Düsseldorf 2003
Es hatte geschellt. Totstellen? Niemand zuhaus? Nora überlegte, sah Bernd an, der legte einen Finger auf die Lippen. Schellen lassen hieß das. Ach ja, bleib draußen, schnöde Welt. Nora kuschelte sich in den geliebten Arm. Wieder das Klingeln, diesmal hielt jemand den Finger auf den Knopf. Bernd wiegte den Kopf. „Sieh vorsichtig nach," flüsterte er. Nora schlich zum Guckloch, erschrack.
„Einen Augenblick, Vicky," rief sie durch die geschlossene Tür. Vicky nahm den Finger von der Klingel.
Bernd fuhr in die Hose, was will die Vicky? Fragte mehr sich, als Nora. Er öffnet die Tür. „Komm rein, Vicky, was ist los?"
„Entschuldigt bitte die Störung, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Habe mich gestern Nacht mit Adam zum späten Frühstück verabredet, ich sollte die Brötchen kaufen, alles andere habe er im Haus. Stehe nun seit zwanzig Minuten vor seiner Tür, halt den Finger auf die Klingel, nichts rührt sich."
„Holla, Vicky, hört sich merkwürdig an. Wir können durch die Garage in seine Wohnung, die Tür ist auf," greift Nora ein. „Ist äußerst merkwürdig, sieht Adam nicht ähnlich, eine solche Verabredung zu verschlafen."
„Also vorwärts," drängt Bernd. „Hast du deinen Koffer greifbar, Vicky?"
„Sicher, im Auto."
„Hole ihn, Schwester, mir schwant Böses."
„Komm zur Vordertür, Vicky, ich mache auf, nein warte, ich gebe dir meinen Schlüssel." Nora gab ihr den Schlüssel und führte Bernd in Adams Wohnung. Sie gingen durch die Wohnräume, keine Spur von Adam. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Nora blieb zurück. Bernd trat ins Zimmer, stand vor einem Bett, in dem Adam friedlich zu schlafen schien. Vicky kam mit dem Arztkoffer.
„Schon seinen Puls gefühlt, Bernd?"
„Nein, mach du." Vicky griff sich Adams Arm, nahm den Puls, suchte und schüttelte den Kopf.
„Kein Puls und kalt ist er. Adam Waldeck ist tot.“
„O Gott," Nora hatte das gesagt und sich schnell gesetzt.
Bernd überlegte nur eine Sekunde, bevor er befand, Notarzt brauchen wir nicht, aber die Polizei.
„Wo steht hier das Telefon, Nora?" Nora zeigte es ihm, er verständigte die Polizei, die in der nächsten Stunde kommen würde. Vicky untersuchte den Leichnam. „Ohne Obduktion," wandte sie sich an ihren Bruder, „ein Fall von klassischem Herzstillstand. Ich an deiner Stelle, Nora, würde auf Obduktion bestehen, es gibt ordentlich was zu erben. Solltest du zu den Erben gehören, vielleicht Haupterbin sein, ist eine einwandfrei geklärte Todesursache, bei plötzlichem Tod ohne Zeugen wichtig."
„Ich glaube, Vicky, nein, bin mir da ganz sicher," sagte Bernd, „die Polizei wird auf einer amtsärztlichen Untersuchung bestehen, mit oder ohne Nora."
So war das. Die Beamten kamen, Vicky und Bernd wiesen sich als Ärzte aus. Schnell war abgeklärt, was die drei anwesenden Personen mit Waldeck zu tun hatten, wie sie ins Haus gekommen waren. Der Leichnam wurde beschlagnahmt. Die Sache war, sollte sie sich bestätigen wie zu Protokoll gegeben, erledigt.
Zwei Stunden später war die Wohnung verwaist, wie Nora das nannte. Sie stand im Wohnzimmer, das durch ein, eine Wand ersetzendes Fenster, den Garten zum Teil des Raums machte. „Es ist wie immer, doch ohne Adam verwaist,“ schluchzte Nora. „Für mich jedenfalls, sicher auch für die Blumen, mit denen er täglich seine intimen Kontakte hatte.
Nora, hat er mir erklärt, ich weiß, dir geht es wie den meisten Menschen, du kannst es dir nicht vorstellen, aber glaube mir: Die Blumen teilen sich mir mit. Ist keine Spinnerei! Nach Feierabend, du kennst mich, mein erster Gang gilt meinen Pflanzen. Ich komme ins Gewächshaus, setze mich auf den kleinen Stuhl neben der Tür und lausche. Sitze da und lausche, sonst nichts. Manchmal weiß ich schnell, was zu tun ist, aber es kann dauern. Ich nehme mein Schüppchen oder das Kännchen, gieße oder grabe, häufle, suche Blätter nach Raupen und Käfern ab. Nicht systematisch, intuitiv. Manche Pflanzen berühre ich vier Wochen nicht, andere täglich. Dass die Art und Weise anschlägt, beweist mein Garten. Kaum Krankheiten und allenthalben gesunder Wuchs.
In der Weise, Nora, fuhr er fort, nähere ich mich auch meinen Kranken. Ich setze mich zu Ihnen, lasse sie reden, komme mit ihnen ins Gespräch. Vont Hölzken op et Stöcksken, wie es hier am Niederrhein heißt. Dabei erfahre ich von ihnen, ihrem Leben, Vorlieben und Abneigungen. Kostet Zeit, zu viel Zeit, kritisieren meine Kollegen. Was sie nicht begreifen, nacher spart es Zeit. Die Holzwege falscher Diagnosen, minimieren sich zum Wohle von Patient und Arzt."
„Nora, ich als seine Schülerin kann jedes Wort unterschreiben." Vicky wischte sich die Tränen weg, die, seit sie Adams kalte Hand in ihrer warmen gehalten, ununterbrochen liefen.
„Ich habe die Kollegen sich mockieren sehen, ihr Kopfschütteln registriert. Nur an Adam perlte das ab wie Wasser. Medizin, war seine stehende Redensart, ist Erfahrungswissenschaft. Soll es für uns Praktiker überhaupt Wissenschaft sein, dann Erfahrung als Wissenschaft. Von allem und jedem lernen, nichts übersehen, nie ans eigene Wissen glauben, immer in Frage stellen. Nur so sehe ich den Arzt, der vor sich bestehen kann.
Das Wunderbare, es hat den bescheidenen Adam stolz gemacht, er führte seit Jahren unsere Klinikstatistik an, was Aufwand und Erfolg anging.
Beinahe wäre es mir unterlaufen, in den allgemeinen Jargon zu fallen, von Fällen statt von Patienten zu reden. Hätte er es gehört, wäre er wahrscheinlich wutschnaubend vom Totenbett aufgesprungen. Wenn etwas ihn die Beherrschung kosten konnte, war‘s das Medizinerkauderwelsch mit seiner Tendenz, Menschen zu Sachen zu machen. Ich höre ihn noch schreien: Patient kommt vom lateinischen Geduld! Patienten sind Geduldige, nicht Geduldete! Sie sind geduldig mit uns, die wir an ihnen herumdoktern, schlimmenstenfalls pfuschen! Also bitte! Nähert euch den uns ihre Geduld Schenkenden, dankbar und freundlich. Vergeltet ihnen das in euch gesetzte Vertrauen, mit äußerster Sorgfalt."
Während Vicky erzählte, übermannte sie die Erinnerung, die Tränen flossen heftiger, bis plötzlich ein kleines Lächeln sich in ihre Augen schlich. „Einmal," fuhr sie fort, „gab es bei uns den Doktor Plöger, tüchtig aber dämlich. Weil dämlich, arrogant. Den überraschte der Chef bei der Visite, die er, weil Adam verhindert war, übernommen hatte. Plöger stand am Bett eines älteren Mannes, der eine schweren Beinverletzung ausheilte.
Na Alter, was macht das Bein? fragte er den Patienten. Der Mann schwieg. Plöger wedelte mit seinem Stetoskop vor seiner Nase. He, ich habe was gefragt? wiederholte er. Der Mann drehte sein Gesicht von ihm weg. Plöger daraufhin schneidend: Ich habe Sie etwas gefragt! Weiter kam er nicht. Plötzlich stand der Chef da, nahm das Krankenblatt vom Fußende des Bettes, las und sagte: Herr Kröger, sieht ja heute gut aus. Das Fieber seit zehn Stunden runter, wie steht es mit den Schmerzen?
Herr Kröger lächelte: Geht besser, Herr Professor, nur schwach bin ich. Ist mir, als wöge ich Zentner. Die Schmerzen sind noch da, aber längst nicht mehr so schlimm. Adam nahm seine Hand. Wird wieder werden, Herr Kröger. Vertrauen sie mir, in vier Wochen sind sie gesund.
Als wir auf den Flur kamen, ging Adam einige Schritte zur Seite und bat den Plöger zu sich. Was er sagte, konnten wir nicht hören, nur der Plöger tauchte nie wieder bei uns auf.
Hat sich jeder gemerkt, den Vorfall, und wie rigoros der freundliche, verbindliche Professor Waldeck durchgriff, wenn er glaubte es ginge nicht anders."
„Und jetzt ist er tot." Diesmal war es Nora, die die Fassung verlor. Vicky zog sie von ihrem Stuhl hoch und hin zu einer Couch, die mit Blick auf den Garten gestellt war. Sicher einer von Adams Lieblingsplätzen, vermutete sie. „Am besten gedenken wir seiner," tröstete sie Nora, wo wir ihm am nächsten sind. Zwar böte sich das Gewächshaus an, aber ich bin fest überzeugt, Adam würde protestieren: In der Stimmung nicht zu meinen Pflanzen, meidet das Gewächshaus!"
Bernd ließ die Damen allein, und machte einen Rundgang durchs Haus. Jetzt, wo es unbewohnt war, mussten Fenster, Dach und Kellerluken verschlossen werden, sollten sie offen stehen. Kühlschränke, Waschmaschine, alles inspizierte er, stellte Wasser und Strom ab, soweit nötig. Dann setzte er sich und machte eine Liste all der Ämter, Banken und Versicherungen, die zu unterrichten waren.
Übrig blieb das Bestattungsinstitut, und die Benachrichtigung all derjenigen, die Waldeck nahe gestanden oder verwandt waren. Da kam allerhand zusammen, Nora würde das nicht auf die Reihe bekommen. Da war Vicky gefragt, zusammen mit dem Sekretariat Prof. Waldeck. Ja, wußte er, so würde das gehen. Vicky würde das mit dem Sekretariat managen. Sie kannte den Apparat und würde, wenn ihr keine Knüppel zwischen die Beine geworfen würden, Waldecks Nachfolgerin werden.
Er stand auf, mal sehen, ob ich die beiden aus ihren traurigen Betrachtungen lösen kann. Werden sich mit Adam Waldecks sanftem Sterben trösten können.
Gespannt bin ich, von Vicky zu erfahren, ob Adam ihr einen Antrag gemacht hat. Bin aber überzeugt, sollte es so gewesen sein, behält sie das für sich. Also, Spannung abfahren, gibt nichts zu erfahren. Ich selbst empfinde keine Trauer über sein Ableben. Kannte ihn kaum persönlich, traf ihn über Vicky beim Ärzteball oder ähnlichem. Hat ein gutes Leben gehabt, der Adam Leberecht. Wie ging das weiter, Nora hatte all seine Vornamen aufgesagt. Jedenfalls war er ein Graf. Wird genau in der Todesanzeige aufgeführt werden. Lulu wird kommen und die holsteinischen Kelms? Was kümmert es mich, werde mit zur Beerdigung gehen, mich sonst schön im Hintergrund halten. Der Tag ist jedenfalls perdu.
Die Damen saßen noch auf der Couch, versuchten, Adam über den Garten näherzukommen. Nora hatte Vicky erzählt, einer von Adams größten Wünschen sei gewesen, als Pflanze wiedergeboren zu werden. Nur als Pflanze, war seine feste Überzeugung, ist ein Lebewesen im Stande, sich dem göttlichen Geheimnis zu nähern. Die Platzgebundenheit und die Kraft der Passivität, adeln die Seele. Wobei er sich sofort erklärend beisprang, Seele, Pflanzenseele, hat nicht im entferntesten mit dem zu tun, was Menschen unter Seele verstehen.
„Jetzt ist er, wer kann es wissen, vielleicht schon dabei zu keimen, auf dem Wege, Blume, Strauch oder Baum zu werden, nichts wünsche ich ihm mehr." schluchzte Nora ein letztes Mal, bevor sie entschlossen aufstand, Bernds Hand nahm und Vicky erklärte: „Die Einen gehen, die Anderen kommen. Seit stark zwölf Stunden sind wir ein Paar, Vicky. Erschrick nicht, ein Paar weil wir im Augenblick Tisch und Bett teilen."
„Dacht mir’s schon," lächelte Vicky. „Freue mich für euch. Als ich mit meiner Brötchentüte vor Adams verschlossener Tür stand, sich nichts rührte, habe ich Bernd angerufen. Da rührte sich auch nichts, also folgerte ich, irgendwo muss er schlafen. Du Nora, warst sowieso meine nächste Klingelstation, und siehe da, aus Vermutung wurde Tatsache."
„Also," ergriff Bernd wieder die Initiative, „wie geht es weiter?"
„Tun können wir erst Morgen etwas," antwortete Vicky.
„Schwester, ich habe eine Liste gemacht von all den Stationen, die abgearbeitet werden müssen. Dachte mir, Adams Sekretariat wäre die berufene Instanz, das zu erledigen?"
„Womit du richtig gedacht hast, Bruder, zeig mal her." Sie überflog die Aufzeichnungen, unterbrach, reichte eine Seite an Nora weiter. Die sah sich das an.
„Oha, die Kelms und all die aristokratische Michpoche, müssen die eine Anzeige kriegen, zur Beerdigung kommen? Da bin ich überfragt, ich meine, da schalten wir Lulu ein. Die war bis vor zwei Jahren mit ihm verheiratet, wird Haupterbin sein, die wird das regeln. Tut sie bestimmt gern, ich ruf sie gleich an."
Lulu meldete sich sofort. „Lulu, sitzt du?" fragte Nora.
„Nein, ich sitze nicht, ich liege im Bett und habe eben ausführlich gefrühstückt."
„Im Bett?"
„Im Bett, Nora. Doch man raus mit der Sprache, was gibt’s?"
„Lulu, Adam ist tot. Heute Nacht im Schlaf einem Herzschlag erlegen." Erst war Ruhe am anderen Ende. Dann kam ein tiefer Seufzer, der in ein Schluchzen überging, Nora hörte noch, wie Lulu sagte, der liebe arme Adam. Dann brach die Verbindung ab. Etwas ratlos hob Nora das Handy hoch, unterbrochen, sie zuckte die Achseln.
„Hat sie deine Handy Nummer?" Doch Bernd verbesserte sich sofort. „Klar hat sie die, du hast sie angerufen."
Kurz danach dudelte es. „Lulu, ja ist schon gut. Ja, heute Morgen haben wir ihn gefunden, die Vicky, Bernd und ich. Was du tun kannst? Das mit der Verwandtschaft regeln, wer bekommt einen Totenbrief, wer nicht. Wer wird zum Caffee nach der Beisetzung eingeladen. Das gibt eine Riesenbeerdigung, Lulu."
„Das kann ich nicht von hier aus regeln, die Familienunterlagen sind in Adams Büro archiviert. Lange Rede, ich komme sofort, länger als drei Stunden brauche ich nicht bis Düsseldorf. Ich habe keinen Schlüssel, ich melde mich bei dir, Nora."
„Wunderbar, Lulu, alles weitere, wenn du hier bist."
„Na, das hat ja geklappt. Mit Lulu an der Spitze läuft es ab sofort wie am Schnürchen," freute sich Bernd. „In drei Stunden wird sie hier sein, also Kinder, der Schreck ist mir auf den Magen geschlagen, ich muss etwas essen, wie ist es mit euch?"
Vicky schüttelte den Kopf: „Ich habe noch was zu erledigen, sehe Lulu morgen im Büro. klinke mich aus."
„Sicher, Vicky," Bernd drückte sie, „schwirr ab.“
„Wir beide sind allein, schöne, hungrige Nora. Wonach gelüstet dich?"
„Nach was zwischen den Zähnen, was zum beißen und kauen, dass wir uns recht verstehen."
„Einen Vorschlag von mir gefällig?"
„Schieß los!"
„Maredo, ein Biffe de Lomo medium, dazu jede Menge Salat und scharfe Salsa."
„Einverstanden, Bernd. Allzu lange brauchen wir da nicht, taxiere so eineinhalb Stunden?"
„Keine Minute länger, Schönheit, wäre fatal, wer weiß, wann wir wieder so jung zusammenkommen."
„Lass uns eilen, Liebster, ich sehne mich schon nach dem jungen Zusammenkommen."
1817
Samstag Mittag auf Steinfeld. Nora hatte, wie könnte es anders sein, in der Bibliothek Posten bezogen, hielt Ausschau nach dem alten Karren vom Viehjud Libeskind und seinem Frosch.
Musste nicht lange schauen. Wie immer war erst der schwarze Punkt da, wurde größer, fast zu erkennen, verschwand in der Senke, kam wieder herauf, und war, kein Zweifel, Libeskind.
Nora ging runter in die Küche. „Moses im Anmarsch," signalisierte sie ihrer Mutter, "wo lässt du decken?"
„In der Bibliothek, Nora, meinst du nicht?"
„Wird eine Menge zu unterschreiben geben, ist Papas Kontor nicht besser geeignet? Kannst ja einen Kaffee, was zum Knabbern, Süßes oder Salziges, auf kleinen Tellerchen hinstellen. Nicht zuviel, die fressen ohne hinzusehen, und sind nachher satt."
„Schöne Meinung hast du, Tochter, von deinem Vater und seinen Geschäftsfreunden."
„Ach Mama, das weißt du doch selbst. Stellst du was hin bei einer ernsten Verhandlung, stopfen die sich voll, ohne es zu bemerken."
