Unser Urlaub verzögerte sich um eine Woche. Wir haben Adams Asche am Donnerstag im Garten beigesetzt. Als die paar engen Freunde gegangen waren, haben Lulu und ich die Urne wieder ausgebuddelt, den Deckel abgehoben und Kastanien, Eicheln und Hände voll verschiedenster Sämereien unter die Asche gemischt. Lulu hatte in der schönsten Ecke des Gartens, zwei mal zwei Meter mit Hornspänen und natürlichem Dünger präpariert, Samen und Asche vermengt mit Erde, über die Fläche verteilt und untergerecht. Dann begruben wir die leere Urne wieder da, wo sie unter Zeugen beigesetzt worden war.
Lulu meinte, zum ersten Mal nicht mehr traurig, „der Adam hat uns zugesehen und sich diebisch gefreut. Heute Nacht erst ist mir siedendheiß eingefallen, hätten wir den Ärmsten in eine Urne eingesperrt, wie sollte er Blume, Strauch oder Baum werden? Ich sage so einfach, ist mir eingefallen, überlege ich es recht, könnte es Adam gewesen sein, der mich auf den Gedanken gebracht hat. Hat in Seelenkontakt mit seinen Pflanzen gelebt, warum nicht auch mit mir, war lange Jahre eine seiner Pflanzen. Hier verschattete sich ihre Miene, sie schluckte, so war das, presste sie heraus, ich war Teil seines Grünzeugs. Hauptgrund unserer Scheidung, konnte nicht nur, wenn auch geliebte Blume sein. Vorbei, aus und vorbei. Leb wohl Adam, werde ein glücklicher Baum.“ Dann war es mit Lulus Fassung vorbei, sie knickte ein und weinte bitterlich.
Ich brachte sie ins Haus und zu Bett. Gegen Abend, Bernd war noch nicht da, klopfte sie an die Wand. Ich ging hinüber und fand sie abreisefertig.
„Nora Liebes, ich bin weg,“ erklärte sie. „Hier fang ich mich nicht, überall ist Adam. Fritz Agelski wird sich um den Garten kümmern, habe ich dir das schon gesagt? Ich kann dem Adam nicht das Wasser reichen, schränkte Fritz seine Möglichkeiten ein, aber mir einen Überblick verschaffen, dann aus dem Kleinod etwas pflegeleichtes machen, trau ich mir zu, versicherte er.“ Lulu umarmte mich, zwei gehauchte Küsse, ich half ihr mit dem Gepäck und sie brummte ab.
Gleich würden wir am See sein. Die Flüge von Düsseldorf nach Warschau, von da mit einer kleinen Propellermaschine nach Lyck, klappten pünktlich und reibungslos. Jetzt saßen wir in einer zweispännigen Kutsche und wurden von Pan Rogowski, der gut deutsch sprach, kutschiert.
Das Wetter war einmalig. Wolkenlos der Himmel, die Luft bewegt genug um die Hitze in Schach zu halten. Dazu Hufgeklapper, Bernd an meiner Seite und das vier Wochen lang, Tag und Nacht, was mehr konnte ich mir wünschen? Die Fahrt durfte ewig dauern, träumte ich hoch hinauf in die blaue Luft. Die Szenerie ringsum war bestimmt von grün, mal durchzogen von Holunderduft, mal mit schwereren, an faulendes Holz und Moor gemahnenden Gerüchen beladen.
Bernd drückte meine Hand. „Sieh mal," sagte er. Ich folgte seinem Blick, vor uns lag der See. An seinem uns gegenüber liegenden Ufer, fünf spitzgieblige Häuschen, jedes mit einem weit ins Wasser hineinragenden Steg.
Unser Kutscher zügelte die Pferde. Als der Wagen stand, drehte er sich zu uns.
„Genau wie im Prospekt?“ fragte er. Wir nickten, die Häuser waren von da wo wir standen, fotografiert worden.
„Welches wollen Sie?"
„Sind alle noch frei?" fragte Bernd.
„Eine Familie reist nächsten Sonntag an, ein Ehepaar mit zwei Kindern. Ich würde raten, nehmen Sie die letzte Kate, da stört niemand das junge Glück," lachte Rogowski.
„Stimmt," lachte Bernd zurück, „nehmen wir die Letzte, da braucht niemand bei uns vorbei. Abgemacht."
„Schön, meine Herrschaften, darf ich Sie jetzt um ihre Papiere bitten? Bekommen Sie spätestens morgen zurück, ist leider noch nicht abgeschafft, die staatliche Schnüffelei," sagte Rogowski und genierte sich.
„Geht in Ordnung," nickte Bernd. „Aber bitte, zeigen Sie uns erst unsere Kate, ich möchte die aus der Nähe sehen."
Rogowski schnalzte mit der Zunge, die Gäule zogen an, doch nach fünfhundert Metern war Schluss, der befestigte Weg zu Ende. „Um das Gepäck müssen Sie sich nicht sorgen, das lass ich bringen, folgen Sie mir bitte den Fußweg am Wasser entlang." empfahl Rogowski in seinem etwas ruckeligem Deutsch, und ging vor.
Kam mir bekannt vor das Ganze, erinnerte mich stark an Rieseby. Ich drehte mich zu Bernd um, „so sieht es bei mir zuhause aus, richtig heimatlich hier."
„Was glauben Sie, wie Sie sich zuhaus fühlen, wenn Sie einen selbstgefangenen Hecht in der Pfanne haben," machte Rogowski auf die Möglichkeiten des Sees aufmerksam.
Achtung Nora, schoß es mir durch den Kopf! Selbstgefangen, selbst getötet, selbst ausgenommen, geschuppt, entgrätet? Nein!
„Herr Rogowski, das Hechtfangen möchte uns ja noch Freude machen, aber was dann getan werden muss, weniger," protestierte ich.
„Kann ich Abhilfe schaffen. Sie brauchen nichts selbst zu tun, weder fangen noch sonst was. Ein Heer dienstbarer Geister wartet auf Ihren kleinsten Fingerschnipp."
„Sehr gut hört sich das an, Pan Rogowski, werden wir gern in Anspruch nehmen,“ freute sich Bernd.
Die Kate war geräumig, zwei Zimmer mit großen Fenstern, Fliegendraht gesichert. Ein Riesenbett mit einem Berg von Plumeau. Der andere Raum, Tisch, gepolsterte Bank und Stühle. Eine Petroleumslampe, der Schirm bemalt mit See- und Fischmotiven. Ein modernes Clo und Dusche.
„Geht nichts ungeklärt in den See," beeilte sich Rogowski zu versichern. „Die Katen sind an ein modernes Dreikammersystem angeschlossen, das je nach Bedarf entleert wird."
Vor der Eingangstür ein geräumiger Sitzplatz, ganz eingekreist von Fliegendraht.
„Na, vor den Biestern scheint ihr ja mächtig Respekt zu haben, Rogowski," Bernd zeigte auf die Verdrahtung.
„Und ob, Herr Doktor, aber Sie werden nicht behelligt werden, so früh im Jahr. Zwei Monat später sieht das schon anders aus. Zur Mückenzeit, kommen kaum Gäste aus dem Westen. Da sind die Polen unter sich, die fluchen zwar auch, sind aber stoischer im Ertragen. Steht im Prospekt: Ab Juli, Schnacken. Jetzt ist die schönste Zeit, das Wasser angenehm kühl, die Tage nicht zu heiß, die Nächte hell und die Liebe jung. Besseres wünscht sich der Mensch nicht. Ich lass Sie allein, Gepäck kommt sofort. Haben Sie Wünsche wegen des Essens?"
„O ja, Herr Rogowski, gegen sechs, Hecht masurisch!"
„Gute Wahl, werden Sie glücklich mit werden."
„Also bis später. Halt, darf ich jetzt um Ihre Pässe bitten?"
Rogowski kassierte unsere Papiere und zog ab. Wir setzten uns. Rauh aber herzlich, Kate und Katenherr, stehen sich da in nichts nach. „Zufrieden, Nora?"
„Mit dir, Bernd, überall. Aber ohne Scherz, ich finde es originell. Komfort der Extraklasse habe ich nicht erwartet. Das hier ist was für Leute, die Natur dem raffiniertesten Komfort vorziehen. Nun mach nicht so ein Stadtgesicht, was verlangst du? Wir sind auf dem allerplattesten Land. Da haben die Leute erst Ende des Achtzehnten Jahrhunderts sprechen gelernt, sagt man bei uns in Rieseby. Dafür, meine ich, spricht der Rogowski ganz leidlich. Komm, wir stecken die Füße ins Wasser, bin gespannt, wie kalt das ist. Nein, runter mit den Klamotten und rein ins Feuchte, nur so kriegen wir das hier in den Griff."
Bernd sah sich um. „Stopp, Nora, da kommt unser Gepäck, mach die Jungs nicht mit deinem Nixenleib verrückt."
Die Koffer wurden schnell und fachmännisch auf ausziehbare Regale gewuchtet, die Jungs bekamen ihre Zlotys, und wir waren in den Ferien. Ich machte sofort weiter mit dem Auspellen, Bernd stand etwas abseits und sah mir zu. Warte, dachte ich, nichts gegen ein Einweihungsnümmerchen, aber erst will ich Reisestaub und Schweiß dem See schenken. Bevor Bernd nur Anstalten machen konnte, sich mir in eindeutiger Absicht zu nähern, nahm ich Anlauf und sprang mit einem kräftig gedrückten Hechtsprung ins Wasser. Es war verdammt kalt. Wie eine Schraubzwinge drückte es den Brustkorb zusammen, mit dem Schwung des Sprungs fuhr mein Kopf an die Oberfläche, erst einmal tief einatmen. Ich strampelte wie wild, schnappte zwei dreimal nach Luft und hatte mich im Griff.
Bernd stand am Rand der Plattform. „Kalt?" fragte er.
„Verdammt kalt, aber spring rein," lockte ich ihn. „Über die Leiter ist es noch unangenehmer. Ich empfinde die Temperatur schon als angenehm."
„Bist Frau," nölte er, „Frauen sind besser wärmeisoliert."
„Wenn wir uns aneinanderkuscheln, gegenseitig wärmen, hast nichts dagegen, dass ich Frau bin, oder?" neckte ich.
„Liegst richtig," und während er das sagte, segelte er schon durch die Luft und tauchte mit nicht allzuvielen Spritzern unter. Auftauchen tat er mit einem gewaltigen Schrei: „Du Luder," schrie er, „Eiswasser ist das, pures Eiswasser."
„Komm, kraulen wir zur Plattform, die schwimmt da irgenwo in der Mitte," spornte ich an, und ab gings. Einen Arm über den anderen gezogen, und fleißige Beinarbeit brachten mich schnell vorwärts. Ich drehte mich um und sah Bernd hinter mir mächtig aufholen. Gut so, Liebster, Schwimmen ist eine Disziplin, bei der es nicht nur um Kraft geht. Geschmeidig Nora, fließend werden, hört ich die Stimme meiner Sportlehrerin, wir wollten das Lyzeum aus Kiel besiegen. Ging daneben, aber Zweite sind wir geworden. Hätte Annegret bei der Staffel nicht gepatzt, wäre es unser Rennen gewesen.
Also zog ich gleichmäßig durch, nur keine falsche Welle erzeugen. Ich fühlte, wie das Wasser mich vorwärts schob, lag also goldrichtig. Das Schnauben hinter mir wurde leiser, ich guckte aber nicht, war völlig gefangen in Antrieb und Strömung, fühlte mich als Teil des Wassers.
Da, vor mir eine schwarze Silhouette, ich ließ auslaufen, die Plattform. Eine Holzleiter mit einem Seil, ich zog mich hoch auf die Planken. Fühlte mich wunderbar.
Bernd war etwa zehn Meter zurück, lag auf dem Wasser und rief zu mir herauf: „Herrlich, noch nie so weiches Wasser gefühlt, richtig glitschig ist das. Soll ich raufkommen oder kommst du runter?"
„Ich komme, Bernd," rief ich, und sprang ihm entgegen. Das Wasser war glasklar, ich hatte genug Luft, blieb unten und pirschte mich tauchend von hinten an ihn heran, griff mir sein Gemächt. An dem plötzlichen Schnackler erkannte ich, wie sehr ich ihn überrascht hatte. Also nix wie weg, zwei drei kräftige Züge, dann tauchte ich mindestens zehn Meter links neben ihm auf.
„Tauch mal, Bernd," rief ich scheinheilig zu ihm rüber, „du kannst meterweit sehen."
„Ja, Liebste, es ist umwerfend. Habe es mir überlegt, verzichte ab sofort gern auf gewohnte Bequemlichkeit, wichtig ist, wir sind zusammen. Komm näher, ich möchte dich umarmen."
Während er das sagte, arbeitete er sich, wie er hoffte, unbemerkt auf mich zu. Ich kalkulierte, ab fünf Meter konnte er mich schnappen, da war sein vor mir gestartetes Antriebsmoment gefährlich. Ich beobachtete ihn genau, sah, wie er mit abgewandtem Gesicht tief Luft holte und wegtauchte. Unter Wasser erkannte ich, wie er in einem wilden Wasserwirbel auf die Stelle zuschoß, an der ich eben noch gewesen. Er war nicht weiter als zwei Längen entfernt, aber ich sah ihn, er mich nicht. Also erneuter Zugriff, er sah sich wassertretend nach mir um, als ich wieder an ihm war. Diesmal kitzelte ich ihn nur leicht. Seine Hände fuhren herunter, haarscharf an meinen vorbei. Ich drehte mich auf den Rücken, setzte beide Füße auf seine Schultern und stieß mich kräftig ab. Das gab mir einen Vorsprung von drei vier Längen, den ich hielt, bis ich mich auf den Steg vor unserer Kate geschwungen hatte.
„Erster, erster," schrie ich und tanzte auf dem Steg herum. „Gib mir deine Hand, zieh mich hoch," bat Bernd. „Ist nicht, nein heute trau ich dir nicht, willst mich unsittlich berühren," schäckerte ich zu ihm runter und ließ meine Brüste hüpfen.
„Komm rein ins Haus, da darfst du dich rächen, wie und solange du willst." Ich ließ den Po kreisen und rannte frühzeitig genug weg.
Auf dem Steg erwischte er mich nicht, aber er war dich hinter mir, als ich durch die Tür fetzte und mich aufs Bett warf. Bernd packte mich, steckte seinen Kopf zwischen meine Beine und tupfte seine Zungenspitze über die empfindlichen Innenseiten meiner großen Lippen. Ich lag ganz still, klappte mich soweit als möglich auseinander, um ihm Raum für seine Spiele zu geben. Plötzlich ging ein Ruck durch meinen Leib, ich steilte mich hoch, drückte mein Kätzchen an diesen saugenden Mund, schrie, packte seinen Kopf, riss ihn fort von da, wo nur ungestillte Raserei entstand. Wir wurden ein Knäuel, und endlich war sie da, die fauchende Schlange, fuhr hinein in mich, schob und drückte, wurde größer, dicker, entlud ihren heißen Strahl genau dahin, wo sein Auftreffen einen weiteren, unerträglich wonnig sich dehnenden Orgasmus auslöste.
Ich lag da mit geschlossenen Augen. Erschöpft war ich, jedoch von einer bis dato nie erfahrenen süßen Erschöpfung, die, gab ich mich ihr hin, in Jubel umschlug. Jubel über das Glück, die Geborgenheit und das erfüllte Sehnen nach dem Anderen, der meine Sehnsucht mit seiner stillte.
Wie lange wir uns wachträumend in den Armen gelegen, wen interessierte das? Eine heftig geläutete Glocke holte uns in den Tag zurück. Rogowski stand am Steg vor der ersten Kate, und ließ die an einem Galgen befestigte Glocke tanzen. Er führte eine Hand zum Mund, rieb sich den Magen, versuchte zu erkennen, ob wir ihn verstanden.
Bernd ging zum Fenster, legte die Hände an den Mund und schrie: "Hunger!"
Augenblicklich verschwand Rogowski, kehrte jedoch sofort zurück, gefolgt von drei Frauen, die mit Schüsseln und Körben beladen waren.
„Unser Futter," drehte ich mich um zu Bernd, doch der war schon verschwunden, um in Hemd und Hose zu springen. Ich tat es ihm gleich, fuhr mir schnell durchs Haar, hörte schon das kling-klang aneinander stoßenden Porzellans näherkommen.
Rogowski stellte seine Frauen vor. „Töchter Maria und Sofia, Frau Sonja. Zubereitet haben wir: Hecht in Butter gebraten und Aal, gestern aus dem Rauch genommen. Dazu Kartoffeln, genügend übrige Bratensoße und eine Flasche mit selbst gebranntem Wodka.“
„Schwarz gebrannt, Rogowski?" fragte Bernd, der gab mit breitem Grinsen dergestalt Antwort, dass er auch für den Dorfpolizisten brenne, ob das noch Schwarzbrennerei sei?
Bernd überlegte einen Moment, wackelte dann verneinend mit dem Kopf. "Gutester," grinste er, „wo Obrigkeit mit von der Partie ist, beginnt die Legalität."
„Denke ich mir," nickte Rogowski und fuhr fort: „der Wodka macht durstig, bitte den Durst unbedenklich vom Kran stillen, unser Wasser ist das sauberste von ganz Polen, ich übertreib mal ein wenig, von ganz Europa! Nu esst schnell, damit nichts kalt werden möcht, und guten Appetit." Die vier drehten sich um, und verschwanden im Gänsemarsch über den schmalen Uferweg.
Bernd filetierte den Hecht fachgerecht, legte mir die schönsten Stücke vor, hieß mich probieren. Der Fisch schmeckte frisch und zart, ich hatte schon gefürchtet, er könne wegen seiner Größe alt und trocken sein, war aber nicht. Bernd meinte, der findet genug zu Räubern, da wächst er schnell und schnappt jung und zart nach dem Haken.
War ein köstliches Mahl, unser Hunger plötzlich groß. Ehe wir es recht wahrnahmen, war der große Fisch ratzekahl aufgefressen.
„Oh," Bernd patschte sich den Bauch, „der Bratenfond, aufgesaugt von den Kartoffeln, ist eine fettige Ladung, die könnt uns querstehen."
„Sagt das der Arzt?" fragte ich.
„Ja auch," antwortete er, „aber mehr noch die Erfahrung. Lass uns ein Schlückchen Wodka, zur Verdünnung darauf schütten. Danach sehen wir uns die Umgebung an, ordentlich Laufen, hilft der Verdauung auf die Beine."
Der Tag war noch jung, vor zehn würde es nicht dunkel werden. Bernd setzte die Flasche an den Hals, ließ sich ordentlich Schnaps durch die Gurgel laufen. Ein hervorragendes Wässerchen, lobte er. Ich war da vorsichtiger, goß mir einen Schluck in ein Wasserglas, steckte vorsichtig die Zunge rein. Brannte das Zeug, ach was, mit einem Ruck hinter damit.
Trieb mir die Tränen in die Augen. Bernd stand da und lachte, konnt sich garnicht fassen.
„Lach nur," fauchte ich, „ahnte nicht, mich mit einem Säufer eingelassen zu haben."
„Aber räumt doch auf," Bernd zog mich an sich, nahm mich um die Taille und schob eine Hand unter mein Shirt. „Hilft dem Bauch, ich fühle es."
„Du fühlst es, du tätschelst meine Brüste nicht meinen Bauch," stieß ich ihn zurück. Entscheide dich Mädchenfresser, Spaziergang oder Bett?"
„Bett, Liebste, ist aufregender, doch wir haben alle Bettzeit der Welt. Deshalb plädiere ich für den Spaziergang."
Wir versuchten, von den Katen weg um den See zu kommen, aber nach einer halben Stunde ging es nicht weiter, der schmale Pfad endete in Dickicht und Sumpf. „Sieh, Nora," Bernd zeigte auf einen Nachen, der halb im Schilf verborgen lag.
„Den nehmen wir und staken damit zurück," schlug er vor.
Ich hatte Bedenken, „Der gehört sicher jemanden?"
„Gehören schon," stimmte Bernd zu, „ich nehme aber an, jeder, der einen Kahn braucht, nimmt sich einen. Zur Not bringen wir den zurück. Komm, steig ein, ich fahre uns zu Rogowski."
„Zu Rogowski? Wie willst du den finden?"
„Habe ihn schon gefunden, Liebes, komm steig ein, erlebe männliche Überlegenheit."
Tatsächlich, nach einer guten halben Stunde rudern und staken, erreichten wir das Ufer den Ferienhäusern gegenüber. Bernd half mir aus dem schwankenden Nachen, machte den mit einem Strick, der am Boden lag an einem Pfahl fest und fragte die Kinder, die sofort, als sie unsere Landung bemerkt hatten, von überall herkamen, nach Rogowski.
