. Betörend, hatte ich das gedacht? Habe es gelesen, sie ließ sich betören. Betören war das schon, wo Maschas Unterricht von Frau und Mann beschrieb, was kommt?
Wenn Kurt mich hätte küssen dürfen, was wär geschehen? Wäre es Bernd ähnlich? Ekel machte er mir nicht, der Kurt. Hat saubere weiße Zähne, schöne rote Lippen. Kenn seine Lippen genau, viele kleine Fältchen, winzige Täler. Hat sich gelegt, das mit dem Kurt. Voriges Jahr noch, gebe es mir zu, träumte ich ihn am hellem Mittag.
Mache ich das weiter mit dem Bernd, stehe ich bald wieder vor der Wand. War sein Kuss nicht nur Laune, einmalig, will er mehr und öfter, geht es direktemang ab in den Ehehafen. O Sonja, du hast mich gewarnt, umsonst? Bernd als Medicus, kennt sicher die Schweinsdarmschliche. Müsste nicht dauernd ferkeln.
Er hat kein Land, möcht sein, Erbenzeugen nicht sein vornehmstes Ziel. Zwei dreimal schwanger wär noch auszuhalten, doch zwanzig Jahre dicker Bauch, auf keinen Fall mit Nora. Erst einmal Augen zu, schön eine Nacht lang in die Kissen kuscheln, morgen ist Morgen, werde sehen.
Düsseldorf 2003
Nora war fest eingeschlafen. Bernd strich ihr über‘s Haar, drückte sich an sie. Keine Reaktion, schien, als ob die Dame ihren Anteil von der Liebe erst einmal verkraften müsste, schien bei ihr Schlaf zu heißen.
Er stand auf, ging ins Bad, duschen, rasieren, Zähne putzen. Hatte sie ihm gestern gezeigt, die Utensilien für den unverhofft übernachtenden Herrn. Ließ ihn mit einer erfahrenen Dame rechnen, auf eine Jungfrau zu stossen hatte ihn verblüfft. Doch warum nicht. Männer noch der Vätergeneration, taten sich was darauf zugute, der Erste gewesen zu sein. Für deren Väter, noch ein Muss. Gehörte einfach dazu, die jungfräuliche Braut.
Vorsichtig öffnete er die Schlafzimmertür, die Lage unverändert, leises sachtes Schnurren kam aus Nora, sonst keine Regung.
Der Schlüssel steckte auf der Tür. Schreibe ihr ein Briefchen, dachte er und schrieb.
Liebste, schönste, berückenste Nora, du schlummerst so fest, produzierst einen so sanften, tief zufriedenen Schnurrton, bringe es nicht über’s Herz dich zu stören. Es ist zehn, bin spätestens in einer Stunde zurück, bringe frische Brötchen mit. Kuss, Kuss, Küsse noch mehr Küsse, Bernd.
Gleich an der Ecke war ein Taxistand. Schnell in die Stadt zum Sternverlag, die hatten ein großes wohlsortiertes Antiquariat mit vielen medizinischen Publikationen aus dem Neunzehnten Jahrhundert. Manche Stunde hatte er schon stöbernd zwischen den alten, teils außerordentlich umfänglichen Folianten verbracht. Hoch interessant war, wie Wissenschaft damals vorangetrieben, Irrwege verbissen verteidigt und Proselyten gemacht wurden. Wie oft aber auch, eine Gemeinde von vermeintlich Rechtgläubigen, sich in unwegsamsten Gelände verlief. War nur mit äußerster Zurückhaltung zu belächeln, eingedenk noch unentdeckt schlummernden, eigenen Unvermögens.
Hier lag der Kern des Vergnügens. Sich den alten Gedanken anheimgeben, ihre profunden anatomischen Kenntnisse bewundern, ihre Schlüsse nachvollziehen und wahrnehmen, wie und wo sie in die Irre gingen.
Bei seinem Stöbereien, war er auf einen Band aus der ersten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts gestoßen, der, so erinnerte er sich vage, von den außergewöhnlichen Heilerfolgen eines Chirurgus, im äußersten Osten des damaligen Preußen berichtete.
Dies nicht weiter wert es im Gedächtnis zu behalten, wenn nicht der Mädchenname der Verfasserin, Nora Gräfin Kelm, gewesen wäre. Warum er den Namen gespeichert hatte? Hätte man ihn gefragt, Kopfschütteln seine Antwort.
Jedenfalls, er saß im Taxi unterwegs zum Sternverlag. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er das Regal, in dem die mit Anatomie etc. befassten alten Bände schlummerten. Er fuhr über die Buchrücken, wobei ihm aufging wie seine Erinnerung funktioniert hatte: Der Chirurgus, von dem die Rede war hieß Graf Bernhard zu Bern. Diese, bis auf das Adelsprädikat Namensgleichheit, hatte seine Neugier geweckt, ihn bewegt einige Seiten zu lesen. Lange hatte er sich nicht damit aufgehalten, ging um das alltägliche klein klein, einer ärztlichen Praxis.
Heute jedoch war das Buch von größtem Interesse. Sein Herz klopfte schneller als er die einzelnen Etagen, des in Frage kommenden Regals durchforschte. Er fand es nicht. Vielleicht war es umgestellt worden, verkauft? Verkauft mochte er gar nicht denken, je länger er suchte, um so mehr ging ihm die außerordentliche Einmaligkeit des Zufalls auf. Sein und seiner Geliebten Name, vereint auf der vergilbten Seite eines Bandes aus dem vorvorigen Jahrhundert.
Er ging zum Computer, gab Nora Kelm als Suchwort ein. Nach einigem Warten tat sein Herz einen Sprung. Es gab einen Band, in dem Nora Gräfin Kelm genannt wurde. Er grenzte weiter ein. Augenblicklich erschien auf dem Monitor unter Autorin, Nora Gräfin zu Bern, geb. Nora Gräfin Kelm. Titel.: Die tatsächlichen, unglaublichen Heilerfolge des Chirurgus, Bernhard Graf zu Bern.
Weiter stand da, das Buch befände sich zur Zeit im Lager und sei verfügbar. Der Preis, Euro 69.50. Bernd ließ sich die Seite ausdrucken, ging zur Kasse und verlangte den Titel. Die freundliche Verkäuferin gab ihm eine Nummer und bat ihn, in der Cafeteria zu warten bis auf dem dort angebrachten Monitor die Buchnummer angezeigt würde. Es könne längstens eine halbe Stunde dauern, das Buch müsse aus dem Lager herbeigeschafft werden.
Bernd, mit dieser Auskunft zufrieden, nahm sich einen der an der Kasse ausgelegten Buchkataloge, setzte sich in die Cafeteria wo ihm alsbald auf Kosten des Hauses ein Kaffee serviert wurde. Er blätterte sich eher lustlos durch den Katalog, zwischendurch ungeduldig zum Monitor aufschauend. Endlich erschien seine Nummer. Er ging zur Kasse, zahlte, griff seine Beute und verließ den Laden.
Auf der Strasse stürzte er in die nächste Bäckerei, kam mit einer Tüte noch backwarmer Brötchen zurück, schnappte sich ein Taxi und ließ sich zurück zur Kaiserswerther Strasse fahren.
Angekommen, öffnete er leise die Tür, ging auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer, wo Nora lag wie er sie verlassen hatte. Die Küche war unkompliziert. Als gelernter Single fand er sich schnell zurecht. Bald blubberte die Kaffeemaschine, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee durchzog die Wohnung. Die Tür zum Schlafzimmer stand weit auf, so dass, wenn dieses Mädchen denn zu wecken war, sie jetzt wach geworden sein musste.
Bernd deckte den Tisch, klapperte mit Geschirr und Besteck, von Nora keine Regung. Also es geht nicht anders, gleich halb zwölf, ich wecke sie, beschloss er.
Nora lag tief verkrochen unter der Bettdecke, nur ihr Haar war zu sehen. Er griff nach ihrer Schulter, ins Leere, da war keine Schulter. Die Bettdecke zurückgerisssen, an Noras Stelle lag ein grünes Gummikrokodil zusammen mit einem schwarzen Haarschopf in den Kissen. Hinter sich ahnte er eine Bewegung, er fuhr herum
„Nora!“
„Hab ich dich erschreckt, Liebster?“ Da stand sie, herrlich anzuschauen, wie Gott sie geschaffen, und massierte sich eine duftende Lotion in die Haut.
„O Nora“ mit weit ausgebreiteten Armen ging er auf sie zu, doch sie wich aus, „Lass das, du wirst dir den Anzug einsauen. Außerdem ist der Duft aus der Küche im Moment verführerischer als du, liebster Bernd, alles zu seiner Zeit,“ flötete sie und verschwand im Bad.