„Gut Kind, hast mich überzeugt, machen wir so. Nur gebe ich nicht Süßes und nichts Salziges, Saures gebe ich, Gürkchen in Dill, in Essig, Entenfleisch sauer, saure Fischchen. Macht die Hände fettig, stört beim Hantieren mit den Unterlagen, wird sie mäßigen.
Gib deinem Vater Bescheid, dass Moses gleich hier ist."
„Mache ich sofort, Mama, ich habe gesehen, unser Doktor ist eben von seiner Reise zurückgekommen. Mein Gott, der arme Mann ist staubgepudert. Bin in einem Zug von Königsberg bis hier durchgeritten, sagte er mir. Er mache sich frisch und bäte um Erlaubnis, sich zu uns gesellen zu dürfen."
„So förmlich, Nora?"
„Ich wiederhole, wie und was er gesagt hat. War in den letzten Wochen doch kaum hier, da setzt sich die Förmlichkeit wie Saubär fest."
„Wie was, Nora?"
„Wie Saubär, Mama! Du tust, als habest du noch nie vom Saubären gehört?"
„Nicht aus deinem Munde, Kind! Was Kutscher, Knechte und Mägde so sagen, das geht mir auf der einen Seite rein, auf der anderen raus. Ich war der Meinung, du hieltest es ebenso. Sollte ich mich getäuscht haben?"
„Hast dich nicht getäuscht, habe den Saubär nur zur Veranschaulichung eingeführt. Ein solches Tier klammert und hält sich ein, überall da, wo es nicht soll."
„Aha, mir das begreiflich zu machen, braucht es den Saubären?"
„Dachte ich, Mama."
„Überleg einmal, Nora, wie Bernd auf uns traf. Der kommt nichtsahnend aus dem fernen Westen hier an, und sieht sich augenblicklich mit einer schweren Causa konfrontiert! Ein Freund des Hauses ist schwerst verletzt. Sein Leben hängt ab von seiner Kunst. Er rettet den Freund. Daraufhin wird er unversehens, ohne dass er gefragt wurde, zu unserem Freund erklärt. Dein Vater küsst und umarmt ihn, wir duzen ihn, hüllen ihn ein in unseren Familiendunst, lassen ihn gar nicht ankommen, tragen ihn, wo wir ihn finden auf Händen.
Gewiss hat er uns das nicht übelgenommen, aber die Luft, die Atemluft, haben wir ihm ohne Zweifel, in nicht geringem Maße abgedrückt.
Er hat eine Menge zu tun, um sich in Lyck einzurichten. Wie ich gehört habe, sollten die Lycker für sämtliches zahlen. Das geht keinesfalls, woher sollen die das Geld nehmen. Bernd hat das mit Papa durchgesprochen, der hat einen entsprechenden Brief an Hilger geschrieben. Bernd hat Hilger in Königsberg aufgesucht. Ich gehe davon aus, er konnte das zugunsten der Lycker Stadtkasse regeln, anderenfalls hätt er er seine Stelle nicht angetreten.
Das bedeutet wiederum Arbeit. Es muss gebaut werden. Ein passendes Gebäude ist in ganz Lyck nicht zu finden. Alles baufällig oder Strohkaten. Bernd hat sich mit Libeskind und dem Bürgermeister zusammengesetzt, um seine Anliegen zu fördern. Mit Libeskind, weil, wenn er sich auf Lippe und dessen Jacob verläßt, er in zehn Jahren noch nicht ansässig ist."
„Wohl wahr, liebe Mama, nur warum erfahre ich von derlei Umtrieben rein gar nichts?"
„Weil du, liebe Tochter, nicht neben deinem Vater im Ehebett schläfst, wie ich, deine Mutter. Das wiederum hat zur Folge: Vorm Einschlafen berichten wir einander, was so an Gutem und weniger Gutem, auf uns eingedrungen, oder uns tangiert hat. Machen wir seit jeher, hält uns auf dem Laufenden."
„Jetzt verstehe ich, warum ihr in den meisten Dingen einer Meinung seid."
„Richtig, Nora. Nun lass uns eilen, Libeskind wird gleich hier sein."
Nicht lange danach wurde er gemeldet. Graf Kelm kam ihm auf der Treppe entgegen, nahm seinen Arm und sagte, während er ihn mit sich zog. „Moses, es ist nicht so, dass ich Euch je unterschätzt hätte. Aber das Stückchen mit Seegrund ist ein Meisterstück!“
„Gemach, gemach, lieber Graf," kicherte Libeskind, dem der Schalk und die Freude ob des Lobes und des Empfangs aus den Augen sprühte. „Macht Euch erst mit den Konditionen vertraut, bevor Ihr lobt."
„Mach ich sofort, Moses. Mascha hat uns kleine Häppchen gemacht und Kaffee, kommt mit ins Kontor. Wir machen uns beim Verhandeln eine gute Unterlage, dann lass ich Euch meinen Bordeaux schmecken, bin ganz enorm auf Euer Urteil gespannt."
„Graf Kelm, mit einem Bordeaux, wenn der für gut befunden werden soll, ist es umgekehrt wie mit Pferden und Frauen. Alter zählt, Reife, Aromen, Ausgewogenheit, anderes eben, als bei den Genannten."
„Bin ich Eurer Meinung. Da wären wir, setzt Euch Moses, ich bin ganz Ohr."
„Graf, die gnädige Frau wird Euch angerissen haben, was ich vorschlagen möchte?"
„Hat sie Libeskind, hat sie."
„Also fange ich ohne Vorrede an: Ich möchte Euch Seegrund für 30.000.- Taler inclusive Zinsen und Kosten verkaufen, abzahlbar in zehn Jahren, macht 3000.- pro Jahr.
Weiter möchte ich Euch sämtliches Vieh, Getreide und Mobilien, die auf Seegrund angeschafft werden, zu Konkurrenzpreisen liefern. Finanzieren möchte ich auf von Euch zu bestimmende Zeit zu 5% per anno, erst einmal auf zehn Jahre. Sollte der Zins sich nach zehn Jahren verändert haben, rauf oder runter, sprechen wir. Konkurrenzpreise soll heißen, ist ein anderer billiger als Libeskind, soll er liefern."
„Akzeptiert, Moses. Ihr habt sicher kalkuliert, was die Neuausstattung von Seegrund kosten wird?"
„Habe ich, auch Listen angefertigt, die ich Euch zur Verfügung stelle. Sämtliches detailliert aufgeführt. Hinter jedem Produkt einen breiten Spalt gelassen, für Anmerkungen und Änderungen. Alles mit Preisen, Herkunft, Maßen und Gewichten, so erforderlich.
Das Wichtigste! Sämtliches Angebotene lieferbar im Verlauf der nächsten 90 Tage.
Der Preis, wie ich schon ausführte, nicht fix, weil ist unmöglich, kaufst du nicht auf der Stelle, für Kühe, Pferde, Schweine und was sonst, einen Preis für in zwei Monaten zu bekommen."
„Ist mir klar, Moses, doch Ihr habt einen ungefähr Preis kalkuliert?"
„Ungefähr wird es zwischen 50 und 60.000.- kosten. Bitte zu bedenken, auf nicht festgelegte Zeit abzahlbar."
„Schon klar, Moses. Die Summe erschreckt, hört man sie. Andererseits, Seegrund wäre in drei Monaten voll betriebsfähig, brächte Geld ein."
„So seh ich es. Steinfeld ist ca. 20% kleiner als Seegrund und Ihr erzielt, Kosten bezahlt, zwischen 2.500.- und 4.000.- schlechtestens und bestens pro Jahr. Damit habt Ihr wunderbar gewirtschaftet auf Steinfeld, Ihr seid schuldenfrei. Uns beiden ist bekannt, wie das war, als Ihr übernahmt.
Wendet Ihr das auf Seegrund an, wird es sich wiederholen. Den Kaufpreis erwirtschaftet Ihr auf Steinfeld. Anstatt die Taler für ein Jahr, oder wie es passt, bei mir anzulegen, gehört Euch Seegrund jedes Jahr ein Stück mehr."
„Moses, Eure Hand, das wird so gemacht. Was mich noch interessiert, was ist aus Schaak geworden?"
„Graf Kelm, mit Verlaub gesagt, ich kenn ihn noch als Schulbub. Damals hat er mich, wenn ich Geschäfte mit seinem Vater hatte, die immer im Stall abgewickelt wurden, mit Rossäppeln beworfen, ohne dass der Alte ihn gescholten hätte. Ich hab mir meinen Teil gedacht, möchte mich jetzt bitte niemand ermahnen, Mitleid mit dem Schaak zu haben.
Seine Spiel-, Kleider- und Saufschulden beliefen sich auf 120.000.-Taler. Bei weitem nicht gedeckt durch den Verkauf von Seegrund. Mir war seit langem klar, was kommen würde, hab Verwandschaft in Berlin, die gebeten, Obacht zu geben. Als das Lügengebäude, vom reichen Baron Schaak, mit den sagenhaften Liegenschaften im Russischen, ins Rutschen kam, verhehle nicht, das mitbewirkt zu haben, war plötzlich Not am Mann.
Innerhalb von Stunden hockten sämtliche Gläubiger wie Geier, dem Schaak auf dem Tisch. Der hatte keinen roten Heller. Gefragt nach seinen Gütern, lachte der nur, fragte, woher sie das hätten? Jedenfalls hatte er dementsprechend Schriftliches nie von sich gegeben. Saßen auf ihren Wechseln die Herren, Jidden wie Gojim. Das war ein großes Schimpfen und Klagen. So nach einer Stunde war ich das leid, ließ von meinem kräftigen Ausrufer, den ich gemietet hatte, verkünden, ich gäbe einen zu ermittelnden Bruchteil für die Wechsel, wenn alles auf den Tisch käme. Bedingung, eine amtliche Verkündigung, jeder auf Schaak oder Seegrund gezogene Wechsel müsse binnen 30 Tagen vorgelegt werden, sonst verfiele der. Weiter stünden die, hier an Ort und Stelle vorgelegten Papiere zu meiner Verfügung, von jetzt in dreißig Tagen ohne Kaufverpflichtung für mich. Für meine Seriösität ständen die Bankiers Mendelsohn und Haberstroh gerade.
Das ging schnell. Ein Notar sichtete die Papiere, registrierte Summen und Fälligkeiten, bedankte sich für den Auftrag, und wir vertagten uns für 30Tage. Ich gab ihm noch die Order, eine Interims-Übertragungs-Urkunde auf Moses Libeskind auszufertigen, die Kosten übernähme ich auch, wenn das Geschäft nicht, wie beabsichtigt abgewickelt würde.
Der Schaak trat vor mich hin, beschimpfte mich auf das Unflätigste, bot mir Tritte und Backpfeifen an, beherrschte sich aber angesichts meines kräftigen Ausrufers, der ihm seinerseits einiges nicht Gesellschaftsfähiges zu hören gab."
„Herrlich, Moses. Eine Frage, was soll das mit der Interims-Übertragungs-Urkunde?"
„Graf Kelm, Schönheitspflästerchen. Der Notar hat schon auf Graf Claus von Kelm ausgefertigt. Im Grundbuch von Seegrund wird von der sechswöchigen Besitznahme des edlen Bodens, durch den Viehjud Libeskind nichts Geschriebenes zu finden sein."
„Ich weiß, Moses, Ihr denkt, Ihr hättet mir damit einen Gefallen getan? Ich gestehe, es stimmt. Gleichzeitig gestehe ich, dass ich mich schäme und bitte Euch um Vergebung. Meine Frau Mascha möchte ebenfalls um Vergebung einkommen."
„Schon gut, Graf. Nehmt es nicht schwer. Seht, wir verachteten Jidden sind nicht anders. Ihr glaubt nicht, mit was für einem unfassbaren Dünkel, viele der Unsrigen auf die Gojim herabsehen. Allesamt dumm wie Hundekot. Ist nicht zu ändern. Noch eine Anmerkung, die Interims-Übertragung musste sein. Woher wollt Ihr wissen, was irgendwann für Gesetze erlassen werden. Eines zum Beispiel könnte sich beziehen, auf ehemalig in jüdischem Besitz befindlichen Grund und Boden, der endschädigungslos der Krone verfalle. Hört sich unmöglich an, hat es schon gegeben. Legen wir das Thema ad acta, mich gelüstet nach Eurem Roten."
„Moses! Sagt nicht Roten, zu meinem Bordeaux. Mascha hat das, als sie vorgestern von Euch kam, auch schon getan und von Rotspon gesprochen. Hat mich in der Seele getroffen. Habe eine einzige Flasche von meinem Besten, Bestand derzeit diese hier nicht eingerechnet, 11 Flaschen, noch von meinem Vater angeschafft. Anno 69 abgefüllt!
Probiert ihn, seid bitte aufrichtig in Eurem Urteil. Manchmal fürchte ich, meine Ehrfurcht vor dem geschichtsträchtigen Tropfen, als er gekeltert wurde, lebte der alte Fritz noch, trübt mir das Urteil."
Libeskind schnüffelte tief in das Glas hinein. „Herrlicher Duft," murmelte er. Schwenkte den Wein im Glas, nahm noch einmal Duft auf und trank endlich. Kauend und schmatzend, drückte er den Wein zwischen Gaumen und Zunge vor und zurück, legte den Kopf in den Nacken, um endlich zu schlucken. Mit geschlossenen Augen bestimmte er: „Lafitte Gourigard, Premiere Cru, Mtre Francoise Bler. Jahrgang, sagtet Ihr schon, 69."
„Potztausend, Moses, Ihr seid ein Universalgenie! Gibt es ein Gebiet, auf dem Ihr nicht beschlagen seid?"
Nicht Libeskind antwortete, sondern klar und deutlich sagte jemand: „Viele, hi, hi!“
Moses machte ein Gesicht wie einer, dem ätzend Saures über die Zunge ging. Er sah zu Kelm hin und brummte: „Glaubte ich an das Geschwätz von Gevattern und Muhmen, Graf, würd drauf wetten, das war Klapaidas Stimme."
„Klapaida, unser Kräuterweib, Moses? Die weiß eine Menge von dem, was gesund macht, Mascha jedenfalls vertraut ihr ganz und gar. Ich habe es gehört: Viele, und ein hi, hi, danach. Wir überhören, schließlich wollen wir nicht zu den Hexenhüpfern gerechnet werden."
„Der Ewige möge mich schützen," flüsterte Moses.
Klapaida indes, wollte vom Wein. Aus der Flasche trinken, das frommt dem Tropfen nicht, sinnierte sie, also ein Glas muss her. Gilt die beiden abzulenken, dürfen nicht sehen, wie der Schrank sich wie von Geisterhand öffnet und schließt. Natürlich wusste sie Rat. Sie stellte sich so an den Schrank, dass öffnen, ein Glas greifen, die Tür wieder schließen in einer Bewegung geschehen konnte. Von draußen versuchte eine Katze sich durch das einen Spalt aufstehende Fenster zu quetschen. Kelm sprang auf, lärmte, die Katze zu erschrecken, Moses duckte sich, hatte das Tier nur gehört, nicht gesehen.
Klapaida öffnete seelenruhig den Schrank, nahm ein Glas aus der hinteren Reihe, schloß die Tür, setzte sich mit an den Tisch und goss sich ein.
Werd es trinken wie der Jid, lachte sie tonlos. Schnüffelte, schnüffelte nach, fühlte, wie ihr die Nase von innen erblühte. Ein Duft von Reben und Meer stieg in ihr in den Kopf, durchwirkt mit den Duftleibern von Kräutern und Gräsern. O Klapaida, alte Hexe, hast gepennt! Wieso erst jetzt? Die trinken unentwegt ihren Rotspon, warum nie probiert? Sie wusste es nicht. Wird noch manches geben, das ich nie gekostet, tröstete sie sich. Na und? Hab eben andere Vorlieben, freu mich auf Maschas Wolllust. Mach mir ein neues Bild, Tag für Tag. Manchmal ist es Bernd, manch mal bin‘s ich. Muss mir den Kelm nur ansehen, seine eckigen Knochen, als Liebhaber ein Scheiß! Kindermachen ja, ist nicht schwer, rein, raus, rein, raus, spritz, fertig, den Rest macht Mama.
Nicht mit mir, ich fühl, wie sie näher kriecht die Lust, mir die Füße, die Hände leckt. Sich ausbreitet, sich ausbeult zur strammen Stange, o Wonne. Warum brauche ich einen Vertreter? Warum? Angst, der steht nicht? Hab gern mein Kätzchen beschmusen und lieben lassen. Es jetzt mit nem Pimmel versuchen? Üben Klapaida, ja, sprech mir Mut zu. Werd üben gehen. Geh als Bock. Ziegen, Schafe, Ricken werd ich bespringen, bis ich fühl, dass es mich packt.
Noch ein Schlückchen, sensationell, formidabel schmeckt das und ist erst der Anfang, gauckelt und gauckelt, dreht mir das Hirn!
„Katzen, Graf, Katzen und Hexen gehen zusammen," Moses zog die Brauen hoch und nickte bekräftigend. „Steht viel in den alten Aufzeichnungen meiner Ahnen, von Hexen und Zauberern. Nicht, dass ich das alte, wirre Zeug ernst nähme, aber für meine Leut war es bitterster Ernst.
Damals hießen wir Ben’Mahuch, hebräischer Geschlechtername, den wir seit der Römerzeit tragen. Der wurde nicht wenigen aus der Familie zum Verhängnis. Die Inquisitoren behaupteten, sei der Name eines höllischen Erzzauberers. Unter der Folter haben die Ärmsten, dann die unsinnigsten und unflätigsten Dinge gestanden.
Hat ihnen nicht geholfen, entweder starben sie auf dem Scheiterhaufen oder verendeten im Folterkeller. Macht mir, was Hexe heißt, unheimlich, selbst wenn es sich um eine Kräuterfrau handelt, die anderen Menschen nur Gutes tut."
„Schreckliche Zeiten der Verblendung waren das, Moses. Hat nicht nur Juden getroffen. Soviel Juden gab es gar nicht, wie die heilige Kirche für Folter und Feuer brauchte. Vorbei, Gott sei Dank, für alle Zeiten vorbei!"
„Der Gerechte möge, Euer für alle Zeiten erhören, Graf Kelm!"