„Driben, driben dorten," sagte ein Mädchen mit strickgeraden, blonden Zöpfen auf Deutsch. Wir liefen hinter der Corona her, die uns den Weg zeigte.
Rogowski kam uns entgegen, hatte keinerlei Bedenken wegen des Bootes. Ist, wie der Doktor sagt, bestätigte er, brauchst du ein Boot, nimmst du es dir.
Wir erzählten ihm, wie wir uns festgelaufen hatten, und fragten nach einer örtlichen Karte oder ähnlichem. „Örtliche Karte ist nicht," bedauerte er, „aber einen Moment mal, ich habe da etwas herausgefunden. Kommen Sie doch bitte mit mir ins Haus."
Sein Haus glich aufs Haar unserer Kate, nur war es mit Bildchen, Deckchen, einer Nähmaschine und all den Sachen, die Menschen beim Wohnen um sich versammeln, bevölkert.
„Bitte Platz zu nehmen," bot Rogowski etwas steif an, bevor er zur Sache kam.
„Bevor ich Ihre Pässe eingesammelt hatte, wusste ich, dass Sie Frau Kelm waren und Sie Doktor Bern, mehr brauchte es nicht, Sie vom Flugzeug abzuholen. Jetzt eben setze ich mich, Ihre Daten in die Anmeldeformulare zu übertragen, und stelle fest: Frau Kelm, ist die Gräfin Nora von Kelm. Ich möchte Sie morgen dorthin führen, wo die Kelms Jahrhunderte lang gesessen sind, wenn Sie, Komtess, von der ostpreußischen Linie der Grafen Kelm abstammen."
„Ja, Herr Rogowski," konnte ich nur sagen, „meine Vorfahren sind die Kelms, von denen Sie reden."
„Komtess," fuhr Rogowski fort, und seine Stimme schwankte ein wenig vor innerer Bewegung. „meine Familie, die Rogowskis, und noch einige hier aus dem Ort, sind generationenlang bei den Grafen Kelm im Dienst gestanden, bis 1945 der Russe kam und binnen einer Woche jegliches, was noch nicht zerbombt und zerschossen war, anzündete. Waren schwere Zeiten für die Masuren damals, denn sie wussten nicht, waren sie Polen oder Deutsche. Nach der Staatsangehörigkeit Deutsche, aber ihre Sprache, ihr Dialekt lag dazwischen, und polnisch sprechen konnten sie alle.
Na jedenfalls, so nach den fürchterlichen ersten zehn Jahren, wo, wer sich muckte, schon verloren war, ging es besser. Man richtete sich ein. Man fing an zu suchen und zu sammeln. Nicht nur Innen, den Adam sortieren, nein, auch draußen das erhalten, was noch halbwegs in Ordnung war.
War verheerend, alles war kapput geschlagen und verrottet, aber gab Erfreuliches. Das Allererfreulichste ist unser kleines Dorfmuseum, darin die Überreste von den Gütern Seegrund und Steinfeld zu besichtigen sind. Komtess, da werden Sie eine Silberstiftzeichnung, die Gräfin Natascha von Kelm darstellend, bewundern können, eine wunderschöne Dame, die Anno 1858 hochbetagt verstorben ist.
Ich könnte noch lange erzählen, glaube aber, der Augenschein bringt mehr als Worte. Im Museum gibt es eine Karte zu kaufen, worauf die ehemaligen Liegenschaften Steinfeld und Seegrund, mit allen Baulichkeiten verzeichnet sind. Mit dieser Karte können Sie sich gut zurechtfinden, die Gruft der Grafen Kelm können Sie besichtigen, leider sind die Särge und Gebeine entfernt worden. Die Kommunisten haben sie irgendwo anonym vergraben, damit keine Kultstätten entstehen möchten.
Hier, wo Sie sich gerade befinden, ist Seegrund. Seegrund haben die Kelms Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts erworben, und mit Steinfeld zusammengelegt. Also heute Nacht, Komtess, schlafen Sie Zuhause".
Wir verabschiedeten uns, und verabredeten einen Museumsbesuch für den nächsten Tag. Langsam schlenderten wir am Seeufer entlang. Ich fühlte, wie mich eine kleine Wehmut beschlich. Zuerst versuchte ich ihr allein Herr zu werden, doch die Stimmung hatte mich im Griff. Als wir den Seeuferweg erreicht hatten, fragte Bernd: „Was ist los, mit meiner süßen Komtess? Was macht sie traurig?" Ich schlang mich ganz fest bei ihm ein, schüttelte den Kopf. Was sollte ich sagen? Doch ich sagte es:
„Bernd, da ist ein Gefühl, etwas mir Nahes, fühlt sich an wie ich. Kann es nicht ausdrücken, am nächsten kommt es einem Zwillingsgefühl, einer zweiten Nora. Ist Unfug, aber kann mir nicht helfen, es ist so.
Ich glaube nicht, es hat mit Steinfeld oder Seegrund zu tun. Das berührt mich nicht, habe nie eine Beziehung dazu gehabt. Ist sechzig Jahre her, dass hier die Hölle wütete.
Andererseits scheint es Rogowski mit seiner Erzählung ausgelöst zu haben. Von weit her, berührt mich die Dame. Gräfin Natascha müsste meine Urururururgroßmutter sein. Genügt fünfmal Ur, Bernd?"
„Ich weiß nicht, aber denke, es reicht, Liebste. Ich fühle mit dir. Versetz ich mich in deine Lage, stände ich auf dem Boden, der meinen Vorfahren Jahrhunderte gehört hat, müsst ich schlucken, steckte das nicht so einfach weg.
Aber lass uns unsere Kate, mit dem herrlichen Bett aufsuchen. Du kuschelst dich fest in meinen Arm, ich singe dir Wiegenlieder. Schöne alte Lieder, Vicky und ich haben die vor Jahren gesammelt, ich kenne die Texte und Melodien. Ist oft die Rede von der Vergänglichkeit, der, die Menschen empfinden. Ist ihr Schicksal, die Wirklichkeit ist Dauer, Ewigkeit.
Ich verdünne dir den Wodka mit Wasser, bis er deine Zunge nicht mehr beißt. Du trinkst, bis Nebel aufsteigt, der dich in meinem Arm behutsam ins Traumland trägt."
Bis auf den verdünnten Wodka, der ecklig schmeckte, hielt Bernd, was er versprochen hatte.
Er sang mit seinem samtenen Bariton mir unbekannte Lieder, ich kuschelte mich selig träumend in seinem Arm, fühlte mich größer und leichter werden, schweben, wurde Luft, um bald als von der Sonne rot bemalte Wolke am Himmel zu stehen; gleichzeitig sah ich mich in der Kate am See, mit Bernd im Bett.
War beglückend, wie der Traum mich entführte. Tief unter mir, in der Abendsonne glühend, der schilfgesäumte See, grüne Ränder, die aufgingen im unendlichen Blätterdach der Baumkronen. Dazwischen Einsprengsel von Feldern, und in der Ferne ein rotes Viereck, zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen.
Das sollte sich schnell ändern. Das Viereck wurde zu roten Dächern, weissenHäusern, Gebäuden, die einen großen Hof einfassten. Da liefen Menschen, Pferde angeschirrt vor Wagen. Hunde, Vieh und Geflügel.
Traum, Nora, hör hin, das ist Bernds Stimme, die dir ein Wiegenlied singt, seine Arme, in die du dich schmiegst. Doch da war eine Stimme, die rief: „Komm Nora, komm! Nun mach schon, hast doch gewollt, was ich für dich eingefädelt!“
Das war nicht Bernd!
Liebster, hast du etwas für mich eingefädelt? Bernd schlief, schlief ich auch? Traum?
Da wieder die Stimme: „Traum Nora, sicher, was sonst. Spürst, hast es selbst gesagt, die doppelte Nora!“ Stimmte, hatte ich gesagt, vom Zwillingsgefühl einer zweiten Nora gesprochen.
„Siehst, Marjellchen, hast ein Einsehen. Ich zeige dir Steinfeld, was der Rogowski dir zu bieten hat, Trümmer, Unfug. Hat keine Ahnung, der Tor.“
Das war ich die da stand, doch was hatte ich an? Dieses fußlange Kleid, die Taille unter dem Busen, der große Kragen? Da kam Bernd, auch er mit hohem Kragen, einem grünen, halblangen Überrock zu gelben Hosen. Bevor ich mein Erstaunen gebändigt, trat eine Dame auf mich zu, küsste mich und sagte:
„Nora Liebes, was siehst du mich gar so erstaunt an? Bin nicht der heilige Geist! Du fährst mit Bernd nach Lyck, höre ich?“
Ich nickte. Was sonst sollte ich tun, verschlug mir die Sprache, machte mich stumm.
Die Dame musterte mich kritisch, nahm mich bei der Hand, zog mich die Freitreppe hinauf, hinein ins Schlösschen zu ihrem Boudoir. „Was ist dir, Kind? So kenne ich dich garnicht, vertrau dich bitte deiner Mutter an.“
Aha, so war das, die Dame ist meine Mutter. Ich zeige dir Steinfeld, hatte die Stimme gesagt. Steinfeld war dahin, gab es nicht mehr. Das war ganz sicher. Was ich erlebte, war Vergangenheit, ich schien einer fernen Nora gleichzusehen. Traum, ja, ja. Ist schon gut, ich werde sprechen, würde sich erweisen, ob meine Stimme Noras war, und sagte: „Es gibt nichts, was ich dir anvertrauen könnte, eine kleine Irritation, nicht mehr.“
„Irritation Nora? Gibt es einen Grund?“
„Nein, nein, wüsste keinen Grund, Mama, geht schon vorüber, sorge dich nicht.“
Da hatte ich tatsächlich, zu der Fremden Mama gesagt. Wollte es nicht, versuchte es zu umgehen, doch etwas zwang mir das Mama ab!
Da! Unverkennbar die Stimme: „Mascha, kommst heute noch, oder wird das nichts mehr?“
„Bin schon da, Klapaida, sei nicht so ungeduldig.“ Mascha hieß meine fremde Mutter, die zog mit einem großen Sammelgefäß auf dem Rücken ab mit der Stimme, die sie Klapaida genannt. War zum Staunen das Paar. Mascha mir ähnlich, nein ich ihr ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten. Klapaida, eine Hexe, gäbe es noch den Hexenglauben. Wie die sich gemustert hat, zum Schießen! Ältere Klamotten habe ich nie gesehen, dazu ein rotes Kopftuch, das Gesicht tausendfältig, das trifft es genau.
„Nora, fertig mit Staunen?“
Die Stimme liebte ich, so sprach nur Bernd. Ich drehte mich hin zu ihm, er war es, der Traumzeit wie ich angewandelt. Wir waren allein, jetzt würde er sprechen, mit einem Wort Absurdistan zerstören. Doch er sagte, wir sind verspätet, darf ich dir in den Wagen helfen, bis Lyck brauchen wir gut zwei Stunden, da müssen die Braunen kräftig ausgreifen. Ich sah ihn an, legte mein Innerstes in diesen Blick, doch er bemerkt es nicht.
Der Weg nach Lyck war schauderhaft, sandig mit ausgewaschenen Kuhlen und holprigem unregelmässigem Kopfsteinpflaster. Auf dem schwierigen Weg konzentrierte sich Bernd völlig aufs Kutschieren. Ihn schien das nicht zu stören, kannte es nicht anders. Ich dachte nach, hatte die Zeit dazu.
Ich träumte, was sonst? Fühlte sich an wie Wirklichkeit der Traum, was geschah war plausibel. Nichts Unbegreifliches, bis auf die unbegreifliche Plausibilität, die mich gefangen hielt und unser Doppeltsein. Lag träumend in Bernds Arm, während er hier neben mir, zwei starke Braune durch den Sand eines Feldwegs trieb. War nicht mein Geliebter, war mir klar. Konnte nie intim mit ihm gewesen sein. Ließ diese Zeit nicht zu. Nur wo verdammt, war ich gelandet!?
Neunzehntes Jahrhundert, keine Frage, nur wann? Ob mein Kleid hierher passte, gar von hier kam? Hatte mein Kleid mit meinem Traum zu tun? Hing Zuhaus im Kleiderschrank, Blödsinn es einzuklinken. Obwohl? Quatsch, gleich wache ich auf, werde meinem Liebsten die Leviten lesen! Stur, ohne mich nur einmal anzuschauen, widmete er sich der Kutsche und den Pferde! Manieren sind das!
„Endlich, Nora,“ jetzt kann ich aufatmen, Bernds Stimme. „Ist ein vertracktes Stück Arbeit, die Pferde über die schlechten Wege zu führen. Entschuldige bitte meine Einsilbigkeit, ging nicht anders. Ich fahre gleich fort. Seit wir uns nach der Gans geküsst, sind drei Monate vergangen. Als du dich von mir trenntest, meintest du, du wolltest dich ordnen, hättest danach aber Fragen. Warte bis heute aus diese Fragen, Nora.“
Ich war wie vom Donner gerührt. Nach der Gans geküßt, ich hätte Fragen angekündigt, aber nie gefragt? Da saß ich schön fest, was antworte ich. Konnte doch nichts von einem Traum erzählen, in dem er, Bernd, neben mir die Zügel haltend nicht real war?
Da regte sich meine Zunge unversehens ohne mein Zutun. Ich erklärte meinem Kutscher lachend: „Sicher Fragen, Bernd, nicht nur an den Mann, der mich küsste, nein, mehr noch an den Medicus.“
Medicus? War Kutscher Bernd Arzt? Was ging mit mir vor? Was bemächtigte sich meiner Zunge, Mimik, meines Körpers, Seins und Wesens? Kann nicht nachdenken, muss reden, erklären, wissen wollen vom Medicus.
„Ich muss wissen, Bernd,“ sprach ich weiter, „muss wissen, wie verhindere ich Nachwuchs, wenn eintreten sollte, was nach solch einem Kuss, wie der in deinen Armen, eintritt?“
„Ei Nora, zielt diese Frage nicht zu weit?“ Erstaunen spielte mit in seiner Antwort.
„Nein Bernd, zielt sie nicht. Ich bin erwachsen, Mädchen in meinem Alter sind oft lange Frauen und Mütter. Was ihnen Recht ist, empfinde ich für mich als billig! Nein, nein, ich bestehe auf meiner Frage, heische ernsthafte Antwort.“
„Angekommen, Nora,“ Bernd schüttelte den Kopf, „ich muss dich entäuschen, fällt nicht in den Bereich eines Chirurgen, platt gesagt: Ich weiß nicht mehr als jeder andere. Es gibt alle möglichen Praktiken, von Tierdärmen bis zu Scheideneinlagen, die mit Sperma tötenden Kräuterauszügen getränkt werden, sämtlich höchst unsicher, fragst du mich. Schwangerschaften sind nur durch Enthaltsamkeit zu verhindern. Doch ich empfehle dir, Klapaida zu konsultieren, die berät dich sicher besser als ich.“
„Ungern, Bernd, Klapaida ist so eng mit Mama, möchte das Thema nicht mit Mascha diskutieren. Wie wäre es, du machst dich bei Klapaida schlau, und unterrichtetest mich?“
„Gut, kann ich tun, doch sie wird Mascha prompt von meinem Wissensdurst berichten.“
„Stimmt, Mama wird sich Gedanken machen, sich umsehen nach des Doctors Opfer?“
„So ähnlich, Nora. Wobei mir der Gedanke kommt, ich frage nicht Klapaida, aber du fragst die Mascha. Sie ist erst achtunddreißig, hat vor acht Jahren ihr letztes Kind geboren, wenn da kein Hexenwerk im Spiel ist!“
„Guter Rat, Bernd, doch du rätst, was ich vermeiden wollte.“
Unterdes waren wir Lyck näher gekommen, fuhren, so schien mir, an unserem See mit den fünf Katen vorbei, gleich würde Rogowskis Haus auftauchen. Doch da war nur eine Kate, draußen im See, nichts sonst, kein Dorf, nur Wasser, Schilf und Wald.
Konnte das nur im Vorbeifahren aufnehmen, meine fremdbestimmte Zunge hielt mich in Atem, musste das Gespräch mit Bernd fortsetzen, antworten.
„Hexenwerk, Bernd? Dann wäre die, von dir so gepriesene Kräuterkunst der Klapaida, Hexenwerk?“
„Ist sie das nicht, liebe Nora? Ich müsst nicht Hexenwerk sagen, schwarze Kunst täte es. Jedenfalls glaubt ihr alle, und habt es mehrfach ausgesprochen, Klapaida kann unsichtbar an einem Ort sein. Nun frage dich oder mich, können wir das? Nein, können wir nicht, ist uns unmöglich. Klapaida aber spricht, lacht, alles ohne Körper. Ihr wisst es, sprecht nicht darüber, handelt als sei sie körperlich anwesend, obwohl sie es nicht ist. Ich erinnere an das neunte Gedeck, anläßlich des Besuches von Moses Liebeskind .“
„Ach, lieber Bernd, bitte verlassen wir das Thema, Klapaida. Mir wird unheimlich, denke ich nüchtern darüber nach. Andererseits ist sie ein Segen, und auf den Segen den sie stiftet, können wir alle nicht verzichten. Ist ja nicht nur das Bein von Boris, der Kropf von Moses Köchin. Begänne ich aufzuzählen, was alles auf Steinfeld gedeiht und anderen Orts nicht, käme ich, bis wir wieder Zuhaus sind, zu keinem Ende.“
So war das also. Die Stimme, die meinem Traum befiehlt, Mascha zur Eile spornte, gehörte einer Hexe? Hexe, Heilerin, Wohltäterin? So jedenfalls hatte meine Zunge es gesagt.
„Gut Nora, machen wir ein Ende,“ stimmte Bernd zu. „Wir sind gleich in Lyck.“ Er trieb die Pferde an. „Kommen sicher nicht hinter Klapaidas Geheimnis. Du weißt, ich schätze Ihre Heilkunst über alle Maßen. Freue mich auf ihre Unterstützung, nein falsch, hoffe, sie unterstützt mich auch in Zukunft. Wir sind gleich da. Darf ich dir die Pläne für meine neue Behausung, und das kleine Spital zeigen? Ich hoffe, Lippe hat die Genehmigung aus Königsberg endlich vorliegen. Versprochen hat man uns das schon vor Wochen.“
„Vor Wochen?“ Nora konnte es nicht fassen. „Haben die nicht versprochen, die Pläne würden sofort genehmigt und jetzt dauert es Wochen? Weiß Papa davon?“
„Sicher Nora, Claus hat geraten: Schick dich drein. Du wirst noch öfter mit den Königsbergern zu tun haben, trittst du sie jetzt, werden sie es dir bei anderer Gelegenheit vergelten.“
„Herrliche Moral das!“ Echauffierte sich Nora. „Ich glaubte, in Preußen, verwaltet von der effizientesten Staatsmaschine Europas, käm solches nicht vor?“
„Sicher, Nora, leben wir in Preußen, nur der König ist nicht mehr der Alte Fritz. Der hat säumigen Staatsdienern mit dem Krückstock Beine gemacht. Der konnte zwar nicht überall sein, hat die Bagage aber ständig in Angst und Schrecken gehalten. Wehe, Majestät kam Ausbeuterei oder Kujonieren, seiner Bauern und Handwerker durch Beamte zu Ohren. Dann flogen die Fetzen. Damit ihm bloß nichts entging, hatte er überall seine Inspekteure, die ihm haarklein berichten mussten. Selbst im fernen Cleve, brachte die Nennung seines Namens, die Herrschaften auf Trab!“
„Ach ja, Bernd, der Alte Fritz, voriges Jahr war er dreißig Jahre tot.“
„Da war ich mal eben drei Jahre auf der Welt, Nora, und was hat die Welt seitdem erlebt! Der alte König, sollte er beobachtet haben was geschah, wird vor Grimm seinen Krückstock gefressen haben!“
Als sie in Lyck einfuhren, stand Moses Libeskind vor der Tür seines Hauses. Kaum sah er die Kutsche, ruderte er mit beiden Armen, und hopste wie ein Kind beim Hinkelspiel.
„Sieh den Moses, was ist in den gefahren?“ Nora sah Bernd fragend an.
Ich war das, die Bernd fragend ansah. Ich hatte einen mir völlig unbekannten Moses Libeskind erkannt, mich über die säumigen Königsberger Bürokraten erregt. Ich hatte mich nach der Gans, womit wohl ein Gänseessen gemeint war, von dem Mann der genau mein Bernd war, küssen lassen und hatte Angst, bei Wiederholung schwach zu werden. Recht hatte ich, gab keine Pille aber Tierdarm? Also langsam würde ich gerne wach werden, wurde mir unheimlich der Traum.