Nora zauberte schnell einige Schmankerl aus ihren Vorräten herbei, und sie frühstückten genüsslich. Zwischendurch wollte sie wissen, was ihn so früh aus ihrem Bett getrieben?
„Wenn ich, wie du jetzt weißt, in der Liebe Anfängerin bin, so ist mir jedoch bekannt, Männer verharren so lang als möglich beim geliebten Körper, ist der erst erobert?“
„Kann da nicht widersprechen, Allerverführerischste! Könnte mich ohrfeigen. Hatten wir ähnlich schon. Doch das Okkulte scheint uns im Griff zu haben. Ist nicht nur dein Kleid, das staunen macht. Ich hab hier etwas, ich bin sicher, die Augen werden dir übergehen. Es könnte meine Bettflucht erklären, ich jedenfalls weiß mir keinen anderen Grund. Du wirst entscheiden, ob das Objekt meiner Begierde, das Vergehen gegen die Spielregeln des erotischen Geschmacks, entschuldigt.“
„Du machst mich neugierig, Bernd! Rück schon raus mit der Sprache, was hast du Besonderes, dass dein absonderliches Handeln erklärte? Du hörst, ich nehm den Ball auf, nun erwarte ich ein spektakuläres Rückspiel.“
„Gut, Nora, hier nimm.“
„Antiquariat Sternverlag? Schwere Schwarte hast du da angeschleppt.“
„Pack aus!“
„Bin dabei, nicht so hastig. Junge, was für ein Wälzer, der riecht tatsächlich alt, antik eben. Leidlich gut erhalten. Was steht da? Die unglaublichen Heilerfolge des Chirurgus Graf zu Bern, aufgezeichnet von Nora Gräfin zu Bern, geborene Nora Gräfin Kelm.“
Sie schrie auf, stieß das Buch von sich, es fiel zu Boden, lag da, den Buchrücken mit den Namen der Autorin Bern und Kelm deutlich lesbar.
„Bernd, was geht hier vor? Hast du oder deine Familie ein Adelsprädikat?“
„Nein, nie gehabt. Wir heißen Bern. Wie lange schon, keine Ahnung, in bürgerlichen Familien wird keine Genealogie betrieben. Mit dem Grafen Bern, dem Chirurgus, hab ich nichts zu tun. Als der lebte, waren meine Vorfahren Mägde und Knechte hier am Niederrhein, nehme ich an.
Aber es ist trotz alledem schockierend. Erst einmal, mir fiel plötzlich ein, den Band schon einmal in den Fingern gehabt zu haben. Wieso diese Erinnerung? Ich bin ein eifriger Stöberer, liebe alte Bücher, durchforste die wegen alter Kupferstiche, genialer Zeichnungen, oder den gedanklichen Anfängen der medizinischen Wissenschaft. Das Für und Wider, dieser längst versunkenen Zeit wird mir lebendig, beglückt mich. Merke mir Inhalte, nie Autoren, wo käme ich da hin? Den Chirurgus Graf Bern und die Gräfin Nora von Kelm scheine ich mir gemerkt zu haben, deinen Namen hörte ich gestern zum erstenmal. Merkwürdig ist, ich bin Chirurg.“
„Bernd, erzähle mir bitte, wie der Tag für dich begann. Du wachtest auf?“
„Ich wachte auf, versuchte dich zu wecken. Drückte mich an dich, streichelte dich. Nutzte nichts, die Comtess geruhte zu ruhen. Ich stand auf, meine Mutter würde sagen, regelte mich. Schrieb dir eine kurze Notiz, nahm ein Taxi, fuhr ohne weitere Überlegung ins Antiquariat. Steuerte dort zielstrebig auf ein Regal zu, in dem ich das Buch, das jetzt hier auf dem Boden liegt, wusste. War nicht mehr da. Fand es im Computer, druckte aus, kaufte, holte Brötchen, nahm Taxi, bin wieder hier. Fertig, das war‘s.“
„Entschuldige, Bernd. Du kamst mit deiner Schwester auf den Ball, die hatte mich dir avisiert?“
„Ja doch, ich wollte zuerst nicht: Was soll ich deinem Chef, auf dem stinklangweiligen Ärzteball, den Nichtentröster machen, hatte ich gemeutert. Rumgekriegt hatte sie mich, mit der Schilderung der außergewöhnlichen Schönheit der Nichte, mit der Dreingabe, wie wichtig der Ball für sie sei, wenn sie Waldeck beruflich beerben wolle. Das war‘s. Keine wie auch immer geartete Linie zu Graf Bern und Gräfin Kelm. Hätte auf Befragen nicht die leiseste Ahnung das Buch betreffend gehabt.“
„Bernd, entschuldige meine Spökenkiekerei. Wir sprachen gestern über mein Kleid, Physik und Okkultismus. Du siehst es ja genau so, das Buch passt da rein. Gäbe es das Kleid nicht, sähe das anders aus. Aber so?
Eine Vorfahrin meines Namens, die mit einem Chirurgen liiert war?“
„Nicht liiert Nora, verheiratet.“
„Nach den Maßstäben von damals, Bernd, sind wir verheiratet. Glaubst du, die Comtess Kelm wäre ohne Ehering mit dem Grafen Bern ins Bett gestiegen, hätte ihre Unschuld geopfert? Undenkbar! Absolut undenkbar! Aber wer weiß, wie okkulte Mächte agieren? Welchen Zeitbegriff die haben? Möglich haben die sich nie um Schicklichkeit geschert, oder wenn doch, nicht wahrgenommen, wie zweihundert Jahre ins Land gegangen sind.
Weil ich dabei bin: Eine Frage, die ich ohne das Ereignis nicht stellen würde, sind wir liiert, Bernd? Wenn nicht, wird alles einfacher.“
„Einfacher, Nora? Es bräche mir das Herz, dich kaum gewonnen, zu verlieren. Nichts wäre ich lieber als dir Liierter. Davon abgesehen, was sollte leichter werden? Gesetzt den Fall, Hexen oder Zauberer werkeln an uns. Ihre Werkzeuge Kleid und Buch, so hänge ich mit drin. Mein und dein Name schmücken den Buchtitel, dazu kommt noch der Chirurg, was fehlt ist der Graf. Erklären wir Zufall zu zauberischem Wollen Dritter, wäre ich mit von der Partie, aber sind wir so weit?
Nein, fragst du mich. Das Buch betrachte ich als Gag. Mein Erinnern als natürlich. Ich wollte, nehmen wir an, dich überraschen, mich in Beziehung zu dir setzen. Da funktionierte mein Unterbewußtes, kramte, stieß auf die Fasern Kelm, Bern, Chirurg. Setzte mich in Gang, erfolgreich wie wir wissen. So gesehen nichts Besonderes. Was das Kleid angeht, wozu studierst du Physik? Deine Erklärung gestern Abend, leuchtet ein. Gibt es etwas jenseits unserer Wahrnehmungsfähigkeit, sollten wir es zu erforschen suchen. Könnte absolut spannend sein mit dem Nichts, wie wir uns nicht Erklärbares gerne nennen, in Beziehung zu treten.“
„Jau Bernd, Süßer, richte mich auf. Hat was männliches, das Aufrichten. Konnte das vorige Nacht erstmals erfahren. Geht das häufiger? Ich drücke mich ungeschickt aus, dieses so spezifisch männliche Aufrichten, geht das am hellichten Tag oder nur bei Nacht?“
„Nora, Liebste! Jau, sage ich da, nein versprech dir, geht am hellichten Tag! Mit dir jede Minute, Sekunde, Stunde, Woche, Monat, Jahr! Musst nur wollen, mich fragen: Bereit? Antwort: Jau, allzeit bereit!“
„Herrlich Bernd, aber bitte vergiss das jau. Erinnert mich zu sehr an die Küsten-Kelms. Die sagen immer jau. Jau zu allem und jedem. Doch komm, tauchen wir dahin ab, wo Seligkeit und Jauchzen unserer harrt! Wie hab ich das gesagt? Nun deine Antwort, bitte ohne Worte!“
Nora schlüpfte aus dem Bademantel, und sprang mit elegantem Schwung in die Kissen.