„Libeskind! Ich bitte Euch, wird es nie mehr geben, so etwas!"
„Glaub ja dran, muss dran glauben, aber glauben heißt nicht wissen."
„Nu Moses, Kopf hoch. Habt schlimme Zeiten überstehen müssen, ihr vom Stamme Mose. Aber ich bitte Euch, nicht nur zu glauben, sondern fest darauf zu vertrauen, diese Vergangenheit wird in Preußen niemals wieder Gegenwart werden."
„Graf, danke für die warmen Worte, werd mich befleißigen, mir täglich einsagen: Lebst in Preußen, Moses, in Preußen!"
„Darauf den letzten Schluck, mein Lieber. Im Salon wartet ein weiterer Bordeaux, nicht von diesem Alter, nicht von dieser Provenienz, nicht von dieser Knappheit, aber auch nicht von schlechten Eltern. Außerdem wird Mascha gleich das Abendessen auftragen lassen. Euch zu Ehren kosher!"
„Kosher? Wer kocht hier kosher? Wüsst keinen in Lyck, der das kann."
„Seid Ihr bereit, Euch überraschen zu lassen?"
„Sicher bin ich das, hätte auch unkosher gegessen. Geht es nicht anders, ist Juden erlaubt, vom Schwein zu kosten, wenn die Umstände es verlangen. Ihr kennt den Witz, Graf, wie ein frommer Jid um den Marktstand eines Händlers, der ihn gut kennt, herumstreift. Der Händler ist nicht da. Endlich kann er nicht länger warten, geht zu dessen Helferin, zeigt auf rohen Schinken und sagt: Von dem Gänsefleisch ein halbes Pfund. Das dumme Mädchen sieht ihn an und sagt: Gänsefleisch liegt dort bei Geflügel auf der anderen Seite, worauf Ihr zeigt, ist Schinken vom Schwein. Brauch nicht weiter zu erzählen, so ist das eben, wenn Zungengelüst und religiöse Vorschrift streiten."
„Heute gibt es keinen Streit, Moses, heute wird kosher gegessen. Vorspeise ist gefillte Fish, soviel habe ich schon erfahren. Was den Wein angeht, den wir beide hier ausgetrunken haben, bitte Stillschweigen. Wird nur zu absolut besonderen Gelegenheiten getrunken, quasi ein Ritual. Aber der Nächste wird Euch auch munden, bin gespannt, ob Ihr den bestimmen könnt."
Mascha und Nora saßen, nachdem in der Küche alles seinen Gang ging, im Salon und amüsierten sich über die Obermamsell, die der jüdischen Kosherköchin und deren Helferinnen, das Regiment hat überlassen müssen. Eingefädelt hatte das Ganze Nora, nachdem sie erfahren hatte, Libeskind käme am Samstag. Und da die Eltern ihm eine besondere Aufmerksamkeit für dne geleisteten Dienst erweisen wollten, machte sie den Vorschlag mit der kosheren Küche.
Aber wie, aber was. Bevor all dies aufs Tapet kam, hatte sie sich Vollmacht geben lassen, das Nachtmahl, so wie sie es sich vorstellte, zu richten. Gedacht, getan. Sie ließ ihr Pferd satteln, und bald sah man sie den Weg hinunter stieben. Ihr Ziel war Lyck, und dort Libeskinds Köchin, die am Samstag, sollte sie zu bewegen sein, ihren Chef kosher bekochen würde. Für den so Geehrten, sollte es eine Überraschung sein, das hieß, Nora durfte nicht in die Nähe des Libeskindschen Hauses kommen, was aber sein musste.
Unterwegs auf dem Weg ins Städtchen überlegte sie, wie diese Hürde zu bewältigen wäre, und kam auf Lippe und seinen Jacob. Bürgermeister Lippe war hocherfreut, der gnädigen Komtess behilflich sein zu können und fragte, was er für sie tun könne.
„Lippe," Nora trat dicht an den dicken Bürgermeister ran, wobei sie ganz ungewollt einen ihrer Stiefel mit der Reitpeitsche bearbeite. Den etwas indignierten Blick Lippes ignorierend, forderte sie „Lippe, schaff er mir die Köchin vom Libeskind her aufs Amt."
„Gnädige Komtess? Wie soll ich? Die dicke Gensfet verläßt nie das Haus, außer sie hat beim Schlachter zu observieren."
„Wann observiert sie beim Schlachter?"
„Ja," kam der Jacob hinzugehüpft, „der Schlachter Krinskeit ist mein Schwäher, der erzählt, die Gensfet überwacht, dass er kosher schlacht! Mit einem Schnitt den Hals durch und ausbluten lassen. Kein Knöchlein darf zu Bruch gehen. Heute Abend ist sie bei ihm, weil morgen ist Schabbes."
„Weiß er das sicher?" vergewisserte sich Nora.
Der Jacob darauf: „Sicher, sicher ist nur der Tod. Aber ihn fragen gehen könnt ich, ob die Gensfet heut kommt, Komtess."
„Lauf er los," und wie um ihm Beine zu machen, bearbeitete Nora wieder ihren Stiefel mit der Peitsche, und wieder guckte der Lippe mit scheelem Blick zu ihren Stiefeln runter.
„Fehlt ihm was, Bürgermeister, dass er so schräg an mir herabsieht?" Nora sah im direkt in die Augen.
Der Lippe wand sich, was ihm bei seinem Leibesumfang nur schwer gelingen wollte.
„Nein, nein, halten zu Gnaden, war nur so ein Blick, Komtess. Sieht unsereins nie, ein Frauenzimmer in Hosen."
„Nie sollt er nicht sagen, Lippe, denn eben jetzt sieht er eins. Bereitet es ihm Schmerz? Ungewöhnlich ist es, räume ich ein, aber beim Reiten ungemein komfortabel."
Lippe wackelte mit seinem roten Eberkopp, ob zustimmend oder ablehnend war schwer ersichtlich. Doch als Nora reiten und komfortabel gesagt hat, wäre er beinah an seiner Zunge erstickt, so japste er nach Luft.
Nora beachtete ihn nicht weiter, überlegte vielmehr fieberhaft, was der Gensfet erzählen, um sie auf ihre Seite zu ziehen und sicherzustellen, dass sie ihrem Wunsch nachkam, dazu noch schwieg. Jacob kam zurück über den Marktplatz gesaust, man konnt denken, gleich fliegen ihm die Schlappen von den Füßen.
„Komtess, Komtess," stieß er, nach Luft ringend, hervor, „die Gensfet ist beim Schwäher."
Nora überlegte einen Augenblick, dann bat sie Lippe, ihr Pferd zu versorgen und ließ sich vom Jacob zum Schlachter begleiten.
Unterwegs walkte sie den Gedanken weiter: Wie beweg ich die Gensfett nach Steinfeld? Zwingen kann ich sie nicht, brauche einen guten Grund, sie kooperativ zu machen. Mit dem Moses hat sie wenig zu tun, sicher mit Tochter Betseba und Frau Libeskind viel mehr. Kann ich die zum Köder machen? Jüdinnen, wußte sie, zeigen sich äußerst selten in der Öffentlichkeit, lehnen Kontakte zu Gojim gern mit Ausreden ab. Denen den Empfang auf Steinfeld als große Ehre zu verkaufen, vergebliche Liebesmüh. Muss mir was einfallen, bis ich vor ihr steh, muss einfach, da sind wir schon.
Der Schlachter, ein großer vierschrötiger Mensch mit einem freundliche Lächeln im Gesicht, öffnete. Ohne weitere Nachfrage zeigte er nach hinten und sagte „Die Gensfet sieht zu, wie ich schlachte, möchte dem gnädigen Fräulein grausen."
Nora roch das Blut, riss sich zusammen, nicht das erste Mal war sie beim Schlachten dabei. Die Gensfet, ganz in schwarz, stand hinter dem Stuhl, auf den Krinskeit sich, nach dem nächsten befiederten Hals angelnd, gesetzt hatte. Sie schaute Nora an, nickte einen spärlichen Gruß, wollte fortfahren, so konnte man ahnen, sich ausschließlich ihrem Geschäft zu widmen.
Nora fiel plötzlich ein, dass Moses der Mama anläßlich einer der letzten Musikstunden geklagt hatte, seine Köchin bekäme wegen eines riesigen Kropfes kaum noch Luft.
Offensichtlich hat er die Wahrheit gesprochen. Die Frau, die da stand und überwachte, wie Hühnern und Enten das Leben abgeschnitten wurde, hatte selbst die größte Not, lebendig zu bleiben. Nora fackelte nicht lange.
„Frau Gensfet, ich bin Nora Kelm von Steinfeld. Der Herr Libeskind hat meiner Mama von Ihrer Beschwer am Halse berichtet. Wir haben auf Steinfeld, wie sich herumgesprochen haben dürfte, den besten Doctor im Lande zu Gast. Dieser Doctor, von meiner Mama über Euch ins Bild gesetzt, möchte Euch gern sehen. Er meint, es müsse bald sein, keinesfalls dürfe bis zur Errichtung seiner Ordinationräume in Lyck gewartet werden, wenn das Leiden derart ist, wie von Herrn Libeskind beschrieben."
Frau Gensfet schien anfangs nicht richtig zugehört zu haben, möglich, sie wollte sich nicht von der unmöglichen Weibsperson, in Männerhosen und Stiefeln ansprechen lassen, Komtess hin oder her. Als ihr jedoch inne wurde, der Grund der Ansprache war ihr Leiden, und der Arzt, von dessen Kunst alle Welt voll war, interessierte ihr Kropf und warne vor weiterem auf die lange Bank schieben, wurde sie hellhörig.
Ohne den Schlachter und sein blutiges Tun aus den Augen zu lassen, rückte sie näher an Nora heran. Als sie sprach, war der sie quälende Luftmangel deutlich zu hören. Die Ärmste rang um jedes Wort .
„Fräulein Komtess," fragte sie, „Ihr sagtet, längeres Zuwarten sei schädlich. Wo aber will mich der Doctor kurieren?"
„Bei uns auf Steinfeld, Frau Gensfet. Vor kurzem erst ist Graf Wersten, vom Doctor in einer Notoperation gerettet worden, nicht nur sein Leben, auch sein Bein."
Frau Gensfet nickte. „Hab davon gehört," kam es pfeifend aus ihrem Hals, „wenn das wahr wär, Fräulein Komtess, nicht auszudenken ich könnt wieder leben wie andere Leut! Was ich gespart in langen Jahren, gäb ich hin."
Nora lachte. „Niemand, Frau Gensfet, will an Euer Erspartes. Wann seit Ihr hier fertig mit dem Schächten?"
„Wir sind durch," rief der Schlachter, „werde es noch heute zustellen, Frau Gensfet!"
„Gut Krinskeit, guten Tag und vielen Dank," pfiff sie wie auf dem letzten Loch und wandte sich Nora zu.
„Fräulein Komtess, setzen wir uns einen Augenblick in Krinskeits Stube, da sind wir ungestört. Was ich möcht wissen, was, wenn es kein Geld kostet, kostet es?"
„Euch," lachte Nora, „die Kosherköchin Gensfet, um für einen Tag auf Steinfeld, für ihren Chef Moses Libeskind, seine Leibspeise zu bereiten."
„Ich für den Moses? Aber die koch ich ihm doch alleweil zuhaus, wenn es ihn danach gelüstet?"
„Versteh schon, Frau Gensfet. Nur, eine Überraschung ist das nicht für ihn. Sitzt er jedoch beim Gojim zu Tisch, wär bereit aus Höflichkeit, die das Geschäft verlangt, Schwein und anderes in sich hineinstecken, und es gäb unerwartet Kosheres, wäre das eine Überraschung. Gut, er hat sich auf die fremden Speisen vorbereitet, weiß, was auf ihn zukommt, kann sogar lachen und plaudern. Doch tief in seinen Eingeweiden grollt das Unbehagen.
Stellt ihn Euch vor, Frau Gensfett, den Moses. Erwartet hat er Schweinebacke, serviert wird gefillte Fish. So geht das weiter, Gang für Gang. Was glaubt Ihr, wird er für ein Gefühl haben?"
„Ein geehrtes Gefühl wird er haben, der Moses. Ein hochgeehrtes Gefühl, Fräulein."
„Versteht Ihr, Frau Gensfet, was ich von Euch will?"
„Sicher Fräulein, ich soll auf Steinfeld am Tag nach Schabbes für Moses kochen."
„Falsch! Am Tag nach Schabbes für alle am Tisch kochen. Mama, Papa, mich, meine Schwester, zwei Brüder, den Doctor und die Hauptperson Moses. Acht Personen."
Plötzlich eine Stimme: „Neun! Neun Personen!“
Frau Gensfet schüttelte sich. „Das war Klapaida. Machen wir, alte Hexe,“ pfiff sie, „neun Personen!"
„Ihr kommt also?"
„Ja, ich komme. Geht bitte jetzt, Fräulein Komtess, hab allerlei mit dem Krinskeit zu besprechen, neun Personen also?"
„Es waren acht vorgesehen, Frau Gensfett, aber lassen wir es besser neun sein."
„Gut, Fräulein, niemand wird etwas erfahren, verlasst Euch auf mich. Auch dem Chef werd ich was zu erzählen wissen."
Eine Glocke wurde geläutet. Kelm stand auf. „Kommt, Moses, man wartet auf uns."
Im Speisezimmer war die kleine Tafel für neun Personen gedeckt. Mascha hatte ihr schönstes Meißen aufgelegt, dem Moses sollten so richtig die Augen übergehen. Krönung des Arrangements war ein fünfarmiger Porzellanleuchter, wie Moses Service aus Meißens Frühzeit, ihr von Tante Amalie zur Hochzeit geschenkt.
Moses, am Arm des Hausherrn, stutzte, blieb stehen, beugte sich vor, es war buchstäblich zu fühlen, wie sein Blick sich an den Details des Leuchters festsaugte.
Er richtete sich auf, sah seinen Gastgeber an: „Außerordentlich, absolut außerordentlich, eine Trouvaille!"
„Sagt das nicht mir, Moses, einem Banausen. Hinter Euch steht Mascha, die spitzt sich auf Euer Urteil."
Moses drehte sich um, sah auf zu Mascha: „Gräfin, mein Kompliment, unglaublich dieses Teil, ich wiederhole mich, ändere mein auf gelben Neid gebettetes Kompliment, gleich ein wenig ab: Formidable, einmalig!"
„Danke, Moses, das mit dem Neid kann ich nachempfinden, ging mir gerade so bei Eurem Mokka Service. Aber nun bitte,“ Mascha klatschte in die Hände, „alle hier?"
„Nein, Mama, Bernd fehlt,“ meldete Nora, kommt aber gleich. „Also wir anderen,“ die Mascha, „setzen uns bitte, es wird sogleich aufgetragen!"
Im letzten Moment huschte Bernd herein und nahm neben Nora Platz. „Hast du mich entschuldigt," fragte er. Nora nickte und fragte in einem: „Dein Befund?"
„Gleich Nora, nach der Tafel. Mascha und du, müßt mir assistieren. Ich habe Order gegeben, alles zu richten, also bitte keinen Wein, lass das bitte die Mama wissen."
Der erste Gang, Gefillte Fish, wurde serviert. Alle Augen waren auf Moses gerichtet, der ausgiebig den Duft einsog und dezent schmatzte, sich aber in keiner Weise herbei ließ, zu dem kosheren Mahl einen Kommentar zu geben.
Er lehnte sich vor, stocherte, so dass mehr Kochduft aufstieg, hielt seine Nase hinein und brummte: „Ein Düftle, oi ein feines Düftle.“ Dann griff er zu Messer und Gabel, legte sich eine Ecke zurecht und schob sie in den Mund. Zu ahnen war, wie er den Bissen mit der Zunge mengte, bevor er schluckte.
Er sah Kelm an und sagte: „Gleich soll ich die Herkunft des Roten erraten, den Ihr kredenzen werdet, ich mache mich erbötig, weiteres Derartiges herauszufinden."
„Was könntet Ihr meinen, mit weiterem Derartigem, Moses," wollte Mascha wissen.
„Gnädigste, ich gehe davon aus, es werden weitere Gänge folgen. Nach Verzehr, stehe ich Euch für Auskünfte zur Verfügung! Eins verrate ich jetzt schon, der Gefillte Fisch vom Feinsten!"
Als Nächstes gab es die goldene Joich, als Höhepunkt den Tscholent und zum Abschluß, alle waren schon gut satt, der Kugel. Nach der Kugel, lecker süßscharf mit Kartoffel und Apfel bereitet, wischte sich Moses ausgiebig den Mund mit der großen Serviette, in der sein kleines Gesicht beinah verschwand. „Also, was ich wie angekündigt zu sagen hätte, unter weiteres, liebe gnädige Frau, ist: Das koshere Mahl bei Euch genossen zu haben, war mir eine große Freude. Ich könnte sagen, war mir eine hohe Ehre, oder sonst so was. Nein, ich bedanke mich bei Euch und Eurem Herrn Gemahl mit meiner großen Freude.
Was nun das ‚weitere‘ angeht, möchte ich, der sonst nie wettet, dem Glücksspiel ein Gräuel ist, 100 Taler setzen und verlieren, wenn die Köchin der Köstlichkeiten nicht meine Gensfet war!"
Alle klatschten und riefen bravo, würden sicher ihre Hüte in die Luft geworfen haben, hätten sie welche aufgehabt. Als es wieder ruhiger wurde, räusperte sich Moses und meinte: „So, nun hab ich, was ich sagen konnte, gesagt. Nun möchte ich wissen, für wen war das neunte Gedeck dort bestimmt, das nicht angerührt wurde."
Bevor Antwort gegeben werden konnte sagte Klapaidas Stimme, für jeden verständlich, als ob sie vor dem nicht benutzten Gedeck säße: „Für mich, Moses, kennst mich doch?“
Moses erbleichte, stammelte aber geistesgegenwärtig: „Gewiß Klapaida, gewiß.“
Für einige Augenblicke wurde es ein wenig einsilbig am Tisch, bis Mascha aufstand, die Herren fragte, ob sie sich zu einer Havanna ins Büro zurückziehen wollten? Sie sagte das in einem Ton, der ihren Mann aufblicken ließ, doch ein Wink ihrer Augen genügte ihm, ihren Wunsch als Anweisung zu verstehen.