„Scheint, er freut sich, Nora,“ Bernd zeigte zu Moses hinüber. „Schau, wie er sich aufführt, scheint gute Nachricht zu haben, die Bewilligung vom Oberpräsidenten?“
„Doctor!“ Moses legte die Hände als Schallverstärker um den Mund, „Doctor,“ rief er, „die Bewilligung mitsamt der Genehmigung ist da!“
Bernd brachte die Pferde für die kurze Strecke auf Trab, und hielt direkt vor dem kleinen Mann.
„Tatsächlich, Moses? ist ja fabelhaft!“
„Kann man laut sagen, Doctor! Bürgermeister Lippe hat sie persönlich überbracht, ist noch keine zehn Minuten her. Womit ich nicht gerechnet habe, ist die Höhe der Bewilligung. Wir könnten, so es Euch recht ist, unverzüglich anfangen zu bauen.“
„Wieviel Taler sind bewilligt worden, Moses?“
Bernds Stimme zitterte, als er das fragte. Hing viel ab von der Antwort. Die Summe, großzügig oder kleinlich bemessen, entschied über seinen künftigen Lebensstil.
„Zehntausend Taler, Doctor!“
Die frohe Botschaft riss Bernd förmlich vom Kutschbock. Mit einem gewaltigen Satz sprang er zu Boden, schnappte den Moses, tanzte mit ihm durch den säuberlich geharkten Sand vor seinem Haus, stellte ihn auf die Füße, sprang zurück auf die Kutsche, nahm mich in die Arme, suchte meine Augen. Ich erwiderte seinen Blick und bot ihm unmissverständlich meine Lippen. Eine kleine Ewigkeit verging, bis wir uns voneinander lösten.
Das tat gut, unverkennbar Bernd. Gleich, ich kannte ihn, würde es zu Weiterungen kommen. Quatsch Nora, ist doch Traum! Ich will wach werden, mich verlangt nach ihm. Kann mir nicht einfach einheizen, ohne zu löschen. Aufwachen! Ich will aufwachen! Noch küssen wir uns, ach ist das schön, geht mir durch und durch. Traum-Nora ist Jungfrau, wie ich, bis vor zwei Wochen. Ahne, wie sie sich sehnt, nein fühl es. Möchte sich die Kleider vom Leib reißen, rossig war sie, so nannte sie ihr Verlangen. Bin gespannt, was jetzt kommt. Der Doctor hat die Komtess Kelm, auf offener Straße am hellem Tag geküsst. Darauf steht Ehe! Ehe, so er ebenbürtig ist, Graf, Baron, so etwas jedenfalls. Nora, das Buch! Das Buch aus dem Sternverlag! Da spricht die Autorin Nora von ihrem Ehemann, dem Medicus Graf Bernhard zu Bern. Genau, also wird er um meine Hand anhalten, wir werden heiraten, ich werde Gräfin Bern und das Buch schreiben. Traum, bitte mach weiter, ich will nicht aufwachen. Eine Hochzeit im Biedermeier! Nicht ganz, aber fast! Mehr Romantik geht gar nicht. Hoffentlich erklärt er sich schnell, länger als eine Nacht, habe ich nicht Zeit!
Bernd löste sich behutsam von Nora, die lag mit geschlossenen Augen in seinem Arm.
„Willst du meine Frau werden, süße Nora?“ fragte er, und Nora, ohne die Augen zu öffnen, hauchte „ja, ja ich will, doch versprich, mich immer wie eben zu küssen!“
„Gerne will ich das versprechen, hauchte Bernd zurück, wenn du versprichst, stets wie eben zu empfinden!“
„O ja, Bernd, ich verspreche es!“
„Herrlich, meine Liebste, nein Allerliebste! Doch jetzt zurück in den Alltag.
Moses steht da und schaut uns zu. Sieh dir sein Gesicht an, seinen Mund, weiter kann er den nicht auseinanderziehen.“
„Ganz recht, weiter geht es nicht, rief Moses, darf ja wohl sein, wann hat einer schon die Gelegenheit, auf offener Strasse an einem Blitzverlöbnis teilzunehmen! Herzlichen Glückwunsch, liebes Brautpaar, vom Libeskind! verbunden mit der Hoffnung auf allerliebste Kinder in der Zukunft!
Also Doctor, weil ich Zukunft gesagt habe, sollten wir voranmachen, sie Gestalt werden lassen, die Zukunft. Das Geld ist da, die Brautleute, für’s Spital der Doctor. Über das Wohnhaus haben wir noch nicht gesprochen, Doctor, war ja nicht absehbar was kommen würde. Ich schlage vor, wir überlassen die Planung der privaten Bereiche den Damen.
Komtess Nora und Gräfin Mascha, haben da mehr Kompetenz als wir. Jedenfalls, das Spital und die Ordination können jetzt großzügiger ausfallen.“
„Herrlich Moses, wir werden für Mascha und Klapaida, eine Apotheke einrichten. Gut wäre, Klapaida würde ihre Geheimnisse aufschreiben, und ich könnte meinen Senf dazu tun, was die Wirkung bei behandelten Patienten angeht.“
Moses guckte skeptisch, schüttelte den Kopf und sagte: „Die Alte kann nicht schreiben, dass sie nicht lesen kann, weiß ich gewiss. Hab ihr schon einige Male amtliches vorlesen müssen.“
Da plötzlich die Stimme: „Moses, die Welt ändert sich, niemand hält den Fortschritt auf! Das mit der Apotheke ist eine gute Idee, machen wir! Hihihi.“
Moses zog den Kopf ein und sah sich vorsichtig um, habt ihr was gehört fragte er, mir war, als hätte wer gesprochen?
„Sicher Moses, ich habs gehört,“ lachte Nora, „Ihr möchtet den Fortschritt nicht aufhalten, und wir bräuchten die Apotheke.“
„Ist überall und nirgends, die Klapaida, Doctor. Was sagt die Wissenschaft zu solchem Phänomen?“
„Nichts, leugnen oder hinnehmen, bleibt jedem selbst überlassen. In unserem Fall wäre leugnen Schwachsinn. Selbst der Geheimrat Goethe spricht von mehr Dingen zwischen Himmel und Erde, als unser Menschenverstand sich träumen lässt.“
Klapaida
Formidabel, wie ich das hingekriegt habe, mit meinen beiden Noras und ihren Bernden. Aber der arme Professor ist ganz aus freien Stücken gestorben, hat nicht das Geringste zu tun mit mir, sein Tod. Gebe zu, kam mir zupass. Wer weiß, wann sonst mein Düsseldorfer Pärchen, seinen Weg nach Masuren gefunden hätte. Ist nichts mehr wie ehedem. Mir kann es gleich sein, kenn vorwärts und rückwärts, doch könnte Mascha in die Zukunft sehen, sie träf der Schlag. Eins lass ich den im Osten geachteten, doch kaum geliebten Deutschen: Eine Sauberkeit, Ordnung, Gerechtigkeit, oft Selbstgerechtigkeit, herrschte, weit fort von Anarchie!
Unbegreiflich bleibt, wie sich diese Idioten einem verrückten Brandbuben an den Hals warfen! Ohne Sinn und Verstand, nur weil sie nach einem unglücklichem Krieg, gedemütigt wurden. Da sag ich nur diese Junker! Haben wir ja genug von! Unfähiges, hagestolzes Altblut, dumm und blind, hochmütig und schwach! Nicht der Kelm, der ist in Ordnung, der Claus. Was ich ihm anlaste, er stößt mir mein Marjellchen nicht ordentlich! Keinen einzigen Orgasmus, wie das rossig sein später genannt werden wird, hat er zustande gebracht in fünfzehnjähriger Ehe. Na ja, gerächt hab ich mich. Hab gesorgt, dass meine Mascha nicht mehr schwanger wird.
Nu, man solls nicht glauben, kommt die Kröte, die Nora, will Gleiches wie die Mama. Kommt, sollt heißen, ist auf dem Weg. War noch nicht da, hat noch nicht gebeten, träumt vom Bernd, von dem, was der in der Hose hat! Krot kleine, träum ich auch von, zusammen mit der Mama! Wird bald werden! Zweimal Nora, zweimal Bernd, dazu die Mascha! Werde sie lieben, meine Taube, wird sie fliegen lassen zehn Kirchtürme hoch! Werde sie jauchzen lassen, höchste Töne, Diskant! Sie abstürzen lassen in tiefsten vibrierenden Bass. Jeden Nerv, jede Sehne, jeden Muskel, jedes Haar werd ich zupfen. Nie mehr wird sie die Wonne vergessen, die ich als Bernd ihr bereite. Werde ihr Liebhaber bleiben, sie streicheln, sie einhüllen in Wollust.
Dem Krot nehm ich den Bernd, für die gewissen Stunden. Nicht nur ich, will mich ihres Mannes bedienen, auch Mascha und er, einmal im Monat. Nora wird nichts spannen, geb ich ihr die Tropfen. Nimm die, wenn ein Mann sich dir nähert, ein kleines Löffelchen, versetzt dich selbst mit einem Schlappschwanz, in den siebten Himmel. Sie wird von Kerlen, so sie denn will, nicht genug kriegen können. Zur Not schick ich ihr den Kutscher Kurt, auf dessen gefältete Lippen war sie immer schon scharf. Vorher nehm ich sie mir vor, werd uns ein herrliches Bockfest bereiten.
2003
Träumte ich? Doch wohl, das ist mein Bernd, in dessen Armen ich einschlief, der mich in den Schlaf sang. Wie echt mein Traum war, ich erinnere jede Einzelheit. Das Gut, die Mama, ich rief sie so. Libeskind, die Fahrt nach Lyck, Verlobung. Der vor Glück strahlende Bernd. So radiant war mein Bernd noch nie. Geduld! Kenne ihn erst seit drei Wochen.
Muss mich zusammen nehmen! Tag ist nicht Traum, Traum nicht Tag. Wie ist mir? Seit der Rogowski mich auf die Vergangenheitsschiene gesetzt hat, scheine ich durchzudrehen! Also von vorn! Ich liege hier neben der ersten Liebe meines Lebens im Bett, fühle mich großartig! Habe ein Leben geträumt, wie es vor zweihundert Jahren auf den Gütern der Kelms geführt wurde. Habe mich mit ihm verlobt, bald würde Hochzeit sein. Der lebendigste Traum meines Lebens. Ist so, ein befremdendes Echtgefühl, habe den stechenden Geruch der schwitzenden Gäule noch in der Nase. Werde ihn wecken, meinen echten Bernd, der auch mein Traum-Bernd zu sein scheint.
„Noraleben, meine Nase, bin doch schon wach. War lange vor dir wach, hattest mich ein wenig erschreckt.“
„Erschreckt, Bernd?“
„Ja, aber vergiss es, bist aufgewacht, hast einen verteufelt tiefen Schlaf, deshalb.“
„Deshalb was, Bernd?“
„Ich wurde wach, Liebste, war hungrig, hungrig auf dich, deine Arme, deinen Mund, wollte dich. Ich kitzelte dich, hielt dir das Näschen zu, küsste dich, rüttelte dich sanft. Nichts, keine Reaktion. Ich erschrak, sprang aus dem Bett, kramte nach meiner Taschenlampe, fand die nicht. Suchte im Dunkel Streichhölzer, tastete herum, ein Stuhl fiel polternd um, du schliefst weiter. Endlich die Streichhölzer, die Petroleumsfunzel angezündet, zurück zu dir ans Bett.
Puls, Herzschlag, Auge, normal. Doch sonst keine Reaktionen, nicht auf heftigste Reize. Ich beobachte dich, dein Lächeln. Ja, besonders dein Lächeln. Zum eifersüchtig werden, so glückstrahlend lächeltest du.“
„Zum eifersüchtig werden, du mein Erster, Einziger! Eifersüchtig kannst du nur auf dich sein, als dir mein Lächeln verriet, ich träumte von der Liebe, träumte ich von dir, meinem Liebsten!“
„Ja doch, ich weiß es, bin so verrückt nach dir, möchte die Luft beneiden, die du atmest.“
„Komm, Liebster! Komm in meinen Arm, lass mich dich trösten! Nein, mach du meinen Traum zur Wirklichkeit, so wie du das seit drei Wochen tust, wovon ich nie, niemals genug habe."
Rogowskis Glocke rief sie zurück in die Wirklichkeit. Bernd sprang auf, fuhr in seine Badehose. „Bleib du liegen!“ hielt er Nora im Bett.
Rogowski stand mit einer Tochter am Steg. „Bahn frei?“ schrie er, als er Bernd sah. Der winkte ihn heran.
Die Tochter setzte ihren Korb auf den Tisch, schlug die Tücher zurück die zum Schutz vor Insekten und Sonne, über die Köstlichkeiten gebreitet waren und bot an:
„Selbstgeimkerter Waldhonig, selbsteingemachte Marmeladen und Gelees, jeweils zwei Sorten, selbstgebackenes Brot, Schinken und Räucherspeck aus eigener Schlachtung, saure Stinte..“
„aus eigenem See direkt vor dem Haus gefangen“ unterbrach Bernd, seine Lippen leckend, ihre Anpreisungen. „Also Marjellchen, ich schlage vor, der Korb bleibt einfach hier, wir bringen den, wenn wir satt gefrühstückt haben zurück, einverstanden?“
„Einverstanden,“ antwortete Rogowski für seine Tochter und fragte direkt weiter: „Bleibt es bei unserer Verabredung nach Seegrund ins kleine Museum?“
„Hast du mitgehört, Nora?“ fragte Bernd ins Schlafzimmer.
„Ja doch, war so verabredet, sagen wir gegen zwei?“ kam ohne Zögern Noras Antwort.
Rogowskis Tochter hüpfte schon über den Steg, als der sich schon halb aus der Tür noch einmal umdrehte, um zu bemerken: „Braucht euch nicht beeilen mit dem Frühstück, der Kaffee ist dreimal eingewickelt, hält stundenlang die Wärme!“ Er tippte an seine Mütze und ging seiner Tochter hinterher.
Nora saß auf der Bettkante und schüttelte ihre dunklen Locken. „Was fällt dem Kerl ein, schon gestern meinte ich, eine Anzüglichkeit, unser Liebesleben betreffend, gehört zu haben, jetzt kommt er wieder mit seinem stundenlang, warmen Kaffee daher! Fühlt ein Blinder mit dem Stock, wie der das meint!“
„Nora Liebste, nu lass ihm seinen Spaß, er liegt doch absolut richtig. Er hat uns doch gestört bei unserer Lieblingsbeschäftigung, komm geb es zu, oder möchtest du jetzt lieber frühstücken?“
„Nein nicht! Aber das geht den alten Knacker überhaupt nichts an!“
„Komm, küss mich, kannst dann nicht mehr schimpfen.“
Später am Frühstückstisch, Nora hatte sämtliche Marmeladen und Gelees auf dem würzigen, nach Hefe und Honig duftenden Bauernbrot durchprobiert, Bernd sich über das Geräucherte und die kleinen sauren Fische hergemacht, ging ihnen auf, sie hockten mitten im Glück.
„Das Essen, wirklich hausgemacht“ staunte Nora, „und jedes hat einen Geschmack, wie der mir noch nie auf der Zunge war. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, aber gegessen haben wir Gekauftes. Nichts schmeckte so original wie hier beim Rogowski.“
„Ist so,“ nickte Bernd, behaglich kauend. „Wir wissen gar nicht mehr, wie natürliches schmeckt. In ihrem Regulierungswahn haben unsere Bürokraten, zum Wohle der Volksgesundheit und um Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten, alles zu Tode normiert.
Das Kreuz sind die Juristen, deren Planspiele sind darauf angelegt, Individualität niederzuhalten, letztendlich zu zerstören. Egal wo sie ihre wohlmeinenden Hände im Spiel haben, das Ergebnis sind Vorschriften, müssen Vorschriften sein, sind ihr einziges Ausdrucksmittel. Irgendwann muss diesen verakteten Schau- und Scheinkämpfern, das Handwerk gelegt werden, bevor alles, Mensch, Tier und Pflanze, zu einem fein kategorisierten Einheitsbrei vermatscht sein wird. Doch heute, Noramädchen, ändern wir nichts daran. Bist du satt? Ich möchte ins Wasser, ist kalt, ich weiß es, macht uns aber frisch, wach und munter!“
„Bereit zu neuen Taten, oder lassen wir uns im Kahn über den See treiben?“
„Angeln, Nora?“
„Och, bitte nicht, Bernd. Mich graust es vor den armen Fischen am Haken, stell mir vor, wie mir wäre, hätte jemand ins herrliche Brot einen Haken versenkt, ich würde, den im Rachen in eine fremde Welt ohne Luft gezogen, mehr will ich mir gar nicht ausmalen!“
„Keine Bange, Mädchen, wir lassen uns die Fische servieren, habe noch nie geangelt, dachte nur daran weil Rogowski davon sprach.“
„Also schwimmen, dann im Kahn treiben lassen, danach mit Rogowski zum kleinen Museum nach Seegrund. Zwischendurch etwas essen?“
„Um Gottes Willen, Bernd, ich esse hier das doppelte wie zuhaus. Es sei denn, du willst mich mästen, weil du Kugeln liebst?“
„Will ich nicht, ab ins Wasser mit uns!“
Rogowski war pünktlich, wartete schon mit Pferd und Wagen, als Bernd, sein Glockenzeichen vermissend, vor die Kate trat und Ausschau nach ihm hielt. Er winkte grüßend mit der Peitsche und rief etwas, das der aufgekommene Wind übertönte.
Als Nora über den Weg balancierte, hatte sie Mühe ihr Kleid zu bändigen, die tosende Luft bauschte es wie ein Segel. „Lass es doch fliegen, Liebste," lachte Bernd hinter ihr, „der Rogowski hat sicher nichts gegen den Anblick."
Nora konnte sich nicht zu ihm umdrehen, fauchte aber: „Bist du verrückt, in dem Stringtanga! Der verschlingt mich jetzt schon mit den Augen!“
„Nur herein in die gute Stube,“ Rogowski machte eine weit ausholende, einladende Bewegung mit Arm und Peitsche, „in einer Stunde sind wir in Seegrund," versicherte er, „bis dahin möcht sich der Sturm, hoff ich, beruhigt haben.“ Er nickte der gnädigen Komtess, wie er sicher glaubte, tröstend zu und meinte, bevor er das Pferd antrieb: „Sind oft Böen von gleich auf jetzt am See, kommt vom Unterschied, kaltes Wasser, warmes Land.“
Nach einer Stunde Fahrt über gelbe Sandwege, oft dicht an tief in den Wald vorstoßenden schmalen Seearmen entlang, lag am anderen Ufer eines solchen Einschnitts Seegrund.
Wütend fuchtelte Rogowski mit der Peitsche: „Da drüben müssen wir hin. Aber die Trümmer die Sie da sehen, waren vorige Woche noch eine Brücke. Keine feste aus Stein und Beton, mal nur so eine wie wir sie in Selbsthilfe bauen, paar feste Kiefernstämme und Geflecht von Reisern, aufgefüllt mit Mergel. Hält tadellos seit fünf Jahren schon, doch jetzt ist sie hin. Was machen wir?“
Bernd sprang aus dem Wagen, ging ans Wasser, stand da und versuchte den Grund auszuloten. War zu erkennen an seinen Verrenkungen. Mal ging er in die Knie, dann beugte er sich mit schiefem Kopf vor, bemüht die Lichtspiegelung der Wasseroberfläche auszutricksen.
„Dem Pferd reicht das Wasser bis zum Bauch, Rogowski," befand er und sah hoch zu ihm, der ratlos auf dem Bock thronte. „Ausschirren. Nora, du sitzt auf, der Gaul bringt dich halbwegs trocken ans andere Ufer. Der Kutscher und ich schwimmen rüber!“
„Nein, sagt der Kutscher dazu!“ Rogowski sprang runter auf den Boden. „Richtig ist, die Komtess wird von Karlchen als Erste übergesetzt. Danach ruf ich ihn, er kommt zurück und Sie, Herr Doktor, machen rüber, danach ich auf selbige Weise. Werden nasse Stiefel kriegen, die Komtess nur einen nassen Rocksaum, wenn sie ihre Schuhchen in die Hand nimmt, mehr nicht.“
Das Übersetzen war ein Kinderspiel, den Rogowski drängte Nora etwas unsanft zur Seite, als der ihr beim Aufsteigen zur Hilfe kommen wollte. „Lass nur, Rogowski," schob sie ihn von sich weg, „mit Pferden kenne ich mich aus!“ Und war schon, eh die Männer sich`s versahen, auf dem Pferd durchs Wasser und am anderen Ufer.
Das Museum war ein liebevoll in Stand gesetzter Stall, zusammengesucht aus den Trümmern und Überbleibseln des ehemaligen Gutshofs, was deutlich zu sehen war an den angekokelten Balken, die das Dach trugen.