„Komm schon, Liebster, quengelte sie, kann es kaum erwarten, geforkelt zu werden, so sagt die vornehme Dame doch, geforkelt, oder irre ich? Brauchst nicht zu antworten, weiß genau Bescheid: Ich werde von dir, dem Forkler, geforkelt!“
„Warte nur ab, vornehme Dame, bis ich aus der Hose bin. Wie du das nennst, was ich mit dir mache, ist mir schnurz, nur was ich mit dir machen werde, das ahnst du nicht!“
„Ahne ich nicht, Forkler? Du hast ja Recht, wieso ahnen, ich weiß es! Fällt mir ein, war doch gestern erst, als du so unbeschreiblich süß forkeltest! Ah, oh ja, da bist du ja. Doch was sehe ich? Ist einzinkig deine Forke, ob das was wird? Hast dir die zweite Zinke heute Nacht abgebrochen? Suchen wir, sie müsste zwischen den Laken liegen! Was brummst du, du kennst das Versteck? Waas? Zwischen meinen Beinen, bist du wahnsinnig, wo wohl sollte ich die da verstecken? Du sagst gar nichts, weißt wo du suchst? Gut, dann such, ohja such, such, such, da ja, da ist es, weiter noch weiter, jetzt vor und zurück, dann wieder vor und zurück und wieder, oh wie du suchst, so unbeschreiblich suchst, ich kann nur, nur, nur, hör bitte nicht auf! Raus, nein nicht raus! Ja wieder rein, rein und raus und rein und raus, ich schreie. Bernd Süßer, süßer süßer Bernie, Bernie, Bernd Jajajaja jaja. Such, o such, such, such, such, o ja such weiter, weiter! Ich Bernd, ich, ich, ich, bitte ja, ja! Ich verstehe nicht, nein, nein, nicht umdrehen, mach weiter, weiter, wieso umdrehen. Knien, ich auf die Knie, warum? Und du? Hör aber nicht auf. Nein, auch keinen Moment. Nicht jetzt Bernd, nicht jetzt, nicht, nicht, nicht, jeteeeertzt, ohoooohh Bernd, Beeeeernd!
O Bernd, so war das gestern nicht, wie mich das auftrennte, aufribbelte, mir über das Rückgrat hoch in den Kopf schlich, erst langsam, dann dichter und dichter, bis ich nur noch an dir hing, deinen Forkler fühlte, wie der mit jedem Stoß mich tiefer trieb, wohin? Ja, wohin? Ins Nirgendwo, dahin wo ich nie war, nie hin konnte, hing hier und wollte nur dich fühlen, mich mit dir bäumen, mich an dir reiben, mich an dich klammern und gleichzeitig war da was. So voll Wonne, so öffnend, dehnend, mich dehnend, wohin, ich weiß es nicht, ging weiter und weiter, platzte, riss mich auseinander, in lauter tausend Schläge meines Herzens, tausend Stellen in mir, die dehnten sich so unaussprechlich, so wie ich ewig bleiben wollte, wenn das ginge. Fühlst du das auch so, Liebster? Verlierst Gestalt, bist nur noch Werkzeug dir, dein ICH ganz weit im Hintergrund?“
„Nicht so, doch nicht viel anders, Nora. Ich glaube, Mann und Frau erleben gleiches auf verschiedene Weise. Will Dir jetzt keinen Vortrag halten, ist erforscht wie unsere Nerven, Hirne ticken. Die Liebe ist sonderbar, ist sie nicht anwesend bei diesem Akt, was oft der Fall ist, verblasst die Farbe. Was uns einzigartig schien, ist einzigartig, wird es bleiben. Das Fludium, das uns zusammenführte, ward hier auf Erden nicht gebraut, hat Zauberqualität, herrscht über Menschen, seit es Menschen gibt, macht Tier zum Menschen, läßt ihn wirklich leben.“
„Ist es die Liebe, Bernd?“
„Es ist die Liebe, Nora, bitte flüstere.“
„Flüstern, Geliebter? Ich möchte es in die Lüfte schreien, es jedem sagen. Den Vögeln, Fröschen, Freund und Feind!“
„Nicht doch, Liebste, halt ein. Es soll Geheimnis bleiben. Wird früh genug bekannt. Bis dahin bleiben wir nur wir. Verstecken uns vor der Welt. Nehmen nur uns wahr, besteigen unsere Berge, tauchen in unsere Tiefen. Fliegen mit den Vögeln, summen mit den Bienen, streiten mit den Blumen um die Pracht ihrer Blüten!“
„Singen, weinen, lachen, jauchzen, stöhnen, Liebster, in einem Atemzug, einer Umarmung, einer Ekstase! Ist doch Ekstase, was wir erleben? Auch so ein Wort, das sich nicht gehört! Aus Neid, nehme ich an. Gelber Neid läßt Ekstase zum Unwort werden, nicht ganz, aber zum Wort mit fragendem Unterton.“
"Deshalb, schöne Nora, soll unsere Liebe Geheimnis sein. Leicht wird Liebe zum Wort mit fragendem Unterton, du sagtest es.“
„Habe schon verstanden, Bernd. Werde mich hüten, vorzeitig zu verletzen, was nicht ewig währt. Unschuld, ich fühl’s, Liebe ist Unschuld in ihrer reinsten Form. Ist niederknien, die Hände zur Schale formen, trinken von dem Quell, so lang er unerschöpflich scheint.“
„Kann unerschöpflich bleiben, Nora. Kann, wenn wir das Geschenk erkennen, das wir uns selbst bescheren. Meistens geht’s verloren, verinnt zwischen den Fingern im Alltag, der nicht so genannt werden sollte. Jeder unserer Tage, Nora, ist Unikat, einmalig. Kein Tag sieht wie der andere aus, sind ähnlich zwar, doch siehst du näher hin, im Grunde immer neu. Doch macht es Mühe, stets daran zu denken. Nicht nur zu denken, freudig zu empfangen. Jeden Morgen als Geschenk zu nehmen, die Morgenröte als Verheißung sehen. Und ist der Morgen grau und kalt und sturmdurchtost, ist er doch Morgen. Eines einzigartigen Tags Geburt, ebenbürtig jedem rosenfingrigen Sommermorgen.“
„Das, mein Chirurgus, hast du wie ein Poet gesagt, möchte glauben bist kein Messerheld. Stelle mir nicht gerne vor, wie du ins lebendige Fleisch schneidest. Hör, es schellt!“
Klapaida
Na, endlich schellt jemand. Ich hör und seh gern zu, obwohl es stets auf‘s Gleiche raus läuft. Wobei mir aufgeht, man sagt Voyeur, ist jemand der belauscht wie zwei es treiben, nicht Audieur? Geht doch über die Ohren, das Stöhnen, Seufzen, Betteln, nicht genug-kriegen-können, zum Ende die Schreie! Sein Gebrüll, ihr Diskant, das Außersichsein, ganz weit weg von jeder Balance.
Na, nun hat mein Norakind erfahren, was ihr Kätzchen will und braucht. Ist man nur die meine, die Projekt-Nora, unterscheidet sich aber in nichts von der auf Steinfeld. Wie das im Bett abgeht, meine ich. Sonst liegen Welten, Jahrhunderte zwischen den Kindern, hab keine Lust, mich weiter zu verbreiten, liebes Tagebuch und liebe Mascha. Tagebuch und Mascha sind mir eins geworden. Früher, bevor Mascha mich das Schreiben lehrte, war mein Gedächtnis Buch. Ich kann mich erinnern an Dinge vom Anfang der Welt, und an solche von eben, glasklar glaubte ich. Doch mein Tagebuch bewahrt anders auf, als ich.
Vor zwei Wochen standen Mascha und ich, am grünen Weiher wo das Moor beginnt. Meine Erinnerung sieht uns dort stehen, über Nora und den neuen Doctor sprechen, Mascha erzählt, Nora wäre in ihn verliebt, was sie ihr gönne.
Mein Tagebuch schreibt: Mit Mascha über Nora gesprochen. Der Weiher funkelte wie Smaragd, der Osten schiebt Wolkenberge auf, wird bald krachen, denke ich. Zeig zum Himmel, sag ihr, sieh was da dräut? Keine Regung. Kein Auge für die Welt. Brennt wie ihre Tochter. Hat sich wie die, vergafft in den Doctor. Nun, ich gönne. Doch was ist mit Bernd? Mascha ist nur wenig älter, dafür reif, erfahren, tief, eine erblühte Schönheit! Ein Garten dem sich keiner annimmt. Was der Kelm mit ihr macht, reicht nicht, nicht für meine Mascha. Werden sehen.
Wie gesagt, das Erinnern war anders ohne Tagebuch. Hab nicht rumgekramt in Nebensachen, ausgeschmückt. Gewesenes war gewesen, aus! Jetzt wo ich schreibe, greif ich nach, nehm den Stoff, zieh ihn durch die Finger. Fühle Samt, Leinen, Köper, Barchend, Twill. Sehe die Farbe, höre die Worte, rieche, rieche Blumen oder Bratenduft, hier auf dem leeren Tisch, an dem ich sitz, und wie ein Mensch Papier bekritzle.