„Kommt Moses," Kelm zog ihn vorsichtig am Ärmel seines Rocks, „heute ist der Tag der Völlerei. Ich habe nicht nur erlesene Havannas, sondern auch einen superben Cognac."
„Und wie soll ich nach Haus kommen, Graf?" In Moses Miene stritten sich Zustimmung und Bedenken.
„Ach, lieber Moses Libeskind, einen solchen Abschluß macht Ihr nicht alle Tage, der muss, soll er gedeihen, begossen werden. Angst vor Eurer lieben Frau, habt Ihr, nehme ich an nicht?"
„Ach Graf, so etwas geduldiges wie die Meine finde ich nie mehr. Aber ich fühle mich etwas schnell von der Tafel abtransportiert. Keiner hat opponiert, als ich der Gensfets Kochkünste erkannte, nur zu sehen bekommen habe ich sie nicht? Klärt mich auf, wie das?"
„Moses, ohne Euch beunruhigen zu wollen, Eure Gensfet wird jetzt schon operiert. Bitte nehmt Platz, ich erzähl Euch die Geschichte, wie meine Tochter Nora die Frau Gensfet überhaupt bewegen konnte, bei uns zu kochen."
Als Kelm geendet hatte, reckte sich Moses ausgiebig.
„Schnurren einem die Muskeln ordentlich zusammen, bei so spannender Geschichte. Also Graf, ich rekapitulier noch einmal, muss das zuhaus ordentlich der Reihe nach erzählen können. Unser neuer Medicus hat sich den Kropf besehen und befunden: Sofortige Operation, weil es ihm unverständlich war, wie jemand mit einer solchen Schwellung noch aufrecht gehen, geschweige seinem Beruf nachgehen könne. Demnach hat die Gensfet ihm den Kropf gezeigt, als sie das Mahl hier gekocht hat?"
„So kann man das sehen, Moses. Die Frau Gensfet wird nach dem Eingriff die nächsten Tage hier auf Steinfeld bleiben müssen."
„In der Obhut vom Doctor, der Gnädigsten und Klapaida nehm ich an?"
„Sehe ich so, Moses. Weil Ihr den Namen nanntet, was sagt Ihr dazu, wie die Klapaida sich in Gespräche mischt, ohne dass man ihrer ansichtig wird?"
„Wenn ich ehrlich bin, Graf, es graust mich. Andererseits, das Gerücht geht, die Klapaida treibe seit hunderten von Jahren, ihr Wesen in unserer Gegend. Bös war sie noch zu Niemandem, hat mit ihren Tinkturen und Salben, manches Elend gelindert. Meine Frau glaubt an Hexen, so, als ob es Wesen seien wie wir. Von Furcht keine Spur, trifft sich öfter mit der Alten, um Rezepte für Heilkräuter und was es so gibt zu verhandeln. Ich leb einfach damit, scheint was dran zu sein an der Hexenkunst, kenne keinen, außer ihr, der zu mir je ohne Körper gesprochen hätte. Sicher wird sie unsichtbar, bei der Operation der Gensfet dabei sein. Ist beruhigend, wenn es Ernst werden sollte, hat die ihre Mittelchen.
Der Medicus, Graf, soll, wie ich munkeln hörte, auch ein Schwarzkünstler sein? Jedenfalls einen, der schneidet, ohne dass es schmerzt, hat es noch nie gegeben. Wenn er in die Gensfet schneidet, müßten wir sie schreien hören, hört Ihr was?"
„Nein, Moses, ich höre so wenig wie Ihr. Auf den Schreck nehmen wir noch einen Cognac.
Das mit dem Schwarzkünstler, glaube ich nicht so ganz. Ich habe ihn gefragt, als er Wersten das Bein gerettet hatte, wie er das ohne Geschrei, ja Gebrüll und vier Mann festhalten, gebracht hätte? Die Antwort war Chloroform. Kennt Ihr Chloroform, Moses? Ich seh es Euch an, kennt Ihr nicht. Der Doctor sagt, es käme aus England, da wäre es erstmals angewandt worden. Sei ein Segen für die Menschheit, die Menschen stürben nicht, wie bei Operationen ohne Chloroform, am Schmerzschock."
„Schmerzschock, Graf, kann ich mir vorstellen. Ist, wie wenn ein guter Kredit plötzlich mies wird. Der Schuldner falliert über Nacht, das ist ein Schock, der dem Schmerz nah kommt. Gibst mir noch ein Schlückchen von dem Cognac, Graf?"
„Aber sicher, mein Freund, ist noch halb voll die Flasche, da haben wir noch zu tun. Prost!"
„Prost Graf, guter Freund."
„Moses, ich habe da eine Frage, die Synagoge betreffend. Ihr geht dahin wie wir in den Gottesdienst gehen, richtig? Du nickst, also stimmt das. Dann betet ihr den Ewigen an, und bittet wie wir um Sündenvergebung?"
„Falsch, wir beten den Ewigen nicht an. Wir beten. Den Ewigen anzubeten wär Blasphemie. Auch bitten wir ihn nicht um Sündenvergebung, was hat der Ewige mit unseren Sünden zu tun?"
„Wenn ihr das nicht tut, was tut ihr dann?"
„Die Propheten auslegen, darüber diskutieren, was sie gemeint haben möchten? Reb Shula hat vor vierhundert Jahren ausgelegt nach links, der große Reb Ehlia, vor sechshundert Jahren, kleine Idee mehr nach rechts. Das diskutieren wir, oft bis zum Streit. Bis dann aus dem Talmund, mit der Auslegung eines dritten Reb, der vor siebenhundert Jahren im fernen Toledo gelebt, der Streit entschieden wird."
„Macht das Spaß, Moses? Sag einem alten Goij, ob das Spaß macht?"
„Spaß nein, nicht Spaß. Ist eher lehrreich, hilft das Hirn klären. Fusselst an einer Spitzfindigkeit eine Woche herum, kommst nicht weiter! Aber dann plötzlich ein Spältchen, ein Lichtchen, glaubst in solch einem Moment, die Welt läg dir zu Füßen."
„Also ertüfftelt ihr wieder und wieder, was andere schon durchgetüfftelt haben? Versteh, wie wenn du einen Bolzen feilst, der genau passen soll. Da feilst du und passt ein, feilst wieder, passt ein, bis er schließlich sitzt oder hast ihn verfeilt."
„Ja doch, Graf, genau so, feilen und passen, feilen und passen. Ob die Gensfet wohl schon fertig ist? Ich denk mir, der Doctor wird sie am Hals schneiden, gerade da, wo sie die Enten, Gänse, Hühner und all das, was wir gern auf dem Tisch haben, geschnitten hat, oder schneiden hat lassen. Ist möglich eine Rache von die Viecher, nein? Bin jeden Tag froh, auf zwei Beinen durch die Welt zu gehen, obwohl fällt mir ein, das nutzt dem Federvieh garnichts."
„Wohl wahr, Moses, komm, noch einen Kleinen, so jung sitzen wir nie mehr zusammen. Auf deine Frage, die Gensfet betreffend, ob die schon fertig ist, kann ich nur antworten: Wir dürfen hier nicht raus, bis Mascha, Nora oder der Doctor uns erlöst. Damit uns die Zeit nicht allzu lang wird, sieh alter Freund, die Flasche ist noch ein drittel voll vom herrlichsten Schnaps. Nicht dass du dich ängstigst, ich habe noch mehr von dem Zeug. Trink das nicht oft, ein, zweimal im Jahr ein Schlückchen. Mascha flößt es mir ein, wenn mich eine Erkältung gepackt hat. Läßt mich schwitzen, in Tücher gepackt, zugedeckt bis an die Ohren, und vorher heißes Wasser mit Schnaps. Meinst, es käm dein letztes Stündchen. Die Mascha lass ich bei der Prozedur nicht weg von meinem Bett. Wenn ich aushalte, soll sie mitleiden."
„Kenn ich Graf, geht mir eben so. Auch mich entmündigen die Weiber, hab ich mir den Pips geholt. Doch ich bin schlimmer dran. Es gibt keinen Schnaps, stattdessen grüne Brühe. Ein Sauzeug, reißt dir den Rachen auf, fährt es in dir runter. Im Magen unten, mein ich, quillt es. Quatsch wär mein Gejammere, Anstellerei, sollt eine Ruh geben, dass die Medizin anschlüg! Und wie die anschlägt! Komm vom Topf nicht mehr runter. Danach in den heißen Zuber, danach wieder Grausliches trinken, ins Bett, halb zu Tod schwitzen! Doch anderntags gesund, zum Bäume ausreißen gesund."
„Solltest der Mascha das Rezept geben. Nein lass, bloß nicht, darf nicht dran denken, wie mir geschehen könnt."
„Ach Graf, weißt du, die Mascha kennt das sicher. Kann nur von Klapaida sein. Sollt es was altes jiddsches sein, hat die Meine der Klapaida längst von der guten Wirkung berichtet, was heißt, deine kennt es."
So hockten sie zusammen, Kelm und Libeskind. Ihre Gespräche wurden von immer größeren Pausen unterbrochen. Mal rappelte sich der Eine zusammen, mal der Andere. Nuschelten ein paar Worte ohne Sinn und Verstand. Zeigten auf was, was da ging, flog oder rannte. Immer seltener störte ein flattriges Lebenszeichen, das friedliche Schnarchkonzert.
Klapaida
Der Doktor, Mascha, Nora und ich, waren währenddessen emsig bei der Sache.
Der Doctor hat der betäubt daliegenden, dicken Gensfet, den Hals von einer Seite zur anderen aufgeschnitten und die durchtrennten Adern mit Klemmen verschlossen. Jetzt untersuchte er die gewucherte Drüse. Ganz wegschneiden durft er die nicht, wurde noch gebraucht, verstand ich. Er schnitt hinein in den Sack als Blut kam, tupfte Nora das weg, und Mascha legte eine Klemme an, Bernd schnitt vorsichtig weiter. Endlich hatte er ein großes Stück vom Körper getrennt und legte es auf eine Schüssel. Kam kaum noch Blut. Er preßt die Drüse, die noch im Körper war, mit der Faust. Als es nicht blutet, schneidet er noch zwei gleich große Stücke raus.
Sieht sich an, was zurückbleiben würde, fingert daran herum: Scheint Drüsengewebe ohne Entartung zu sein, murmelte er. Gut. Jetzt meine Damen, binde ich die Adern ab, danach entfernt ihr die Klemmen. Sorgfältig achtgeben, dass nichts im Operationfeld zurückbleibt. Brächte der Frau Gensfet große Leiden und den Tod.
Keine halbe Stund dauerte es, und die dicke Gensfet war wieder zu. Deutlich war ihr normales Atmen zu hören, von Zischen und Prusten keine Spur.
Mascha sagte: Klapaida, mach du die Wundversorgung, hast zugesehen was gemacht worden ist, wirst am besten wissen was ihr hilft. Ich ließ mich nicht lange bitten, wurde Körper.
„Das, Mascha, hast du noch nie gemacht, mich im Unsichtbaren angesprochen?"
„Geb Ruhe, Klapaida, den ganzen Tag fuhrwerkst du schon im Haus herum, sprichst, willst mit uns essen, doch dann lässt uns sitzen," faucht die Mascha zurück.
„Ja, Recht hast. Bin ein altes Weib, hatte Magenbeschwerden, verzeih."
Der Doctor stand da, sperrte Mund und Nase auf. Den werd ich schnell, ebenso wie Nora, mit dem Balsam des Vergessens salben. War sofort erledigt, sprachen mit mir, als wär ich eben zur Tür reingekommen.
„Die Mascha," erklärte ich dem Doctor, „hat mich schon gestern gebeten zu kommen. Hab mich ein wenig verspätet, dafür einige wunderbare Salben und Tinkturen, für die innere Heilung, mitgebracht. Hab für den Herrn Doctor lateinisch auf Gläser und Phiolen geschrieben, was drin ist. So mag er lesen und beurteilen, ob es für die Gensfet zuträglich."
Bernd staunte, als er meine Beschriftungen las, woher mag sie die Linne’sche Nomenklatur haben, hört ich ihn denken. Vorsicht Klapaida, durchzuckte es mich, soweit die Medizin nach Linne’ zu klassifizieren, sind wir 1817 noch nicht. Jedenfalls nicht hier in Lyck, mag sich einbürgern an den führenden Universitäten, doch auf dem platten Land noch lange nicht. Könnt Bernd zu denken geben. Seine Instrumente, das Chloroform etc, bemerkt er nicht. Paßt nicht in die Zeit, doch fehlt ihm jeglicher Vergleich. Träfe er auf einen Bader oder Feldscher, Knochenbrecher oder Starstecher, akzeptierte er die nicht als Seinesgleichen, von da also keine Gefahr.
Doch ich muss aufpassen, erst einmal den Mantel des Vergessens über all meine Lieben breiten! Von Klapaida wird niemand der auf Steinfeld Anwesenden, seit Tagen gesehen oder gehört haben.
Alsdann den eitlen Tant auf den Phiolen löschen. Wolltest dich gerieren, dummes Weib!
Ist nicht zu glauben, wie Menschennähe abfärbt, nehme deren Manieren an, Rumpel, zeiht mich des dauernd.
Was soll’s? Ist meine Freud und bleibt meine Freud, wie lang gibt’s Steinfeld und Mascha noch? Ein Wimpernschlag und es ist vorbei, doch so lang gönn ich sie mir!
In zehn Tagen ist Walpurgisnacht, wird wieder ein endloses Lästern und Hänseln geben. Bin gespannt, wieviel Maschas, Noras und ich weiß nicht wer sonst, mich umgauckeln und umgirren werden. Wird derbe.
Ach was, seit es aufgestiegen aus dem Meer, dann wieder zerdrückt wurd von der Eisfaust, ist dies Klapaida-Land! Mein Wort Gesetz! Lass sie sich freuen an meiner Schwäche, solang keiner wagt, mich zu fordern, kostet es mich ein Lächeln.
Die Gensfet rührt sich. Mascha schläft fest, bewacht die Alte. Wird sicher wach bei der nächsten Regung, schlaf weiter Kind, lass mich machen. Nur locker aufgelegt der Verband, feinste Stiche die Wundränder entlang. Sauber, sauber. Was mich wundert, die Fäden, womit er die Adern verschlossen, hat er in der Wunde belassen? Werden sich auflösen, denk ich. Mascha wird ihn fragen, ob das so ist. Werde Heilendes und Tötendes auf den Schnitt pinseln.
Für das Lebendige und gegen das Mächtige, unsichtbar Allgegenwärtige. Ein paar Tropfen in die Ohren könnten guttun. Nur kann sie den Kopf nicht wenden, die Gensfet. Hi, hi da hilft Löwenzahnstengel, träufles dir ein, Alte, mit hohlen Stengeln, kannst liegenbleiben, brauchst dich nicht rühren. Der Atem aus ihrer Nase säuselt wie ein laues Lüftchen, die wird Spaß haben, war ihr recht schwer geworden zuletzt, das Leben.
Muss zurück in den Erlengrund, Rumpel wird sich sorgen. Sorgen oder ist es die Eifersucht, die ihn quält? Dummerjahn der, hockt seit Ewigkeiten auf seinem Ast, klappt mit den Augen, dem Schnabel, würgt Gewöll, ist glücklich, der größte und stärkste Uhu im Wald zu sein. Das gefiederte Weibsvolk hebt vor ihm den Schwanz, damit er, der Größte, sie bespringe. Tausende rufen ihn Vater, Großvater, Urahne, Onkel, Schwager und Vetter. Lebt ein fettes Leben, der Rumpel, kaum ruf ich ihn zum Dienst, liegt er mir in den Ohren, hält vor, warnt, malt unheilschwangere Bilder.
Doch kochen kann er, was ist gegen seine Künste die Kochkunst der Gensfet? Obermamsell’s Getue. Oh Rumpel, steht mir schon in der Nase, der Duft von Eichkaterl-Sud mit frischesten, einnächtigen Tannensprossen. Dafür verzeiht dir Klapaida all dein dösiges Geschwätz. Muss ich. Was weiß er schon? Wo war er je? Was geht um in ihm, was frag ich, liegt auf der Hand: Uhudamen und ihre bereiten Bürzel. Ratten, Mäuse, Eichkaterl und was sonst noch das Schlagen lohnt, nach lautlosem nächtlichem Flug, ganz Ohr mein Rumpel, zikzakt durch Äste und Zweige, nie stößt er an. Dann die Beute, ein spitzer gequälter Schrei, aus! Dolchfang im Leben.
Sei das Größte, singt er mir vor, der lautlos exacte Flug, nur von den Eulen beherrscht, doch ein Uhu ist fünfmal so groß, Klapaida! Er stöhnt es, und dann der blitzschnelle Zugriff. Denk dir, Maus oder Ratte kennen mich, erwarten mein Kommen, haben Ohren, Schnurrhaare, seismisch empfindlich. Dennoch, ich erwisch sie, stoße von weither durch tausend Hindernisse, punktgenau auf sie runter. Anders die Eichkaterln, die rennen und springen, drehen sich um den Baumstamm, da krieg ich die nicht. Muss sie belauern, dürfen nicht an mich denken, sitzen auf einem Ast, possierlich, wie sie die Zapfen beknabbern, possierlich und tödlich. Streif vorbei, blindlings, streck einen Fang aus, klapp zu, aus!