„Wir hätten neue Balken nehmen können," erklärte Rogowski, „war langes Palaver darüber. Die meisten meinten, macht nichts daher mir dem halbverbrannten Holz. Als wir schon drauf und dran waren, auf das originale Balkenwerk zu verzichten, half der Lewandowski. Dem Lewandowski sein Vetter ist Professor in Gdansk. Dem hat der Josef geschrieben und von unseren Schwierigkeiten berichtet. Postwendend kam Antwort vom Herrn Professor: Alles Originale so verwenden wie gefunden, angekokelt tut nichts! Zur Hölle mit den neuen Brettern und Balken! Nichts anstreichen und überschmieren! Bin nächsten Monat da, seh mir das an!
Also warteten wir mit dem Aufbau, fingen an zu sichten und zu sammeln, was wir vorher schon auf den Schutt geworfen hatten. Mählich ging uns auf, welche Sünde wir um ein Haar begangen hätten. Die Hälfte der ausgestellten Bilder, Figuren, Dosen und Vasen lagen schon im Dreck. Wir haben vorsichtig gesäubert, sortiert, abgeklopft, sonst belassen wie gefunden. Als der Professor kam, hat er gelobt und uns gezeigt, wie mit dem zusammengebrochenen Herrenhaus umgegangen werden muss, sollte gerettet werden, was zu retten war. Über drei Jahre haben wir Stein für Stein abgetragen und in die Hand genommen. Wir, das heißt, alle Männer und Frauen aus dem Dorf, wenn sie Zeit abzwacken konnten.
War uns Herzensanliegen, Seegrund nicht versinken zu lassen. Jetzt sind die ehemaligen Kellerräume des Gutshauses freigelegt. Flaschenregale, teils mit Beschriftungen, vielleicht von einem Grafen Kelm, hundert Jahre und mehr alt. Nur vier unversehrte Flasche, Scherben und Splitter zuhauf. Einige Ettiketten sind noch leidlich zu entziffern, die hat der Herr Professor mit nach Gdansk genommen, sie konserviert und uns zurückgegeben. Sind jetzt im Museum zu besichtigen."
Nora stand, während Rogowski erzählte, unter der Eingangstür deren angekokelter Rahmen etwas von der grünen Farbe ahnen ließ, die einstmals zu einem der Zimmer im Herrenhaus gepasst haben mochte. Seit sie den schmalen Priel auf dem Pferd durchschwommen, und nun auf seegrundschem Boden stand, war das Gefühl zurück, das sie gestern nach Rogowskis Erzählung beschlichen hatte. Sie trat in den von hohen alten Linden beschatteten Raum, der von den frisch belaubten Baumkronen dämmrig und kühl gehalten wurde.
Wieviele Generationen von Kelms mögen hier gelebt, geliebt, getanzt, getrauert und gesungen haben, versuchte sie sich vorzustellen. Im Gefühl lebte plötzlich die Verwandschaft, doch der Verstand mauerte. Schon ihr Vater, der ja als Baby aus dem Inferno einer untergehenden Welt nach Holstein gerettet worden war, hatte keine Beziehung zu Masuren. Im Gegenteil, die deutschtümelnden Vertriebenenverbände waren ihm zuwider. Nichts weiter als Funktionärscliquen auf Pfründen und Wählerstimmenfang, für eine meist am rechten Rand einzufangende Klientel, schimpfte er heute noch. Ewig Gestrige, die das, was sie als verloren ausgeben, nie gekannt, geschweige besessen hatten.
Vaters Einstellung hatte Nora überprüft, als richtig empfunden und übernommen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, hatte sie ihren holsteinischen Vettern entgegengehalten, die meinten, man müsse sich für das verlorene Erbe engagieren.
Nun stand sie dem verspielten Erbe gegenüber, dem, was davon übrig geblieben war. Nicht, dass sie seinen Wert empfunden hätte, da war nichts Greifbares, nichts, auch nicht Sehnsucht, nur ein namenloses Ziehen in der Brust, unerfüllter Liebe ähnlich,
wie damals, als sie sich hoffnungslos in ihren Deutschlehrer verliebt hatte, einen glücklich verheiratetem Familienvater, dessen Frau sie gut kannte und mochte. Da war nicht eine Spur von Eifersucht gewesen, obwohl Peter ihr monatelang weder tags noch nachts aus dem Kopf ging.
Langsam ging sie durch den Raum, betrachtete die mit Sorgfalt und Liebe zusammengeklebten Schüsseln, Kannen und Teller. Zwei Gabeln, drei Messer und eine von der Hitze des Feuers verbogene silberne Schöpfkelle, in deren Griff das Wappen der Kelms zu erkennen war. Es schien, die Leute hatten ihre eigene Vergangenheit zu bergen versucht, um einen Gegenpol zur endlosen, sozialistischen Tristesse zu haben.
Halbverbrannte Gardinen, Bettbezüge, an ferne, glücklichere Zeiten erinnernd, waren liebevoll restauriert und aufbewahrt worden. Ihr Besuch, erkannte Nora, bedeutete etwas für die Leute. Sie war eine Gräfin Kelm, Teil der Geschichte des Traums, der mit dem Museum lebendig gehalten wurde.
Plötzlich hörte sie Gesang, Frauen und Männerstimmen. Sie traute ihren Ohren nicht, sie sangen deutsch. Sangen das schreckliche Ostpreußenlied, das von den Vertriebenen auf ihren Treffen gegröhlt wurde. Dies hier war etwas anderes, wurde ihr schnell klar. Es war eine Reminiszenz, an die als golden empfundene Vergangenheit, und sie war der lebendige Beweis der Wirklichkeit, dieser Vergangenheit! Wir jagten all die Jahre nicht einem Phantom nach, hier, die Gräfin ist die lebendige Wahrheit, wir träumten nicht nur. Was wir träumten war einmal vorhanden. Da sie den Gesang kaum überhören, geschweige denn ignorieren konnte, ging sie nach draußen auf den Hof. Als die Gruppe sie sah, Männer und Frauen zusammen waren es an die zwanzig Leute, unterbrachen sie und riefen: „Willkommen auf Seegrund, Komtess Kelm! Herzlich, herzlich willkommen!“
Nora fühlte, wie Rührung ihr in Augen und Kehle stieg, sie schluckte ein paarmal tüchtig, bevor sie sich mit ein paar einfachen Worten für den Empfang bedanken konnte. Der Sinn ihrer Worte war, dass sie sich freue über das Willkommen, Seegrund und seine früheren Besitzer, aber ein für allemal der Vergangenheit angehörten. Was nichts daran ändere, sie erkenne es an dem freudigen Empfang: Das Früher muss ein schönes Früher gewesen sein!
Rogowski übersetzte für die, die kein deutsch verstanden, ins Polnische. Darauf gab es Klatschen und Bravorufe, die Leute umringten Nora, um sie persönlich zu begrüßen.
Sie schüttelte jedem ausgiebig die Hand und hörte sich an, was ihnen auf der Zunge lag: Die von den Großeltern überlieferte Erinnerung an die gute alte Zeit, als die Grafen von Kelm noch das Sagen hatten. Rogowski dolmetschte und er tat es mit stolzer Freude, war es doch seiner Aufmerksamkeit zu verdanken, dass die Komtess Seegrund besuchte.
Nach der Besichtigung, bat Rogowski zu Kaffee und Kuchen, in die gute Stube des Herrenhauses einladen zu dürfen. „Nicht wirklich gute Stube," erklärte er, „ist noch kein Dach drauf, aber könnte nach der Lage, haben wir uns ausgerechnet, gute Stube gewesen sein. Nebenan jedenfalls ist die Küche, und die hat überlebt, da haben wir den Streußelkuchen gebacken, und werden den Kaffee dort kochen."
Bernd hatte sich während der Begrüßung Noras durch die Dorfbewohner etwas abseits gehalten, sich auf dem Hof umgesehen, der durch die freigelegten Mauerreste in etwa die Proportionen des Gutes erkennen ließ. Als er die Mauern ehemaliger
Wirtschaftsgebäude abschritt, trat aus einer Ecke eine alte, eher uralte Frau auf ihn zu. Sie begrüßte ihn artig in deutscher Sprache ohne jeden polnischen Akzent, und sagte: „Ich bin eine von den ganz alten Seehofern, habe auch Steinfeld das Stammgut der Kelms in bester Erinnerung.“
Bernd musterte sie verstohlen, während sie sprach. Die hat sicher ihre hundert Jahre auf dem Buckel, taxierte er, dabei ein Auge, wie schwarzer Brand, noch betont von dem roten Kopftuch, das sie eng um den Kopf gezogen trug. Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, bleckte sie die schmalen Lippen zu einem freundlichen Grinsen und sagte: „Magst so falsch nicht liegen mit deiner Taxe, hundert Jahr sind es sicher, mögen noch paar Jährchen mehr sein." Dann nestelte sie an ihrem weiten schwarzen Rock, schob einen Arm bis zum Ellebogen in eine von außen nicht sichtbareTasche, und zog ein Buch in Oktavgröße hervor.
„Bitte, gib das der Komtess, lies aber erst selbst. Ist ein Tagebuch, hab es gerettet, kurz bevor die Mordbuben brandschatzten. Ist ein Stich darinnen, wirst dich wundern, wenn du den angesehen hast. Bitte erst selbst lesen, dann entscheiden, ob Nora es verträgt!“ Bernd klappte das Buch auf, ließ die Seiten auf der Suche nach dem Stich, von dem die Alte gesprochen, vom Daumen gebremst vorbei rascheln. Da, der dunkle Schatten musste eine Abbildung sein, er blätterte zurück und sah seiner Nora ins Gesicht. Aber wie kann das sein, Nora, wie sie leibt und lebt, wollte er fragen; aber da war niemand mehr. Wo eben die alte Frau gestanden, nichts! Hätte er das Oktav nicht in Händen gehalten, er würde geglaubt haben zu träumen. Aber so, dieses Büchlein mit Noras lebendigem Porträt, die Seiten handschriftlich eng beschrieben, wie er erst jetzt bei näherem Hinsehen erkannte, unverkennbar in Noras Handschrift!
Was geht hier vor? fragte er sich. Merkwürdiges, scheint mir. Muss nur an Noras bewußtlosen Schlaf denken. Ihr glückseliges Lächeln, aus dem ich sie, was ich auch versuchte, nicht lösen konnte. Nur, warum wollte ich sie lösen, erlösen, aus ihrem Traumparadies vertreiben? Eifersucht, oder die Angst des Arztes vor der nicht zu deutenden Tiefe ihres Schlafes? Wohl beides, gestand er sich, doch jetzt?
Die Erscheinung der Alten, mit den merkwürdig brennenden Augen, unter dem roten Kopftuch, dazu mein Gefühl oder Wissen: Dir, Frau, bin ich schon begegnet, irgendwann haben mich diese Augen schon angeschaut! Ihr Verschwinden! Sie ist nicht fortgegangen, das hätte ich bemerkt, sie hat sich in Nichts aufgelöst, verschwand! Dazu das Tagebuch, Noras Porträt und Schrift, die Warnung, es zu lesen und bis dahin vor Nora geheimzuhalten.
Bernd schüttelte sich, etwas Kaltes in seinem Rücken ließ ihn erschauern. Er drehte sich brüsk um, aber da war nichts. Sehe ich am hellen Tag Gespenster? Kaum gedacht, ging ihm auf: Ja doch, hier scheint`s Gespenster zu geben, wie sonst käme ich an das Oktavheft in meiner Hand?
Das hieß zusammenreißen, du bist Chirurg, Naturwissenschaftler, schärfte er sich ein. In Freiburg gab es in den achtziger Jahren ein Institut für parapsychologische Phänomene, geleitet von einem Professor Bender, der nach langer Forschungsarbeit die meisten Erscheinungen erklären, als natürlich vorkommend klassifizieren konnte, aber eben nicht alle.
Also, befand er, was ich hier erlebe, scheint zu den mit Rationalität nicht erfassbaren Phänomenen zu gehören. Ich werde Nora das Tagebuch nicht zeigen, dafür die Dinge und Begebenheiten um uns herum, genauestens beobachten. Mag sein, irgend etwas taucht auf, geschieht, oder aber ich habe nur die Kornmuhme gesehen, vor der uns als Kinder Angst gemacht wurde.
Aber da war noch Noras Kleid, von ihrer Mutter getragen, vom Vater als Baby in den Windeln aus Ostpreußen mitgebracht, von beiden Trägerinnen gerühmt als ein Kleidungsstück, das beim Tanz Flügel verleiht.
Dieses Kleid und seine unerklärbaren Eigenschaften, bewogen Nora, wie sie am ersten Abend unserer Begegnung erklärte, Physik zu studieren. Das Kleid, vorgeblich angefertigt Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts, aber anzusehen und anzufühlen, als ob eben vom Schneidertisch gekommen.
Jetzt diese Frau, oder soll ich Hexe sagen? Hexe ist nicht angemessen, nicht für jemanden, der die Dinge aus wissenschaftlicher Sicht beurteilt. Ich werde das Tagebuch schleunigst lesen, mir mehr Handschriftliches von Nora ansehen, was ich bisher sah, waren schnell hingeworfene Notizen, Benachrichtigungen. Buch, Kleid und die sich in Luft auflösende Alte geben zu denken. Soll ich das Ganze beiseite schieben, hoffen, ein Traum erhellt die Sache in einer der kommenden Nächte? Manchmal sind Träume eben keine Schäume, manchmal flinke Boten des Unbewußten, die Kompliziertes zu Selbstverständlichem umzumünzen vermögen. Verlass mich einfach darauf, kommt Zeit kommt Rat.
Nora weckte ihn aus seinen Grübeleien. „Bernd, was ist dir?" Sie nahm seinen Arm und führte ihn zu Rogowski und den Sängern, die sich an die Kaffeetafel in der ehemaligen guten Stube gesetzt hatten.
„Siehst aus, Liebster, als wäre dir wer weiß wer begegnet,“ bohrte Nora.
Bernd winkte ab. „Ist nichts, eine Nachdenklichkeit, immerhin befinden wir uns auf geschichtsträchtigem Boden. Beschäftigt mich, das was wäre wenn.“
„Du meinst, Bernd, was wäre, es hätte den Krieg nicht gegeben? Das male ich mir nicht aus, schlimm, auf dem Bild suche ich uns vergeblich!“
„Ach Kind, daran läßt sich aber die Weltgeschichte nicht festmachen! Sicher wäre dir ein anderer über den Weg gelaufen, oder du wärest nach dem Gotha, eurem Herdbuch, wie du das nanntest, standesgemäß verkuppelt worden.“
„Schluß jetzt! Ich mag mir sowas nicht anhören, besonders nicht, weil es so hätte kommen können. Komtess Kelm die Zuchtstute, gute Ahnen, zu beachten bitte ich das prächtige Gesäuge, eine Garantie für die Aufzucht gesunder Würfe! Lach nicht, so ähnlich funktioniert das. Wozu sonst brauchte das adelige Gesochs Erblinien, seit es die Fotografie gibt, eindeutige Fotos mit spezifischen Merkmalen!“
„Nora, du übertreibst, hört sich beinah pornografisch an!“
„Ja doch, so meinte ich es, aber bitte, ich lenke ein, streich pornografisch und ersetze es durch obzön. Weitere Abstriche erlaube ich jedoch nicht.“
Unterbrochen wurden sie wieder durch Rogowski, der an sein Glas klopfte, eine kleine Ansprache auf Polnisch hielt, sich dann seinen Gästen zuwandte.: „Liebe Gäste,“ redete er sie mit erhobener Stimme an, „nachdem Ihr uns die EhreEurer Anwesenheit geschenkt habt, möchten wir uns mit einem Heimatlied in masurischem Dialekt bedanken. Danach essen wir den Kuchen auf, trinken den Kaffee aus, und gehen unsrer Wege. Ich bleibe euch als Kutscher erhalten, die anderen aber müssen arbeiten.“
Nachdem das masurische Heimatlied, getragen und ganz in Moll, sechs Strophen und einiges davon zu verstehen, abgesungen war, Kaffee und Kuchen verzehrt, gab es ein großes Stühlerücken und Winken. Im Nu saßen Nora, Bernd und Rogowski allein am Tisch. Ein Lanz-Bulldog aus der Vorkriegszeit, uralt aber tauglich, zog einen grossen Leiterwagen auf dem die Frauen es sich, die Beine durch die Sprossen gesteckt, bequem gemacht hatten. Sie schrien polnisches herüber, und Rogowski drohte ihnen mit der Faust.
„Was haben sie gerufen?“ wollte Nora wissen, aber Rogowski schüttelte den Kopf, sah seine Gäste an und fragte: „Wollen wir?“ wobei er sein Kinn in Richtung Karlchen schob, der an einer Krippe bedächtig seinen Hafer kaute. „Bitte noch einen Moment, Rogowski,“ bat Nora und zog Bernd mit sich zum Museum.
„Weißt du, Bernd“ sie sah zu ihm auf und zog seinen Arm um ihre Taille, „ich muss nochmal hin. Mir ist, als hätte ich was vergessen, etwas gutzumachen. Deshalb bleibe bei mir, sieh mit mir hin, ob etwas daliegt, auf mich wartet. Was ich für krauses Zeug rede, was sollte auf mich warten, aber es ist mir so, kann mir nicht helfen.“
Liebste Nora, ging es Bernd durch den Kopf, wenn du wüsstest, was ich weiß und bei mir trage. Bis jetzt nur dein Porträt. Habe noch nicht gelesen, was du geschrieben haben könntest, oder die geschrieben hat, die aussah wie du und genauso schrieb.
Vertrackte Geschichte, könnte mit dem Gedanken spielen, den Urlaub abzubrechen und dorthin fahren, wo es keine Kelms gegeben hat. Doch will ich das wirklich? Wäre Flucht, Flucht vor einem Phantom, einem Phantom, das in kommenden Jahren an Kontur einbüßen, irrealer werden würde, und ich hätte das Hasenpanier ergriffen. Abgesehen davon, wie sollte ich das Nora erklären? Sie schockieren, indem ich ihr das Tagebuch zu lesen gebe, ihr gleichzeitig meine Furcht gestehend? War es Furcht? Eher wohl ein kalter Schauer, der trotz der heissen Sonne frösteln machte.
Sie betraten den dämmrigen Raum, in dem das von Seegrund Übriggebliebene gesammelt war. Nora löste sich aus Bernds Arm und ging einen halben Schritt vor ihm her, die auf Tischen und Bänken ausgebreiteten Überbleibsel eingehend betrachtend. Als sie schon zweidrittel der Runde hinter sich hatten, hastete Rogowski herein, erklärte, das Wichtigste habe er beinahe vergessen, schloss eine eiseren Kassette auf, entnahm ein kleines gerahmtes Bild, das er Nora mit den Worten überreichte: „Komtess, ich sprach Ihnen von dem Bildnis der Gräfin Natascha von Kelm, deren Ähnlichkeit mit Ihnen unverkennbar ist." Nora nahm es, betrachtete es eingehend, gab es Bernd mit der Frage weiter: „Siehst du die Ähnlichkeit, von der unser Freund spricht?“
Das Blatt, offensichtlich ein aus einem Buch gerissener kolorierter Stich, zeigte eine alte Dame mit feinen Zügen von geschätzten sechzig, siebzig Jahren. Bernd warf einen kurzen Blick auf die Darstellung, und stellte erleichtert fest: „Eine gewisse Familienähnlichkeit mag erkennbar sein, jedoch, lieber Rogowski, mit der Komtess nur wenig Gemeinsames.“ Mit diesen Worten gab er ihm das Bild zurück.
Rogowski sah Bernd entgeistert an. „Aber, Herr Doktor,“ rief er, „die Ähnlickeit ist unverkenn....“ und brach mitten im Wort ab. Nora hatte sich umgedreht und bemerkte, wie der Kutscher sich ans Herz griff und stammelte: Unmöglich, danach ein Schwall polnischer Wörter. Es war nicht zu erkennen, ob er fluchte oder betete.
Es brauchte einige Zeit, bis er sich soweit gefaßt hatte, erklären zu können, das Bild aus der Kassette sei vertauscht worden. Was er habe zeigen wollen, sei über jeden Zweifel ein Porträt gewesen, das der Komtess Nora Doppelgängerin war. Wie die Vertauschung hat zustande kommen können, sei ihm ein Rätsel dessen Lösung, darauf könne man sich verlassen, er betreiben werde. Er hoffe es gelinge ihm noch vor Abreise der werten Gäste! Der Arme war wie versteinert, seine gestelzten Worte ließen erkennen, wie unwohl er sich fühlte.
Bernd legte einen Arm um seine Schulter und beruhigte ihn: „Rogowski, machen Sie sich nichts draus, wir wissen, wie Komtess Nora ausieht, das Porträt hätte sie um keinen Jota schöner gemacht, allerhöchstens eitler!“
Nora drohte ihm mit der Faust, sagte sonst aber nichts, zu deutlich lag in der Luft, wie verunsichert der Kutscher war.