Als Mascha mir zeigte, wie geschrieben wird, hatte ich Last mit dem Werkzeug. Konnte den Gänsekiel nicht richtig halten. Tinte verspritzte über‘s Blatt, sobald ich ihm nahe kam. Mascha meinte, durch ständiges Üben würde ich das meistern. Sie schrieb mir schön säuberlich Buchstaben und Zahlen auf. Die abmalen, Klapaida, immer wieder unverdrossen abmalen, auch wenn es schlimm aussieht, irgendwann hast du es raus.
So hat sie mich ermutigt, die Liebe. Hat keine Ahnung, darf nicht sein. Das Geraune über die Hexe stört sie nicht, glaubt es habe seine Ordnung. Bin für sie wie das Feuer, warm und hell, wenn es gehalten wird, wo es Zuhaus ist.
Einmal fragte sie nach meinen Fortschritten, ob es ging mit dem Ganskiel, oder hast du hingeworfen, wollte sie wissen. Hingeworfen, Mascha? I wo, ich kann schreiben. Hab fleißig geübt, wie du es empfohlen, jetzt geht es mir locker von der Hand.
Aber die Wörter, die sich aus den Buchstaben bilden, woher hast du die? wunderte sie sich. Da konnte ich sie beruhigen, aus der Bibel, Mascha. Ich habe sie dir vor Jahren gezeigt, die alte Bibel. Die steht voll Wörter, die hab ich abgeschrieben, wieder und wieder.
Das muss ich sehen, Klapaida, staunte sie. Nicht dass ich dir nicht glaubte, obwohl es unglaublich ist. Na, vielleicht sollte ich das nicht sagen, lächelte sie.
Ich lächelte zurück und fragte, weil du vieles an mir unglaublich findest, stimmt’s? Also komm, sieh’s dir an. Wir gingen in den Wirtschaftsraum, Mascha räumte den Tisch frei, scheuchte die Kinder raus, die angeschnuppert kommen, sobald sie meiner ansichtig werden.
Tinte, Gänsekiel, Sandbüchse, ich setzte mich zurecht und schrieb:
Verehrteste Frau Gräfin, bitte vergeben Sie einer einfachen Frau die Annäherung.
Euer Hochwohlgeboren mögen bitte verzeihen, was ich so nicht gewollt, aber leider nicht ändern kann. Möglich, Eure Schrift, die von meiner Hand hier vor Euren Augen auf den Bogen fließt, ist die Ursache für mein Können. Ohne Euren Ductus, Gnädigste, wäre ich vielleicht nicht in der Lage zu schreiben. Was ich noch berichten möchte, gilt meiner Fähigkeit zu lesen. Auch hier ist Eure hochwohlgeborene Person im Spiel. Schicke ich mich an, einen Text zu lesen, so sehe ich den durch Eure Augen. Ich erkenne es, weil das Papier, auf das gedruckt wurde, grünlich schimmert, hervorgerufen durch das Leuchten Eurer Iris.
Mascha las das und sah mich erschreckt an. Das mit meinen Buchstaben verstehe ich, hast danach geübt und dir die eingprägt. Aber lesen durch meine Augen?
Ich lachte, das erschreckt dich, was? Vergiß es, beruhigte ich sie, dummes Zeug, ich wußte nicht, was schreiben.
Aber deine Schreibkünste sind phänomenal, Klapaida, befand sie. Du schreibst eine Hand, als hättest du Jahre in einer Kanzlei verbracht, dabei ist es kaum acht Wochen her, dass du mich batest dir zu zeigen, wie geschrieben wird.
Ist so Mascha, was soll das Grübeln. Ich kann schreiben und schreibe wie du. Niemand wird es erfahren. Ich schreibe nur für mein Tagebuch, nein halt, für das Kräuterbuch, das ich verfassen werde. Es ist für dich, du wirst es, wenn du magst, herausgeben.
Mascha war beruhigt, nicht besänftigt. Ich war sicher, sie würde bald auf die schreibende Klapaida, und was es damit auf sich hat, zurückkommen.
Auch bei uns holt die Zeit manchmal auf. Da läuft es menschenalterlang im gleichen Trott. Menschen sterben, werden geboren, leben, und siehst du sie an, die von vor hundert Jahren und die von heute, gleich. Gleiche Gesichter, gleiche Gedanken, gleiche Freuden, gleiche Nöte. Doch da gibt es manchmal Rucke. Etwas passiert, durchdringt die stehende Luft wie ein Schrei. Köpfe werden geschüttelt, manche nehmen wahr, andere nicht. Da ist etwas, keiner kann sagen was, auch die nicht, die die Nüstern schnaubend blähen.
So kam das mit Seegrund, eigentlich Libeskind und Seegrund.
Also angrenzend an Steinfeld liegt Seegrund. Ein Gut, seit Jahrhunderten im Besitz derer von Schaak. Auf Seegrund ging was vor. Schon der Vater des jetzigen Gutsherrn, Baron Friedrich, war ein Leichtfuß. Ist in arge finanzielle Bedrängnis geraten, hat sich mit einer reichen Heirat saniert. Sein Sohn, Baron Wilhelm, von dem anzunehmen war, dass Beispiel des Vaters hätte ihn Besonnenheit gelehrt, enttäuschte nicht nur vorsichtige Erwartung, nein, der übertraf jede Befürchtung.
Nun waren die Schaaks den Kelms, seit ewig in guter Nachbarschaft wegen der engen Verzahnung ihrer Besitzungen, verbunden. Es floss kein Geld zwischen ihnen, aber sie arbeiteten zusammen. Die Felder, die nahe bei Steinfeld lagen, bearbeitete Kelm, umgekehrt die bei Seegrund machte Schaak. Da brauchte nicht groß abgerechnet zu werden, was im einen Jahr ein Minus ergab, brachte im nächsten ein Plus. Wichtig war, man ersparte sich lange Anfahrten zu entlegenen Fluren.
Durch die Liederlichkeit, Friedrichs, waren diese Usancen schon vor zwanzig Jahren unter Druck geraten, dann aber, als Geld kam, wieder hergestellt worden. Als Friedrich starb und Wilhelm das Regiment übernahm, ging es schon nach zwei Jahren wieder drunter und drüber.
Mit Wilhelm war nicht zu reden. Er kam zweimal im Jahr für höchstens eine Woche von Berlin mit einem Troß dubioser Herren, von den Damen nicht zu reden. Dann knallten die Büchsen den lieben langen Tag. Einmal flüchtete sich der Verwalter nach Steinfeld, erlitt dort einen Zusammenbruch. Ich habe ihn hingekriegt, war schwer, dicht am Wahnsinn, der arme Kerl.
Das Ende der Schaaks war abzusehen. Das Gut paßt wunderbar zu Steinfeld, nur Kelm hatte nicht das Geld zu kaufen. Er hätte sich für Jahrzehnte verschuldet, soweit ich das durchschaue. Das mit dem Geld ist nicht meins.
Libeskind 1817
Zu dieser Zeit fuhr Mascha einmal die Woche nach Lyck, um Besorgungen zu machen. Sie ließ es sich nie nehmen, eine Stunde oder mehr, für ihren Musikfreund, Moses Libeskind, abzuzwacken. Libeskind ist, wie Mascha behauptet, ein Meistergeiger. Sie dilettiert mit Leidenschaft auf der Violine, so hatte sie bei irgendeiner Gelegenheit mit Moses Libeskind abgesprochen, ihm einmal wöchentlich vorzuspielen. Für Libeskind eine Ehre, für sie eine große Freude, sie erkannte schnell, wie seine Tipps und Korrekturen ihrem Spiel Substanz verliehen.
In der Woche, als die Gerüchte um Seegrund kein Ende nehmen wollten, fuhr sie wie immer nach Lyck; hatte neben ihren Besorgungen im Ort eine Verabredung mit Libeskind. Sie zog die Glocke an seinem unscheinbaren Häuschen, dessen Vorderfront kaum eine Wagenlänge maß. Moses Tochter Betseba öffnete, eine hübsche, glutäugige Sechzehnjährige. Bet, wie sie gerufen wird, bat die Gräfin in den Salon, im hinteren Teil des Hauses.
Der Raum, in dem Mascha auf ihren Lehrer wartete, öffnete sich durch ein breites, fast bis zum Boden reichendes Fenster, auf einen großen, gepflegten Blumengarten. Von der Straße her, war auf diese geräumige Großzügigkeit nicht zu schließen. Moses hatte zwei, zu seinem Haus nicht in unmittelbarer Beziehung stehende Häuser, in der Seitenstraße gekauft und deren Grundstücke über den Hinterhof miteinander verbunden.
Von vorn der Viehjud Moses, dahinter der Moses Libeskind, hatte er der Gräfin Kelm erklärt. Dieses Geheimnis, Gnädigste, bitte bewahren, hatte er sie gebeten, dass möchte kein Neid aufkommen unter die Leut.