Ja, ja Rumpel, alter Mörder! Blutdurstig bist, schalt ich ihn, nervt er mich. Da sitzt der freche Kerl plötzlich auf meinem Tisch vor meiner Nase, knackt mit dem Schnabel, pliert mich an aus Augen, groß wie Margarittenblüten. Verschwinde, schrei ich, schon ist er wieder Rumpel, lacht rauf zu mir der Knirps, schiefmäulig, ich kraul ihm den Kopf. Na ja, so sind wir. #
Es hatte geschellt. Totstellen? Niemand zuhaus? Nora überlegte, sah Bernd an, der legte einen Finger auf die Lippen. Schellen lassen hieß das. Ach ja, bleib draußen, schnöde Welt. Nora kuschelte sich in den geliebten Arm. Wieder das Klingeln, diesmal hielt jemand den Finger auf den Knopf. Bernd wiegte den Kopf. „Sieh vorsichtig nach," flüsterte er. Nora schlich zum Guckloch, erschrack.
„Einen Augenblick, Vicky," rief sie durch die geschlossene Tür. Vicky nahm den Finger von der Klingel.
Bernd fuhr in die Hose, was will die Vicky? Fragte mehr sich, als Nora. Er öffnet die Tür. „Komm rein, Vicky, was ist los?"
„Entschuldigt bitte die Störung, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Habe mich gestern Nacht mit Adam zum späten Frühstück verabredet, ich sollte die Brötchen kaufen, alles andere habe er im Haus. Stehe nun seit zwanzig Minuten vor seiner Tür, halt den Finger auf die Klingel, nichts rührt sich."
„Holla, Vicky, hört sich merkwürdig an. Wir können durch die Garage in seine Wohnung, die Tür ist auf," greift Nora ein. „Ist äußerst merkwürdig, sieht Adam nicht ähnlich, eine solche Verabredung zu verschlafen."
„Also vorwärts," drängt Bernd. „Hast du deinen Koffer greifbar, Vicky?"
„Sicher, im Auto."
„Hole ihn, Schwester, mir schwant Böses."
„Komm zur Vordertür, Vicky, ich mache auf, nein warte, ich gebe dir meinen Schlüssel." Nora gab ihr den Schlüssel und führte Bernd in Adams Wohnung. Sie gingen durch die Wohnräume, keine Spur von Adam. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Nora blieb zurück. Bernd trat ins Zimmer, stand vor einem Bett, in dem Adam friedlich zu schlafen schien. Vicky kam mit dem Arztkoffer.
„Schon seinen Puls gefühlt, Bernd?"
„Nein, mach du." Vicky griff sich Adams Arm, nahm den Puls, suchte und schüttelte den Kopf.
„Kein Puls und kalt ist er. Adam Waldeck ist tot.“
„O Gott," Nora hatte das gesagt und sich schnell gesetzt.
Bernd überlegte nur eine Sekunde, bevor er befand, Notarzt brauchen wir nicht, aber die Polizei.
„Wo steht hier das Telefon, Nora?" Nora zeigte es ihm, er verständigte die Polizei, die in der nächsten Stunde kommen würde. Vicky untersuchte den Leichnam. „Ohne Obduktion," wandte sie sich an ihren Bruder, „ein Fall von klassischem Herzstillstand. Ich an deiner Stelle, Nora, würde auf Obduktion bestehen, es gibt ordentlich was zu erben. Solltest du zu den Erben gehören, vielleicht Haupterbin sein, ist eine einwandfrei geklärte Todesursache, bei plötzlichem Tod ohne Zeugen wichtig."
„Ich glaube, Vicky, nein, bin mir da ganz sicher," sagte Bernd, „die Polizei wird auf einer amtsärztlichen Untersuchung bestehen, mit oder ohne Nora."
So war das. Die Beamten kamen, Vicky und Bernd wiesen sich als Ärzte aus. Schnell war abgeklärt, was die drei anwesenden Personen mit Waldeck zu tun hatten, wie sie ins Haus gekommen waren. Der Leichnam wurde beschlagnahmt. Die Sache war, sollte sie sich bestätigen wie zu Protokoll gegeben, erledigt.
Zwei Stunden später war die Wohnung verwaist, wie Nora das nannte. Sie stand im Wohnzimmer, das durch ein, eine Wand ersetzendes Fenster, den Garten zum Teil des Raums machte. „Es ist wie immer, doch ohne Adam verwaist,“ schluchzte Nora. „Für mich jedenfalls, sicher auch für die Blumen, mit denen er täglich seine intimen Kontakte hatte.
Nora, hat er mir erklärt, ich weiß, dir geht es wie den meisten Menschen, du kannst es dir nicht vorstellen, aber glaube mir: Die Blumen teilen sich mir mit. Ist keine Spinnerei! Nach Feierabend, du kennst mich, mein erster Gang gilt meinen Pflanzen. Ich komme ins Gewächshaus, setze mich auf den kleinen Stuhl neben der Tür und lausche. Sitze da und lausche, sonst nichts. Manchmal weiß ich schnell, was zu tun ist, aber es kann dauern. Ich nehme mein Schüppchen oder das Kännchen, gieße oder grabe, häufle, suche Blätter nach Raupen und Käfern ab. Nicht systematisch, intuitiv. Manche Pflanzen berühre ich vier Wochen nicht, andere täglich. Dass die Art und Weise anschlägt, beweist mein Garten. Kaum Krankheiten und allenthalben gesunder Wuchs.
In der Weise, Nora, fuhr er fort, nähere ich mich auch meinen Kranken. Ich setze mich zu Ihnen, lasse sie reden, komme mit ihnen ins Gespräch. Vont Hölzken op et Stöcksken, wie es hier am Niederrhein heißt. Dabei erfahre ich von ihnen, ihrem Leben, Vorlieben und Abneigungen. Kostet Zeit, zu viel Zeit, kritisieren meine Kollegen. Was sie nicht begreifen, nacher spart es Zeit. Die Holzwege falscher Diagnosen, minimieren sich zum Wohle von Patient und Arzt."
„Nora, ich als seine Schülerin kann jedes Wort unterschreiben." Vicky wischte sich die Tränen weg, die, seit sie Adams kalte Hand in ihrer warmen gehalten, ununterbrochen liefen.
„Ich habe die Kollegen sich mockieren sehen, ihr Kopfschütteln registriert. Nur an Adam perlte das ab wie Wasser. Medizin, war seine stehende Redensart, ist Erfahrungswissenschaft. Soll es für uns Praktiker überhaupt Wissenschaft sein, dann Erfahrung als Wissenschaft. Von allem und jedem lernen, nichts übersehen, nie ans eigene Wissen glauben, immer in Frage stellen. Nur so sehe ich den Arzt, der vor sich bestehen kann.
Das Wunderbare, es hat den bescheidenen Adam stolz gemacht, er führte seit Jahren unsere Klinikstatistik an, was Aufwand und Erfolg anging.
Beinahe wäre es mir unterlaufen, in den allgemeinen Jargon zu fallen, von Fällen statt von Patienten zu reden. Hätte er es gehört, wäre er wahrscheinlich wutschnaubend vom Totenbett aufgesprungen. Wenn etwas ihn die Beherrschung kosten konnte, war‘s das Medizinerkauderwelsch mit seiner Tendenz, Menschen zu Sachen zu machen. Ich höre ihn noch schreien: Patient kommt vom lateinischen Geduld! Patienten sind Geduldige, nicht Geduldete! Sie sind geduldig mit uns, die wir an ihnen herumdoktern, schlimmenstenfalls pfuschen! Also bitte! Nähert euch den uns ihre Geduld Schenkenden, dankbar und freundlich. Vergeltet ihnen das in euch gesetzte Vertrauen, mit äußerster Sorgfalt."
Während Vicky erzählte, übermannte sie die Erinnerung, die Tränen flossen heftiger, bis plötzlich ein kleines Lächeln sich in ihre Augen schlich. „Einmal," fuhr sie fort, „gab es bei uns den Doktor Plöger, tüchtig aber dämlich. Weil dämlich, arrogant. Den überraschte der Chef bei der Visite, die er, weil Adam verhindert war, übernommen hatte. Plöger stand am Bett eines älteren Mannes, der eine schweren Beinverletzung ausheilte.
Na Alter, was macht das Bein? fragte er den Patienten. Der Mann schwieg. Plöger wedelte mit seinem Stetoskop vor seiner Nase. He, ich habe was gefragt? wiederholte er. Der Mann drehte sein Gesicht von ihm weg. Plöger daraufhin schneidend: Ich habe Sie etwas gefragt! Weiter kam er nicht. Plötzlich stand der Chef da, nahm das Krankenblatt vom Fußende des Bettes, las und sagte: Herr Kröger, sieht ja heute gut aus. Das Fieber seit zehn Stunden runter, wie steht es mit den Schmerzen?
Herr Kröger lächelte: Geht besser, Herr Professor, nur schwach bin ich. Ist mir, als wöge ich Zentner. Die Schmerzen sind noch da, aber längst nicht mehr so schlimm. Adam nahm seine Hand. Wird wieder werden, Herr Kröger. Vertrauen sie mir, in vier Wochen sind sie gesund.
Als wir auf den Flur kamen, ging Adam einige Schritte zur Seite und bat den Plöger zu sich. Was er sagte, konnten wir nicht hören, nur der Plöger tauchte nie wieder bei uns auf.
Hat sich jeder gemerkt, den Vorfall, und wie rigoros der freundliche, verbindliche Professor Waldeck durchgriff, wenn er glaubte es ginge nicht anders."
„Und jetzt ist er tot." Diesmal war es Nora, die die Fassung verlor. Vicky zog sie von ihrem Stuhl hoch und hin zu einer Couch, die mit Blick auf den Garten gestellt war. Sicher einer von Adams Lieblingsplätzen, vermutete sie. „Am besten gedenken wir seiner," tröstete sie Nora, wo wir ihm am nächsten sind. Zwar böte sich das Gewächshaus an, aber ich bin fest überzeugt, Adam würde protestieren: In der Stimmung nicht zu meinen Pflanzen, meidet das Gewächshaus!"
Bernd ließ die Damen allein, und machte einen Rundgang durchs Haus. Jetzt, wo es unbewohnt war, mussten Fenster, Dach und Kellerluken verschlossen werden, sollten sie offen stehen. Kühlschränke, Waschmaschine, alles inspizierte er, stellte Wasser und Strom ab, soweit nötig. Dann setzte er sich und machte eine Liste all der Ämter, Banken und Versicherungen, die zu unterrichten waren.
Übrig blieb das Bestattungsinstitut, und die Benachrichtigung all derjenigen, die Waldeck nahe gestanden oder verwandt waren. Da kam allerhand zusammen, Nora würde das nicht auf die Reihe bekommen. Da war Vicky gefragt, zusammen mit dem Sekretariat Prof. Waldeck. Ja, wußte er, so würde das gehen. Vicky würde das mit dem Sekretariat managen. Sie kannte den Apparat und würde, wenn ihr keine Knüppel zwischen die Beine geworfen würden, Waldecks Nachfolgerin werden.
Er stand auf, mal sehen, ob ich die beiden aus ihren traurigen Betrachtungen lösen kann. Werden sich mit Adam Waldecks sanftem Sterben trösten können.
Gespannt bin ich, von Vicky zu erfahren, ob Adam ihr einen Antrag gemacht hat. Bin aber überzeugt, sollte es so gewesen sein, behält sie das für sich. Also, Spannung abfahren, gibt nichts zu erfahren. Ich selbst empfinde keine Trauer über sein Ableben. Kannte ihn kaum persönlich, traf ihn über Vicky beim Ärzteball oder ähnlichem. Hat ein gutes Leben gehabt, der Adam Leberecht. Wie ging das weiter, Nora hatte all seine Vornamen aufgesagt. Jedenfalls war er ein Graf. Wird genau in der Todesanzeige aufgeführt werden. Lulu wird kommen und die holsteinischen Kelms? Was kümmert es mich, werde mit zur Beerdigung gehen, mich sonst schön im Hintergrund halten. Der Tag ist jedenfalls perdu.
Die Damen saßen noch auf der Couch, versuchten, Adam über den Garten näherzukommen. Nora hatte Vicky erzählt, einer von Adams größten Wünschen sei gewesen, als Pflanze wiedergeboren zu werden. Nur als Pflanze, war seine feste Überzeugung, ist ein Lebewesen im Stande, sich dem göttlichen Geheimnis zu nähern. Die Platzgebundenheit und die Kraft der Passivität, adeln die Seele. Wobei er sich sofort erklärend beisprang, Seele, Pflanzenseele, hat nicht im entferntesten mit dem zu tun, was Menschen unter Seele verstehen.
„Jetzt ist er, wer kann es wissen, vielleicht schon dabei zu keimen, auf dem Wege, Blume, Strauch oder Baum zu werden, nichts wünsche ich ihm mehr." schluchzte Nora ein letztes Mal, bevor sie entschlossen aufstand, Bernds Hand nahm und Vicky erklärte: „Die Einen gehen, die Anderen kommen. Seit stark zwölf Stunden sind wir ein Paar, Vicky. Erschrick nicht, ein Paar weil wir im Augenblick Tisch und Bett teilen."
„Dacht mir’s schon," lächelte Vicky. „Freue mich für euch. Als ich mit meiner Brötchentüte vor Adams verschlossener Tür stand, sich nichts rührte, habe ich Bernd angerufen. Da rührte sich auch nichts, also folgerte ich, irgendwo muss er schlafen. Du Nora, warst sowieso meine nächste Klingelstation, und siehe da, aus Vermutung wurde Tatsache."
„Also," ergriff Bernd wieder die Initiative, „wie geht es weiter?"
„Tun können wir erst Morgen etwas," antwortete Vicky.
„Schwester, ich habe eine Liste gemacht von all den Stationen, die abgearbeitet werden müssen. Dachte mir, Adams Sekretariat wäre die berufene Instanz, das zu erledigen?"
„Womit du richtig gedacht hast, Bruder, zeig mal her." Sie überflog die Aufzeichnungen, unterbrach, reichte eine Seite an Nora weiter. Die sah sich das an.
„Oha, die Kelms und all die aristokratische Michpoche, müssen die eine Anzeige kriegen, zur Beerdigung kommen? Da bin ich überfragt, ich meine, da schalten wir Lulu ein. Die war bis vor zwei Jahren mit ihm verheiratet, wird Haupterbin sein, die wird das regeln. Tut sie bestimmt gern, ich ruf sie gleich an."
Lulu meldete sich sofort. „Lulu, sitzt du?" fragte Nora.
„Nein, ich sitze nicht, ich liege im Bett und habe eben ausführlich gefrühstückt."
„Im Bett?"
„Im Bett, Nora. Doch man raus mit der Sprache, was gibt’s?"
„Lulu, Adam ist tot. Heute Nacht im Schlaf einem Herzschlag erlegen." Erst war Ruhe am anderen Ende. Dann kam ein tiefer Seufzer, der in ein Schluchzen überging, Nora hörte noch, wie Lulu sagte, der liebe arme Adam. Dann brach die Verbindung ab. Etwas ratlos hob Nora das Handy hoch, unterbrochen, sie zuckte die Achseln.
„Hat sie deine Handy Nummer?" Doch Bernd verbesserte sich sofort. „Klar hat sie die, du hast sie angerufen."
Kurz danach dudelte es. „Lulu, ja ist schon gut. Ja, heute Morgen haben wir ihn gefunden, die Vicky, Bernd und ich. Was du tun kannst? Das mit der Verwandtschaft regeln, wer bekommt einen Totenbrief, wer nicht. Wer wird zum Caffee nach der Beisetzung eingeladen. Das gibt eine Riesenbeerdigung, Lulu."
„Das kann ich nicht von hier aus regeln, die Familienunterlagen sind in Adams Büro archiviert. Lange Rede, ich komme sofort, länger als drei Stunden brauche ich nicht bis Düsseldorf. Ich habe keinen Schlüssel, ich melde mich bei dir, Nora."
„Wunderbar, Lulu, alles weitere, wenn du hier bist."
„Na, das hat ja geklappt. Mit Lulu an der Spitze läuft es ab sofort wie am Schnürchen," freute sich Bernd. „In drei Stunden wird sie hier sein, also Kinder, der Schreck ist mir auf den Magen geschlagen, ich muss etwas essen, wie ist es mit euch?"
Vicky schüttelte den Kopf: „Ich habe noch was zu erledigen, sehe Lulu morgen im Büro. klinke mich aus."
„Sicher, Vicky," Bernd drückte sie, „schwirr ab.“
„Wir beide sind allein, schöne, hungrige Nora. Wonach gelüstet dich?"
„Nach was zwischen den Zähnen, was zum beißen und kauen, dass wir uns recht verstehen."
„Einen Vorschlag von mir gefällig?"
„Schieß los!"
„Maredo, ein Biffe de Lomo medium, dazu jede Menge Salat und scharfe Salsa."
„Einverstanden, Bernd. Allzu lange brauchen wir da nicht, taxiere so eineinhalb Stunden?"
„Keine Minute länger, Schönheit, wäre fatal, wer weiß, wann wir wieder so jung zusammenkommen."
„Lass uns eilen, Liebster, ich sehne mich schon nach dem jungen Zusammenkommen."
1817
Samstag Mittag auf Steinfeld. Nora hatte, wie könnte es anders sein, in der Bibliothek Posten bezogen, hielt Ausschau nach dem alten Karren vom Viehjud Libeskind und seinem Frosch.
Musste nicht lange schauen. Wie immer war erst der schwarze Punkt da, wurde größer, fast zu erkennen, verschwand in der Senke, kam wieder herauf, und war, kein Zweifel, Libeskind.
Nora ging runter in die Küche. „Moses im Anmarsch," signalisierte sie ihrer Mutter, "wo lässt du decken?"
„In der Bibliothek, Nora, meinst du nicht?"
„Wird eine Menge zu unterschreiben geben, ist Papas Kontor nicht besser geeignet? Kannst ja einen Kaffee, was zum Knabbern, Süßes oder Salziges, auf kleinen Tellerchen hinstellen. Nicht zuviel, die fressen ohne hinzusehen, und sind nachher satt."
„Schöne Meinung hast du, Tochter, von deinem Vater und seinen Geschäftsfreunden."
„Ach Mama, das weißt du doch selbst. Stellst du was hin bei einer ernsten Verhandlung, stopfen die sich voll, ohne es zu bemerken."