„Gut, Sie haben ja recht, Herr Doktor, hatte mich auf die Gesichter der Komtess Nora und des Herrn Doktor gespitzt! Na, hat nicht sollen sein, fahren wir zurück nach Haus, müssen noch mal durchs Wasser, sollte nicht dunkel sein bei dem Manöver.“
Lulu meinte, zum ersten Mal nicht mehr traurig, „der Adam hat uns zugesehen und sich diebisch gefreut. Heute Nacht erst ist mir siedendheiß eingefallen, hätten wir den Ärmsten in eine Urne eingesperrt, wie sollte er Blume, Strauch oder Baum werden? Ich sage so einfach, ist mir eingefallen, überlege ich es recht, könnte es Adam gewesen sein, der mich auf den Gedanken gebracht hat. Hat in Seelenkontakt mit seinen Pflanzen gelebt, warum nicht auch mit mir, war lange Jahre eine seiner Pflanzen. Hier verschattete sich ihre Miene, sie schluckte, so war das, presste sie heraus, ich war Teil seines Grünzeugs. Hauptgrund unserer Scheidung, konnte nicht nur, wenn auch geliebte Blume sein. Vorbei, aus und vorbei. Leb wohl Adam, werde ein glücklicher Baum.“ Dann war es mit Lulus Fassung vorbei, sie knickte ein und weinte bitterlich.
Ich brachte sie ins Haus und zu Bett. Gegen Abend, Bernd war noch nicht da, klopfte sie an die Wand. Ich ging hinüber und fand sie abreisefertig.
„Nora Liebes, ich bin weg,“ erklärte sie. „Hier fang ich mich nicht, überall ist Adam. Fritz Agelski wird sich um den Garten kümmern, habe ich dir das schon gesagt? Ich kann dem Adam nicht das Wasser reichen, schränkte Fritz seine Möglichkeiten ein, aber mir einen Überblick verschaffen, dann aus dem Kleinod etwas pflegeleichtes machen, trau ich mir zu, versicherte er.“ Lulu umarmte mich, zwei gehauchte Küsse, ich half ihr mit dem Gepäck und sie brummte ab.
Gleich würden wir am See sein. Die Flüge von Düsseldorf nach Warschau, von da mit einer kleinen Propellermaschine nach Lyck, klappten pünktlich und reibungslos. Jetzt saßen wir in einer zweispännigen Kutsche und wurden von Pan Rogowski, der gut deutsch sprach, kutschiert.
Das Wetter war einmalig. Wolkenlos der Himmel, die Luft bewegt genug um die Hitze in Schach zu halten. Dazu Hufgeklapper, Bernd an meiner Seite und das vier Wochen lang, Tag und Nacht, was mehr konnte ich mir wünschen? Die Fahrt durfte ewig dauern, träumte ich hoch hinauf in die blaue Luft. Die Szenerie ringsum war bestimmt von grün, mal durchzogen von Holunderduft, mal mit schwereren, an faulendes Holz und Moor gemahnenden Gerüchen beladen.
Bernd drückte meine Hand. „Sieh mal," sagte er. Ich folgte seinem Blick, vor uns lag der See. An seinem uns gegenüber liegenden Ufer, fünf spitzgieblige Häuschen, jedes mit einem weit ins Wasser hineinragenden Steg.
Unser Kutscher zügelte die Pferde. Als der Wagen stand, drehte er sich zu uns.
„Genau wie im Prospekt?“ fragte er. Wir nickten, die Häuser waren von da wo wir standen, fotografiert worden.
„Welches wollen Sie?"
„Sind alle noch frei?" fragte Bernd.
„Eine Familie reist nächsten Sonntag an, ein Ehepaar mit zwei Kindern. Ich würde raten, nehmen Sie die letzte Kate, da stört niemand das junge Glück," lachte Rogowski.
„Stimmt," lachte Bernd zurück, „nehmen wir die Letzte, da braucht niemand bei uns vorbei. Abgemacht."
„Schön, meine Herrschaften, darf ich Sie jetzt um ihre Papiere bitten? Bekommen Sie spätestens morgen zurück, ist leider noch nicht abgeschafft, die staatliche Schnüffelei," sagte Rogowski und genierte sich.
„Geht in Ordnung," nickte Bernd. „Aber bitte, zeigen Sie uns erst unsere Kate, ich möchte die aus der Nähe sehen."
Rogowski schnalzte mit der Zunge, die Gäule zogen an, doch nach fünfhundert Metern war Schluss, der befestigte Weg zu Ende. „Um das Gepäck müssen Sie sich nicht sorgen, das lass ich bringen, folgen Sie mir bitte den Fußweg am Wasser entlang." empfahl Rogowski in seinem etwas ruckeligem Deutsch, und ging vor.
Kam mir bekannt vor das Ganze, erinnerte mich stark an Rieseby. Ich drehte mich zu Bernd um, „so sieht es bei mir zuhause aus, richtig heimatlich hier."
„Was glauben Sie, wie Sie sich zuhaus fühlen, wenn Sie einen selbstgefangenen Hecht in der Pfanne haben," machte Rogowski auf die Möglichkeiten des Sees aufmerksam.
Achtung Nora, schoß es mir durch den Kopf! Selbstgefangen, selbst getötet, selbst ausgenommen, geschuppt, entgrätet? Nein!
„Herr Rogowski, das Hechtfangen möchte uns ja noch Freude machen, aber was dann getan werden muss, weniger," protestierte ich.
„Kann ich Abhilfe schaffen. Sie brauchen nichts selbst zu tun, weder fangen noch sonst was. Ein Heer dienstbarer Geister wartet auf Ihren kleinsten Fingerschnipp."
„Sehr gut hört sich das an, Pan Rogowski, werden wir gern in Anspruch nehmen,“ freute sich Bernd.
Die Kate war geräumig, zwei Zimmer mit großen Fenstern, Fliegendraht gesichert. Ein Riesenbett mit einem Berg von Plumeau. Der andere Raum, Tisch, gepolsterte Bank und Stühle. Eine Petroleumslampe, der Schirm bemalt mit See- und Fischmotiven. Ein modernes Clo und Dusche.
„Geht nichts ungeklärt in den See," beeilte sich Rogowski zu versichern. „Die Katen sind an ein modernes Dreikammersystem angeschlossen, das je nach Bedarf entleert wird."
Vor der Eingangstür ein geräumiger Sitzplatz, ganz eingekreist von Fliegendraht.
„Na, vor den Biestern scheint ihr ja mächtig Respekt zu haben, Rogowski," Bernd zeigte auf die Verdrahtung.
„Und ob, Herr Doktor, aber Sie werden nicht behelligt werden, so früh im Jahr. Zwei Monat später sieht das schon anders aus. Zur Mückenzeit, kommen kaum Gäste aus dem Westen. Da sind die Polen unter sich, die fluchen zwar auch, sind aber stoischer im Ertragen. Steht im Prospekt: Ab Juli, Schnacken. Jetzt ist die schönste Zeit, das Wasser angenehm kühl, die Tage nicht zu heiß, die Nächte hell und die Liebe jung. Besseres wünscht sich der Mensch nicht. Ich lass Sie allein, Gepäck kommt sofort. Haben Sie Wünsche wegen des Essens?"
„O ja, Herr Rogowski, gegen sechs, Hecht masurisch!"
„Gute Wahl, werden Sie glücklich mit werden."
„Also bis später. Halt, darf ich jetzt um Ihre Pässe bitten?"
Rogowski kassierte unsere Papiere und zog ab. Wir setzten uns. Rauh aber herzlich, Kate und Katenherr, stehen sich da in nichts nach. „Zufrieden, Nora?"
„Mit dir, Bernd, überall. Aber ohne Scherz, ich finde es originell. Komfort der Extraklasse habe ich nicht erwartet. Das hier ist was für Leute, die Natur dem raffiniertesten Komfort vorziehen. Nun mach nicht so ein Stadtgesicht, was verlangst du? Wir sind auf dem allerplattesten Land. Da haben die Leute erst Ende des Achtzehnten Jahrhunderts sprechen gelernt, sagt man bei uns in Rieseby. Dafür, meine ich, spricht der Rogowski ganz leidlich. Komm, wir stecken die Füße ins Wasser, bin gespannt, wie kalt das ist. Nein, runter mit den Klamotten und rein ins Feuchte, nur so kriegen wir das hier in den Griff."
Bernd sah sich um. „Stopp, Nora, da kommt unser Gepäck, mach die Jungs nicht mit deinem Nixenleib verrückt."
Die Koffer wurden schnell und fachmännisch auf ausziehbare Regale gewuchtet, die Jungs bekamen ihre Zlotys, und wir waren in den Ferien. Ich machte sofort weiter mit dem Auspellen, Bernd stand etwas abseits und sah mir zu. Warte, dachte ich, nichts gegen ein Einweihungsnümmerchen, aber erst will ich Reisestaub und Schweiß dem See schenken. Bevor Bernd nur Anstalten machen konnte, sich mir in eindeutiger Absicht zu nähern, nahm ich Anlauf und sprang mit einem kräftig gedrückten Hechtsprung ins Wasser. Es war verdammt kalt. Wie eine Schraubzwinge drückte es den Brustkorb zusammen, mit dem Schwung des Sprungs fuhr mein Kopf an die Oberfläche, erst einmal tief einatmen. Ich strampelte wie wild, schnappte zwei dreimal nach Luft und hatte mich im Griff.
Bernd stand am Rand der Plattform. „Kalt?" fragte er.
„Verdammt kalt, aber spring rein," lockte ich ihn. „Über die Leiter ist es noch unangenehmer. Ich empfinde die Temperatur schon als angenehm."
„Bist Frau," nölte er, „Frauen sind besser wärmeisoliert."
„Wenn wir uns aneinanderkuscheln, gegenseitig wärmen, hast nichts dagegen, dass ich Frau bin, oder?" neckte ich.
„Liegst richtig," und während er das sagte, segelte er schon durch die Luft und tauchte mit nicht allzuvielen Spritzern unter. Auftauchen tat er mit einem gewaltigen Schrei: „Du Luder," schrie er, „Eiswasser ist das, pures Eiswasser."
„Komm, kraulen wir zur Plattform, die schwimmt da irgenwo in der Mitte," spornte ich an, und ab gings. Einen Arm über den anderen gezogen, und fleißige Beinarbeit brachten mich schnell vorwärts. Ich drehte mich um und sah Bernd hinter mir mächtig aufholen. Gut so, Liebster, Schwimmen ist eine Disziplin, bei der es nicht nur um Kraft geht. Geschmeidig Nora, fließend werden, hört ich die Stimme meiner Sportlehrerin, wir wollten das Lyzeum aus Kiel besiegen. Ging daneben, aber Zweite sind wir geworden. Hätte Annegret bei der Staffel nicht gepatzt, wäre es unser Rennen gewesen.
Also zog ich gleichmäßig durch, nur keine falsche Welle erzeugen. Ich fühlte, wie das Wasser mich vorwärts schob, lag also goldrichtig. Das Schnauben hinter mir wurde leiser, ich guckte aber nicht, war völlig gefangen in Antrieb und Strömung, fühlte mich als Teil des Wassers.
Da, vor mir eine schwarze Silhouette, ich ließ auslaufen, die Plattform. Eine Holzleiter mit einem Seil, ich zog mich hoch auf die Planken. Fühlte mich wunderbar.
Bernd war etwa zehn Meter zurück, lag auf dem Wasser und rief zu mir herauf: „Herrlich, noch nie so weiches Wasser gefühlt, richtig glitschig ist das. Soll ich raufkommen oder kommst du runter?"
„Ich komme, Bernd," rief ich, und sprang ihm entgegen. Das Wasser war glasklar, ich hatte genug Luft, blieb unten und pirschte mich tauchend von hinten an ihn heran, griff mir sein Gemächt. An dem plötzlichen Schnackler erkannte ich, wie sehr ich ihn überrascht hatte. Also nix wie weg, zwei drei kräftige Züge, dann tauchte ich mindestens zehn Meter links neben ihm auf.
„Tauch mal, Bernd," rief ich scheinheilig zu ihm rüber, „du kannst meterweit sehen."
„Ja, Liebste, es ist umwerfend. Habe es mir überlegt, verzichte ab sofort gern auf gewohnte Bequemlichkeit, wichtig ist, wir sind zusammen. Komm näher, ich möchte dich umarmen."
Während er das sagte, arbeitete er sich, wie er hoffte, unbemerkt auf mich zu. Ich kalkulierte, ab fünf Meter konnte er mich schnappen, da war sein vor mir gestartetes Antriebsmoment gefährlich. Ich beobachtete ihn genau, sah, wie er mit abgewandtem Gesicht tief Luft holte und wegtauchte. Unter Wasser erkannte ich, wie er in einem wilden Wasserwirbel auf die Stelle zuschoß, an der ich eben noch gewesen. Er war nicht weiter als zwei Längen entfernt, aber ich sah ihn, er mich nicht. Also erneuter Zugriff, er sah sich wassertretend nach mir um, als ich wieder an ihm war. Diesmal kitzelte ich ihn nur leicht. Seine Hände fuhren herunter, haarscharf an meinen vorbei. Ich drehte mich auf den Rücken, setzte beide Füße auf seine Schultern und stieß mich kräftig ab. Das gab mir einen Vorsprung von drei vier Längen, den ich hielt, bis ich mich auf den Steg vor unserer Kate geschwungen hatte.
„Erster, erster," schrie ich und tanzte auf dem Steg herum. „Gib mir deine Hand, zieh mich hoch," bat Bernd. „Ist nicht, nein heute trau ich dir nicht, willst mich unsittlich berühren," schäckerte ich zu ihm runter und ließ meine Brüste hüpfen.
„Komm rein ins Haus, da darfst du dich rächen, wie und solange du willst." Ich ließ den Po kreisen und rannte frühzeitig genug weg.
Auf dem Steg erwischte er mich nicht, aber er war dich hinter mir, als ich durch die Tür fetzte und mich aufs Bett warf. Bernd packte mich, steckte seinen Kopf zwischen meine Beine und tupfte seine Zungenspitze über die empfindlichen Innenseiten meiner großen Lippen. Ich lag ganz still, klappte mich soweit als möglich auseinander, um ihm Raum für seine Spiele zu geben. Plötzlich ging ein Ruck durch meinen Leib, ich steilte mich hoch, drückte mein Kätzchen an diesen saugenden Mund, schrie, packte seinen Kopf, riss ihn fort von da, wo nur ungestillte Raserei entstand. Wir wurden ein Knäuel, und endlich war sie da, die fauchende Schlange, fuhr hinein in mich, schob und drückte, wurde größer, dicker, entlud ihren heißen Strahl genau dahin, wo sein Auftreffen einen weiteren, unerträglich wonnig sich dehnenden Orgasmus auslöste.
Ich lag da mit geschlossenen Augen. Erschöpft war ich, jedoch von einer bis dato nie erfahrenen süßen Erschöpfung, die, gab ich mich ihr hin, in Jubel umschlug. Jubel über das Glück, die Geborgenheit und das erfüllte Sehnen nach dem Anderen, der meine Sehnsucht mit seiner stillte.
Wie lange wir uns wachträumend in den Armen gelegen, wen interessierte das? Eine heftig geläutete Glocke holte uns in den Tag zurück. Rogowski stand am Steg vor der ersten Kate, und ließ die an einem Galgen befestigte Glocke tanzen. Er führte eine Hand zum Mund, rieb sich den Magen, versuchte zu erkennen, ob wir ihn verstanden.
Bernd ging zum Fenster, legte die Hände an den Mund und schrie: "Hunger!"
Augenblicklich verschwand Rogowski, kehrte jedoch sofort zurück, gefolgt von drei Frauen, die mit Schüsseln und Körben beladen waren.
„Unser Futter," drehte ich mich um zu Bernd, doch der war schon verschwunden, um in Hemd und Hose zu springen. Ich tat es ihm gleich, fuhr mir schnell durchs Haar, hörte schon das kling-klang aneinander stoßenden Porzellans näherkommen.
Rogowski stellte seine Frauen vor. „Töchter Maria und Sofia, Frau Sonja. Zubereitet haben wir: Hecht in Butter gebraten und Aal, gestern aus dem Rauch genommen. Dazu Kartoffeln, genügend übrige Bratensoße und eine Flasche mit selbst gebranntem Wodka.“
„Schwarz gebrannt, Rogowski?" fragte Bernd, der gab mit breitem Grinsen dergestalt Antwort, dass er auch für den Dorfpolizisten brenne, ob das noch Schwarzbrennerei sei?
Bernd überlegte einen Moment, wackelte dann verneinend mit dem Kopf. "Gutester," grinste er, „wo Obrigkeit mit von der Partie ist, beginnt die Legalität."
„Denke ich mir," nickte Rogowski und fuhr fort: „der Wodka macht durstig, bitte den Durst unbedenklich vom Kran stillen, unser Wasser ist das sauberste von ganz Polen, ich übertreib mal ein wenig, von ganz Europa! Nu esst schnell, damit nichts kalt werden möcht, und guten Appetit." Die vier drehten sich um, und verschwanden im Gänsemarsch über den schmalen Uferweg.
Bernd filetierte den Hecht fachgerecht, legte mir die schönsten Stücke vor, hieß mich probieren. Der Fisch schmeckte frisch und zart, ich hatte schon gefürchtet, er könne wegen seiner Größe alt und trocken sein, war aber nicht. Bernd meinte, der findet genug zu Räubern, da wächst er schnell und schnappt jung und zart nach dem Haken.
War ein köstliches Mahl, unser Hunger plötzlich groß. Ehe wir es recht wahrnahmen, war der große Fisch ratzekahl aufgefressen.
„Oh," Bernd patschte sich den Bauch, „der Bratenfond, aufgesaugt von den Kartoffeln, ist eine fettige Ladung, die könnt uns querstehen."
„Sagt das der Arzt?" fragte ich.
„Ja auch," antwortete er, „aber mehr noch die Erfahrung. Lass uns ein Schlückchen Wodka, zur Verdünnung darauf schütten. Danach sehen wir uns die Umgebung an, ordentlich Laufen, hilft der Verdauung auf die Beine."
Der Tag war noch jung, vor zehn würde es nicht dunkel werden. Bernd setzte die Flasche an den Hals, ließ sich ordentlich Schnaps durch die Gurgel laufen. Ein hervorragendes Wässerchen, lobte er. Ich war da vorsichtiger, goß mir einen Schluck in ein Wasserglas, steckte vorsichtig die Zunge rein. Brannte das Zeug, ach was, mit einem Ruck hinter damit.
Trieb mir die Tränen in die Augen. Bernd stand da und lachte, konnt sich garnicht fassen.
„Lach nur," fauchte ich, „ahnte nicht, mich mit einem Säufer eingelassen zu haben."
„Aber räumt doch auf," Bernd zog mich an sich, nahm mich um die Taille und schob eine Hand unter mein Shirt. „Hilft dem Bauch, ich fühle es."
„Du fühlst es, du tätschelst meine Brüste nicht meinen Bauch," stieß ich ihn zurück. Entscheide dich Mädchenfresser, Spaziergang oder Bett?"
„Bett, Liebste, ist aufregender, doch wir haben alle Bettzeit der Welt. Deshalb plädiere ich für den Spaziergang."
Wir versuchten, von den Katen weg um den See zu kommen, aber nach einer halben Stunde ging es nicht weiter, der schmale Pfad endete in Dickicht und Sumpf. „Sieh, Nora," Bernd zeigte auf einen Nachen, der halb im Schilf verborgen lag.
„Den nehmen wir und staken damit zurück," schlug er vor.
Ich hatte Bedenken, „Der gehört sicher jemanden?"
„Gehören schon," stimmte Bernd zu, „ich nehme aber an, jeder, der einen Kahn braucht, nimmt sich einen. Zur Not bringen wir den zurück. Komm, steig ein, ich fahre uns zu Rogowski."
„Zu Rogowski? Wie willst du den finden?"
„Habe ihn schon gefunden, Liebes, komm steig ein, erlebe männliche Überlegenheit."
Tatsächlich, nach einer guten halben Stunde rudern und staken, erreichten wir das Ufer den Ferienhäusern gegenüber. Bernd half mir aus dem schwankenden Nachen, machte den mit einem Strick, der am Boden lag an einem Pfahl fest und fragte die Kinder, die sofort, als sie unsere Landung bemerkt hatten, von überall herkamen, nach Rogowski.
„Driben, driben dorten," sagte ein Mädchen mit strickgeraden, blonden Zöpfen auf Deutsch. Wir liefen hinter der Corona her, die uns den Weg zeigte.
Rogowski kam uns entgegen, hatte keinerlei Bedenken wegen des Bootes. Ist, wie der Doktor sagt, bestätigte er, brauchst du ein Boot, nimmst du es dir.