Sie hatte nicht lange auf Libeskind warten müssen. Er, um mindestens einen Kopf kürzer als Mascha, krauses graues Haar, und die schon bei der Tochter Bet aufgefallenen schwarzen Glutaugen. Gnädigste, begrüßte er Mascha, eine besondere Vorliebe heute? Mascha nickte, bat ihm den Beginn der Kleinen Nachtmusik vorspielen zu dürfen. Libeskind stimmte freudig zu: „Gern, Gnädigste, Meister Mozart ist immer Balsam für mein Ohr.“
Mascha setzte den Bogen an, versuchte den ersten Ton, ließ die Geige sinken, versuchte es noch einmal, vergeblich. Libeskind sah sie an.
„Schwierigkeiten, Gnädigste? Ich meine nicht mit der Violine, die gehören zum Instrument. Ich vermisse die Lockerheit, die es, wie wir beide wissen, braucht, um einen anständigen Strich zu geigen, egal ob auf einer Bauernhochzeit oder bei der Nachtmusik.“
Mascha senkte den Kopf ein klein wenig, keinesfalls eine Resignation andeutend, eher Zustimmung zu den Ausführungen ihres Lehrers.
„Das passt mir in den Kram," erklärte Moses. „Darf ich vorschlagen, Ihr lasst Euch von mir zu einer Schokolade einladen, es geht um Euer Urteil zu einer Erwerbung, die mir kürzlich gelang."
Er führte Mascha in sein Büro, das ganz im Stil Louis Seize eingerichtet war. Mascha blieb in der Tür stehen, um den Anblick der erlesenen Stücke zu genießen. „Wenn ich mir vorstelle," freute sie sich „wie dies in letzter Minute vor der Pariser Kanaille gerettet wurde, hüpft mir immer auf‘s Neue das Herz."
„Ja doch, Gräfin," Moses Blick verschattete Melancholie. „Ich habe leider immer vor Augen, was die Bestie zertreten und zertrampelt hat. Das Dumme, ich habe Listen und Aufstellungen von den Meistermöbeln eingesehen, die unwiederbringlich verloren sind. Sprechen wir nicht davon, es könnt einem den Tag vergällen, nehmt doch bitte Platz."
Er läutete eine kleine Glocke, Betseba steckte ihren schwarzen Schopf durch die Tür, sah ihren Vater an, rief, sofort Papa. Gleich darauf deckte sie ein kleines Tableau mit einer Meißner Garnitur, bestehend aus Mokkakanne, zwei Tassen, zwei Untertellern, zwei Kuchentellern, einer kleinen Milchkanne, dekoriert auf einem porzellanenem Tablett das die Motive, von Kännchen, Tellern und Tassen, wiederholte.
Mascha sprang auf. „Oh wie entzückend," rief sie aus, und klatschte in die Hände. „Moses, das ist noch aus der Zeit August des Starken, die Chinoiserien sicher Höroldt! Etwas Seltenes und so allerliebst. Ach, jetzt geht es mir schon besser, fühle mich wieder Meister Mozart gewachsen."
„Einen Moment bitte, Gnädigste, lasst uns die Schokolade geniessen, ich möchte die Gelegenheit nützen, Euch Wichtiges vorzutragen."
„Also," begann er zögernd, und nocheinmal „Also“, die Finger gegeneinander gestellt, schloß er die Augen, öffnete sie wieder und fing endlich an:
„Da gibt es den Nachbarn Schaak auf Seegrund. Seegrund, ein bankrottes Gut, wie geschaffen um Steinfeld zu arrondieren, nein, das ist zu wenig: Um Steinfeld, gehörten die beiden zusammen, zu einem Juwel zu machen. Mir ist bekannt, bei Euch wächst die Angst bei dem Gedanken, was werden wird, sollte Seegrund unter den Hammer kommen. Eine seit Menschengedenken funktionierende Symbiose beim Teufel, das mit Gewissheit. Was sonst noch an Unheil angerührt wird, wer soll das wissen?
Darum, Gräfin Mascha, brachtet Ihr den Ton nicht auf die Reihe, den Ihr so oft geübt, und klar zum Vortrag gebracht. Mit Sorge und Angst verkrampft ein jeder. Was ich nicht verstehe, warum greift Ihr nicht aktiv ein? Steinfeld ist schuldenfrei, wirft gute Erträge ab. In überschaubarer Zeit hättet Ihr die Hypotheken getilgt. Vergesst bitte nicht bei Eurer Rechnung, die zu erwartenden Erträge von Seegrund."
„Moses Liebeskind," unterbrach ihn Mascha. „Hört sich gut an, was Ihr da sagt, ist oft zwischen mir und meinem Mann verhandelt worden. Nur bedenkt, Claus Kelm ist über fünfzig. Mit Glück wären wir die Schulden bei seinem fünfundsechzigsten Geburtstag los. Was wird, das Glück verlässt uns? Claus verlässt uns? Ich stände da mit der Wirtschaft, zwei Söhnen so zwischen fünfzehn und zwanzig, die der zügelnden Hand eines Vaters, eben dann besonders bedürften. Moses, bei dem Handel würde ich meines Lebens nicht mehr froh. Es ist schon schlimm genug, dass der jetzige Zustand an unserer Harmonie nagt. Claus wird ständig gefrotzelt, warum er nicht kaufe, er habe wohl die Hosen voll, oder seine Frau habe sie an, und was dererlei Geschwätz mehr ist."
„Gräfin, ich verstehe Euch, aber bitte, eine Rechnung ist etwas Reales. Darf ich fragen, von welchem Kaufpreis Ihr bei Eurer Überlegung ausgeht?"
„Na, vom Tatsächlichen, wovon sonst?"
„Kennt Ihr den tatsächlich Preis?" beharrte Libeskind.
„Ja doch, 40.000.- Taler so um den Dreh, ein Tick mehr oder weniger macht den Braten nicht fett."
„Also von 40.000.- ausgehend pflichte ich Euch bei, müsstet ihr Abstand nehmen. Im Augenblick wäre das für Seegrund zu viel, was nicht heißen soll dies gälte auf Dauer, jedoch im jetzigen Zustand, kein denken daran."
„Seht Ihr, Moses, da liegen wir auf einer Linie," seufzte Mascha.
„Gnädigste Gräfin, hört bitte genau hin, so genau wie beim Violinspiel. Es kommt immer auf die Nuancen an. Was sagte ich?"
„Dass ihr keine 40.000.- für die Klitsche gäbet."
„Sicher sagte ich das, aber zusammen mit der Aussage, Seegrund sei im Moment keine 40 wert! Das hab ich gesagt! Das heißt doch, Eure Rechnungen sind Luftrechnungen, gehen von einer falschen Preisvorstellung aus."
„Verstehe ich Euch richtig, Moses, soll das heißen, wenn Seegrund keine 40 wert ist, werden keine 40 gezahlt?"
„Genau das habe ich gesagt."
„Aber Schaak wird nicht verkaufen unter vierzig, weil er weiß, im Grunde ist Seegrund vierzig wert."
„Gnädigste, seid mir nicht bös, wisst Ihr, wovon Ihr redet? Schaak ist bankrott, Schaak hat nichts zu wollen. Schaak kann froh sein, dass er nicht in Stücke gerissen wird. Seine Schulden sind höher, als Seegrund je wert sein könnte. Seine Gläubiger, dumme Hornochsen, Gojim wie Jidden aus Berlin, sind froh, wenn sie nur einen Bruchteil ihres Geldes wiedersehen."
„So schlimm ist es um Seegrund bestellt?“ Mascha sagte das mehr zu sich. Ihre Unterlippe begann zu zittern, die Farbe wich ihr aus dem Gesicht, sie versuchte noch etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.
Moses war entsetzt. Was habe ich angerichtet? Wieso versteht sie meine Botschaft nicht? Wie beruhige ich sie? Die Gedanken rasten ihm durch den Schädel. Er kniete vor ihr nieder. Grotesk, der kleine Mann hätte seinen Kopf in ihren Schoß legen können, doch er hob sein Gesicht auf zu ihr.
Mascha erkannte das Groteske der Situation. Sie liebte Groteskes, doch hier war sie Hauptdarstellerin der Aufführung, da galt es Einhalt zu gebieten. Sie stand auf, fischte nach einer der fuchtelnden Hände, zog Moses hoch.
„Danke Gnädigste, danke," keuchte der. „Wir haben uns missverstanden. Das heißt, ich habe Euch überfordert, war unglaublich ungeschickt. Es ist kein Unglück, dass der Schaak am Boden liegt, es ist ein Glück!! Ein Riesenglück! Seegrund gehört ihm nicht mehr, ich habe es vorige Woche gekauft!“
Mascha sah ihn verständnislos an. Was sagte der da? Er habe gekauft? Er? Seegrund gekauft? Unmöglich! Sie schüttelte den Kopf, suchte seine Augen, suchte Bestätigung. War nicht wahr, konnte nicht sein. Ihr neuer Nachbar, Libeskind?! Sie unterdrückte das aufsteigende Unwohlsein, oder waren es die Worte, die in ihrer Gegenwart nie gesagt werden durften, die in ihr hochstiegen?