„Gut Kind, hast mich überzeugt, machen wir so. Nur gebe ich nicht Süßes und nichts Salziges, Saures gebe ich, Gürkchen in Dill, in Essig, Entenfleisch sauer, saure Fischchen. Macht die Hände fettig, stört beim Hantieren mit den Unterlagen, wird sie mäßigen.
Gib deinem Vater Bescheid, dass Moses gleich hier ist."
„Mache ich sofort, Mama, ich habe gesehen, unser Doktor ist eben von seiner Reise zurückgekommen. Mein Gott, der arme Mann ist staubgepudert. Bin in einem Zug von Königsberg bis hier durchgeritten, sagte er mir. Er mache sich frisch und bäte um Erlaubnis, sich zu uns gesellen zu dürfen."
„So förmlich, Nora?"
„Ich wiederhole, wie und was er gesagt hat. War in den letzten Wochen doch kaum hier, da setzt sich die Förmlichkeit wie Saubär fest."
„Wie was, Nora?"
„Wie Saubär, Mama! Du tust, als habest du noch nie vom Saubären gehört?"
„Nicht aus deinem Munde, Kind! Was Kutscher, Knechte und Mägde so sagen, das geht mir auf der einen Seite rein, auf der anderen raus. Ich war der Meinung, du hieltest es ebenso. Sollte ich mich getäuscht haben?"
„Hast dich nicht getäuscht, habe den Saubär nur zur Veranschaulichung eingeführt. Ein solches Tier klammert und hält sich ein, überall da, wo es nicht soll."
„Aha, mir das begreiflich zu machen, braucht es den Saubären?"
„Dachte ich, Mama."
„Überleg einmal, Nora, wie Bernd auf uns traf. Der kommt nichtsahnend aus dem fernen Westen hier an, und sieht sich augenblicklich mit einer schweren Causa konfrontiert! Ein Freund des Hauses ist schwerst verletzt. Sein Leben hängt ab von seiner Kunst. Er rettet den Freund. Daraufhin wird er unversehens, ohne dass er gefragt wurde, zu unserem Freund erklärt. Dein Vater küsst und umarmt ihn, wir duzen ihn, hüllen ihn ein in unseren Familiendunst, lassen ihn gar nicht ankommen, tragen ihn, wo wir ihn finden auf Händen.
Gewiss hat er uns das nicht übelgenommen, aber die Luft, die Atemluft, haben wir ihm ohne Zweifel, in nicht geringem Maße abgedrückt.
Er hat eine Menge zu tun, um sich in Lyck einzurichten. Wie ich gehört habe, sollten die Lycker für sämtliches zahlen. Das geht keinesfalls, woher sollen die das Geld nehmen. Bernd hat das mit Papa durchgesprochen, der hat einen entsprechenden Brief an Hilger geschrieben. Bernd hat Hilger in Königsberg aufgesucht. Ich gehe davon aus, er konnte das zugunsten der Lycker Stadtkasse regeln, anderenfalls hätt er er seine Stelle nicht angetreten.
Das bedeutet wiederum Arbeit. Es muss gebaut werden. Ein passendes Gebäude ist in ganz Lyck nicht zu finden. Alles baufällig oder Strohkaten. Bernd hat sich mit Libeskind und dem Bürgermeister zusammengesetzt, um seine Anliegen zu fördern. Mit Libeskind, weil, wenn er sich auf Lippe und dessen Jacob verläßt, er in zehn Jahren noch nicht ansässig ist."
„Wohl wahr, liebe Mama, nur warum erfahre ich von derlei Umtrieben rein gar nichts?"
„Weil du, liebe Tochter, nicht neben deinem Vater im Ehebett schläfst, wie ich, deine Mutter. Das wiederum hat zur Folge: Vorm Einschlafen berichten wir einander, was so an Gutem und weniger Gutem, auf uns eingedrungen, oder uns tangiert hat. Machen wir seit jeher, hält uns auf dem Laufenden."
„Jetzt verstehe ich, warum ihr in den meisten Dingen einer Meinung seid."
„Richtig, Nora. Nun lass uns eilen, Libeskind wird gleich hier sein."
Nicht lange danach wurde er gemeldet. Graf Kelm kam ihm auf der Treppe entgegen, nahm seinen Arm und sagte, während er ihn mit sich zog. „Moses, es ist nicht so, dass ich Euch je unterschätzt hätte. Aber das Stückchen mit Seegrund ist ein Meisterstück!“
„Gemach, gemach, lieber Graf," kicherte Libeskind, dem der Schalk und die Freude ob des Lobes und des Empfangs aus den Augen sprühte. „Macht Euch erst mit den Konditionen vertraut, bevor Ihr lobt."
„Mach ich sofort, Moses. Mascha hat uns kleine Häppchen gemacht und Kaffee, kommt mit ins Kontor. Wir machen uns beim Verhandeln eine gute Unterlage, dann lass ich Euch meinen Bordeaux schmecken, bin ganz enorm auf Euer Urteil gespannt."
„Graf Kelm, mit einem Bordeaux, wenn der für gut befunden werden soll, ist es umgekehrt wie mit Pferden und Frauen. Alter zählt, Reife, Aromen, Ausgewogenheit, anderes eben, als bei den Genannten."
„Bin ich Eurer Meinung. Da wären wir, setzt Euch Moses, ich bin ganz Ohr."
„Graf, die gnädige Frau wird Euch angerissen haben, was ich vorschlagen möchte?"
„Hat sie Libeskind, hat sie."
„Also fange ich ohne Vorrede an: Ich möchte Euch Seegrund für 30.000.- Taler inclusive Zinsen und Kosten verkaufen, abzahlbar in zehn Jahren, macht 3000.- pro Jahr.
Weiter möchte ich Euch sämtliches Vieh, Getreide und Mobilien, die auf Seegrund angeschafft werden, zu Konkurrenzpreisen liefern. Finanzieren möchte ich auf von Euch zu bestimmende Zeit zu 5% per anno, erst einmal auf zehn Jahre. Sollte der Zins sich nach zehn Jahren verändert haben, rauf oder runter, sprechen wir. Konkurrenzpreise soll heißen, ist ein anderer billiger als Libeskind, soll er liefern."
„Akzeptiert, Moses. Ihr habt sicher kalkuliert, was die Neuausstattung von Seegrund kosten wird?"
„Habe ich, auch Listen angefertigt, die ich Euch zur Verfügung stelle. Sämtliches detailliert aufgeführt. Hinter jedem Produkt einen breiten Spalt gelassen, für Anmerkungen und Änderungen. Alles mit Preisen, Herkunft, Maßen und Gewichten, so erforderlich.
Das Wichtigste! Sämtliches Angebotene lieferbar im Verlauf der nächsten 90 Tage.
Der Preis, wie ich schon ausführte, nicht fix, weil ist unmöglich, kaufst du nicht auf der Stelle, für Kühe, Pferde, Schweine und was sonst, einen Preis für in zwei Monaten zu bekommen."
„Ist mir klar, Moses, doch Ihr habt einen ungefähr Preis kalkuliert?"
„Ungefähr wird es zwischen 50 und 60.000.- kosten. Bitte zu bedenken, auf nicht festgelegte Zeit abzahlbar."
„Schon klar, Moses. Die Summe erschreckt, hört man sie. Andererseits, Seegrund wäre in drei Monaten voll betriebsfähig, brächte Geld ein."
„So seh ich es. Steinfeld ist ca. 20% kleiner als Seegrund und Ihr erzielt, Kosten bezahlt, zwischen 2.500.- und 4.000.- schlechtestens und bestens pro Jahr. Damit habt Ihr wunderbar gewirtschaftet auf Steinfeld, Ihr seid schuldenfrei. Uns beiden ist bekannt, wie das war, als Ihr übernahmt.
Wendet Ihr das auf Seegrund an, wird es sich wiederholen. Den Kaufpreis erwirtschaftet Ihr auf Steinfeld. Anstatt die Taler für ein Jahr, oder wie es passt, bei mir anzulegen, gehört Euch Seegrund jedes Jahr ein Stück mehr."
„Moses, Eure Hand, das wird so gemacht. Was mich noch interessiert, was ist aus Schaak geworden?"
„Graf Kelm, mit Verlaub gesagt, ich kenn ihn noch als Schulbub. Damals hat er mich, wenn ich Geschäfte mit seinem Vater hatte, die immer im Stall abgewickelt wurden, mit Rossäppeln beworfen, ohne dass der Alte ihn gescholten hätte. Ich hab mir meinen Teil gedacht, möchte mich jetzt bitte niemand ermahnen, Mitleid mit dem Schaak zu haben.
Seine Spiel-, Kleider- und Saufschulden beliefen sich auf 120.000.-Taler. Bei weitem nicht gedeckt durch den Verkauf von Seegrund. Mir war seit langem klar, was kommen würde, hab Verwandschaft in Berlin, die gebeten, Obacht zu geben. Als das Lügengebäude, vom reichen Baron Schaak, mit den sagenhaften Liegenschaften im Russischen, ins Rutschen kam, verhehle nicht, das mitbewirkt zu haben, war plötzlich Not am Mann.
Innerhalb von Stunden hockten sämtliche Gläubiger wie Geier, dem Schaak auf dem Tisch. Der hatte keinen roten Heller. Gefragt nach seinen Gütern, lachte der nur, fragte, woher sie das hätten? Jedenfalls hatte er dementsprechend Schriftliches nie von sich gegeben. Saßen auf ihren Wechseln die Herren, Jidden wie Gojim. Das war ein großes Schimpfen und Klagen. So nach einer Stunde war ich das leid, ließ von meinem kräftigen Ausrufer, den ich gemietet hatte, verkünden, ich gäbe einen zu ermittelnden Bruchteil für die Wechsel, wenn alles auf den Tisch käme. Bedingung, eine amtliche Verkündigung, jeder auf Schaak oder Seegrund gezogene Wechsel müsse binnen 30 Tagen vorgelegt werden, sonst verfiele der. Weiter stünden die, hier an Ort und Stelle vorgelegten Papiere zu meiner Verfügung, von jetzt in dreißig Tagen ohne Kaufverpflichtung für mich. Für meine Seriösität ständen die Bankiers Mendelsohn und Haberstroh gerade.
Das ging schnell. Ein Notar sichtete die Papiere, registrierte Summen und Fälligkeiten, bedankte sich für den Auftrag, und wir vertagten uns für 30Tage. Ich gab ihm noch die Order, eine Interims-Übertragungs-Urkunde auf Moses Libeskind auszufertigen, die Kosten übernähme ich auch, wenn das Geschäft nicht, wie beabsichtigt abgewickelt würde.
Der Schaak trat vor mich hin, beschimpfte mich auf das Unflätigste, bot mir Tritte und Backpfeifen an, beherrschte sich aber angesichts meines kräftigen Ausrufers, der ihm seinerseits einiges nicht Gesellschaftsfähiges zu hören gab."
„Herrlich, Moses. Eine Frage, was soll das mit der Interims-Übertragungs-Urkunde?"
„Graf Kelm, Schönheitspflästerchen. Der Notar hat schon auf Graf Claus von Kelm ausgefertigt. Im Grundbuch von Seegrund wird von der sechswöchigen Besitznahme des edlen Bodens, durch den Viehjud Libeskind nichts Geschriebenes zu finden sein."
„Ich weiß, Moses, Ihr denkt, Ihr hättet mir damit einen Gefallen getan? Ich gestehe, es stimmt. Gleichzeitig gestehe ich, dass ich mich schäme und bitte Euch um Vergebung. Meine Frau Mascha möchte ebenfalls um Vergebung einkommen."
„Schon gut, Graf. Nehmt es nicht schwer. Seht, wir verachteten Jidden sind nicht anders. Ihr glaubt nicht, mit was für einem unfassbaren Dünkel, viele der Unsrigen auf die Gojim herabsehen. Allesamt dumm wie Hundekot. Ist nicht zu ändern. Noch eine Anmerkung, die Interims-Übertragung musste sein. Woher wollt Ihr wissen, was irgendwann für Gesetze erlassen werden. Eines zum Beispiel könnte sich beziehen, auf ehemalig in jüdischem Besitz befindlichen Grund und Boden, der endschädigungslos der Krone verfalle. Hört sich unmöglich an, hat es schon gegeben. Legen wir das Thema ad acta, mich gelüstet nach Eurem Roten."
„Moses! Sagt nicht Roten, zu meinem Bordeaux. Mascha hat das, als sie vorgestern von Euch kam, auch schon getan und von Rotspon gesprochen. Hat mich in der Seele getroffen. Habe eine einzige Flasche von meinem Besten, Bestand derzeit diese hier nicht eingerechnet, 11 Flaschen, noch von meinem Vater angeschafft. Anno 69 abgefüllt!
Probiert ihn, seid bitte aufrichtig in Eurem Urteil. Manchmal fürchte ich, meine Ehrfurcht vor dem geschichtsträchtigen Tropfen, als er gekeltert wurde, lebte der alte Fritz noch, trübt mir das Urteil."
Libeskind schnüffelte tief in das Glas hinein. „Herrlicher Duft," murmelte er. Schwenkte den Wein im Glas, nahm noch einmal Duft auf und trank endlich. Kauend und schmatzend, drückte er den Wein zwischen Gaumen und Zunge vor und zurück, legte den Kopf in den Nacken, um endlich zu schlucken. Mit geschlossenen Augen bestimmte er: „Lafitte Gourigard, Premiere Cru, Mtre Francoise Bler. Jahrgang, sagtet Ihr schon, 69."
„Potztausend, Moses, Ihr seid ein Universalgenie! Gibt es ein Gebiet, auf dem Ihr nicht beschlagen seid?"
Nicht Libeskind antwortete, sondern klar und deutlich sagte jemand: „Viele, hi, hi!“
Moses machte ein Gesicht wie einer, dem ätzend Saures über die Zunge ging. Er sah zu Kelm hin und brummte: „Glaubte ich an das Geschwätz von Gevattern und Muhmen, Graf, würd drauf wetten, das war Klapaidas Stimme."
„Klapaida, unser Kräuterweib, Moses? Die weiß eine Menge von dem, was gesund macht, Mascha jedenfalls vertraut ihr ganz und gar. Ich habe es gehört: Viele, und ein hi, hi, danach. Wir überhören, schließlich wollen wir nicht zu den Hexenhüpfern gerechnet werden."
„Der Ewige möge mich schützen," flüsterte Moses.
Klapaida indes, wollte vom Wein. Aus der Flasche trinken, das frommt dem Tropfen nicht, sinnierte sie, also ein Glas muss her. Gilt die beiden abzulenken, dürfen nicht sehen, wie der Schrank sich wie von Geisterhand öffnet und schließt. Natürlich wusste sie Rat. Sie stellte sich so an den Schrank, dass öffnen, ein Glas greifen, die Tür wieder schließen in einer Bewegung geschehen konnte. Von draußen versuchte eine Katze sich durch das einen Spalt aufstehende Fenster zu quetschen. Kelm sprang auf, lärmte, die Katze zu erschrecken, Moses duckte sich, hatte das Tier nur gehört, nicht gesehen.
Klapaida öffnete seelenruhig den Schrank, nahm ein Glas aus der hinteren Reihe, schloß die Tür, setzte sich mit an den Tisch und goss sich ein.
Werd es trinken wie der Jid, lachte sie tonlos. Schnüffelte, schnüffelte nach, fühlte, wie ihr die Nase von innen erblühte. Ein Duft von Reben und Meer stieg in ihr in den Kopf, durchwirkt mit den Duftleibern von Kräutern und Gräsern. O Klapaida, alte Hexe, hast gepennt! Wieso erst jetzt? Die trinken unentwegt ihren Rotspon, warum nie probiert? Sie wusste es nicht. Wird noch manches geben, das ich nie gekostet, tröstete sie sich. Na und? Hab eben andere Vorlieben, freu mich auf Maschas Wolllust. Mach mir ein neues Bild, Tag für Tag. Manchmal ist es Bernd, manch mal bin‘s ich. Muss mir den Kelm nur ansehen, seine eckigen Knochen, als Liebhaber ein Scheiß! Kindermachen ja, ist nicht schwer, rein, raus, rein, raus, spritz, fertig, den Rest macht Mama.
Nicht mit mir, ich fühl, wie sie näher kriecht die Lust, mir die Füße, die Hände leckt. Sich ausbreitet, sich ausbeult zur strammen Stange, o Wonne. Warum brauche ich einen Vertreter? Warum? Angst, der steht nicht? Hab gern mein Kätzchen beschmusen und lieben lassen. Es jetzt mit nem Pimmel versuchen? Üben Klapaida, ja, sprech mir Mut zu. Werd üben gehen. Geh als Bock. Ziegen, Schafe, Ricken werd ich bespringen, bis ich fühl, dass es mich packt.
Noch ein Schlückchen, sensationell, formidabel schmeckt das und ist erst der Anfang, gauckelt und gauckelt, dreht mir das Hirn!
„Katzen, Graf, Katzen und Hexen gehen zusammen," Moses zog die Brauen hoch und nickte bekräftigend. „Steht viel in den alten Aufzeichnungen meiner Ahnen, von Hexen und Zauberern. Nicht, dass ich das alte, wirre Zeug ernst nähme, aber für meine Leut war es bitterster Ernst.
Damals hießen wir Ben’Mahuch, hebräischer Geschlechtername, den wir seit der Römerzeit tragen. Der wurde nicht wenigen aus der Familie zum Verhängnis. Die Inquisitoren behaupteten, sei der Name eines höllischen Erzzauberers. Unter der Folter haben die Ärmsten, dann die unsinnigsten und unflätigsten Dinge gestanden.
Hat ihnen nicht geholfen, entweder starben sie auf dem Scheiterhaufen oder verendeten im Folterkeller. Macht mir, was Hexe heißt, unheimlich, selbst wenn es sich um eine Kräuterfrau handelt, die anderen Menschen nur Gutes tut."
„Schreckliche Zeiten der Verblendung waren das, Moses. Hat nicht nur Juden getroffen. Soviel Juden gab es gar nicht, wie die heilige Kirche für Folter und Feuer brauchte. Vorbei, Gott sei Dank, für alle Zeiten vorbei!"
„Der Gerechte möge, Euer für alle Zeiten erhören, Graf Kelm!"