Wir erzählten ihm, wie wir uns festgelaufen hatten, und fragten nach einer örtlichen Karte oder ähnlichem. „Örtliche Karte ist nicht," bedauerte er, „aber einen Moment mal, ich habe da etwas herausgefunden. Kommen Sie doch bitte mit mir ins Haus."
Sein Haus glich aufs Haar unserer Kate, nur war es mit Bildchen, Deckchen, einer Nähmaschine und all den Sachen, die Menschen beim Wohnen um sich versammeln, bevölkert.
„Bitte Platz zu nehmen," bot Rogowski etwas steif an, bevor er zur Sache kam.
„Bevor ich Ihre Pässe eingesammelt hatte, wusste ich, dass Sie Frau Kelm waren und Sie Doktor Bern, mehr brauchte es nicht, Sie vom Flugzeug abzuholen. Jetzt eben setze ich mich, Ihre Daten in die Anmeldeformulare zu übertragen, und stelle fest: Frau Kelm, ist die Gräfin Nora von Kelm. Ich möchte Sie morgen dorthin führen, wo die Kelms Jahrhunderte lang gesessen sind, wenn Sie, Komtess, von der ostpreußischen Linie der Grafen Kelm abstammen."
„Ja, Herr Rogowski," konnte ich nur sagen, „meine Vorfahren sind die Kelms, von denen Sie reden."
„Komtess," fuhr Rogowski fort, und seine Stimme schwankte ein wenig vor innerer Bewegung. „meine Familie, die Rogowskis, und noch einige hier aus dem Ort, sind generationenlang bei den Grafen Kelm im Dienst gestanden, bis 1945 der Russe kam und binnen einer Woche jegliches, was noch nicht zerbombt und zerschossen war, anzündete. Waren schwere Zeiten für die Masuren damals, denn sie wussten nicht, waren sie Polen oder Deutsche. Nach der Staatsangehörigkeit Deutsche, aber ihre Sprache, ihr Dialekt lag dazwischen, und polnisch sprechen konnten sie alle.
Na jedenfalls, so nach den fürchterlichen ersten zehn Jahren, wo, wer sich muckte, schon verloren war, ging es besser. Man richtete sich ein. Man fing an zu suchen und zu sammeln. Nicht nur Innen, den Adam sortieren, nein, auch draußen das erhalten, was noch halbwegs in Ordnung war.
War verheerend, alles war kapput geschlagen und verrottet, aber gab Erfreuliches. Das Allererfreulichste ist unser kleines Dorfmuseum, darin die Überreste von den Gütern Seegrund und Steinfeld zu besichtigen sind. Komtess, da werden Sie eine Silberstiftzeichnung, die Gräfin Natascha von Kelm darstellend, bewundern können, eine wunderschöne Dame, die Anno 1858 hochbetagt verstorben ist.
Ich könnte noch lange erzählen, glaube aber, der Augenschein bringt mehr als Worte. Im Museum gibt es eine Karte zu kaufen, worauf die ehemaligen Liegenschaften Steinfeld und Seegrund, mit allen Baulichkeiten verzeichnet sind. Mit dieser Karte können Sie sich gut zurechtfinden, die Gruft der Grafen Kelm können Sie besichtigen, leider sind die Särge und Gebeine entfernt worden. Die Kommunisten haben sie irgendwo anonym vergraben, damit keine Kultstätten entstehen möchten.
Hier, wo Sie sich gerade befinden, ist Seegrund. Seegrund haben die Kelms Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts erworben, und mit Steinfeld zusammengelegt. Also heute Nacht, Komtess, schlafen Sie Zuhause".
Wir verabschiedeten uns, und verabredeten einen Museumsbesuch für den nächsten Tag. Langsam schlenderten wir am Seeufer entlang. Ich fühlte, wie mich eine kleine Wehmut beschlich. Zuerst versuchte ich ihr allein Herr zu werden, doch die Stimmung hatte mich im Griff. Als wir den Seeuferweg erreicht hatten, fragte Bernd: „Was ist los, mit meiner süßen Komtess? Was macht sie traurig?" Ich schlang mich ganz fest bei ihm ein, schüttelte den Kopf. Was sollte ich sagen? Doch ich sagte es:
„Bernd, da ist ein Gefühl, etwas mir Nahes, fühlt sich an wie ich. Kann es nicht ausdrücken, am nächsten kommt es einem Zwillingsgefühl, einer zweiten Nora. Ist Unfug, aber kann mir nicht helfen, es ist so.
Ich glaube nicht, es hat mit Steinfeld oder Seegrund zu tun. Das berührt mich nicht, habe nie eine Beziehung dazu gehabt. Ist sechzig Jahre her, dass hier die Hölle wütete.
Andererseits scheint es Rogowski mit seiner Erzählung ausgelöst zu haben. Von weit her, berührt mich die Dame. Gräfin Natascha müsste meine Urururururgroßmutter sein. Genügt fünfmal Ur, Bernd?"
„Ich weiß nicht, aber denke, es reicht, Liebste. Ich fühle mit dir. Versetz ich mich in deine Lage, stände ich auf dem Boden, der meinen Vorfahren Jahrhunderte gehört hat, müsst ich schlucken, steckte das nicht so einfach weg.
Aber lass uns unsere Kate, mit dem herrlichen Bett aufsuchen. Du kuschelst dich fest in meinen Arm, ich singe dir Wiegenlieder. Schöne alte Lieder, Vicky und ich haben die vor Jahren gesammelt, ich kenne die Texte und Melodien. Ist oft die Rede von der Vergänglichkeit, der, die Menschen empfinden. Ist ihr Schicksal, die Wirklichkeit ist Dauer, Ewigkeit.
Ich verdünne dir den Wodka mit Wasser, bis er deine Zunge nicht mehr beißt. Du trinkst, bis Nebel aufsteigt, der dich in meinem Arm behutsam ins Traumland trägt."
Bis auf den verdünnten Wodka, der ecklig schmeckte, hielt Bernd, was er versprochen hatte.
Er sang mit seinem samtenen Bariton mir unbekannte Lieder, ich kuschelte mich selig träumend in seinem Arm, fühlte mich größer und leichter werden, schweben, wurde Luft, um bald als von der Sonne rot bemalte Wolke am Himmel zu stehen; gleichzeitig sah ich mich in der Kate am See, mit Bernd im Bett.
War beglückend, wie der Traum mich entführte. Tief unter mir, in der Abendsonne glühend, der schilfgesäumte See, grüne Ränder, die aufgingen im unendlichen Blätterdach der Baumkronen. Dazwischen Einsprengsel von Feldern, und in der Ferne ein rotes Viereck, zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen.
Das sollte sich schnell ändern. Das Viereck wurde zu roten Dächern, weissenHäusern, Gebäuden, die einen großen Hof einfassten. Da liefen Menschen, Pferde angeschirrt vor Wagen. Hunde, Vieh und Geflügel.
Traum, Nora, hör hin, das ist Bernds Stimme, die dir ein Wiegenlied singt, seine Arme, in die du dich schmiegst. Doch da war eine Stimme, die rief: „Komm Nora, komm! Nun mach schon, hast doch gewollt, was ich für dich eingefädelt!“
Das war nicht Bernd!
Liebster, hast du etwas für mich eingefädelt? Bernd schlief, schlief ich auch? Traum?
Da wieder die Stimme: „Traum Nora, sicher, was sonst. Spürst, hast es selbst gesagt, die doppelte Nora!“ Stimmte, hatte ich gesagt, vom Zwillingsgefühl einer zweiten Nora gesprochen.
„Siehst, Marjellchen, hast ein Einsehen. Ich zeige dir Steinfeld, was der Rogowski dir zu bieten hat, Trümmer, Unfug. Hat keine Ahnung, der Tor.“
Das war ich die da stand, doch was hatte ich an? Dieses fußlange Kleid, die Taille unter dem Busen, der große Kragen? Da kam Bernd, auch er mit hohem Kragen, einem grünen, halblangen Überrock zu gelben Hosen. Bevor ich mein Erstaunen gebändigt, trat eine Dame auf mich zu, küsste mich und sagte:
„Nora Liebes, was siehst du mich gar so erstaunt an? Bin nicht der heilige Geist! Du fährst mit Bernd nach Lyck, höre ich?“
Ich nickte. Was sonst sollte ich tun, verschlug mir die Sprache, machte mich stumm.
Die Dame musterte mich kritisch, nahm mich bei der Hand, zog mich die Freitreppe hinauf, hinein ins Schlösschen zu ihrem Boudoir. „Was ist dir, Kind? So kenne ich dich garnicht, vertrau dich bitte deiner Mutter an.“
Aha, so war das, die Dame ist meine Mutter. Ich zeige dir Steinfeld, hatte die Stimme gesagt. Steinfeld war dahin, gab es nicht mehr. Das war ganz sicher. Was ich erlebte, war Vergangenheit, ich schien einer fernen Nora gleichzusehen. Traum, ja, ja. Ist schon gut, ich werde sprechen, würde sich erweisen, ob meine Stimme Noras war, und sagte: „Es gibt nichts, was ich dir anvertrauen könnte, eine kleine Irritation, nicht mehr.“
„Irritation Nora? Gibt es einen Grund?“
„Nein, nein, wüsste keinen Grund, Mama, geht schon vorüber, sorge dich nicht.“
Da hatte ich tatsächlich, zu der Fremden Mama gesagt. Wollte es nicht, versuchte es zu umgehen, doch etwas zwang mir das Mama ab!
Da! Unverkennbar die Stimme: „Mascha, kommst heute noch, oder wird das nichts mehr?“
„Bin schon da, Klapaida, sei nicht so ungeduldig.“ Mascha hieß meine fremde Mutter, die zog mit einem großen Sammelgefäß auf dem Rücken ab mit der Stimme, die sie Klapaida genannt. War zum Staunen das Paar. Mascha mir ähnlich, nein ich ihr ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten. Klapaida, eine Hexe, gäbe es noch den Hexenglauben. Wie die sich gemustert hat, zum Schießen! Ältere Klamotten habe ich nie gesehen, dazu ein rotes Kopftuch, das Gesicht tausendfältig, das trifft es genau.
„Nora, fertig mit Staunen?“
Die Stimme liebte ich, so sprach nur Bernd. Ich drehte mich hin zu ihm, er war es, der Traumzeit wie ich angewandelt. Wir waren allein, jetzt würde er sprechen, mit einem Wort Absurdistan zerstören. Doch er sagte, wir sind verspätet, darf ich dir in den Wagen helfen, bis Lyck brauchen wir gut zwei Stunden, da müssen die Braunen kräftig ausgreifen. Ich sah ihn an, legte mein Innerstes in diesen Blick, doch er bemerkt es nicht.
Der Weg nach Lyck war schauderhaft, sandig mit ausgewaschenen Kuhlen und holprigem unregelmässigem Kopfsteinpflaster. Auf dem schwierigen Weg konzentrierte sich Bernd völlig aufs Kutschieren. Ihn schien das nicht zu stören, kannte es nicht anders. Ich dachte nach, hatte die Zeit dazu.
Ich träumte, was sonst? Fühlte sich an wie Wirklichkeit der Traum, was geschah war plausibel. Nichts Unbegreifliches, bis auf die unbegreifliche Plausibilität, die mich gefangen hielt und unser Doppeltsein. Lag träumend in Bernds Arm, während er hier neben mir, zwei starke Braune durch den Sand eines Feldwegs trieb. War nicht mein Geliebter, war mir klar. Konnte nie intim mit ihm gewesen sein. Ließ diese Zeit nicht zu. Nur wo verdammt, war ich gelandet!?
Neunzehntes Jahrhundert, keine Frage, nur wann? Ob mein Kleid hierher passte, gar von hier kam? Hatte mein Kleid mit meinem Traum zu tun? Hing Zuhaus im Kleiderschrank, Blödsinn es einzuklinken. Obwohl? Quatsch, gleich wache ich auf, werde meinem Liebsten die Leviten lesen! Stur, ohne mich nur einmal anzuschauen, widmete er sich der Kutsche und den Pferde! Manieren sind das!
„Endlich, Nora,“ jetzt kann ich aufatmen, Bernds Stimme. „Ist ein vertracktes Stück Arbeit, die Pferde über die schlechten Wege zu führen. Entschuldige bitte meine Einsilbigkeit, ging nicht anders. Ich fahre gleich fort. Seit wir uns nach der Gans geküsst, sind drei Monate vergangen. Als du dich von mir trenntest, meintest du, du wolltest dich ordnen, hättest danach aber Fragen. Warte bis heute aus diese Fragen, Nora.“
Ich war wie vom Donner gerührt. Nach der Gans geküßt, ich hätte Fragen angekündigt, aber nie gefragt? Da saß ich schön fest, was antworte ich. Konnte doch nichts von einem Traum erzählen, in dem er, Bernd, neben mir die Zügel haltend nicht real war?
Da regte sich meine Zunge unversehens ohne mein Zutun. Ich erklärte meinem Kutscher lachend: „Sicher Fragen, Bernd, nicht nur an den Mann, der mich küsste, nein, mehr noch an den Medicus.“
Medicus? War Kutscher Bernd Arzt? Was ging mit mir vor? Was bemächtigte sich meiner Zunge, Mimik, meines Körpers, Seins und Wesens? Kann nicht nachdenken, muss reden, erklären, wissen wollen vom Medicus.
„Ich muss wissen, Bernd,“ sprach ich weiter, „muss wissen, wie verhindere ich Nachwuchs, wenn eintreten sollte, was nach solch einem Kuss, wie der in deinen Armen, eintritt?“
„Ei Nora, zielt diese Frage nicht zu weit?“ Erstaunen spielte mit in seiner Antwort.
„Nein Bernd, zielt sie nicht. Ich bin erwachsen, Mädchen in meinem Alter sind oft lange Frauen und Mütter. Was ihnen Recht ist, empfinde ich für mich als billig! Nein, nein, ich bestehe auf meiner Frage, heische ernsthafte Antwort.“
„Angekommen, Nora,“ Bernd schüttelte den Kopf, „ich muss dich entäuschen, fällt nicht in den Bereich eines Chirurgen, platt gesagt: Ich weiß nicht mehr als jeder andere. Es gibt alle möglichen Praktiken, von Tierdärmen bis zu Scheideneinlagen, die mit Sperma tötenden Kräuterauszügen getränkt werden, sämtlich höchst unsicher, fragst du mich. Schwangerschaften sind nur durch Enthaltsamkeit zu verhindern. Doch ich empfehle dir, Klapaida zu konsultieren, die berät dich sicher besser als ich.“
„Ungern, Bernd, Klapaida ist so eng mit Mama, möchte das Thema nicht mit Mascha diskutieren. Wie wäre es, du machst dich bei Klapaida schlau, und unterrichtetest mich?“
„Gut, kann ich tun, doch sie wird Mascha prompt von meinem Wissensdurst berichten.“
„Stimmt, Mama wird sich Gedanken machen, sich umsehen nach des Doctors Opfer?“
„So ähnlich, Nora. Wobei mir der Gedanke kommt, ich frage nicht Klapaida, aber du fragst die Mascha. Sie ist erst achtunddreißig, hat vor acht Jahren ihr letztes Kind geboren, wenn da kein Hexenwerk im Spiel ist!“
„Guter Rat, Bernd, doch du rätst, was ich vermeiden wollte.“
Unterdes waren wir Lyck näher gekommen, fuhren, so schien mir, an unserem See mit den fünf Katen vorbei, gleich würde Rogowskis Haus auftauchen. Doch da war nur eine Kate, draußen im See, nichts sonst, kein Dorf, nur Wasser, Schilf und Wald.
Konnte das nur im Vorbeifahren aufnehmen, meine fremdbestimmte Zunge hielt mich in Atem, musste das Gespräch mit Bernd fortsetzen, antworten.
„Hexenwerk, Bernd? Dann wäre die, von dir so gepriesene Kräuterkunst der Klapaida, Hexenwerk?“
„Ist sie das nicht, liebe Nora? Ich müsst nicht Hexenwerk sagen, schwarze Kunst täte es. Jedenfalls glaubt ihr alle, und habt es mehrfach ausgesprochen, Klapaida kann unsichtbar an einem Ort sein. Nun frage dich oder mich, können wir das? Nein, können wir nicht, ist uns unmöglich. Klapaida aber spricht, lacht, alles ohne Körper. Ihr wisst es, sprecht nicht darüber, handelt als sei sie körperlich anwesend, obwohl sie es nicht ist. Ich erinnere an das neunte Gedeck, anläßlich des Besuches von Moses Liebeskind .“
„Ach, lieber Bernd, bitte verlassen wir das Thema, Klapaida. Mir wird unheimlich, denke ich nüchtern darüber nach. Andererseits ist sie ein Segen, und auf den Segen den sie stiftet, können wir alle nicht verzichten. Ist ja nicht nur das Bein von Boris, der Kropf von Moses Köchin. Begänne ich aufzuzählen, was alles auf Steinfeld gedeiht und anderen Orts nicht, käme ich, bis wir wieder Zuhaus sind, zu keinem Ende.“
So war das also. Die Stimme, die meinem Traum befiehlt, Mascha zur Eile spornte, gehörte einer Hexe? Hexe, Heilerin, Wohltäterin? So jedenfalls hatte meine Zunge es gesagt.
„Gut Nora, machen wir ein Ende,“ stimmte Bernd zu. „Wir sind gleich in Lyck.“ Er trieb die Pferde an. „Kommen sicher nicht hinter Klapaidas Geheimnis. Du weißt, ich schätze Ihre Heilkunst über alle Maßen. Freue mich auf ihre Unterstützung, nein falsch, hoffe, sie unterstützt mich auch in Zukunft. Wir sind gleich da. Darf ich dir die Pläne für meine neue Behausung, und das kleine Spital zeigen? Ich hoffe, Lippe hat die Genehmigung aus Königsberg endlich vorliegen. Versprochen hat man uns das schon vor Wochen.“
„Vor Wochen?“ Nora konnte es nicht fassen. „Haben die nicht versprochen, die Pläne würden sofort genehmigt und jetzt dauert es Wochen? Weiß Papa davon?“
„Sicher Nora, Claus hat geraten: Schick dich drein. Du wirst noch öfter mit den Königsbergern zu tun haben, trittst du sie jetzt, werden sie es dir bei anderer Gelegenheit vergelten.“
„Herrliche Moral das!“ Echauffierte sich Nora. „Ich glaubte, in Preußen, verwaltet von der effizientesten Staatsmaschine Europas, käm solches nicht vor?“
„Sicher, Nora, leben wir in Preußen, nur der König ist nicht mehr der Alte Fritz. Der hat säumigen Staatsdienern mit dem Krückstock Beine gemacht. Der konnte zwar nicht überall sein, hat die Bagage aber ständig in Angst und Schrecken gehalten. Wehe, Majestät kam Ausbeuterei oder Kujonieren, seiner Bauern und Handwerker durch Beamte zu Ohren. Dann flogen die Fetzen. Damit ihm bloß nichts entging, hatte er überall seine Inspekteure, die ihm haarklein berichten mussten. Selbst im fernen Cleve, brachte die Nennung seines Namens, die Herrschaften auf Trab!“
„Ach ja, Bernd, der Alte Fritz, voriges Jahr war er dreißig Jahre tot.“
„Da war ich mal eben drei Jahre auf der Welt, Nora, und was hat die Welt seitdem erlebt! Der alte König, sollte er beobachtet haben was geschah, wird vor Grimm seinen Krückstock gefressen haben!“
Als sie in Lyck einfuhren, stand Moses Libeskind vor der Tür seines Hauses. Kaum sah er die Kutsche, ruderte er mit beiden Armen, und hopste wie ein Kind beim Hinkelspiel.
„Sieh den Moses, was ist in den gefahren?“ Nora sah Bernd fragend an.
Ich war das, die Bernd fragend ansah. Ich hatte einen mir völlig unbekannten Moses Libeskind erkannt, mich über die säumigen Königsberger Bürokraten erregt. Ich hatte mich nach der Gans, womit wohl ein Gänseessen gemeint war, von dem Mann der genau mein Bernd war, küssen lassen und hatte Angst, bei Wiederholung schwach zu werden. Recht hatte ich, gab keine Pille aber Tierdarm? Also langsam würde ich gerne wach werden, wurde mir unheimlich der Traum.
„Scheint, er freut sich, Nora,“ Bernd zeigte zu Moses hinüber. „Schau, wie er sich aufführt, scheint gute Nachricht zu haben, die Bewilligung vom Oberpräsidenten?“
„Doctor!“ Moses legte die Hände als Schallverstärker um den Mund, „Doctor,“ rief er, „die Bewilligung mitsamt der Genehmigung ist da!“
Bernd brachte die Pferde für die kurze Strecke auf Trab, und hielt direkt vor dem kleinen Mann.