Libeskind vor ihr, hatte sich gesammelt. „Gnädigste, lasst mich fortfahren," sagte er. „Wie schon berichtet, Schaak war gezwungen zu verkaufen. Nicht irgendwann, in einem Monat, einer Woche, nein sofort! Sofort, um ihn vor Schlimmstem, dem Zuchthaus zu bewahren. Seine Gläubiger waren bereit, von einer Betrugsanzeige abzusehen, wenn sofort Geld flösse. Nicht von ungefähr, aber zur rechten Zeit stand ich da und kaufte."
„Aber Libeskind, wollt Ihr tatsächlich Seegrund bewirtschaften?"
Moses Gesicht gerann zu einer schmerzlichen Grimasse. „Liebe gnädige Frau," er holte tief Luft und richtete sich auf. „Gräfin Mascha, wofür haltet Ihr mich? Es schmerzt mich, wir lernten uns über Mozart, Haydn, die Musik kennen. Ich schmeichelte mir, unsere Seelen wären sich näher gekommen, nun enttäuscht Ihr mich maßlos! Mir, der sein Leben unter den Gojim mit der Goldwaage tariert, traut ihr eine solche Geschmacklosigkeit zu! Viehjud Libeskind auf Seegrund, nicht auszudenken dazu brandgefährlich! Würden ihres Lebens nicht mehr froh, meine Leut."
„O Moses, bitte verzeiht, ich mache heute wirklich alles falsch. Nur stellt bitte in Rechnung, solche Fragen verhandle ich nie, es fehlt mir einfach das Verständnis.
Mir liegt auf der Zunge zu begründen, wie und warum es in meinem Kopf drunter und drüber geht, doch lasse ich es lieber. Mir schwant, es ist völlig unnötig, der Grund der Aufregung entfallen?"
Moses lächelte glücklich. „Liebe gnädige Frau, die Erde hat uns wieder. Ihr sagtet es, der Grund der Aufregung entfiel. Um Euch aber nicht weiter in geschäftliche Profanitäten zu zerren, möchtet Ihr bitte den Gemahl fragen, ob es ihm recht ist, wenn ich am Samstagnachmittag meine Aufwartung mache?"
„Moses, da muss ich nicht fragen, kommt. Was ich aber wissen will, könnte sonst die Nächte kein Auge zubekommen, Ihr wollt uns Seegrund verkaufen?"
Moses nickte.
„Freut mich, das Nicken, mein Freund, ruhig bin ich aber erst, wenn Ihr meine Frage, ob ich mir die am Anfang unseres Gesprächs vorgetragenen Sorgen nicht machen muss, auch benickt?"
Wieder nickte Moses.
„Jetzt folgt eine Bitte, Moses."
Nicken.
„Bitten möchte ich, dass niemand erfährt, was für eine einfältige Tucke, die Gräfin Mascha von Kelm ist.“
Diesmal nahm Libeskind ihre Hand fest in seine kleine Patschhand und fragte. „Erinnert Ihr ein Gespräch, das nicht von Musik, meinem neuen Meißen, und einer Terminabsprache handelte?"
„Keine andere Erinnerung, lieber Moses, außer der, dass ich meinem Mann zum Termin ausrichten möge, es ginge um den Ankauf von Seegrund zu bezahlbaren Bedingungen."
„So verbleiben wir, Gnädigste, und ich werde mich Samstagnachmittag bei Euch einfinden."
„Ich kann Euch abholen lassen, Moses?"
„Verstehe, und wieder zurückbringen. Bedanke mich für den guten Willen, aber der Libeskind wird kommen wie immer, mit seiner alten Karre, gezogen von seinem alten Klepper, dem Frosch."
Mascha befahl dem Kutscher: „Langsam nach Haus, Sineitis! Nicht im Schritt, aber nicht viel schneller." Unterwegs bemerkte sie, was es den Sineitis für Mühe kostete, die Rappen zu zügeln. Taten ihr leid, die Tiere. „Sineitis," rief sie: „Fahr über Seegrund nach Steinfeld, lass die Pferdchen laufen." Sie wusste, entfacht das Feuer unter dem brodelnden Topf der Gerüchte, doch warum nicht? Entspannt wie seit Wochen nicht, legte sie sich zurück, genoss das muntere Hufgeklapper.
Sie träumte, bis sie Seegrund erreichten. Als der Rhythmus der Fahrt ausblieb, kam sie zurück. Aussteigen? Sollte sie aussteigen? Ging wohl nicht anders, ihre Ankunft schon bemerkt. Der Verwalter kam schnell gelaufen, eine einzige Frage im Gesicht. „Schmolzek, ich komm ohne Absicht," nahm ihm Mascha sofort den Wind aus den Segeln, „wollte mir Seegrund einmal ansehen, wo es dieser Tage in aller Munde ist."
„Gnädige Frau, bitte tretet näher," buckelte Schmolzek, dem man ansah, wie ein Hoffnungsfünkchen ihn ihm aufglomm.
„Darf ich Euch herumführen?" fragte er und wies zu den Ställen hinüber. Die Baulichkeiten sind intakt, nur kein Stück Vieh, kein Pferd, kein Nichts was brüllt, wiehert oder quickt ist mehr hier. Hier ist es so still, man glaubt, Klapaida die alte Hex, schleicht ums Haus, wenn mal was scheppert."
„Schmolzek, die Klapaida halt er da raus," verwies ihn Mascha. „Die tut niemanden Böses, im Gegenteil nur Gutes, und steht unter meinem persönlichem Schutz."
„Sicher, gnädige Frau, ist mir rausgerutscht, weil jeder sie eine alte Hex nennt, ist nicht bös gemeint. Hat schon viele Leben gerettet, die Klapaida."
„Schon gut, Schmolzek, also Lebendiges gibt es hier nicht mehr? Alles weg, Gänse, Hühner, Enten?"
„Ratzekahl weg, das Großvieh Schub für Schub seit Monaten, der Rest Kleinzeug in der vorigen Woche."
„Wer hat gekauft?"
„Wer schon, gnädige Frau, kauft hier? Viehjud Libeskind. Er war einige Male hier auf seiner Karre, mit Frosch dem alten Klepper. Hat sich die Ställe angesehen, das Herrenhaus. Sah so aus, als taxiere er, war wohl mehr Neugier, wollt mal in ein Herrenhaus reinschnuppern, schauen, ob paar Möbel aufzuladen sind. Hat sehen müssen, bei uns ist nichts zu holen, kein Bett, kein Tisch, kein Schrank. Bankrott sind wir. Bankrott!
Was soll aus uns werden? Wir bleiben noch einen Monat, haben meine Frau und ich beschlossen. Kann doch sein, jemand erbarmt sich. Ist doch so ein herrliches Stück Erde, bin hier geboren, wie meine Eltern. Zerreißt uns das Herz, Seegrund zu verlassen, doch was sollen wir machen, wir müssen leben."
„Nu verzweifelt mal nicht, Schmolzek. Ginge mit dem Teufel zu, wenn Seegrund verwaist blieb. Ich muss weiter. Kopf hoch!"
Kurz vor Steinfeld spornte Mascha den Sineitis an: „Mach die Schwarzen warm, lass sie traben, die riechen den Stall!"
So rasselten sie auf den Hof, Sineitis fuhr eine elegante Schleife und stoppte sein Gefährt so genau vor der großen Treppe, dass Mascha beim Austeigen die erste Stufe nehmen konnte.
Oben ging die Tür auf und Claus kam ihr entgegen.
„Ich begann mir schon Sorgen zu machen," rief er, nahm ihre Hand und lächelte erleichtert. „Egal, du bist wohlbehalten zurück."
„Was hätte geschehen können, mein Lieber? Was hast du dir ausgemalt? Kutschenumsturz, durchgegangene Pferde? Aber geschehen ist etwas." Sie waren ins Haus getreten, Mascha blieb stehen.
„So, was denn, Erfreuliches? du siehst so aus."
„Durchaus Erfreuliches," Mascha ließ sich aus dem Mantel helfen.
„Deshalb deine Verspätung?"
„Ursächlich ja, war aber nicht nötig."
„Du spannst mich auf die Folter, komm mit in die Bibliothek, erkläre dich."
„Ja, machen wir es uns gemütlich, Claus. Dazu gehört ein Bordeaux, ich hoffe, du hörst hin, ich sagte Bordeaux, nicht Rotspon."