„Libeskind! Ich bitte Euch, wird es nie mehr geben, so etwas!"
„Glaub ja dran, muss dran glauben, aber glauben heißt nicht wissen."
„Nu Moses, Kopf hoch. Habt schlimme Zeiten überstehen müssen, ihr vom Stamme Mose. Aber ich bitte Euch, nicht nur zu glauben, sondern fest darauf zu vertrauen, diese Vergangenheit wird in Preußen niemals wieder Gegenwart werden."
„Graf, danke für die warmen Worte, werd mich befleißigen, mir täglich einsagen: Lebst in Preußen, Moses, in Preußen!"
„Darauf den letzten Schluck, mein Lieber. Im Salon wartet ein weiterer Bordeaux, nicht von diesem Alter, nicht von dieser Provenienz, nicht von dieser Knappheit, aber auch nicht von schlechten Eltern. Außerdem wird Mascha gleich das Abendessen auftragen lassen. Euch zu Ehren kosher!"
„Kosher? Wer kocht hier kosher? Wüsst keinen in Lyck, der das kann."
„Seid Ihr bereit, Euch überraschen zu lassen?"
„Sicher bin ich das, hätte auch unkosher gegessen. Geht es nicht anders, ist Juden erlaubt, vom Schwein zu kosten, wenn die Umstände es verlangen. Ihr kennt den Witz, Graf, wie ein frommer Jid um den Marktstand eines Händlers, der ihn gut kennt, herumstreift. Der Händler ist nicht da. Endlich kann er nicht länger warten, geht zu dessen Helferin, zeigt auf rohen Schinken und sagt: Von dem Gänsefleisch ein halbes Pfund. Das dumme Mädchen sieht ihn an und sagt: Gänsefleisch liegt dort bei Geflügel auf der anderen Seite, worauf Ihr zeigt, ist Schinken vom Schwein. Brauch nicht weiter zu erzählen, so ist das eben, wenn Zungengelüst und religiöse Vorschrift streiten."
„Heute gibt es keinen Streit, Moses, heute wird kosher gegessen. Vorspeise ist gefillte Fish, soviel habe ich schon erfahren. Was den Wein angeht, den wir beide hier ausgetrunken haben, bitte Stillschweigen. Wird nur zu absolut besonderen Gelegenheiten getrunken, quasi ein Ritual. Aber der Nächste wird Euch auch munden, bin gespannt, ob Ihr den bestimmen könnt."
Mascha und Nora saßen, nachdem in der Küche alles seinen Gang ging, im Salon und amüsierten sich über die Obermamsell, die der jüdischen Kosherköchin und deren Helferinnen, das Regiment hat überlassen müssen. Eingefädelt hatte das Ganze Nora, nachdem sie erfahren hatte, Libeskind käme am Samstag. Und da die Eltern ihm eine besondere Aufmerksamkeit für dne geleisteten Dienst erweisen wollten, machte sie den Vorschlag mit der kosheren Küche.
Aber wie, aber was. Bevor all dies aufs Tapet kam, hatte sie sich Vollmacht geben lassen, das Nachtmahl, so wie sie es sich vorstellte, zu richten. Gedacht, getan. Sie ließ ihr Pferd satteln, und bald sah man sie den Weg hinunter stieben. Ihr Ziel war Lyck, und dort Libeskinds Köchin, die am Samstag, sollte sie zu bewegen sein, ihren Chef kosher bekochen würde. Für den so Geehrten, sollte es eine Überraschung sein, das hieß, Nora durfte nicht in die Nähe des Libeskindschen Hauses kommen, was aber sein musste.
Unterwegs auf dem Weg ins Städtchen überlegte sie, wie diese Hürde zu bewältigen wäre, und kam auf Lippe und seinen Jacob. Bürgermeister Lippe war hocherfreut, der gnädigen Komtess behilflich sein zu können und fragte, was er für sie tun könne.
„Lippe," Nora trat dicht an den dicken Bürgermeister ran, wobei sie ganz ungewollt einen ihrer Stiefel mit der Reitpeitsche bearbeite. Den etwas indignierten Blick Lippes ignorierend, forderte sie „Lippe, schaff er mir die Köchin vom Libeskind her aufs Amt."
„Gnädige Komtess? Wie soll ich? Die dicke Gensfet verläßt nie das Haus, außer sie hat beim Schlachter zu observieren."
„Wann observiert sie beim Schlachter?"
„Ja," kam der Jacob hinzugehüpft, „der Schlachter Krinskeit ist mein Schwäher, der erzählt, die Gensfet überwacht, dass er kosher schlacht! Mit einem Schnitt den Hals durch und ausbluten lassen. Kein Knöchlein darf zu Bruch gehen. Heute Abend ist sie bei ihm, weil morgen ist Schabbes."
„Weiß er das sicher?" vergewisserte sich Nora.
Der Jacob darauf: „Sicher, sicher ist nur der Tod. Aber ihn fragen gehen könnt ich, ob die Gensfet heut kommt, Komtess."
„Lauf er los," und wie um ihm Beine zu machen, bearbeitete Nora wieder ihren Stiefel mit der Peitsche, und wieder guckte der Lippe mit scheelem Blick zu ihren Stiefeln runter.
„Fehlt ihm was, Bürgermeister, dass er so schräg an mir herabsieht?" Nora sah im direkt in die Augen.
Der Lippe wand sich, was ihm bei seinem Leibesumfang nur schwer gelingen wollte.
„Nein, nein, halten zu Gnaden, war nur so ein Blick, Komtess. Sieht unsereins nie, ein Frauenzimmer in Hosen."
„Nie sollt er nicht sagen, Lippe, denn eben jetzt sieht er eins. Bereitet es ihm Schmerz? Ungewöhnlich ist es, räume ich ein, aber beim Reiten ungemein komfortabel."
Lippe wackelte mit seinem roten Eberkopp, ob zustimmend oder ablehnend war schwer ersichtlich. Doch als Nora reiten und komfortabel gesagt hat, wäre er beinah an seiner Zunge erstickt, so japste er nach Luft.
Nora beachtete ihn nicht weiter, überlegte vielmehr fieberhaft, was der Gensfet erzählen, um sie auf ihre Seite zu ziehen und sicherzustellen, dass sie ihrem Wunsch nachkam, dazu noch schwieg. Jacob kam zurück über den Marktplatz gesaust, man konnt denken, gleich fliegen ihm die Schlappen von den Füßen.
„Komtess, Komtess," stieß er, nach Luft ringend, hervor, „die Gensfet ist beim Schwäher."
Nora überlegte einen Augenblick, dann bat sie Lippe, ihr Pferd zu versorgen und ließ sich vom Jacob zum Schlachter begleiten.
Unterwegs walkte sie den Gedanken weiter: Wie beweg ich die Gensfett nach Steinfeld? Zwingen kann ich sie nicht, brauche einen guten Grund, sie kooperativ zu machen. Mit dem Moses hat sie wenig zu tun, sicher mit Tochter Betseba und Frau Libeskind viel mehr. Kann ich die zum Köder machen? Jüdinnen, wußte sie, zeigen sich äußerst selten in der Öffentlichkeit, lehnen Kontakte zu Gojim gern mit Ausreden ab. Denen den Empfang auf Steinfeld als große Ehre zu verkaufen, vergebliche Liebesmüh. Muss mir was einfallen, bis ich vor ihr steh, muss einfach, da sind wir schon.
Der Schlachter, ein großer vierschrötiger Mensch mit einem freundliche Lächeln im Gesicht, öffnete. Ohne weitere Nachfrage zeigte er nach hinten und sagte „Die Gensfet sieht zu, wie ich schlachte, möchte dem gnädigen Fräulein grausen."
Nora roch das Blut, riss sich zusammen, nicht das erste Mal war sie beim Schlachten dabei. Die Gensfet, ganz in schwarz, stand hinter dem Stuhl, auf den Krinskeit sich, nach dem nächsten befiederten Hals angelnd, gesetzt hatte. Sie schaute Nora an, nickte einen spärlichen Gruß, wollte fortfahren, so konnte man ahnen, sich ausschließlich ihrem Geschäft zu widmen.
Nora fiel plötzlich ein, dass Moses der Mama anläßlich einer der letzten Musikstunden geklagt hatte, seine Köchin bekäme wegen eines riesigen Kropfes kaum noch Luft.
Offensichtlich hat er die Wahrheit gesprochen. Die Frau, die da stand und überwachte, wie Hühnern und Enten das Leben abgeschnitten wurde, hatte selbst die größte Not, lebendig zu bleiben. Nora fackelte nicht lange.
„Frau Gensfet, ich bin Nora Kelm von Steinfeld. Der Herr Libeskind hat meiner Mama von Ihrer Beschwer am Halse berichtet. Wir haben auf Steinfeld, wie sich herumgesprochen haben dürfte, den besten Doctor im Lande zu Gast. Dieser Doctor, von meiner Mama über Euch ins Bild gesetzt, möchte Euch gern sehen. Er meint, es müsse bald sein, keinesfalls dürfe bis zur Errichtung seiner Ordinationräume in Lyck gewartet werden, wenn das Leiden derart ist, wie von Herrn Libeskind beschrieben."
Frau Gensfet schien anfangs nicht richtig zugehört zu haben, möglich, sie wollte sich nicht von der unmöglichen Weibsperson, in Männerhosen und Stiefeln ansprechen lassen, Komtess hin oder her. Als ihr jedoch inne wurde, der Grund der Ansprache war ihr Leiden, und der Arzt, von dessen Kunst alle Welt voll war, interessierte ihr Kropf und warne vor weiterem auf die lange Bank schieben, wurde sie hellhörig.
Ohne den Schlachter und sein blutiges Tun aus den Augen zu lassen, rückte sie näher an Nora heran. Als sie sprach, war der sie quälende Luftmangel deutlich zu hören. Die Ärmste rang um jedes Wort .
„Fräulein Komtess," fragte sie, „Ihr sagtet, längeres Zuwarten sei schädlich. Wo aber will mich der Doctor kurieren?"
„Bei uns auf Steinfeld, Frau Gensfet. Vor kurzem erst ist Graf Wersten, vom Doctor in einer Notoperation gerettet worden, nicht nur sein Leben, auch sein Bein."
Frau Gensfet nickte. „Hab davon gehört," kam es pfeifend aus ihrem Hals, „wenn das wahr wär, Fräulein Komtess, nicht auszudenken ich könnt wieder leben wie andere Leut! Was ich gespart in langen Jahren, gäb ich hin."
Nora lachte. „Niemand, Frau Gensfet, will an Euer Erspartes. Wann seit Ihr hier fertig mit dem Schächten?"
„Wir sind durch," rief der Schlachter, „werde es noch heute zustellen, Frau Gensfet!"
„Gut Krinskeit, guten Tag und vielen Dank," pfiff sie wie auf dem letzten Loch und wandte sich Nora zu.
„Fräulein Komtess, setzen wir uns einen Augenblick in Krinskeits Stube, da sind wir ungestört. Was ich möcht wissen, was, wenn es kein Geld kostet, kostet es?"
„Euch," lachte Nora, „die Kosherköchin Gensfet, um für einen Tag auf Steinfeld, für ihren Chef Moses Libeskind, seine Leibspeise zu bereiten."
„Ich für den Moses? Aber die koch ich ihm doch alleweil zuhaus, wenn es ihn danach gelüstet?"
„Versteh schon, Frau Gensfet. Nur, eine Überraschung ist das nicht für ihn. Sitzt er jedoch beim Gojim zu Tisch, wär bereit aus Höflichkeit, die das Geschäft verlangt, Schwein und anderes in sich hineinstecken, und es gäb unerwartet Kosheres, wäre das eine Überraschung. Gut, er hat sich auf die fremden Speisen vorbereitet, weiß, was auf ihn zukommt, kann sogar lachen und plaudern. Doch tief in seinen Eingeweiden grollt das Unbehagen.
Stellt ihn Euch vor, Frau Gensfett, den Moses. Erwartet hat er Schweinebacke, serviert wird gefillte Fish. So geht das weiter, Gang für Gang. Was glaubt Ihr, wird er für ein Gefühl haben?"
„Ein geehrtes Gefühl wird er haben, der Moses. Ein hochgeehrtes Gefühl, Fräulein."
„Versteht Ihr, Frau Gensfet, was ich von Euch will?"
„Sicher Fräulein, ich soll auf Steinfeld am Tag nach Schabbes für Moses kochen."
„Falsch! Am Tag nach Schabbes für alle am Tisch kochen. Mama, Papa, mich, meine Schwester, zwei Brüder, den Doctor und die Hauptperson Moses. Acht Personen."
Plötzlich eine Stimme: „Neun! Neun Personen!“
Frau Gensfet schüttelte sich. „Das war Klapaida. Machen wir, alte Hexe,“ pfiff sie, „neun Personen!"
„Ihr kommt also?"
„Ja, ich komme. Geht bitte jetzt, Fräulein Komtess, hab allerlei mit dem Krinskeit zu besprechen, neun Personen also?"
„Es waren acht vorgesehen, Frau Gensfett, aber lassen wir es besser neun sein."
„Gut, Fräulein, niemand wird etwas erfahren, verlasst Euch auf mich. Auch dem Chef werd ich was zu erzählen wissen."
Eine Glocke wurde geläutet. Kelm stand auf. „Kommt, Moses, man wartet auf uns."
Im Speisezimmer war die kleine Tafel für neun Personen gedeckt. Mascha hatte ihr schönstes Meißen aufgelegt, dem Moses sollten so richtig die Augen übergehen. Krönung des Arrangements war ein fünfarmiger Porzellanleuchter, wie Moses Service aus Meißens Frühzeit, ihr von Tante Amalie zur Hochzeit geschenkt.
Moses, am Arm des Hausherrn, stutzte, blieb stehen, beugte sich vor, es war buchstäblich zu fühlen, wie sein Blick sich an den Details des Leuchters festsaugte.
Er richtete sich auf, sah seinen Gastgeber an: „Außerordentlich, absolut außerordentlich, eine Trouvaille!"
„Sagt das nicht mir, Moses, einem Banausen. Hinter Euch steht Mascha, die spitzt sich auf Euer Urteil."
Moses drehte sich um, sah auf zu Mascha: „Gräfin, mein Kompliment, unglaublich dieses Teil, ich wiederhole mich, ändere mein auf gelben Neid gebettetes Kompliment, gleich ein wenig ab: Formidable, einmalig!"
„Danke, Moses, das mit dem Neid kann ich nachempfinden, ging mir gerade so bei Eurem Mokka Service. Aber nun bitte,“ Mascha klatschte in die Hände, „alle hier?"
„Nein, Mama, Bernd fehlt,“ meldete Nora, kommt aber gleich. „Also wir anderen,“ die Mascha, „setzen uns bitte, es wird sogleich aufgetragen!"
Im letzten Moment huschte Bernd herein und nahm neben Nora Platz. „Hast du mich entschuldigt," fragte er. Nora nickte und fragte in einem: „Dein Befund?"
„Gleich Nora, nach der Tafel. Mascha und du, müßt mir assistieren. Ich habe Order gegeben, alles zu richten, also bitte keinen Wein, lass das bitte die Mama wissen."
Der erste Gang, Gefillte Fish, wurde serviert. Alle Augen waren auf Moses gerichtet, der ausgiebig den Duft einsog und dezent schmatzte, sich aber in keiner Weise herbei ließ, zu dem kosheren Mahl einen Kommentar zu geben.
Er lehnte sich vor, stocherte, so dass mehr Kochduft aufstieg, hielt seine Nase hinein und brummte: „Ein Düftle, oi ein feines Düftle.“ Dann griff er zu Messer und Gabel, legte sich eine Ecke zurecht und schob sie in den Mund. Zu ahnen war, wie er den Bissen mit der Zunge mengte, bevor er schluckte.
Er sah Kelm an und sagte: „Gleich soll ich die Herkunft des Roten erraten, den Ihr kredenzen werdet, ich mache mich erbötig, weiteres Derartiges herauszufinden."
„Was könntet Ihr meinen, mit weiterem Derartigem, Moses," wollte Mascha wissen.
„Gnädigste, ich gehe davon aus, es werden weitere Gänge folgen. Nach Verzehr, stehe ich Euch für Auskünfte zur Verfügung! Eins verrate ich jetzt schon, der Gefillte Fisch vom Feinsten!"
Als Nächstes gab es die goldene Joich, als Höhepunkt den Tscholent und zum Abschluß, alle waren schon gut satt, der Kugel. Nach der Kugel, lecker süßscharf mit Kartoffel und Apfel bereitet, wischte sich Moses ausgiebig den Mund mit der großen Serviette, in der sein kleines Gesicht beinah verschwand. „Also, was ich wie angekündigt zu sagen hätte, unter weiteres, liebe gnädige Frau, ist: Das koshere Mahl bei Euch genossen zu haben, war mir eine große Freude. Ich könnte sagen, war mir eine hohe Ehre, oder sonst so was. Nein, ich bedanke mich bei Euch und Eurem Herrn Gemahl mit meiner großen Freude.
Was nun das ‚weitere‘ angeht, möchte ich, der sonst nie wettet, dem Glücksspiel ein Gräuel ist, 100 Taler setzen und verlieren, wenn die Köchin der Köstlichkeiten nicht meine Gensfet war!"
Alle klatschten und riefen bravo, würden sicher ihre Hüte in die Luft geworfen haben, hätten sie welche aufgehabt. Als es wieder ruhiger wurde, räusperte sich Moses und meinte: „So, nun hab ich, was ich sagen konnte, gesagt. Nun möchte ich wissen, für wen war das neunte Gedeck dort bestimmt, das nicht angerührt wurde."
Bevor Antwort gegeben werden konnte sagte Klapaidas Stimme, für jeden verständlich, als ob sie vor dem nicht benutzten Gedeck säße: „Für mich, Moses, kennst mich doch?“
Moses erbleichte, stammelte aber geistesgegenwärtig: „Gewiß Klapaida, gewiß.“
Für einige Augenblicke wurde es ein wenig einsilbig am Tisch, bis Mascha aufstand, die Herren fragte, ob sie sich zu einer Havanna ins Büro zurückziehen wollten? Sie sagte das in einem Ton, der ihren Mann aufblicken ließ, doch ein Wink ihrer Augen genügte ihm, ihren Wunsch als Anweisung zu verstehen.