„Tatsächlich, Moses? ist ja fabelhaft!“
„Kann man laut sagen, Doctor! Bürgermeister Lippe hat sie persönlich überbracht, ist noch keine zehn Minuten her. Womit ich nicht gerechnet habe, ist die Höhe der Bewilligung. Wir könnten, so es Euch recht ist, unverzüglich anfangen zu bauen.“
„Wieviel Taler sind bewilligt worden, Moses?“
Bernds Stimme zitterte, als er das fragte. Hing viel ab von der Antwort. Die Summe, großzügig oder kleinlich bemessen, entschied über seinen künftigen Lebensstil.
„Zehntausend Taler, Doctor!“
Die frohe Botschaft riss Bernd förmlich vom Kutschbock. Mit einem gewaltigen Satz sprang er zu Boden, schnappte den Moses, tanzte mit ihm durch den säuberlich geharkten Sand vor seinem Haus, stellte ihn auf die Füße, sprang zurück auf die Kutsche, nahm mich in die Arme, suchte meine Augen. Ich erwiderte seinen Blick und bot ihm unmissverständlich meine Lippen. Eine kleine Ewigkeit verging, bis wir uns voneinander lösten.
Das tat gut, unverkennbar Bernd. Gleich, ich kannte ihn, würde es zu Weiterungen kommen. Quatsch Nora, ist doch Traum! Ich will wach werden, mich verlangt nach ihm. Kann mir nicht einfach einheizen, ohne zu löschen. Aufwachen! Ich will aufwachen! Noch küssen wir uns, ach ist das schön, geht mir durch und durch. Traum-Nora ist Jungfrau, wie ich, bis vor zwei Wochen. Ahne, wie sie sich sehnt, nein fühl es. Möchte sich die Kleider vom Leib reißen, rossig war sie, so nannte sie ihr Verlangen. Bin gespannt, was jetzt kommt. Der Doctor hat die Komtess Kelm, auf offener Straße am hellem Tag geküsst. Darauf steht Ehe! Ehe, so er ebenbürtig ist, Graf, Baron, so etwas jedenfalls. Nora, das Buch! Das Buch aus dem Sternverlag! Da spricht die Autorin Nora von ihrem Ehemann, dem Medicus Graf Bernhard zu Bern. Genau, also wird er um meine Hand anhalten, wir werden heiraten, ich werde Gräfin Bern und das Buch schreiben. Traum, bitte mach weiter, ich will nicht aufwachen. Eine Hochzeit im Biedermeier! Nicht ganz, aber fast! Mehr Romantik geht gar nicht. Hoffentlich erklärt er sich schnell, länger als eine Nacht, habe ich nicht Zeit!
Bernd löste sich behutsam von Nora, die lag mit geschlossenen Augen in seinem Arm.
„Willst du meine Frau werden, süße Nora?“ fragte er, und Nora, ohne die Augen zu öffnen, hauchte „ja, ja ich will, doch versprich, mich immer wie eben zu küssen!“
„Gerne will ich das versprechen, hauchte Bernd zurück, wenn du versprichst, stets wie eben zu empfinden!“
„O ja, Bernd, ich verspreche es!“
„Herrlich, meine Liebste, nein Allerliebste! Doch jetzt zurück in den Alltag.
Moses steht da und schaut uns zu. Sieh dir sein Gesicht an, seinen Mund, weiter kann er den nicht auseinanderziehen.“
„Ganz recht, weiter geht es nicht, rief Moses, darf ja wohl sein, wann hat einer schon die Gelegenheit, auf offener Strasse an einem Blitzverlöbnis teilzunehmen! Herzlichen Glückwunsch, liebes Brautpaar, vom Libeskind! verbunden mit der Hoffnung auf allerliebste Kinder in der Zukunft!
Also Doctor, weil ich Zukunft gesagt habe, sollten wir voranmachen, sie Gestalt werden lassen, die Zukunft. Das Geld ist da, die Brautleute, für’s Spital der Doctor. Über das Wohnhaus haben wir noch nicht gesprochen, Doctor, war ja nicht absehbar was kommen würde. Ich schlage vor, wir überlassen die Planung der privaten Bereiche den Damen.
Komtess Nora und Gräfin Mascha, haben da mehr Kompetenz als wir. Jedenfalls, das Spital und die Ordination können jetzt großzügiger ausfallen.“
„Herrlich Moses, wir werden für Mascha und Klapaida, eine Apotheke einrichten. Gut wäre, Klapaida würde ihre Geheimnisse aufschreiben, und ich könnte meinen Senf dazu tun, was die Wirkung bei behandelten Patienten angeht.“
Moses guckte skeptisch, schüttelte den Kopf und sagte: „Die Alte kann nicht schreiben, dass sie nicht lesen kann, weiß ich gewiss. Hab ihr schon einige Male amtliches vorlesen müssen.“
Da plötzlich die Stimme: „Moses, die Welt ändert sich, niemand hält den Fortschritt auf! Das mit der Apotheke ist eine gute Idee, machen wir! Hihihi.“
Moses zog den Kopf ein und sah sich vorsichtig um, habt ihr was gehört fragte er, mir war, als hätte wer gesprochen?
„Sicher Moses, ich habs gehört,“ lachte Nora, „Ihr möchtet den Fortschritt nicht aufhalten, und wir bräuchten die Apotheke.“
„Ist überall und nirgends, die Klapaida, Doctor. Was sagt die Wissenschaft zu solchem Phänomen?“
„Nichts, leugnen oder hinnehmen, bleibt jedem selbst überlassen. In unserem Fall wäre leugnen Schwachsinn. Selbst der Geheimrat Goethe spricht von mehr Dingen zwischen Himmel und Erde, als unser Menschenverstand sich träumen lässt.“
Klapaida
Formidabel, wie ich das hingekriegt habe, mit meinen beiden Noras und ihren Bernden. Aber der arme Professor ist ganz aus freien Stücken gestorben, hat nicht das Geringste zu tun mit mir, sein Tod. Gebe zu, kam mir zupass. Wer weiß, wann sonst mein Düsseldorfer Pärchen, seinen Weg nach Masuren gefunden hätte. Ist nichts mehr wie ehedem. Mir kann es gleich sein, kenn vorwärts und rückwärts, doch könnte Mascha in die Zukunft sehen, sie träf der Schlag. Eins lass ich den im Osten geachteten, doch kaum geliebten Deutschen: Eine Sauberkeit, Ordnung, Gerechtigkeit, oft Selbstgerechtigkeit, herrschte, weit fort von Anarchie!
Unbegreiflich bleibt, wie sich diese Idioten einem verrückten Brandbuben an den Hals warfen! Ohne Sinn und Verstand, nur weil sie nach einem unglücklichem Krieg, gedemütigt wurden. Da sag ich nur diese Junker! Haben wir ja genug von! Unfähiges, hagestolzes Altblut, dumm und blind, hochmütig und schwach! Nicht der Kelm, der ist in Ordnung, der Claus. Was ich ihm anlaste, er stößt mir mein Marjellchen nicht ordentlich! Keinen einzigen Orgasmus, wie das rossig sein später genannt werden wird, hat er zustande gebracht in fünfzehnjähriger Ehe. Na ja, gerächt hab ich mich. Hab gesorgt, dass meine Mascha nicht mehr schwanger wird.
Nu, man solls nicht glauben, kommt die Kröte, die Nora, will Gleiches wie die Mama. Kommt, sollt heißen, ist auf dem Weg. War noch nicht da, hat noch nicht gebeten, träumt vom Bernd, von dem, was der in der Hose hat! Krot kleine, träum ich auch von, zusammen mit der Mama! Wird bald werden! Zweimal Nora, zweimal Bernd, dazu die Mascha! Werde sie lieben, meine Taube, wird sie fliegen lassen zehn Kirchtürme hoch! Werde sie jauchzen lassen, höchste Töne, Diskant! Sie abstürzen lassen in tiefsten vibrierenden Bass. Jeden Nerv, jede Sehne, jeden Muskel, jedes Haar werd ich zupfen. Nie mehr wird sie die Wonne vergessen, die ich als Bernd ihr bereite. Werde ihr Liebhaber bleiben, sie streicheln, sie einhüllen in Wollust.
Dem Krot nehm ich den Bernd, für die gewissen Stunden. Nicht nur ich, will mich ihres Mannes bedienen, auch Mascha und er, einmal im Monat. Nora wird nichts spannen, geb ich ihr die Tropfen. Nimm die, wenn ein Mann sich dir nähert, ein kleines Löffelchen, versetzt dich selbst mit einem Schlappschwanz, in den siebten Himmel. Sie wird von Kerlen, so sie denn will, nicht genug kriegen können. Zur Not schick ich ihr den Kutscher Kurt, auf dessen gefältete Lippen war sie immer schon scharf. Vorher nehm ich sie mir vor, werd uns ein herrliches Bockfest bereiten.
2003
Träumte ich? Doch wohl, das ist mein Bernd, in dessen Armen ich einschlief, der mich in den Schlaf sang. Wie echt mein Traum war, ich erinnere jede Einzelheit. Das Gut, die Mama, ich rief sie so. Libeskind, die Fahrt nach Lyck, Verlobung. Der vor Glück strahlende Bernd. So radiant war mein Bernd noch nie. Geduld! Kenne ihn erst seit drei Wochen.
Muss mich zusammen nehmen! Tag ist nicht Traum, Traum nicht Tag. Wie ist mir? Seit der Rogowski mich auf die Vergangenheitsschiene gesetzt hat, scheine ich durchzudrehen! Also von vorn! Ich liege hier neben der ersten Liebe meines Lebens im Bett, fühle mich großartig! Habe ein Leben geträumt, wie es vor zweihundert Jahren auf den Gütern der Kelms geführt wurde. Habe mich mit ihm verlobt, bald würde Hochzeit sein. Der lebendigste Traum meines Lebens. Ist so, ein befremdendes Echtgefühl, habe den stechenden Geruch der schwitzenden Gäule noch in der Nase. Werde ihn wecken, meinen echten Bernd, der auch mein Traum-Bernd zu sein scheint.
„Noraleben, meine Nase, bin doch schon wach. War lange vor dir wach, hattest mich ein wenig erschreckt.“
„Erschreckt, Bernd?“
„Ja, aber vergiss es, bist aufgewacht, hast einen verteufelt tiefen Schlaf, deshalb.“
„Deshalb was, Bernd?“
„Ich wurde wach, Liebste, war hungrig, hungrig auf dich, deine Arme, deinen Mund, wollte dich. Ich kitzelte dich, hielt dir das Näschen zu, küsste dich, rüttelte dich sanft. Nichts, keine Reaktion. Ich erschrak, sprang aus dem Bett, kramte nach meiner Taschenlampe, fand die nicht. Suchte im Dunkel Streichhölzer, tastete herum, ein Stuhl fiel polternd um, du schliefst weiter. Endlich die Streichhölzer, die Petroleumsfunzel angezündet, zurück zu dir ans Bett.
Puls, Herzschlag, Auge, normal. Doch sonst keine Reaktionen, nicht auf heftigste Reize. Ich beobachte dich, dein Lächeln. Ja, besonders dein Lächeln. Zum eifersüchtig werden, so glückstrahlend lächeltest du.“
„Zum eifersüchtig werden, du mein Erster, Einziger! Eifersüchtig kannst du nur auf dich sein, als dir mein Lächeln verriet, ich träumte von der Liebe, träumte ich von dir, meinem Liebsten!“
„Ja doch, ich weiß es, bin so verrückt nach dir, möchte die Luft beneiden, die du atmest.“
„Komm, Liebster! Komm in meinen Arm, lass mich dich trösten! Nein, mach du meinen Traum zur Wirklichkeit, so wie du das seit drei Wochen tust, wovon ich nie, niemals genug habe."
Rogowskis Glocke rief sie zurück in die Wirklichkeit. Bernd sprang auf, fuhr in seine Badehose. „Bleib du liegen!“ hielt er Nora im Bett.
Rogowski stand mit einer Tochter am Steg. „Bahn frei?“ schrie er, als er Bernd sah. Der winkte ihn heran.
Die Tochter setzte ihren Korb auf den Tisch, schlug die Tücher zurück die zum Schutz vor Insekten und Sonne, über die Köstlichkeiten gebreitet waren und bot an:
„Selbstgeimkerter Waldhonig, selbsteingemachte Marmeladen und Gelees, jeweils zwei Sorten, selbstgebackenes Brot, Schinken und Räucherspeck aus eigener Schlachtung, saure Stinte..“
„aus eigenem See direkt vor dem Haus gefangen“ unterbrach Bernd, seine Lippen leckend, ihre Anpreisungen. „Also Marjellchen, ich schlage vor, der Korb bleibt einfach hier, wir bringen den, wenn wir satt gefrühstückt haben zurück, einverstanden?“
„Einverstanden,“ antwortete Rogowski für seine Tochter und fragte direkt weiter: „Bleibt es bei unserer Verabredung nach Seegrund ins kleine Museum?“
„Hast du mitgehört, Nora?“ fragte Bernd ins Schlafzimmer.
„Ja doch, war so verabredet, sagen wir gegen zwei?“ kam ohne Zögern Noras Antwort.
Rogowskis Tochter hüpfte schon über den Steg, als der sich schon halb aus der Tür noch einmal umdrehte, um zu bemerken: „Braucht euch nicht beeilen mit dem Frühstück, der Kaffee ist dreimal eingewickelt, hält stundenlang die Wärme!“ Er tippte an seine Mütze und ging seiner Tochter hinterher.
Nora saß auf der Bettkante und schüttelte ihre dunklen Locken. „Was fällt dem Kerl ein, schon gestern meinte ich, eine Anzüglichkeit, unser Liebesleben betreffend, gehört zu haben, jetzt kommt er wieder mit seinem stundenlang, warmen Kaffee daher! Fühlt ein Blinder mit dem Stock, wie der das meint!“
„Nora Liebste, nu lass ihm seinen Spaß, er liegt doch absolut richtig. Er hat uns doch gestört bei unserer Lieblingsbeschäftigung, komm geb es zu, oder möchtest du jetzt lieber frühstücken?“
„Nein nicht! Aber das geht den alten Knacker überhaupt nichts an!“
„Komm, küss mich, kannst dann nicht mehr schimpfen.“
Später am Frühstückstisch, Nora hatte sämtliche Marmeladen und Gelees auf dem würzigen, nach Hefe und Honig duftenden Bauernbrot durchprobiert, Bernd sich über das Geräucherte und die kleinen sauren Fische hergemacht, ging ihnen auf, sie hockten mitten im Glück.
„Das Essen, wirklich hausgemacht“ staunte Nora, „und jedes hat einen Geschmack, wie der mir noch nie auf der Zunge war. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, aber gegessen haben wir Gekauftes. Nichts schmeckte so original wie hier beim Rogowski.“
„Ist so,“ nickte Bernd, behaglich kauend. „Wir wissen gar nicht mehr, wie natürliches schmeckt. In ihrem Regulierungswahn haben unsere Bürokraten, zum Wohle der Volksgesundheit und um Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten, alles zu Tode normiert.
Das Kreuz sind die Juristen, deren Planspiele sind darauf angelegt, Individualität niederzuhalten, letztendlich zu zerstören. Egal wo sie ihre wohlmeinenden Hände im Spiel haben, das Ergebnis sind Vorschriften, müssen Vorschriften sein, sind ihr einziges Ausdrucksmittel. Irgendwann muss diesen verakteten Schau- und Scheinkämpfern, das Handwerk gelegt werden, bevor alles, Mensch, Tier und Pflanze, zu einem fein kategorisierten Einheitsbrei vermatscht sein wird. Doch heute, Noramädchen, ändern wir nichts daran. Bist du satt? Ich möchte ins Wasser, ist kalt, ich weiß es, macht uns aber frisch, wach und munter!“
„Bereit zu neuen Taten, oder lassen wir uns im Kahn über den See treiben?“
„Angeln, Nora?“
„Och, bitte nicht, Bernd. Mich graust es vor den armen Fischen am Haken, stell mir vor, wie mir wäre, hätte jemand ins herrliche Brot einen Haken versenkt, ich würde, den im Rachen in eine fremde Welt ohne Luft gezogen, mehr will ich mir gar nicht ausmalen!“
„Keine Bange, Mädchen, wir lassen uns die Fische servieren, habe noch nie geangelt, dachte nur daran weil Rogowski davon sprach.“
„Also schwimmen, dann im Kahn treiben lassen, danach mit Rogowski zum kleinen Museum nach Seegrund. Zwischendurch etwas essen?“
„Um Gottes Willen, Bernd, ich esse hier das doppelte wie zuhaus. Es sei denn, du willst mich mästen, weil du Kugeln liebst?“
„Will ich nicht, ab ins Wasser mit uns!“
Rogowski war pünktlich, wartete schon mit Pferd und Wagen, als Bernd, sein Glockenzeichen vermissend, vor die Kate trat und Ausschau nach ihm hielt. Er winkte grüßend mit der Peitsche und rief etwas, das der aufgekommene Wind übertönte.
Als Nora über den Weg balancierte, hatte sie Mühe ihr Kleid zu bändigen, die tosende Luft bauschte es wie ein Segel. „Lass es doch fliegen, Liebste," lachte Bernd hinter ihr, „der Rogowski hat sicher nichts gegen den Anblick."
Nora konnte sich nicht zu ihm umdrehen, fauchte aber: „Bist du verrückt, in dem Stringtanga! Der verschlingt mich jetzt schon mit den Augen!“
„Nur herein in die gute Stube,“ Rogowski machte eine weit ausholende, einladende Bewegung mit Arm und Peitsche, „in einer Stunde sind wir in Seegrund," versicherte er, „bis dahin möcht sich der Sturm, hoff ich, beruhigt haben.“ Er nickte der gnädigen Komtess, wie er sicher glaubte, tröstend zu und meinte, bevor er das Pferd antrieb: „Sind oft Böen von gleich auf jetzt am See, kommt vom Unterschied, kaltes Wasser, warmes Land.“
Nach einer Stunde Fahrt über gelbe Sandwege, oft dicht an tief in den Wald vorstoßenden schmalen Seearmen entlang, lag am anderen Ufer eines solchen Einschnitts Seegrund.
Wütend fuchtelte Rogowski mit der Peitsche: „Da drüben müssen wir hin. Aber die Trümmer die Sie da sehen, waren vorige Woche noch eine Brücke. Keine feste aus Stein und Beton, mal nur so eine wie wir sie in Selbsthilfe bauen, paar feste Kiefernstämme und Geflecht von Reisern, aufgefüllt mit Mergel. Hält tadellos seit fünf Jahren schon, doch jetzt ist sie hin. Was machen wir?“
Bernd sprang aus dem Wagen, ging ans Wasser, stand da und versuchte den Grund auszuloten. War zu erkennen an seinen Verrenkungen. Mal ging er in die Knie, dann beugte er sich mit schiefem Kopf vor, bemüht die Lichtspiegelung der Wasseroberfläche auszutricksen.
„Dem Pferd reicht das Wasser bis zum Bauch, Rogowski," befand er und sah hoch zu ihm, der ratlos auf dem Bock thronte. „Ausschirren. Nora, du sitzt auf, der Gaul bringt dich halbwegs trocken ans andere Ufer. Der Kutscher und ich schwimmen rüber!“
„Nein, sagt der Kutscher dazu!“ Rogowski sprang runter auf den Boden. „Richtig ist, die Komtess wird von Karlchen als Erste übergesetzt. Danach ruf ich ihn, er kommt zurück und Sie, Herr Doktor, machen rüber, danach ich auf selbige Weise. Werden nasse Stiefel kriegen, die Komtess nur einen nassen Rocksaum, wenn sie ihre Schuhchen in die Hand nimmt, mehr nicht.“
Das Übersetzen war ein Kinderspiel, den Rogowski drängte Nora etwas unsanft zur Seite, als der ihr beim Aufsteigen zur Hilfe kommen wollte. „Lass nur, Rogowski," schob sie ihn von sich weg, „mit Pferden kenne ich mich aus!“ Und war schon, eh die Männer sich`s versahen, auf dem Pferd durchs Wasser und am anderen Ufer.
Das Museum war ein liebevoll in Stand gesetzter Stall, zusammengesucht aus den Trümmern und Überbleibseln des ehemaligen Gutshofs, was deutlich zu sehen war an den angekokelten Balken, die das Dach trugen.
„Wir hätten neue Balken nehmen können," erklärte Rogowski, „war langes Palaver darüber. Die meisten meinten, macht nichts daher mir dem halbverbrannten Holz. Als wir schon drauf und dran waren, auf das originale Balkenwerk zu verzichten, half der Lewandowski. Dem Lewandowski sein Vetter ist Professor in Gdansk. Dem hat der Josef geschrieben und von unseren Schwierigkeiten berichtet. Postwendend kam Antwort vom Herrn Professor: Alles Originale so verwenden wie gefunden, angekokelt tut nichts! Zur Hölle mit den neuen Brettern und Balken! Nichts anstreichen und überschmieren! Bin nächsten Monat da, seh mir das an!