„Rotspon ist Bordeaux, Mascha."
„Aber Bordeaux ist nicht Rotspon, Claus!"
„Was gibt es zu feiern, meine Liebe?"
„Etwas Lohnendes, Claus."
„Etwas Lohnendes? Wenn du es sagst, also Bordeaux, bin gleich zurück."
Claus nahm sich Zeit beim Öffnen der Flasche. Holte Gläser, goss ein, schnüffelte.
„Eine Kostbarkeit, Mascha, nun bin ich gespannt."
„Auf unsere, auf Steinfelds Zukunft, Claus!" Nora zerdrückte den ersten Schluck auf der Zunge. „Stimmt mein Lieber, nur für besondere Gelegenheiten."
„Ist nicht mehr viel von da, Mascha, hab eben überschlagen, zwölf Flaschen. Aus 1799 noch vierzig."
„So vorsichtig, wie wir damit umgehen, mein lieber Mann, reicht das noch für die Taufe unserer Enkel. Aber ich wollte berichten. Neben meinen anderen Besorgungen in Lyck, war ich bei Libeskind, ihm vorzuspielen. Schon nach dem ersten Strich unterbrach ich, er rügte meine Verspannung, bat mich, ihm erstmal behilflich zu sein, bei der Beurteilung einer erworbenen Meißen Garnitur. Claus, der Moses hat eine Nase! Ein absolutes Service, für Mokka oder Schokolade, aus den Anfängen von Meißen. August der Starke, da muss man drankommen!"
„Ja Mascha, wo haben unsere hebräischen Freunde ihre Nase nicht drin?"
„Das kann ich nur unterstreichen, Claus, aber nicht deinen etwas abschätzigen Unterton. Bitte, höre weiter: Nachdem ich Moses guten Kauf hinreichend gelobt hatte, kam er zum Eigentlichen und fragte, wieso wir den so viel günstigeren Kauf, vor unserer Nase nicht schnappten?"
„Womit er Seegrund meinte, richtig?"
„Nicht schwer zu erraten. Also ich erklärte, warum wir nicht etc. etc. Moses hörte sich das an und wandte ein, woher wir wüssten, dass Seegrund vierzig koste? Sicher ist es das irgendwann wert, aber kosten? Ich verstand nicht sogleich. Moses machte es kurz, bat mich, für Samstag eine Unterredung mit dir zu arrangieren. Was ich sofort ohne Rückfrage, für Samstagnachmittag zusagte."
„Fein Mascha, ich habe nichts dagegen mich mit dem Libeskind ein wenig zu verplaudern, doch was hat das, mit dem für uns nicht erschwinglichen Preis von Seegrund zu tun?"
„Lieber, lieber Claus. Glaubst du wirklich, ich veranlasste dich eine von deinen gehüteten Flaschen an einem profanen Donnerstag zu entkorken, wenn meine Nachricht nur einen Plaudernachmittag mit Moses Libeskind zur Folge hätte? Ich habe ihn selbstredend gefragt, was eine Unterredung mit dir brächte, wir wären, wie schon ausgeführt, nicht bereit uns hoch zu verschulden.
Moses darauf: Gnädigste, kaufen müßt Ihr und bezahlen auch. Von hochverschulden kann keine Rede sein, der von Euch angedachte Mondpreis ist reine Phantasie. Ich weiß, wovon ich rede, Seegrund gehört mir."
Claus saß da, als habe ihn der Donner gerührt, bewegte die Lippen, formte tonlos: „Gehört ihm, dem Moses, dem Libeskind, Seegrund! Ich hoffe, der Schaak brät bis zum jüngsten Tag in der finstersten Hölle. Wenn das sein Vater, nein, der war nicht besser, sein Großvater wüsste. Karl Heinrich von Schaak, mein Taufpate. O Schande, Schande!"
„Hallo Claus," Mascha nahm ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, „aufwachen! Hinhören, keine Schlüsse ziehen ohne Fakten! Warum, glaubst du, will der Libeskind mit dir reden, um sich als neuer Nachbar vorzustellen? Hälst du den für so blöd?"
„Er hat gekauft, sagtest du!? Was soll er kaufen wenn...nein, nein, du hast Recht, mein Vorurteil hat mich eingeholt. Du sagtest, er will es uns verkaufen? Der hat es gekauft, um es uns zu verkaufen, wie er uns Pferde, Rindvieh, Schafe und so manches andere Viehzeug verkauft hat? Mascha, ist das wahr, hat er das gesagt?"
„Nicht direkt, Claus, aber als er mir von seinem Kauf erzählte, habe ich wie du reagiert, eindeutig voll Abscheu ob dieses Nachbarn. Ich gebe es zu, so war es, der Moses hat es so gewertet, er war entsetzt. Lehrreich ist, entsetzt nicht wegen der Ablehnung seiner Nachbarschaft, sondern wegen der Unterstellung, ihn für so abgrundtief blöd zu halten, unser Nachbar werden zu wollen. Welche Geschmacklosigkeit traut Ihr mir zu, hat er mich angefaucht. Viehjud Libeskind auf Seegrund!“
„Also Mascha, verzeih, ich muss das erst verdauen. Du schleifst einen durch Hölle und Himmel zur gleichen Zeit. Also, der Moses hat Seegrund gekauft, es gehört ihm. Wenn er es sagt, wird es so sein. Jetzt will er es uns verkaufen, erschwinglich verkaufen, sagst du?"
„Sagt er, er. Was ich sag spielt keine Rolle."
„Also, da glaube ich ihm, er kennt unsere Verhältnisse, weiß, dass Steinfeld unbelastet ist. Wenn ich vor der Ernte knapp war, was immer wieder passiert, bin ich um einen Kredit per Handschlag bei ihm eingekommen. Ohne Papier, einfach so. Zwei- oder dreitausend Taler zu fünf Prozent für drei oder vier Monate, wie es kam. Als ich ihn einmal fragte, was, Moses, mich trifft der Schlag? Ach Graf, hat er geantwortet, erst mal bin ich dann glücklicher dran, weil, ich leb ja noch. Weiter wird die Gnädigste, Ihre Mascha, das Loch in der Kasse vor der Ernte sehen, und wie es gestopft wurde. Also, damit ist schon alles gesagt, hat er mich angelächelt. - O Potzblitz, Mascha, lass es mich sagen, Potzblitz! Potzblitz! Potzblitz! Das befördert uns schnurstracks vom Jammertal auf den Jubelberg!"
Mascha lachte, erst verhalten, dann mehr und lauter, bald hielt sie sich die Seiten vor Lachen, und Claus fiel ein, mit seiner Bocksröhre zu ihren silberhellen Gelächterkringeln den Kontrabaß gebend.
Irgendwo hatte Nora, den in letzter Zeit selten gewordenen, fröhlichen Ton aufgefangen, denn sie steckte die Nase in die Bibliothek und fragte, ob sie mitlachen dürfe, sie habe es nötig.
„Komm rein, Kind, lach mit." Mascha zog sie an sich. „Dein Vater hat," die Worte kamen ihr von dem einen oder anderen, nachquellenden Lachgluckser gebläht aus der Kehle, „dein Vater hat viermal hintereinander Potzblitz gesagt. Von Jammertal und Jubelberg, sprach er, ich glaube, wenn wir ihn still gewähren lassen, wird er bald das himmlische Jerusalem hervorkramen!"
Noras Verständnis hielt sich in Grenzen. Sie sah erst ihre Mutter, dann ihren Vater an, die quietschfidel schienen, sich mit einem seligen Lächeln bei den Händen hielten.
„Gut," sagte sie kopfschüttelnd, „ich freue mich, wenn ihr euch freut, lasst mich doch einfach teilhaben?"
„Sollst du, Kind," Claus Kelm grinste sie an, ein wenig spöttisch und ein klein wenig von oben herab, wusste er doch, seine stolze Tochter hasste diese Attitüde wie kaum sonst was.
„Rege dich nicht auf, liebste Nora," baute er sofort vor, „bin äußerst übermütig, muss dich ein wenig tretzen."
„Genug, Claus," Mascha zog Nora neben sich auf das große Kirschbaumholzsofa, das nach ihrem Geschmack von einem Bordürenchintz, bestreut mit schwarzen und roten Röschen, bezogen war.
„Du zu meiner Linken, Claus, bitte keine Einwände, setze dich! Jetzt sitzen wir Selbstdritt, warum ich das wollte und sage, ich habe keine Ahnung. Die neue Situation, Nora, haut uns die ganze, so schön aufgebaute Krippe durcheinander. Damit du nicht länger dumm bist: Wir kaufen Seegrund!"