„Kommt Moses," Kelm zog ihn vorsichtig am Ärmel seines Rocks, „heute ist der Tag der Völlerei. Ich habe nicht nur erlesene Havannas, sondern auch einen superben Cognac."
„Und wie soll ich nach Haus kommen, Graf?" In Moses Miene stritten sich Zustimmung und Bedenken.
„Ach, lieber Moses Libeskind, einen solchen Abschluß macht Ihr nicht alle Tage, der muss, soll er gedeihen, begossen werden. Angst vor Eurer lieben Frau, habt Ihr, nehme ich an nicht?"
„Ach Graf, so etwas geduldiges wie die Meine finde ich nie mehr. Aber ich fühle mich etwas schnell von der Tafel abtransportiert. Keiner hat opponiert, als ich der Gensfets Kochkünste erkannte, nur zu sehen bekommen habe ich sie nicht? Klärt mich auf, wie das?"
„Moses, ohne Euch beunruhigen zu wollen, Eure Gensfet wird jetzt schon operiert. Bitte nehmt Platz, ich erzähl Euch die Geschichte, wie meine Tochter Nora die Frau Gensfet überhaupt bewegen konnte, bei uns zu kochen."
Als Kelm geendet hatte, reckte sich Moses ausgiebig.
„Schnurren einem die Muskeln ordentlich zusammen, bei so spannender Geschichte. Also Graf, ich rekapitulier noch einmal, muss das zuhaus ordentlich der Reihe nach erzählen können. Unser neuer Medicus hat sich den Kropf besehen und befunden: Sofortige Operation, weil es ihm unverständlich war, wie jemand mit einer solchen Schwellung noch aufrecht gehen, geschweige seinem Beruf nachgehen könne. Demnach hat die Gensfet ihm den Kropf gezeigt, als sie das Mahl hier gekocht hat?"
„So kann man das sehen, Moses. Die Frau Gensfet wird nach dem Eingriff die nächsten Tage hier auf Steinfeld bleiben müssen."
„In der Obhut vom Doctor, der Gnädigsten und Klapaida nehm ich an?"
„Sehe ich so, Moses. Weil Ihr den Namen nanntet, was sagt Ihr dazu, wie die Klapaida sich in Gespräche mischt, ohne dass man ihrer ansichtig wird?"
„Wenn ich ehrlich bin, Graf, es graust mich. Andererseits, das Gerücht geht, die Klapaida treibe seit hunderten von Jahren, ihr Wesen in unserer Gegend. Bös war sie noch zu Niemandem, hat mit ihren Tinkturen und Salben, manches Elend gelindert. Meine Frau glaubt an Hexen, so, als ob es Wesen seien wie wir. Von Furcht keine Spur, trifft sich öfter mit der Alten, um Rezepte für Heilkräuter und was es so gibt zu verhandeln. Ich leb einfach damit, scheint was dran zu sein an der Hexenkunst, kenne keinen, außer ihr, der zu mir je ohne Körper gesprochen hätte. Sicher wird sie unsichtbar, bei der Operation der Gensfet dabei sein. Ist beruhigend, wenn es Ernst werden sollte, hat die ihre Mittelchen.
Der Medicus, Graf, soll, wie ich munkeln hörte, auch ein Schwarzkünstler sein? Jedenfalls einen, der schneidet, ohne dass es schmerzt, hat es noch nie gegeben. Wenn er in die Gensfet schneidet, müßten wir sie schreien hören, hört Ihr was?"
„Nein, Moses, ich höre so wenig wie Ihr. Auf den Schreck nehmen wir noch einen Cognac.
Das mit dem Schwarzkünstler, glaube ich nicht so ganz. Ich habe ihn gefragt, als er Wersten das Bein gerettet hatte, wie er das ohne Geschrei, ja Gebrüll und vier Mann festhalten, gebracht hätte? Die Antwort war Chloroform. Kennt Ihr Chloroform, Moses? Ich seh es Euch an, kennt Ihr nicht. Der Doctor sagt, es käme aus England, da wäre es erstmals angewandt worden. Sei ein Segen für die Menschheit, die Menschen stürben nicht, wie bei Operationen ohne Chloroform, am Schmerzschock."
„Schmerzschock, Graf, kann ich mir vorstellen. Ist, wie wenn ein guter Kredit plötzlich mies wird. Der Schuldner falliert über Nacht, das ist ein Schock, der dem Schmerz nah kommt. Gibst mir noch ein Schlückchen von dem Cognac, Graf?"
„Aber sicher, mein Freund, ist noch halb voll die Flasche, da haben wir noch zu tun. Prost!"
„Prost Graf, guter Freund."
„Moses, ich habe da eine Frage, die Synagoge betreffend. Ihr geht dahin wie wir in den Gottesdienst gehen, richtig? Du nickst, also stimmt das. Dann betet ihr den Ewigen an, und bittet wie wir um Sündenvergebung?"
„Falsch, wir beten den Ewigen nicht an. Wir beten. Den Ewigen anzubeten wär Blasphemie. Auch bitten wir ihn nicht um Sündenvergebung, was hat der Ewige mit unseren Sünden zu tun?"
„Wenn ihr das nicht tut, was tut ihr dann?"
„Die Propheten auslegen, darüber diskutieren, was sie gemeint haben möchten? Reb Shula hat vor vierhundert Jahren ausgelegt nach links, der große Reb Ehlia, vor sechshundert Jahren, kleine Idee mehr nach rechts. Das diskutieren wir, oft bis zum Streit. Bis dann aus dem Talmund, mit der Auslegung eines dritten Reb, der vor siebenhundert Jahren im fernen Toledo gelebt, der Streit entschieden wird."
„Macht das Spaß, Moses? Sag einem alten Goij, ob das Spaß macht?"
„Spaß nein, nicht Spaß. Ist eher lehrreich, hilft das Hirn klären. Fusselst an einer Spitzfindigkeit eine Woche herum, kommst nicht weiter! Aber dann plötzlich ein Spältchen, ein Lichtchen, glaubst in solch einem Moment, die Welt läg dir zu Füßen."
„Also ertüfftelt ihr wieder und wieder, was andere schon durchgetüfftelt haben? Versteh, wie wenn du einen Bolzen feilst, der genau passen soll. Da feilst du und passt ein, feilst wieder, passt ein, bis er schließlich sitzt oder hast ihn verfeilt."
„Ja doch, Graf, genau so, feilen und passen, feilen und passen. Ob die Gensfet wohl schon fertig ist? Ich denk mir, der Doctor wird sie am Hals schneiden, gerade da, wo sie die Enten, Gänse, Hühner und all das, was wir gern auf dem Tisch haben, geschnitten hat, oder schneiden hat lassen. Ist möglich eine Rache von die Viecher, nein? Bin jeden Tag froh, auf zwei Beinen durch die Welt zu gehen, obwohl fällt mir ein, das nutzt dem Federvieh garnichts."
„Wohl wahr, Moses, komm, noch einen Kleinen, so jung sitzen wir nie mehr zusammen. Auf deine Frage, die Gensfet betreffend, ob die schon fertig ist, kann ich nur antworten: Wir dürfen hier nicht raus, bis Mascha, Nora oder der Doctor uns erlöst. Damit uns die Zeit nicht allzu lang wird, sieh alter Freund, die Flasche ist noch ein drittel voll vom herrlichsten Schnaps. Nicht dass du dich ängstigst, ich habe noch mehr von dem Zeug. Trink das nicht oft, ein, zweimal im Jahr ein Schlückchen. Mascha flößt es mir ein, wenn mich eine Erkältung gepackt hat. Läßt mich schwitzen, in Tücher gepackt, zugedeckt bis an die Ohren, und vorher heißes Wasser mit Schnaps. Meinst, es käm dein letztes Stündchen. Die Mascha lass ich bei der Prozedur nicht weg von meinem Bett. Wenn ich aushalte, soll sie mitleiden."
„Kenn ich Graf, geht mir eben so. Auch mich entmündigen die Weiber, hab ich mir den Pips geholt. Doch ich bin schlimmer dran. Es gibt keinen Schnaps, stattdessen grüne Brühe. Ein Sauzeug, reißt dir den Rachen auf, fährt es in dir runter. Im Magen unten, mein ich, quillt es. Quatsch wär mein Gejammere, Anstellerei, sollt eine Ruh geben, dass die Medizin anschlüg! Und wie die anschlägt! Komm vom Topf nicht mehr runter. Danach in den heißen Zuber, danach wieder Grausliches trinken, ins Bett, halb zu Tod schwitzen! Doch anderntags gesund, zum Bäume ausreißen gesund."
„Solltest der Mascha das Rezept geben. Nein lass, bloß nicht, darf nicht dran denken, wie mir geschehen könnt."
„Ach Graf, weißt du, die Mascha kennt das sicher. Kann nur von Klapaida sein. Sollt es was altes jiddsches sein, hat die Meine der Klapaida längst von der guten Wirkung berichtet, was heißt, deine kennt es."
So hockten sie zusammen, Kelm und Libeskind. Ihre Gespräche wurden von immer größeren Pausen unterbrochen. Mal rappelte sich der Eine zusammen, mal der Andere. Nuschelten ein paar Worte ohne Sinn und Verstand. Zeigten auf was, was da ging, flog oder rannte. Immer seltener störte ein flattriges Lebenszeichen, das friedliche Schnarchkonzert.
Klapaida
Der Doktor, Mascha, Nora und ich, waren währenddessen emsig bei der Sache.
Der Doctor hat der betäubt daliegenden, dicken Gensfet, den Hals von einer Seite zur anderen aufgeschnitten und die durchtrennten Adern mit Klemmen verschlossen. Jetzt untersuchte er die gewucherte Drüse. Ganz wegschneiden durft er die nicht, wurde noch gebraucht, verstand ich. Er schnitt hinein in den Sack als Blut kam, tupfte Nora das weg, und Mascha legte eine Klemme an, Bernd schnitt vorsichtig weiter. Endlich hatte er ein großes Stück vom Körper getrennt und legte es auf eine Schüssel. Kam kaum noch Blut. Er preßt die Drüse, die noch im Körper war, mit der Faust. Als es nicht blutet, schneidet er noch zwei gleich große Stücke raus.
Sieht sich an, was zurückbleiben würde, fingert daran herum: Scheint Drüsengewebe ohne Entartung zu sein, murmelte er. Gut. Jetzt meine Damen, binde ich die Adern ab, danach entfernt ihr die Klemmen. Sorgfältig achtgeben, dass nichts im Operationfeld zurückbleibt. Brächte der Frau Gensfet große Leiden und den Tod.
Keine halbe Stund dauerte es, und die dicke Gensfet war wieder zu. Deutlich war ihr normales Atmen zu hören, von Zischen und Prusten keine Spur.
Mascha sagte: Klapaida, mach du die Wundversorgung, hast zugesehen was gemacht worden ist, wirst am besten wissen was ihr hilft. Ich ließ mich nicht lange bitten, wurde Körper.
„Das, Mascha, hast du noch nie gemacht, mich im Unsichtbaren angesprochen?"
„Geb Ruhe, Klapaida, den ganzen Tag fuhrwerkst du schon im Haus herum, sprichst, willst mit uns essen, doch dann lässt uns sitzen," faucht die Mascha zurück.
„Ja, Recht hast. Bin ein altes Weib, hatte Magenbeschwerden, verzeih."
Der Doctor stand da, sperrte Mund und Nase auf. Den werd ich schnell, ebenso wie Nora, mit dem Balsam des Vergessens salben. War sofort erledigt, sprachen mit mir, als wär ich eben zur Tür reingekommen.
„Die Mascha," erklärte ich dem Doctor, „hat mich schon gestern gebeten zu kommen. Hab mich ein wenig verspätet, dafür einige wunderbare Salben und Tinkturen, für die innere Heilung, mitgebracht. Hab für den Herrn Doctor lateinisch auf Gläser und Phiolen geschrieben, was drin ist. So mag er lesen und beurteilen, ob es für die Gensfet zuträglich."
Bernd staunte, als er meine Beschriftungen las, woher mag sie die Linne’sche Nomenklatur haben, hört ich ihn denken. Vorsicht Klapaida, durchzuckte es mich, soweit die Medizin nach Linne’ zu klassifizieren, sind wir 1817 noch nicht. Jedenfalls nicht hier in Lyck, mag sich einbürgern an den führenden Universitäten, doch auf dem platten Land noch lange nicht. Könnt Bernd zu denken geben. Seine Instrumente, das Chloroform etc, bemerkt er nicht. Paßt nicht in die Zeit, doch fehlt ihm jeglicher Vergleich. Träfe er auf einen Bader oder Feldscher, Knochenbrecher oder Starstecher, akzeptierte er die nicht als Seinesgleichen, von da also keine Gefahr.
Doch ich muss aufpassen, erst einmal den Mantel des Vergessens über all meine Lieben breiten! Von Klapaida wird niemand der auf Steinfeld Anwesenden, seit Tagen gesehen oder gehört haben.
Alsdann den eitlen Tant auf den Phiolen löschen. Wolltest dich gerieren, dummes Weib!
Ist nicht zu glauben, wie Menschennähe abfärbt, nehme deren Manieren an, Rumpel, zeiht mich des dauernd.
Was soll’s? Ist meine Freud und bleibt meine Freud, wie lang gibt’s Steinfeld und Mascha noch? Ein Wimpernschlag und es ist vorbei, doch so lang gönn ich sie mir!
In zehn Tagen ist Walpurgisnacht, wird wieder ein endloses Lästern und Hänseln geben. Bin gespannt, wieviel Maschas, Noras und ich weiß nicht wer sonst, mich umgauckeln und umgirren werden. Wird derbe.
Ach was, seit es aufgestiegen aus dem Meer, dann wieder zerdrückt wurd von der Eisfaust, ist dies Klapaida-Land! Mein Wort Gesetz! Lass sie sich freuen an meiner Schwäche, solang keiner wagt, mich zu fordern, kostet es mich ein Lächeln.
Die Gensfet rührt sich. Mascha schläft fest, bewacht die Alte. Wird sicher wach bei der nächsten Regung, schlaf weiter Kind, lass mich machen. Nur locker aufgelegt der Verband, feinste Stiche die Wundränder entlang. Sauber, sauber. Was mich wundert, die Fäden, womit er die Adern verschlossen, hat er in der Wunde belassen? Werden sich auflösen, denk ich. Mascha wird ihn fragen, ob das so ist. Werde Heilendes und Tötendes auf den Schnitt pinseln.
Für das Lebendige und gegen das Mächtige, unsichtbar Allgegenwärtige. Ein paar Tropfen in die Ohren könnten guttun. Nur kann sie den Kopf nicht wenden, die Gensfet. Hi, hi da hilft Löwenzahnstengel, träufles dir ein, Alte, mit hohlen Stengeln, kannst liegenbleiben, brauchst dich nicht rühren. Der Atem aus ihrer Nase säuselt wie ein laues Lüftchen, die wird Spaß haben, war ihr recht schwer geworden zuletzt, das Leben.
Muss zurück in den Erlengrund, Rumpel wird sich sorgen. Sorgen oder ist es die Eifersucht, die ihn quält? Dummerjahn der, hockt seit Ewigkeiten auf seinem Ast, klappt mit den Augen, dem Schnabel, würgt Gewöll, ist glücklich, der größte und stärkste Uhu im Wald zu sein. Das gefiederte Weibsvolk hebt vor ihm den Schwanz, damit er, der Größte, sie bespringe. Tausende rufen ihn Vater, Großvater, Urahne, Onkel, Schwager und Vetter. Lebt ein fettes Leben, der Rumpel, kaum ruf ich ihn zum Dienst, liegt er mir in den Ohren, hält vor, warnt, malt unheilschwangere Bilder.
Doch kochen kann er, was ist gegen seine Künste die Kochkunst der Gensfet? Obermamsell’s Getue. Oh Rumpel, steht mir schon in der Nase, der Duft von Eichkaterl-Sud mit frischesten, einnächtigen Tannensprossen. Dafür verzeiht dir Klapaida all dein dösiges Geschwätz. Muss ich. Was weiß er schon? Wo war er je? Was geht um in ihm, was frag ich, liegt auf der Hand: Uhudamen und ihre bereiten Bürzel. Ratten, Mäuse, Eichkaterl und was sonst noch das Schlagen lohnt, nach lautlosem nächtlichem Flug, ganz Ohr mein Rumpel, zikzakt durch Äste und Zweige, nie stößt er an. Dann die Beute, ein spitzer gequälter Schrei, aus! Dolchfang im Leben.
Sei das Größte, singt er mir vor, der lautlos exacte Flug, nur von den Eulen beherrscht, doch ein Uhu ist fünfmal so groß, Klapaida! Er stöhnt es, und dann der blitzschnelle Zugriff. Denk dir, Maus oder Ratte kennen mich, erwarten mein Kommen, haben Ohren, Schnurrhaare, seismisch empfindlich. Dennoch, ich erwisch sie, stoße von weither durch tausend Hindernisse, punktgenau auf sie runter. Anders die Eichkaterln, die rennen und springen, drehen sich um den Baumstamm, da krieg ich die nicht. Muss sie belauern, dürfen nicht an mich denken, sitzen auf einem Ast, possierlich, wie sie die Zapfen beknabbern, possierlich und tödlich. Streif vorbei, blindlings, streck einen Fang aus, klapp zu, aus!
Ja, ja Rumpel, alter Mörder! Blutdurstig bist, schalt ich ihn, nervt er mich. Da sitzt der freche Kerl plötzlich auf meinem Tisch vor meiner Nase, knackt mit dem Schnabel, pliert mich an aus Augen, groß wie Margarittenblüten. Verschwinde, schrei ich, schon ist er wieder Rumpel, lacht rauf zu mir der Knirps, schiefmäulig, ich kraul ihm den Kopf. Na ja, so sind wir. #