Also warteten wir mit dem Aufbau, fingen an zu sichten und zu sammeln, was wir vorher schon auf den Schutt geworfen hatten. Mählich ging uns auf, welche Sünde wir um ein Haar begangen hätten. Die Hälfte der ausgestellten Bilder, Figuren, Dosen und Vasen lagen schon im Dreck. Wir haben vorsichtig gesäubert, sortiert, abgeklopft, sonst belassen wie gefunden. Als der Professor kam, hat er gelobt und uns gezeigt, wie mit dem zusammengebrochenen Herrenhaus umgegangen werden muss, sollte gerettet werden, was zu retten war. Über drei Jahre haben wir Stein für Stein abgetragen und in die Hand genommen. Wir, das heißt, alle Männer und Frauen aus dem Dorf, wenn sie Zeit abzwacken konnten.
War uns Herzensanliegen, Seegrund nicht versinken zu lassen. Jetzt sind die ehemaligen Kellerräume des Gutshauses freigelegt. Flaschenregale, teils mit Beschriftungen, vielleicht von einem Grafen Kelm, hundert Jahre und mehr alt. Nur vier unversehrte Flasche, Scherben und Splitter zuhauf. Einige Ettiketten sind noch leidlich zu entziffern, die hat der Herr Professor mit nach Gdansk genommen, sie konserviert und uns zurückgegeben. Sind jetzt im Museum zu besichtigen."
Nora stand, während Rogowski erzählte, unter der Eingangstür deren angekokelter Rahmen etwas von der grünen Farbe ahnen ließ, die einstmals zu einem der Zimmer im Herrenhaus gepasst haben mochte. Seit sie den schmalen Priel auf dem Pferd durchschwommen, und nun auf seegrundschem Boden stand, war das Gefühl zurück, das sie gestern nach Rogowskis Erzählung beschlichen hatte. Sie trat in den von hohen alten Linden beschatteten Raum, der von den frisch belaubten Baumkronen dämmrig und kühl gehalten wurde.
Wieviele Generationen von Kelms mögen hier gelebt, geliebt, getanzt, getrauert und gesungen haben, versuchte sie sich vorzustellen. Im Gefühl lebte plötzlich die Verwandschaft, doch der Verstand mauerte. Schon ihr Vater, der ja als Baby aus dem Inferno einer untergehenden Welt nach Holstein gerettet worden war, hatte keine Beziehung zu Masuren. Im Gegenteil, die deutschtümelnden Vertriebenenverbände waren ihm zuwider. Nichts weiter als Funktionärscliquen auf Pfründen und Wählerstimmenfang, für eine meist am rechten Rand einzufangende Klientel, schimpfte er heute noch. Ewig Gestrige, die das, was sie als verloren ausgeben, nie gekannt, geschweige besessen hatten.
Vaters Einstellung hatte Nora überprüft, als richtig empfunden und übernommen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, hatte sie ihren holsteinischen Vettern entgegengehalten, die meinten, man müsse sich für das verlorene Erbe engagieren.
Nun stand sie dem verspielten Erbe gegenüber, dem, was davon übrig geblieben war. Nicht, dass sie seinen Wert empfunden hätte, da war nichts Greifbares, nichts, auch nicht Sehnsucht, nur ein namenloses Ziehen in der Brust, unerfüllter Liebe ähnlich,
wie damals, als sie sich hoffnungslos in ihren Deutschlehrer verliebt hatte, einen glücklich verheiratetem Familienvater, dessen Frau sie gut kannte und mochte. Da war nicht eine Spur von Eifersucht gewesen, obwohl Peter ihr monatelang weder tags noch nachts aus dem Kopf ging.
Langsam ging sie durch den Raum, betrachtete die mit Sorgfalt und Liebe zusammengeklebten Schüsseln, Kannen und Teller. Zwei Gabeln, drei Messer und eine von der Hitze des Feuers verbogene silberne Schöpfkelle, in deren Griff das Wappen der Kelms zu erkennen war. Es schien, die Leute hatten ihre eigene Vergangenheit zu bergen versucht, um einen Gegenpol zur endlosen, sozialistischen Tristesse zu haben.
Halbverbrannte Gardinen, Bettbezüge, an ferne, glücklichere Zeiten erinnernd, waren liebevoll restauriert und aufbewahrt worden. Ihr Besuch, erkannte Nora, bedeutete etwas für die Leute. Sie war eine Gräfin Kelm, Teil der Geschichte des Traums, der mit dem Museum lebendig gehalten wurde.
Plötzlich hörte sie Gesang, Frauen und Männerstimmen. Sie traute ihren Ohren nicht, sie sangen deutsch. Sangen das schreckliche Ostpreußenlied, das von den Vertriebenen auf ihren Treffen gegröhlt wurde. Dies hier war etwas anderes, wurde ihr schnell klar. Es war eine Reminiszenz, an die als golden empfundene Vergangenheit, und sie war der lebendige Beweis der Wirklichkeit, dieser Vergangenheit! Wir jagten all die Jahre nicht einem Phantom nach, hier, die Gräfin ist die lebendige Wahrheit, wir träumten nicht nur. Was wir träumten war einmal vorhanden. Da sie den Gesang kaum überhören, geschweige denn ignorieren konnte, ging sie nach draußen auf den Hof. Als die Gruppe sie sah, Männer und Frauen zusammen waren es an die zwanzig Leute, unterbrachen sie und riefen: „Willkommen auf Seegrund, Komtess Kelm! Herzlich, herzlich willkommen!“
Nora fühlte, wie Rührung ihr in Augen und Kehle stieg, sie schluckte ein paarmal tüchtig, bevor sie sich mit ein paar einfachen Worten für den Empfang bedanken konnte. Der Sinn ihrer Worte war, dass sie sich freue über das Willkommen, Seegrund und seine früheren Besitzer, aber ein für allemal der Vergangenheit angehörten. Was nichts daran ändere, sie erkenne es an dem freudigen Empfang: Das Früher muss ein schönes Früher gewesen sein!
Rogowski übersetzte für die, die kein deutsch verstanden, ins Polnische. Darauf gab es Klatschen und Bravorufe, die Leute umringten Nora, um sie persönlich zu begrüßen.
Sie schüttelte jedem ausgiebig die Hand und hörte sich an, was ihnen auf der Zunge lag: Die von den Großeltern überlieferte Erinnerung an die gute alte Zeit, als die Grafen von Kelm noch das Sagen hatten. Rogowski dolmetschte und er tat es mit stolzer Freude, war es doch seiner Aufmerksamkeit zu verdanken, dass die Komtess Seegrund besuchte.
Nach der Besichtigung, bat Rogowski zu Kaffee und Kuchen, in die gute Stube des Herrenhauses einladen zu dürfen. „Nicht wirklich gute Stube," erklärte er, „ist noch kein Dach drauf, aber könnte nach der Lage, haben wir uns ausgerechnet, gute Stube gewesen sein. Nebenan jedenfalls ist die Küche, und die hat überlebt, da haben wir den Streußelkuchen gebacken, und werden den Kaffee dort kochen."
Bernd hatte sich während der Begrüßung Noras durch die Dorfbewohner etwas abseits gehalten, sich auf dem Hof umgesehen, der durch die freigelegten Mauerreste in etwa die Proportionen des Gutes erkennen ließ. Als er die Mauern ehemaliger
Wirtschaftsgebäude abschritt, trat aus einer Ecke eine alte, eher uralte Frau auf ihn zu. Sie begrüßte ihn artig in deutscher Sprache ohne jeden polnischen Akzent, und sagte: „Ich bin eine von den ganz alten Seehofern, habe auch Steinfeld das Stammgut der Kelms in bester Erinnerung.“
Bernd musterte sie verstohlen, während sie sprach. Die hat sicher ihre hundert Jahre auf dem Buckel, taxierte er, dabei ein Auge, wie schwarzer Brand, noch betont von dem roten Kopftuch, das sie eng um den Kopf gezogen trug. Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, bleckte sie die schmalen Lippen zu einem freundlichen Grinsen und sagte: „Magst so falsch nicht liegen mit deiner Taxe, hundert Jahr sind es sicher, mögen noch paar Jährchen mehr sein." Dann nestelte sie an ihrem weiten schwarzen Rock, schob einen Arm bis zum Ellebogen in eine von außen nicht sichtbareTasche, und zog ein Buch in Oktavgröße hervor.
„Bitte, gib das der Komtess, lies aber erst selbst. Ist ein Tagebuch, hab es gerettet, kurz bevor die Mordbuben brandschatzten. Ist ein Stich darinnen, wirst dich wundern, wenn du den angesehen hast. Bitte erst selbst lesen, dann entscheiden, ob Nora es verträgt!“ Bernd klappte das Buch auf, ließ die Seiten auf der Suche nach dem Stich, von dem die Alte gesprochen, vom Daumen gebremst vorbei rascheln. Da, der dunkle Schatten musste eine Abbildung sein, er blätterte zurück und sah seiner Nora ins Gesicht. Aber wie kann das sein, Nora, wie sie leibt und lebt, wollte er fragen; aber da war niemand mehr. Wo eben die alte Frau gestanden, nichts! Hätte er das Oktav nicht in Händen gehalten, er würde geglaubt haben zu träumen. Aber so, dieses Büchlein mit Noras lebendigem Porträt, die Seiten handschriftlich eng beschrieben, wie er erst jetzt bei näherem Hinsehen erkannte, unverkennbar in Noras Handschrift!
Was geht hier vor? fragte er sich. Merkwürdiges, scheint mir. Muss nur an Noras bewußtlosen Schlaf denken. Ihr glückseliges Lächeln, aus dem ich sie, was ich auch versuchte, nicht lösen konnte. Nur, warum wollte ich sie lösen, erlösen, aus ihrem Traumparadies vertreiben? Eifersucht, oder die Angst des Arztes vor der nicht zu deutenden Tiefe ihres Schlafes? Wohl beides, gestand er sich, doch jetzt?
Die Erscheinung der Alten, mit den merkwürdig brennenden Augen, unter dem roten Kopftuch, dazu mein Gefühl oder Wissen: Dir, Frau, bin ich schon begegnet, irgendwann haben mich diese Augen schon angeschaut! Ihr Verschwinden! Sie ist nicht fortgegangen, das hätte ich bemerkt, sie hat sich in Nichts aufgelöst, verschwand! Dazu das Tagebuch, Noras Porträt und Schrift, die Warnung, es zu lesen und bis dahin vor Nora geheimzuhalten.
Bernd schüttelte sich, etwas Kaltes in seinem Rücken ließ ihn erschauern. Er drehte sich brüsk um, aber da war nichts. Sehe ich am hellen Tag Gespenster? Kaum gedacht, ging ihm auf: Ja doch, hier scheint`s Gespenster zu geben, wie sonst käme ich an das Oktavheft in meiner Hand?
Das hieß zusammenreißen, du bist Chirurg, Naturwissenschaftler, schärfte er sich ein. In Freiburg gab es in den achtziger Jahren ein Institut für parapsychologische Phänomene, geleitet von einem Professor Bender, der nach langer Forschungsarbeit die meisten Erscheinungen erklären, als natürlich vorkommend klassifizieren konnte, aber eben nicht alle.
Also, befand er, was ich hier erlebe, scheint zu den mit Rationalität nicht erfassbaren Phänomenen zu gehören. Ich werde Nora das Tagebuch nicht zeigen, dafür die Dinge und Begebenheiten um uns herum, genauestens beobachten. Mag sein, irgend etwas taucht auf, geschieht, oder aber ich habe nur die Kornmuhme gesehen, vor der uns als Kinder Angst gemacht wurde.
Aber da war noch Noras Kleid, von ihrer Mutter getragen, vom Vater als Baby in den Windeln aus Ostpreußen mitgebracht, von beiden Trägerinnen gerühmt als ein Kleidungsstück, das beim Tanz Flügel verleiht.
Dieses Kleid und seine unerklärbaren Eigenschaften, bewogen Nora, wie sie am ersten Abend unserer Begegnung erklärte, Physik zu studieren. Das Kleid, vorgeblich angefertigt Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts, aber anzusehen und anzufühlen, als ob eben vom Schneidertisch gekommen.
Jetzt diese Frau, oder soll ich Hexe sagen? Hexe ist nicht angemessen, nicht für jemanden, der die Dinge aus wissenschaftlicher Sicht beurteilt. Ich werde das Tagebuch schleunigst lesen, mir mehr Handschriftliches von Nora ansehen, was ich bisher sah, waren schnell hingeworfene Notizen, Benachrichtigungen. Buch, Kleid und die sich in Luft auflösende Alte geben zu denken. Soll ich das Ganze beiseite schieben, hoffen, ein Traum erhellt die Sache in einer der kommenden Nächte? Manchmal sind Träume eben keine Schäume, manchmal flinke Boten des Unbewußten, die Kompliziertes zu Selbstverständlichem umzumünzen vermögen. Verlass mich einfach darauf, kommt Zeit kommt Rat.
Nora weckte ihn aus seinen Grübeleien. „Bernd, was ist dir?" Sie nahm seinen Arm und führte ihn zu Rogowski und den Sängern, die sich an die Kaffeetafel in der ehemaligen guten Stube gesetzt hatten.
„Siehst aus, Liebster, als wäre dir wer weiß wer begegnet,“ bohrte Nora.
Bernd winkte ab. „Ist nichts, eine Nachdenklichkeit, immerhin befinden wir uns auf geschichtsträchtigem Boden. Beschäftigt mich, das was wäre wenn.“
„Du meinst, Bernd, was wäre, es hätte den Krieg nicht gegeben? Das male ich mir nicht aus, schlimm, auf dem Bild suche ich uns vergeblich!“
„Ach Kind, daran läßt sich aber die Weltgeschichte nicht festmachen! Sicher wäre dir ein anderer über den Weg gelaufen, oder du wärest nach dem Gotha, eurem Herdbuch, wie du das nanntest, standesgemäß verkuppelt worden.“
„Schluß jetzt! Ich mag mir sowas nicht anhören, besonders nicht, weil es so hätte kommen können. Komtess Kelm die Zuchtstute, gute Ahnen, zu beachten bitte ich das prächtige Gesäuge, eine Garantie für die Aufzucht gesunder Würfe! Lach nicht, so ähnlich funktioniert das. Wozu sonst brauchte das adelige Gesochs Erblinien, seit es die Fotografie gibt, eindeutige Fotos mit spezifischen Merkmalen!“
„Nora, du übertreibst, hört sich beinah pornografisch an!“
„Ja doch, so meinte ich es, aber bitte, ich lenke ein, streich pornografisch und ersetze es durch obzön. Weitere Abstriche erlaube ich jedoch nicht.“
Unterbrochen wurden sie wieder durch Rogowski, der an sein Glas klopfte, eine kleine Ansprache auf Polnisch hielt, sich dann seinen Gästen zuwandte.: „Liebe Gäste,“ redete er sie mit erhobener Stimme an, „nachdem Ihr uns die EhreEurer Anwesenheit geschenkt habt, möchten wir uns mit einem Heimatlied in masurischem Dialekt bedanken. Danach essen wir den Kuchen auf, trinken den Kaffee aus, und gehen unsrer Wege. Ich bleibe euch als Kutscher erhalten, die anderen aber müssen arbeiten.“
Nachdem das masurische Heimatlied, getragen und ganz in Moll, sechs Strophen und einiges davon zu verstehen, abgesungen war, Kaffee und Kuchen verzehrt, gab es ein großes Stühlerücken und Winken. Im Nu saßen Nora, Bernd und Rogowski allein am Tisch. Ein Lanz-Bulldog aus der Vorkriegszeit, uralt aber tauglich, zog einen grossen Leiterwagen auf dem die Frauen es sich, die Beine durch die Sprossen gesteckt, bequem gemacht hatten. Sie schrien polnisches herüber, und Rogowski drohte ihnen mit der Faust.
„Was haben sie gerufen?“ wollte Nora wissen, aber Rogowski schüttelte den Kopf, sah seine Gäste an und fragte: „Wollen wir?“ wobei er sein Kinn in Richtung Karlchen schob, der an einer Krippe bedächtig seinen Hafer kaute. „Bitte noch einen Moment, Rogowski,“ bat Nora und zog Bernd mit sich zum Museum.
„Weißt du, Bernd“ sie sah zu ihm auf und zog seinen Arm um ihre Taille, „ich muss nochmal hin. Mir ist, als hätte ich was vergessen, etwas gutzumachen. Deshalb bleibe bei mir, sieh mit mir hin, ob etwas daliegt, auf mich wartet. Was ich für krauses Zeug rede, was sollte auf mich warten, aber es ist mir so, kann mir nicht helfen.“
Liebste Nora, ging es Bernd durch den Kopf, wenn du wüsstest, was ich weiß und bei mir trage. Bis jetzt nur dein Porträt. Habe noch nicht gelesen, was du geschrieben haben könntest, oder die geschrieben hat, die aussah wie du und genauso schrieb.
Vertrackte Geschichte, könnte mit dem Gedanken spielen, den Urlaub abzubrechen und dorthin fahren, wo es keine Kelms gegeben hat. Doch will ich das wirklich? Wäre Flucht, Flucht vor einem Phantom, einem Phantom, das in kommenden Jahren an Kontur einbüßen, irrealer werden würde, und ich hätte das Hasenpanier ergriffen. Abgesehen davon, wie sollte ich das Nora erklären? Sie schockieren, indem ich ihr das Tagebuch zu lesen gebe, ihr gleichzeitig meine Furcht gestehend? War es Furcht? Eher wohl ein kalter Schauer, der trotz der heissen Sonne frösteln machte.
Sie betraten den dämmrigen Raum, in dem das von Seegrund Übriggebliebene gesammelt war. Nora löste sich aus Bernds Arm und ging einen halben Schritt vor ihm her, die auf Tischen und Bänken ausgebreiteten Überbleibsel eingehend betrachtend. Als sie schon zweidrittel der Runde hinter sich hatten, hastete Rogowski herein, erklärte, das Wichtigste habe er beinahe vergessen, schloss eine eiseren Kassette auf, entnahm ein kleines gerahmtes Bild, das er Nora mit den Worten überreichte: „Komtess, ich sprach Ihnen von dem Bildnis der Gräfin Natascha von Kelm, deren Ähnlichkeit mit Ihnen unverkennbar ist." Nora nahm es, betrachtete es eingehend, gab es Bernd mit der Frage weiter: „Siehst du die Ähnlichkeit, von der unser Freund spricht?“
Das Blatt, offensichtlich ein aus einem Buch gerissener kolorierter Stich, zeigte eine alte Dame mit feinen Zügen von geschätzten sechzig, siebzig Jahren. Bernd warf einen kurzen Blick auf die Darstellung, und stellte erleichtert fest: „Eine gewisse Familienähnlichkeit mag erkennbar sein, jedoch, lieber Rogowski, mit der Komtess nur wenig Gemeinsames.“ Mit diesen Worten gab er ihm das Bild zurück.
Rogowski sah Bernd entgeistert an. „Aber, Herr Doktor,“ rief er, „die Ähnlickeit ist unverkenn....“ und brach mitten im Wort ab. Nora hatte sich umgedreht und bemerkte, wie der Kutscher sich ans Herz griff und stammelte: Unmöglich, danach ein Schwall polnischer Wörter. Es war nicht zu erkennen, ob er fluchte oder betete.
Es brauchte einige Zeit, bis er sich soweit gefaßt hatte, erklären zu können, das Bild aus der Kassette sei vertauscht worden. Was er habe zeigen wollen, sei über jeden Zweifel ein Porträt gewesen, das der Komtess Nora Doppelgängerin war. Wie die Vertauschung hat zustande kommen können, sei ihm ein Rätsel dessen Lösung, darauf könne man sich verlassen, er betreiben werde. Er hoffe es gelinge ihm noch vor Abreise der werten Gäste! Der Arme war wie versteinert, seine gestelzten Worte ließen erkennen, wie unwohl er sich fühlte.
Bernd legte einen Arm um seine Schulter und beruhigte ihn: „Rogowski, machen Sie sich nichts draus, wir wissen, wie Komtess Nora ausieht, das Porträt hätte sie um keinen Jota schöner gemacht, allerhöchstens eitler!“
Nora drohte ihm mit der Faust, sagte sonst aber nichts, zu deutlich lag in der Luft, wie verunsichert der Kutscher war.
„Gut, Sie haben ja recht, Herr Doktor, hatte mich auf die Gesichter der Komtess Nora und des Herrn Doktor gespitzt! Na, hat nicht sollen sein, fahren wir zurück nach Haus, müssen noch mal durchs Wasser, sollte nicht dunkel sein bei dem Manöver.“