„Waaas?" hätte Nora mehr Atem gehabt, sicher hätte sie das a noch länger gezogen. „Gestern noch, Mama, hast du geschworen, nur über deine Leiche. Papa, du warst nicht minder dagegen? Was verursacht den jähen Sinneswandel?"
„Libeskind!"
„Will ich gern sein, aber ist keine Erklärung, also wie kam es dazu?" insistierte Nora und fasste das sonst so nüchterne Elternpaar, das auf einer Traumwolke zu schweben schien, fest ins Auge.
„Libeskind kam dazu!" kicherte Mascha.
„Der Viehjud?"
„Eben der," bekräftigte Claus von Kelm.
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Führt mich bitte nicht an der Nase rum, wie kann unser Viehjud uns zu Seegrund verhelfen?"
„Er kann, Nora, er kommt übermorgen Nachmittag zu uns, kannst bei der Unterredung dabei sein. Vorläufig wissen wir nur, er ist bereit, es uns zu erschwinglichen Konditionen zu verkaufen. Das genügt, liebe Tochter, um mich und deine Mama, wie habt ihr mir unterstellt, ach ja, ins himmlische Jerusalem zu befördern."
Klapaida
Geht holderdibolder zu, auf Steinfeld, wie beim Gottseibumms, da war kein Hexenfinger zwischen. Hat sich ergeben. Der Moses ist ein ausgekochtes Rabenaas, zuckelt mit seinem bruchreifen Wägelchen und dem mageren Klepper durch die Gegend, und hält sämtliche Fäden in der Hand. Wo eine Okkasion sich auftut, Libeskind hört als Erster davon. Kein Wunder, er entscheidet schnell, zahlt einen fairen Preis und den sofort. Warum da lange mit jemand verhandeln, der es ihm nur nachtut. Ganz abgesehen davon, Moses ist stets zur Stelle.
Jetzt hat er Seegrund geschnappt, hätte ihm solch einen Brocken nicht zugetraut. Doch wie sagt man, stille Wasser sind tief, in Moses Fall wohl sehr tief. Bin gespannt, was er den Kelms letztlich abnimmt. Wird spannend am Samstag, werde mir nicht nehmen lassen, mir das anzuhören. Nicht um einzugreifen, ist bei Moses nicht nötig, den leitet Vernunft, nicht Gier.
Hat den Kelms allerhand zu verkaufen, ist nur noch Grund und Gebäude, das Seegrund. Da kann er Vieh und Saat ohne Ende liefern! Das Herz wird ihm hüpfen vor Freud. Sehe ihn über den Büchern sitzen und Listen schreiben, er weiß ja, woran es auf Seegrund gebricht. Da kann er mit dem Hauptstück, dem Gut, billig sein, da macht er sich Vertrauen. Die goldene Nase holt er sich beim Einrichten. Nicht mehr wie recht und billig. Können froh sein, die Krautjunker, einen so solventen Viehjud zu haben. Sind sie, jedenfalls die Klugen.
Werd den Medicus sehen, hat sich die letzte Zeit viel zu schaffen gemacht, in Lyck und in Königsberg. Hat dem Bürgermeister den Stein von der Brust gerollt, den ich ihm aufgepackt hatte. Na ja, werde es gut sein lassen. Musste Klapaida eine alte Rechnung begleichen, der Lippe. Habe ihm einen mächtigen Schreck eingejagt, mit dem adligen Medicus, den er aus dem Stadtsäckel, standesgemäß zu unterhalten hat. Hat geschwitzt wie ein Schwein, der Herr Bürgermeister, sollte er.
Hat um seinen Posten gebangt. In Preußen muss gebuckelt werden. Die Obrigkeit ist die Obrigkeit! Wird wohl dauernd vom Recht geredet, wird für die Herren auch gesprochen. Doch wer ist, Lippe? Lippe? Ach der nichtsnutzige Flegel und Taugenichts! Aufgebraust? Steckt ihn zu den Grenadieren, wenn er nicht pariert, ins Stockhaus. Hi hi Lippe, da hast geschwitzt bei der Aussicht.
Die Mascha, der Medicus, die Nora! Der Doctor war dauernd unterwegs, die Nora bildet sich einen Liebeskummer ein, einmal geküsst, nichts weiter. Die Mascha, den Kopf voll Angst, vor schlimmen fremden Nachbarn. Hat sich zurechtgeschoben, kann weitergehen. Mascha spürt, ihr ist etwas ins Blut geschlagen. Denkt, wird sich legen, zusammen mit den Sorgen. Kennt keine Liebe, hat noch nie geliebt. Das Kindermachen war nicht unangenehm, hat sich was bewegt in und an ihrem Kätzchen. Doch wollte sie mehr, war’s verspritzt. Sich gab sie die Schuld, glaubte sich zu langsam.
Ihre Schwester in Dresden, verheiratet, ein Jahr jünger als sie, sprach von Sensationen, die im Kätzchen geschähen. Kann nie genug davon haben, hat sie geprahlt, und selig gelächelt. Na ja, befand Mascha bei sich, was ich nicht weiß macht mich nicht heiß. Für Claus schien das in richtiger Manier zu laufen. Er bestieg sie jetzt zweimal im Monat, zuerst war das jeden Tag gewesen, dann jahrelang zweimal die Woche, nun war es eben weniger geworden. Fand sie kommod, sie fürchtete sich geradezu vor mehr. Ohne dass Claus es ahnt, wendet sie meine Tröpfchen aus Bilse, Tollkraut und Wasserpest an, die töten seinen Samen. Hat ihr weiteren Kindersegen erspart.
Doch jetzt werden die Karten neu gemischt. Die Sorge mit Seegrund erledigt. Wird die Welt neu wahrnehmen, meine Mascha. Ihr Herz wird sich regen, sich dehnen. Wird sich mit neuen Augen betrachten. Was wird sie finden? Erstaunliches, Glücksahnung. Zuerst wird sie glauben, die Steine seihen’s. Die Steine, die ihr auf dem Herzen lagen, die nun nicht mehr drücken. Doch dann steht sie ihm gegenüber. Sehen sich an. Er sie, sie ihn. Sehen nicht an sich vorbei, nur die äußere Hülle erkennend. Sehen sich an, dringen tiefer die Blicke, vor bis zum Heißen. Erschrecken, ziehen sich zurück. Doch vergessen nicht, nein, können nicht vergessen, zu blitzheiß die Berührung.
Möchte meiner Mascha die Wolllust gönnen. Werde ihr beistehen mit Klapaida Künsten, sie dem fremden Aug entziehen. Werde ihr Heimstatt für die Liebe sein, nur annehmen muss sie die Liebe. Wird Rücksicht nehmen wollen auf die Tochter, der den Medicus überlassen. Was wird, Bernd sagt nein? Will die Mutter, nicht die Tochter? Wird so kommen, bin da ziemlich sicher. Doch Mascha wird verzichten, jedes Gefühl im Busen ersticken.
Die Nora müsste für kleine Zeit aus dem Haus. Ist Nora nicht da, trifft Amors Pfeil Mascha ins Herz, sitzt dort fest, hilft kein Ziehen noch Zerren.. Gibt es da noch ein Halten? Stürzt sie, die nie Erweckte? Einmal voll Leidenschaft geküsst, wird es sie verwandeln, niederreißen, öffnen. Einmal in Wolllust sich gewunden, lässt sie nicht mehr ab, kann nicht mehr leben ohne. Kenne sie genau, ein ruhender Vulkan voll glühender Magma. Müsste Nora ein wenig ablenken, fortlocken, nach Königsberg vielleicht? Wollte studieren, das Mäuschen, wird kaum gehen. Die Kerle glauben, Frauen hätten kein Hirn zu studieren. Doch herumschnuppern wird sie wollen, sich sortieren.
Ist beunruhigt, seit Sonja ihr den Floh ins Ohr setzte. Recht hat sie. Doch heiraten muss sie den Bernd. Geht nicht anders, könnte furchtbaren Ärger geben. Habt Zeit genug. Braucht nicht morgen sein. Steht meiner Mascha Liebesglück nicht im Weg. Werde ihr dazu verhelfen, kann gar nicht anders, ist ein Elend, mein Hang zu dem Mädchen. Hat mich in Teufelsküche gebracht, hab ich gelernt? Konsequenzen, Schlüsse gezogen? Ein Dreck hast du, Klapaida. Wie Rumpel schon sagte, seit Urzeiten das erste Mal bin ich schwach. Ist Schicksal, nicht blindwütig! Ich erkenne, bin auf der Hut, kalkuliere, wage, kann schief gehen, bin nicht ohne Feinde.
Fühlt sich so weich an, das Denken an Mascha. Wie durch Wolken stürzen, nur stürzen, tiefer und tiefer, ohne Ende dem Anfang entgegen. Mascha muss einfach sein, Balsam fürs Hexenherz.